Bulimie - Ausdruck einer Suchtproblematik

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Bulimie - Ausdruck einer Suchtproblematik
Autor
Mirica Kordis
Institut
KPDL - Kurs an der Hans-Weinberger-Akademie München
Erschienen Februar 2000
Sonstiges
Referat im Rahmen der Weiterbildung; Fach: Psychologie; Dozentin: Renate Jesel
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Sucht
2.1 Vorbemerkung
2.2 Suchtdefinition
2.3 Suchtkriterien
3 Bulimie als Ausdruck einer Suchtproblematik
3.1 Definition
3.2 Häufigkeit
3.3 Merkmale der bulimischen Persönlichkeit
3.4 Symptomatik
3.5 Verlauf
3.6 Körperliche Folgen
3.7 Emotionale Probleme
3.8 Soziale und finanzielle Probleme
4 Theoretische Erklärungsansätze
4.1 Familiäre Faktoren
4.2 Soziale Faktoren
4.3 Individuelle Faktoren
4.4 Soziokulturelle Faktoren
4.5 Sozialisation
5 Therapie
5.1 Der Weg in die Therapie
5.2 Ernährungsmanagement
5.3 Kognitiv-verhaltenstherapeutische Methoden
5.4 Gestaltungstherapie
6 Resümee
7 Literaturverzeichnis
Einleitung
Eine Sucht zu erkennen gewinnt eine immer größere Bedeutung in der sozialen Verantwortung der
Mitarbeiterführung. Das Erkennen der klassischen Süchte (z.B. Alkoholsucht) gestaltet sich dank der
typischen Erkennungsmerkmale (z.B. Alkoholfahne) relativ einfach. Nicht so leicht ist jedoch das Erkennen
stoffungebundener Suchtformen, z.B. Essstörungen, die in den letzten Jahren stark an Bedeutung
zugenommen haben. Neben der Anorexie (Magersucht), die bereits im 19. Jahrhundert beschrieben wurde,
kommt der Bulimie (Ess-Brechsucht), auf die ich in dieser Arbeit eingehen möchte, seit den 80er Jahren eine
erhöhte Aufmerksamkeit zu, sowohl auf der Forschungsebene, als auch in den Medien. Bemerkenswert ist,
dass sich die Bulimie in der heutigen Zeit, und zwar hauptsächlich in den westlichen Industrienationen und in
Japan, epidemieartig ausbreitet.
Das Ziel dieser Arbeit ist, Aufklärungsarbeit zu leisten und eine Sensibilisierung für diese Problematik, die auf
den ersten Blick sehr unverständlich scheint, zu entwickeln.
These:
Bulimie ist ein scheiternder Bewältigungsversuch von Frauen in modernen
Industriegesellschaften, die den steigenden Anforderungen, die mehr denn je an die
moderne Frau gestellt werden, nicht gewachsen sind.
Zu Beginn des Referates werde ich die Sucht und deren Kriterien schildern. Danach erfolgt eine Darstellung
der Bulimie und deren Folgen sowie verschiedene Theorien als Erklärungsansätze. Im Schlußteil werden die
Therapiemöglichkeiten erörtert.
2 Sucht
2.1 Vorbemerkung
Was nicht fremd ist, befindet befremdlich!
Was gewöhnlich ist, findet unerklärlich!
Was da üblich ist, das soll euch erstaunen.
Was die Regel ist, das erkennt als Mißbrauch.
Und wo Ihr den Mißbrauch erkannt habt,
Da schafft Abhilfe!
Bert Brecht
(vgl.Gross,1995,S.9)
Wenn man den Begriff Sucht hört, denkt man meistens an Alkoholiker, Tablettenabhängige oder
Drogenabhängige, jedoch nicht an süchtiges Verhalten. Dennoch steht fest, dass Menschen, die unter
süchtigem Verhalten leiden, eine ähnliche Beziehung zu ihrem Suchtmittel haben, wie Alkoholiker oder Fixer
zu ihrer Droge. Sie zeigen Verhaltensweisen, die auch bei Drogensüchtigen bekannt sind, indem sie ihr
süchtiges Verhalten benutzen, um vor Konflikten wegzulaufen. Sie verlieren die Kontrolle und steigern die
Dosis ihres süchtigen Verhaltens. Ihre Gedanken kreisen mehr und mehr um das Objekt der Begierde und sie
haben Entzugserscheinungen, wenn sie an der Ausführung des süchtigen Verhaltens gehindert werden. (vgl.
Gross,1995,S.20)
Ein Beispiel süchtigen Verhaltens ist die Bulimie, die Ausdruck einer schweren psychischen Störung ist.
2.2 Suchtdefinition
Sucht - ob mit oder ohne Drogen - kann definiert werden als unabweisbares Verlangen nach einem
bestimmten Gefühls-, Erlebnis- oder Bewußtseinszustand. Das Ziel von süchtigem Verhalten ist entweder,
Lustgefühle herbeizuführen und/oder Unlustgefühle (Unruhe, Trauer, Wut etc.) zu vermeiden.
Man unterscheidet drei Ebenen der Sucht:
●
●
●
Körperliche Abhängigkeit
Psychische Abhängigkeit
Zunehmende Beeinträchtigung der alltäglichen und sozialen Lebensführung.
(Gross,1995,S.22)
2.3 Suchtkriterien
Hinweise auf eine Suchterkrankung geben folgende Kriterien:
●
●
●
●
●
●
●
●
Kontrollverlust
Entzugserscheinungen
Abstinenzunfähigkeit
Wiederholungszwang
Dosissteigerung
Zentrierung
Gesellschaftlicher Abstieg
Psychischer und körperlicher Verfall
(vgl.Gross,1995,S.22f)
"Jedes Ding ist ein Gift. Es kommt auf die Dosis an."(Paracelsus)
3 Bulimie als Ausdruck einer Suchtproblematik
3.1 Definition
Bulimie: Ochsenhunger (stammt aus dem griechischen, Bous = Ochse, limos = Hunger)
Darunter ist eine anfallsartige Esssucht zu verstehen, die im Zusammenhang mit einer ungelösten
symbiotischen Bindung an die Eltern auftritt. Ungelöstes symbiotisches Verhalten ist durch typische Merkmale
gekennzeichnet: Angst, Passivität, Überanpassung und Identitätsstörung, innere Unruhe und Anspannung,
Ungeduld, Kränkbarkeit und Wut, Grandiosität, Abwertungen, Depressivität und Sucht.
Diese Merkmale können in unterschiedlicher Ausprägung auftreten. (vgl.Flöttmann,1989,S.53,67)
Die Bulimie wurde erst 1980 als eigenständiges Krankheitsbild definiert und in das psychiatrische
Diagnoseschema aufgenommen. Ein typisches Merkmal der Sucht manifestiert sich in dem Kontrollverlust.
Bei der Bulimie besteht die Unfähigkeit, das Ess-/Brechverhalten zu kontrollieren. Die Betroffenen fühlen sich
ihrer Sucht ausgeliefert. Außerdem kann das Essen/Erbrechen und Fasten als Droge eingesetzt werden, weil
dadurch eine Art Rauschzustand hergestellt wird. Das Essen verliert seine ursprüngliche Funktion als
Lebensmittel und wird zur Ersatzbefriedigung und Lebensbewältigung eingesetzt. Somit bestehen Parallelen
zu anderen Suchterkrankungen, wie Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenabhängigkeit, die teilweise neben
der Bulimie zusätzlich auftreten. Der Unterschied zu den stoffgebundenen Süchten besteht vor allem darin,
dass in der Regel keine körperliche Abhängigkeit vorliegt. Die körperliche Abhängigkeit von einem Stoff hat
zur Folge, dass ein einziger Rückfall die ganze Suchtkrankheit erneut auslösen kann. Bei der Bulimie
hingegen sind Rückfälle in der Regel Begleiter auf dem Weg zur Genesung und dienen dem allmählichen
Aufbau eines symptomfreien Essverhaltens.
(vgl. Wardetzki,1991,S.3)
Die Bulimie ist durch Perioden von unkontrollierten Essattacken gekennzeichnet. Dabei werden große
Mengen an meist hochkalorischen Nahrungsmitteln verschlungen. Um das Gewicht zu halten bzw. zu
reduzieren, wird anschließend die aufgenommene Nahrung durch selbstinduziertes Erbrechen und/oder durch
Abführmittelmissbrauch wieder ausgeschieden. (vgl.Klicpera/Gasteiger Klicpera,1996,S.156)
Außerdem werden aus der krankhaften Furcht vor Gewichtszunahme verschiedene Formen der
Körpergewichtskontrolle, wie das Befolgen spezieller Diäten, Auslassen von Mahlzeiten und exzessive
sportliche Betätigung praktiziert.
Das Körpergewicht der Betroffenen liegt im Normalbereich, jedoch wird das Ideal eines leicht
unterdurchnittlichen Gewichts angestrebt.
3.2 Häufigkeit
Stärker als bei jeder anderen psychischen Störung sind vor allem Frauen betroffen (ca.90%). Jedoch gibt es
wegen der Heimlichkeit der Störung keine verlässlichen Daten über die Häufigkeit in der Bevölkerung.
Dennoch wird von einer epidemieartigen Zunahme der Störung gesprochen.
Schätzungsweise leiden etwa 3% der weiblichen Bevölkerung in Deutschland an Bulimie. Betroffen sind vor
allem Frauen in der Altersgruppe zwischen 16 und 35 Jahren. Das Einstiegsalter ist meist zwischen 16 und 21
Jahren. Bei der Hälfte der Betroffenen geht der Bulimie eine Anorexie (Magersucht) voraus. Außerdem
scheinen Frauen aus mittleren und höheren Schichten sowie Frauen mit höherer Bildung überrepräsentiert zu
sein. (vgl.Bilden,1994,S.160)
Unter den männlichen bulimischen Patienten ist ein vergleichsweise hoher Anteil homosexuell oder bisexuell
orientiert. Sie scheinen häufig unter Störungen der Geschlechtsidentität zu leiden.
3.3 Merkmale der bulimischen Persönlichkeit
Die Persönlichkeit der an Bulimie leidenden Patienten ist gekennzeichnet durch ein hohes Maß an
Leistungsstreben und Perfektionismus. Weiterhin wird in der Literatur wiederholt beschrieben, dass die
Betroffenen ein verzerrtes Körperbild von sich haben. Die Diskrepanz zwischen Real- und Idealgewicht ist
deutlich höher, als bei nicht essgestörten Frauen. Ferner haben Frauen mit Bulimie niedrigere
Selbstwertgefühle und deutlich höhere Depressionswerte. Signifikant ist außerdem das größere Bedürfnis
nach Anerkennung.
3.4 Symptomatik
Das Essverhalten der Bulimiker wird mit dem drastischen Wort "Fressattacke" bezeichnet, denn die
suchtartige Nahrungsaufnahme in großen Mengen hat nichts mehr mit normalem Essen zu tun. Diese
Fressanfälle machen sich durch ein unwiderstehliches Verlangen nach Nahrung bemerkbar, dem die
Betroffenen hilflos ausgeliefert sind. Bevorzugt werden dabei Nahrungsmittel mit hohem Kaloriengehalt, vor
allem fettreiche und süße Nahrung. Jedoch wird die Nahrung nicht genossen, sondern so rasch wie möglich
verzehrt.
Diesen Essattacken geht meist eine streng eingeschränkte Nahrungsaufnahme voraus. Auch ist das
Essverhalten von Patienten mit Bulimie in der Regel sehr unregelmäßig. Da die Betroffenen zumeist voll
Scham über ihr unkontrolliertes Essverhalten sind, versuchen sie es vor anderen zu verheimlichen. Daher
spielen sich die Fressattacken im geheimen ab. Teilweise werden sie vorher geplant und manchmal auch
durch bestimmte Umstände ausgelöst. Situativ werden die Anfälle, wenn sie nicht geplant sind, durch zwei
Arten der Befindlichkeit ausgelöst. Entweder von Zuständen diffuser Anspannung oder von einem Gefühl
innerer Leere. Selbst wenn die Betroffenen ein sehr starkes Völlegefühl haben, sind sie durch ihren
Kontrollverlust nicht in der Lage, das Essen zu beenden.
Um die starke Nahrungsaufnahme zu kompensieren, werden verschiedene Methoden angewendet. Die
häufigste Form ist das Erbrechen. Mit der Zeit erwerben Bulimiker die Fähigkeit, das Erbrechen willentlich,
ohne physischen Reiz und großer Anstrengung herbeizuführen. Daneben werden am häufigsten Abführmittel
benutzt, um die Ausscheidung nach einer Fressattacke zu beschleunigen.
(vgl. Klicpera/Gasteiger Klicpera,1996,S.157ff)
3.5 Verlauf
Die Bulimie entwickelt sich meist nicht primär, sondern geht aus einer anderen Form suchtartig gestörten
Essverhaltens hervor. Dabei handelt es sich entweder um die latente Esssucht oder um die Magersucht. In
einigen Fällen entwickelt sich die Bulimie nach einer Diät.
Die Störung hält zu einem hohen Prozentsatz über Jahre an. Der weitere Verlauf ist entweder chronisch oder
es kommt zu intermittierenden Phasen mit häufigen Essattacken.
Es wird davon ausgegangen, dass sich im Krankheitsverlauf Phasen mit geringer und stark ausgeprägter
Symptomatik abwechseln. Im Durchschnitt besteht die Störung mehrere Jahre, ehe der erste
Behandlungsversuch unternommen wird.
Das ist u.a. darauf zurückzuführen, dass die Patienten versuchen, ihre Krankheit zu verheimlichen und
Vorkehrung treffen, damit sie auch nicht von anderen entdeckt werden. Nach einer stationären Therapie
können etwa 40% der Patientinnen als deutlich gebessert und 20% als teilweise gebessert bezeichnet
werden. Bei den übrigen 40% bleibt aber ein Behandlungserfolg aus. (vgl.Medicine World Wide)
3.6 Körperliche Folgen
Die Bulimie kann zu erheblichen gesundheitlichen Schäden führen, wenn sie über längere Zeit besteht.
Mit folgenden körperlichen Gesundheitsschäden muss gerechnet werden:
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Störung des Mineralhaushaltes, hauptsächlich wird Kalium durch das häufige Erbrechen verloren und
damit können Herzrhythmusstörungen auftreten
Übersäuerung der Mundschleimhaut durch den erbrochenen Mageninhalt; dadurch kommt es zu
chronischen Entzündungen der Mundschleimhaut und des Zahnfleisches
Karies
Verletzungen an der Speiseröhre
Chronische Erweiterung des Magens mit allgemeinen Verdauungsstörungen
Chronische Darmträgheit
Vitaminmangelkrankheiten
Hormonstörungen (Amenorrhoe)
Einlagerung von Flüssigkeit in der Haut und in den Gelenken mit Schwellungen und Schmerzen
Chronische Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Neigung zu Krämpfen und allgemeine
Leistungsschwäche
Erhöhte Anfälligkeit für andere Krankheiten, infolge der geschwächten Immunabwehr
Es müssen nicht alle oben aufgeführten Schäden bei jedem Bulimiker gemeinsam auftreten. Jedoch
bleiben auf die Dauer zumindest einige der aufgeführten Folgen nicht aus. (vgl.Leibold,1986,S.51ff)
3.7 Emotionale Probleme
Der in den Fressattacken erlebte Kontrollverlust hat auch psychische Nachwirkungen. Da die Betroffenen
unter einer erheblichen Abnahme ihres Selbstwertgefühls leiden, kommt es zu folgenden Störungen:
●
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●
Angstzustände
Depressionen
Scham- und Schuldgefühle
Diese negativen Gefühle führen auch zu Selbstmordgedanken und enden zum Teil mit einem Suizid tödlich.
(vgl.Leibold,1986,S.51ff)
3.8 Soziale und finanzielle Probleme
Im Verlauf der Suchtkrankheit neigen viele Bulimiker dazu, sich von der Umwelt abzusondern. Die Interessen
beschränken sich hauptsächlich auf das Essverhalten, so dass alles andere an Bedeutung verliert. Da
Geselligkeit oft mit Essen verbunden ist, fürchten sich die Betroffenen vor solchen Anlässen, weil sie wissen,
dass sie ihre Esssucht kaum beherrschen können und nur schwer die Gelegenheit haben, danach unauffällig
alles wieder zu erbrechen. Deshalb wird lieber auf Geselligkeit verzichtet. Des weiteren kommen materielle
Probleme hinzu, denn diese Fressattacken kosten auch Geld. Da die Betroffenen bei einem Anfall alles
verschlingen was greifbar ist, finden sie nicht die Zeit preiswerte Nahrungsmittel auszuwählen. Die
monatlichen Ausgaben für Nahrungsmittel können um das 3-5fache ansteigen, wodurch viele in finanzielle
Schwierigkeiten geraten. (vgl.Leibold,1986,S.53)
4 Theoretische Erklärungsansätze
4.1 Familiäre Faktoren
Als erstmalig erkannt wurde, dass bestimmte Formen des gestörten Essverhaltens, wie die Bulimie,
suchtartigen Charakter annehmen können, versucht man dafür die Ursachen zu finden. Nach dem heutigen
Wissensstand spielt die Familie eine wichtige Rolle bei der Entwicklung suchtartiger Essstörungen. Jedoch
muß einschränkend gesagt werden, dass es kein typisches Familienmilieu gibt, aus dem Bulimiker
hervorgehen, sondern nur einige charakteristische Merkmale, die man häufiger in der Familienvorgeschichte
feststellen kann. Bulimiker stammen meist aus leistungsorientierten, ehrgeizigen Familien.
In der Literatur wird die Ambivalenz der Mutter-Tochter-Beziehung als eine der Hauptursachen für die
Entstehung der Bulimie angegeben.
Bedingt durch die veränderten Familienstrukturen, in denen viel Gleichgültigkeit, Durcheinander und
Feindseligkeit herrscht, geht die Fähigkeit zum Austragen von Konflikten verloren. Außerdem werden in den
betroffenen Familien jungen Mädchen keine Konfliktlösungsmöglichkeiten vorgelebt und Unabhängigkeits-/
Selbstbehauptungsstreben nicht unterstützt. (vgl.Bilden,1994,S.171)
Typisch für die Familien ist, dass die Mütter ausschließlich Hausfrauen sind und die Sorge für die Familie weit
über ihre eigenen Bedürfnisse stellen. Sie können die Töchter schwer unabhängig werden lassen und fühlen
sich eher auf sie angewiesen. Der Kommunikationsstil beruht auf ein double-bind, d.h. es werden
widersprüchliche Botschaften vermittelt. Eine typische Doppelbotschaft ist: "Strebe Beruf und Unabhängigkeit
an, aber als Frau hast Du für die Familie da zu sein".
(Bilden,1994,S.172)
Eine hohe Erwartungshaltung wird von den Vätern berichtet. Einerseits werden Leistungen und Karriere
erwartet, andererseits Familie und Weiblichkeit, verknüpft mit einem guten Aussehen.
Dem Streben nach familiärer Harmonie, die hauptsächlich nach außen um jeden Preis als Fassade
aufrechterhalten wird folgt, dass Konflikte in der Familie nicht ausgetragen, sondern unter den Teppich
gekehrt werden.
In den letzten Jahren wird vermehrt darauf hingewiesen, dass in vielen Fällen ein sexueller Missbrauch in der
Kindheit oder Jugend vorliegt. (vgl.Bilden,1994,S.173)
4.2 Soziale Faktoren
Die sozialen Faktoren spielen eine wichtige Rolle. Jedoch können sie die Essprobleme nicht umfassend
erklären. Letztlich steht fest, dass es keine allgemeingültige Erklärung für suchtartige Essstörungen gibt. Denn
jeder Betroffene hat auch seine individuelle Krankheitsvorgeschichte, bei der oft ähnliche Entwicklungen
erkennbar werden, die aber nur zum Teil verständlich machen, warum es im Einzelfall zur Bulimie kommt. Die
Betroffenen wissen oft keine Beziehung. zwischen dem Beginn der Symptomatik und anderen Ereignissen in
ihrem Leben herzustellen. Aus verschiedenen Studien geht jedoch hervor, dass Versuche abzunehmen am
häufigsten mit ersten sexuellen Erfahrungen im Zusammenhang stehen, während die Fressattacken oft in
Reaktion auf das Verlassenwerden durch den Freund beginnen, um die entstandene innere Leere aufzufüllen.
Ein wichtiger Faktor scheint eine Art Mangelgefühl zu sein. Die Betroffenen leiden häufig unter fehlender
gefühlsmäßiger Geborgenheit und/oder sozialer Annahme. Dazu kommen z.B. Konflikte mit dem Partner und
anderen Menschen sowie die soziale Isolierung. Die Betroffenen haben nicht gelernt Konflikte zu lösen und
können darauf auch nicht sinnvoll reagieren.
Bei der Isolierung spielt neben der Unfähigkeit Konflikte zu bewältigen auch das oftmals anerzogene und
unbewusste Bestreben eine Rolle, nach außen hin eine heile Fassade vorzuspielen.
4.3 Individuelle Faktoren
Die individuellen Ursachen sind aus der lebensgeschichtlichen Entwicklung der Betroffenen zu verstehen und
nur im konkreten Einzelfall nachzuweisen. Sie stehen teilweise mit Erziehungsfehlern in der frühen Kindheit in
Zusammenhang. Erwähnenswert ist, dass diese Faktoren nicht allein bei essgestörten Menschen
vorkommen, sondern auch bei anderen Formen der Abhängigkeit und bei vielen seelischen Störungen ohne
Suchtcharakter.
Die frühkindlichen Erziehungsfehler äußern sich in der Unfähigkeit selbständig zu handeln und eigenständig
zu sein. Folglich wird dadurch die Ablösung vom Elternhaus erschwert bzw. unmöglich gemacht.
Eine weitere wichtige Ursache der Bulimie ist die fehlende Selbstverwirklichung der Betroffenen. Viele haben
nicht gelernt ihre Bedürfnisse und Erwartungen bewusst wahrzunehmen und zu akzeptieren und somit wissen
sie gar nicht, wie sie sich selbst verwirklichen sollen. Außerdem hindert sie die anerzogene Scheu vor
Konflikten daran, sich überhaupt durchzusetzen. Um diesen unbefriedigenden Zustand zu ertragen, suchen
die Betroffenen nach einer Ersatzbefriedigung, die sich hier in suchtartigem Essverhalten ausdrückt. (vgl.
Leibold,1986,S.15ff)
4.4 Soziokulturelle Faktoren
Fest steht, dass sich die sozialen Lebensbedingungen der modernen Industriegesellschaften in den letzten
Jahrzehnten enorm gewandelt haben und noch immer im Umbruch befinden. Im Zuge der Emanzipation
lösten sich die Frauen von dem traditionellen Rollenbild, ohne ein neues befriedigenderes Rollenverhalten
gefunden zu haben. Dies führt neben anderen Risiken des modernen Lebens dazu, dass nach
Ersatzbefriedigungen gesucht wird.
Mit großer Anstrengung versuchen sie nach außen diesen unterschiedlichen Rollenanforderungen gerecht zu
werden. Entstehende Konflikte werden nach innen, mit dem Körper ausgetragen. Ess-Brech-Anfälle sind,
wenn auch sprachlos, ein Protest gegen die massiven, oft nicht zu vereinbarenden Anforderungen zu
verstehen. Das Erbrechen erleben viele Frauen als symbolische Reinigung von Fremdansprüchen.
In der heutigen Gesellschaft gilt ein Schönheitsideal, das insbesondere für Frauen einen schlanken, gesunden
und schönen Körper fordert. Dieses Ideal begegnet Frauen z.B. Tag für Tag in der Werbung oder in
Zeitschriften. Etwa 20% aller Frauen führen regelmäßig Schlankheitsdiäten durch. Nach einer erfolgreichen
Diät erfährt die Person zunächst positive Konsequenzen (Komplimente, Stolz auf ihre Willensstärke). So kann
es geschehen, dass Gewichtskontrolle und schlank sein zu einer wichtigen Quelle für das Selbstbewusstsein
werden. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass gerade junge Frauen, die während der Pubertät bzgl. ihres
Körpers oft sehr unsicher sind, besonders anfällig für Essstörungen sind.
In der Regel wirkt der Bulimiker als sozial gut angepasster Mensch, der nach außen im Prinzip nicht auffallen
will und deshalb das übertriebene Schlankheitsideal unserer Gesellschaft kritiklos übernimmt. Dennoch fühlen
sich selbst untergewichtige Bulimiker immer noch zu dick und leiden unter der Vorstellung, dem Schlankheits ideal nicht gerecht zu werden. Außerdem sind die eigenen Anforderungen an das äußere Erscheinungsbild
noch übertiebener als das allgemeine Ideal. Deshalb können sie trotz ihrer Anpassung an diesen sozialen
Zwang kein positives Selbstbewusstsein erlangen. (vgl.Leibold,1986,S.49)
4.5 Sozialisation
Ein wichtiger Faktor für die Entstehung der Bulimie könnte auch in der Sozialisation der jungen Frauen
begründet sein. Viele Frauen werden heute noch nach dem alten Rollenmodell der abhängigen und
aufopfernden Frau erzogen. Sie darf nicht unabhängig, eigenständig sein und keine eigene Meinung
vertreten, sondern hat sich anzupassen und ihre Identität über die Sorge anderer zu erwerben. Andererseits
wird von ihr gefordert, ein Leistungs- und Prestigeideal zu erfüllen. Ferner finden sich die Einschränkungen
von Autonomiebestrebungen in der Sozialisation von Mädchen stärker als von Jungen. Das könnte unter
anderem eine Erklärung dafür sein, dass hauptsächlich Frauen betroffen sind. (vgl.Wardetzki,1991,S.6)
5 Therapie
5.1 Der Weg in die Therapie
In der Regel ist der Prozess der Überwindung dieser Erkrankung ein langer und teilweise schwieriger Weg,
der viele Jahre dauert und immer wieder von Rückfällen begleitet ist. Der Prozess beginnt mit dem
Eingestehen der Krankheit und dem Wunsch, aus der Anonymität der Sucht heraus zu wollen. Die
Offenbarung der Krankheit ist der erste Schritt, verbunden mit der Erfahrung, dass auch andere betroffen sind
und in ähnlicher Weise leiden. Dazu scheinen Selbsthilfegruppen, die sich vielerorts gebildet haben,
besonders geeignet zu sein. Jedoch ist in den meisten Fällen eine psychotherapeutische Behandlung
unumgänglich.
Das Ziel der Therapie besteht darin, dass an den zugrundeliegenden Konflikten gearbeitet wird, um
Selbstentwicklung und Individualisierung zu erlangen. Die Therapie bezieht sich sowohl auf die
Symptomebene des Essens, als auch auf die Bearbeitung der seelischen Hintergründe. Eine ambulante
Therapie kann dabei helfen. Oft dient sie auch als Vorbereitung auf eine stationäre Behandlung, die in vielen
Fällen unerläßlich ist, vor allem, wenn bereits lebensgefährliche Mangelzustände bestehen. (vgl.
Wardetzki,1991,S.10)
Neben der Einzeltherapie kann auch eine Familientherapie sehr hilfreich sein.
Dabei werden die Angehörigen der Betroffenen mit einbezogen, um den Umgang mit der Erkrankung zu
erleichtern. Der wesentliche Teil der Familientherapie bezieht sich auf die Störungen in der Familie, die hier
ergründet und bearbeitet werden.
Jedoch lehnen Bulimiekranke häufig aus Schamgefühl eine Familientherapie ab.
5.2 Ernährungsmanagement
Die Therapie der Bulimie sollte grundsätzlich in der Klinik erfolgen, wenn bereits schwerwiegende
medizinische Probleme aufgetreten sind. Um einer weiteren Verschlechterung der gesundheitlichen Situation
entgegenzuwirken und die Rückbildung der Funktionsstörungen zu erreichen, ist es unabdingbar zuerst eine
Veränderung des Essverhaltens herbeizuführen. Das Ziel dabei ist, das tägliche Essverhalten zu
normalisieren. Denn Abstinenz vom Suchtmittel ist nicht möglich, weil die Betroffenen täglich mit ihrem
Suchtmittel konfrontiert sind und lernen müssen, damit kontrolliert umzugehen. Neben der ausreichenden
Kalorienzufuhr wird auf eine angemessene Nahrungszusammensetzung und die zeitliche Verteilung der
Nahrungsaufnahme geachtet. Zuvor wird das Essverhalten der Betroffenen analysiert. Außerdem wird die
Patientin über die biologischen und psychologischen Konsequenzen der Mangelernährung aufgeklärt. In einer
Übungsphase erfolgt die Anleitung zur Strukturierung der Nahrungsaufnahme. Hierbei ist anzumerken, dass
beim Ernährungsmanagement oftmals eine starke Kontrolle der Patientin notwendig ist, da die Betroffenen
sich zwar scheinbar auf die Ernährungsumstellung einlassen, jedoch aus Angst vor einer Gewichtszunahme
heimlich erbrechen.
Hilfreich erweist sich mit der Betroffenen auszumachen, dass sie sich für das Einhalten der Therapie selbst
belohnt.(vgl.Medicine World Wide)
5.3 Kognitiv-verhaltenstherapeutische Methoden
Da Bulimie durch tieferliegende Ursachen begründet ist, kann sich die Behandlung nicht allein auf die
Normalisierung der Symptomatik und der ernährungsbedingten Verfassung beschränken.
Daher werden zur langfristigen Behandlung verschiedene Methoden angewandt. Kognitivverhaltenstherapeutische Methoden bauen darauf, dass die erlernten Problemlösungsstrategien, wie das
Erbrechen, um die Angst vor dem Dickwerden zu bewältigen, durchbrochen werden. Dabei soll die Patientin
erfahren, dass nach der Nahrungsaufnahme die Angst vor Gewichtszunahme abnimmt, obwohl sie am
Erbrechen gehindert wird.
In der Therapie wird mit der Patientin untersucht, welche irrationalen Annahmen ihrem Verhalten zugrunde
liegen und anschließend versucht diese zu ändern.
Da bei bulimischen Frauen die Ess-/Brechanfälle häufig nach Belastungssituationen auftreten, werden in der
Therapie mit den Betroffenen andere Bewältigungsstrategien im Umgang mit Problemen eingeübt. Hierbei
werden die Betroffenen in eine Situation gebracht, die bisher einen Essanfall ausgelöst hat und anschließend
daran gehindert, dass dieser auftritt. Dabei werden sie aufgefordert ein anderes Bewältigungsverhalten
anzuwenden. (vgl.Medicine World Wide)
5.4 Gestaltungstherapie
Viele Therapeuten legen einen großen Wert auf die Wahrnehmung, Akzeptierung und Aneignung des
Körpers. Dabei werden kreative Methoden, wie Malen, Musik, Bewegung, Tanzen usw. bevorzugt
angewendet, weil sie bestens geeignet sind, ein Gefühl für den Körper und Beziehung zu anderen zu
entwickeln. Außerdem besteht darin die Möglichkeit, Gefühle und Konflikte auszudrücken.
(vgl.Bilden,1994,S.179)
6 Resümee
Die Essstörung Bulimie ist eine ernst zu nehmende psychische Störung, die uns jederzeit im Privat- und im
Berufsleben begegnen kann. Sei es, dass Bekannte, Freunde und Patienten betroffen sind, als auch unsere
Mitarbeiter. Daher finde ich es wichtig, dass uns diese Problematik bewusst ist und wir bei einer Konfrontation
mit dieser Suchterkrankung, den Betroffenen eine Hilfestellung geben und Therapiemöglichkeiten aufzeigen
können.
Zusammenfassend sei noch einmal herausgestellt, dass alle von Essstörungen Betroffenen wenig Zugang zu
ihren eigenen Gefühlen und Bedürfnissen haben. Sie sind in der Regel nicht konfliktfähig. Statt Ärger und
Konflikte nach außen zu tragen, werden sie selbstschädigend und aggressiv im und am eigenen Körper
ausgetragen.
Betroffen sind meist Mädchen oder Frauen, die nicht genügend vorbereitet sind auf eine selbständige
Lebensführung in einer Gesellschaft, die individuelle Wahl und Gestaltung verlangt.
Das in den Medien immer wieder dargestellte Frauenbild, schlank, hübsch, lieb und fleißig, ist in meinen
Augen kritisch zu betrachten.
Die schlanke Frau aus der Werbung sieht immer gut aus, ist gebildet, immer fröhlich, arbeitet und verdient
Geld und ganz nebenbei macht sie noch den Haushalt und erzieht die Kinder. Obwohl kaum eine Frau diesem
Bild gerecht werden kann, messen sich viele daran.
Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass gerade Frauen mit einem niedrigen Selbstwertgefühl, über bestimmte
Strategien, hier über die Bulimie, versuchen ihre Probleme zu bewältigen.
Literaturverzeichnis
Bilden, Helga: Feministische Perspektiven in der Sozialpsychologie am Beispiel der Bulimie. In: Zugänge
zum Subjekt: Perspektiven einer reflexiven Sozialpsychologie/ hrsg. von Heiner Keupp. 2. Auflage, Frankfurt
am Main. Suhrkamp, 1994
Flöttmann, Holger Bertrand: Angst Ursprung und Überwindung. Kohlhammer Verlag Stuttgart Berlin
Köln. Dritte , erweiterte und überarbeitete Auflage 1993
Gross, Werner: Hinter jeder Sucht ist eine Sehnsucht. Herder Verlag Freiburg. Überarbeitete und
erweiterte Neuausgabe 1995
Klicpera, Christian / Gasteiger Klicpera, Barbara: Klinische Psychologie. Eine Einführung in die
Syndrome psychischer Störungen. WUV Studienbücher Grund- und Integrativ -wissenschaften, Bd.6. WUV
Universitätsverlag Wien, 1996.
Leibold, Gerhard: Wenn das Eßverhalten gestört ist. Ursachen - Formen - Merkmale - Folgen Behandlung. Englisch Verlag, Wiesbaden 1986.
Medicine World Wide: Bulimie http://www.medicine- worldwide.de/ psychische _krankheiten / bulimie.html
Wardetzki, Bärbel: Der Hunger nach Anerkennung. http://www.gestalt.de/wardetzki-bulimie.html. München
1991
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