Essstörungen Anorexia nervosa & Bulimia nervosa - haben mehrere gemeinsame Merkmale o v.a. starke Angst vor Übergewicht Hinweise, dass es sich um 2 Varianten einer Störung handelt Anorexia nervosa: - „Anorexia“ = Appetitverlust - „nervosa“ = emotionale Ursachen - ABER: Anorektiker verlieren nicht Appetit/ Interesse an Essen; trotz Hungern ständige intensive Beschäftigung mit Essen DSM-IV A) Weigerung, ein mindestens normales Gewicht zu halten (entspr. Alter & Größe) B) Angst vor Gewichtszunahme trotz Untergewicht C) gestörte Wahrnehmung der eigenen Figur D) Amenorrhoe bei Frauen (Kriterium ist am wenigsten wichtig) - - ICD-10 Absichtlicher Gewichtsverlust & folgende Kriterien: 1.) Körpergewicht 15% + unter Normalgewicht/ BMI bis 17,5 2.) selbst herbeigeführter Gewichtsverlust 3.) Körperschema-Störung 4.) endokrine Störung der HypothalamusHypohysen-Gonaden-Achse ( ♀:Amenorrhoe; ♂: Libido- & Potenzverlust) 5.) Verzögerte Entwicklung bei präpubertärem Beginn Unterscheidung von 2 Typen im DSM-IV: o restriktiver Typus starke Einschränkung der Nahrungsaufnahme Gewichtsverlust o Binge-Eating/ Purging-Typus regelmäßige Fressanfälle & selbstinduziertes Erbrechen ist stärker psychopathologisch: mehr Persönlichkeitsstörungen impulsives Verhalten Stehlen Alkohol- & Drogenabusus soziale Zurückgezogenheit Selbstmordversuche Epidemiologie: o Beginn: frühe bis mittlere Jugendjahre, oft nach Diät oder belastendem Ereignis o bei Frauen 10 X so häufig wie bei Männern o Lebenszeitprävalenz: < 1% 1 - Komorbidität: o Depressionen Hypothese 1): Anorexie Depression über biochemische Veränderungen infolge Abmagerung über Schuld- & Schamgefühle Hypothese 2): gemeins. Disposition oder umgebungsbedingte Ursachen gestörte familiäre Umgebung/ andere Belastungen Verwandte von Anorektikern haben erhöhtes Depressionsrisiko pro genetische Disposition Patienten zeigen depressiven Attributionsstil o Erklärungen für belastende Lebenssituation führen zu negativen Emotionen Hypothese 3): Depression Anorexie /Anorexie als Depressionsvariante Gewichtsverlust als Symptom der Depression biol. Ähnlichkeiten: niedrige Serotonin-Werte o Zwangsstörungen o Phobien o Panikstörungen o Alkoholismus o versch. Persönlichkeitsstörungen o bei Frauen oft sexuelle Störungen 1.Mal später Orgasmusprobleme fehlende sexuelle Appetenz - Körperliche Begleiterscheinungen (aufgrund Hungern & Abführmitteln): o Blutdruck & Herzfrequenz sinken o Nieren- & Magen-Darm-Probleme o schwindende Knochenmasse o Austrocknung der Haut o spröde Nägel o veränderter Hormonhaushalt o leichte Blutarmut o Haarausfall o Laguna (Flaum am ganzen Körper) o Veränderte Elektrolytwerte (bspw. von Kalium & Natrium) wichtig für Hirnstoffwechsel niedrige Werte Müdigkeit, Schwäche, Herzrhythmusstörungen, plötzlicher Tod o Abnahme der Hirngröße o Störungen im EEG o neurologische Beeinträchtigungen Prognose: o 70% genesen (dauert oft 6-7 Jahre) o Rückfälle sind die Regel Schwierigkeit, verzerrte Selbstwahrnehmung zu ändern o körperliche Komplikationen (dekompensierte Herzinssuffizienz) oder Suizid Tod o Mortalität von Patienten 10X so hoch wie die der Bevölkerung & doppelt so hoch wie die der Patienten mit anderen psych. Störungen - 2 Bulimia nervosa: - „Bulimie“ = Ochsenhunger Hauptmerkmal: Heißhungeranfälle Ausgleichsmaßnahmen (Erbrechen, Fasten, übermäßige körperl. Betätigung) Fressattacke = Verzehr einer riesigen Nahrungsmenge in weniger als 2 Stunden Diagnose trifft nicht zu, wenn Fress-Brech-Episoden nur im Zusammenhang mit Anorexie und dem damit verbundenen Gewichtsverlust auftreten Schweregrad der Störung folgt eher Kontinuum starke Angst, zuzunehmen Selbstachtung hängt vom Gewicht ab Patienten machen korrekte Angaben zum Gewicht (≠ Menschen ohne Essstörung) DSM-IV A) wdh. Episoden von Fressattacken B) wdh. Anwendung von unangemessenen gegensteuernden Maßnahmen C) Dauer mind. 3 Monate (mind. 2X pro Woche) D) großer Einfluss von Figur & Gewicht auf Selbstwert E) nicht nur bei Episoden einer Anorexie ICD-10 Heißhungeranfälle & übertriebene Beschäftigung mit der Kontrolle des Gewichts. Dabei folgende Merkmale: 1.) übertriebene Beschäftigung mit Essen, Heißhunger & Essattacken 2.) Versuche, einer Gewichtzunahme gegenzusteuern 3.) krankhafte Angst, dick zu werden - Fressanfälle: o im Geheimen o evtl. ausgelöst durch Stress & die damit verbundenen negativen Emotionen o bis Patienten sich unangenehm voll fühlen o Gefühl des Kontrollverlusts manchmal sogar dissoziativer Zustand o Nahrungsmittel, die sich schnell essen lassen (bspw. Eis/Kuchen) o Kaloriengehalt unterscheidet sich interindividuell o Scham Versuch, die Anfälle zu verbergen - Ekel & Angst vor Gewichtszunahme: o folgt nach Anfällen o Entleerung, rückgängig machen der Kalorienaufnahme Erbrechen Laxanzien & Diuretika (reduzieren das Gewicht aber kaum) Fasten exzessives Sport Treiben 3 - Unterscheidung von 2 Typen im DSM-IV o Purging-Typus selbstinduziertes Erbrechen o Nicht-Purging-Typus: Fasten oder übermäßige körperl. Betätigung in manchen Untersuchungen: Patienten schwerer weniger häufig Fressanfälle weniger psychische Störungen - Epidemiologie: o Beginn: späte Jugendjahre, frühes Erwachsenenalter o Prävalenz: 1-2% o 90% = Frauen viele vor Beginn übergewichtig, Fressanfälle während Diät o 70% genesen o 10% behalten ihre Symptome vollständig - Komorbidität: o Depression Bulimie & Depression genetisch bedingt o Persönlichkeitsstörungen (v.a. Borderline) o Angststörungen o Substanzmissbrauch o Verhaltensstörungen o deutlich höhere Suizidraten als in Allgemeinbevölkerung o Stehlen diese Patienten nehmen häufig illegale Drogen & wechseln oft den Partner Ausdruck von Impulsivität & fehlender Selbstkontrolle (Merkmale, die beim Binging wichtig sind) - Körperliche Begleiterscheinungen: o Erbrechen Kaliummangel Gewebeverletzungen im Magen & Rachen Verlust von Zahnschmelz Anschwellen der Speicheldrüsen o Laxanzien Diarrhöe veränderter Elektrolythaushalt & unregelmäßiger Herzschlag o geringere Mortalität als bei Anorektikern 4 Binge-Eating-Störung - noch keine formale Diagnose wdh. Episoden von Fressattacken (mind. 2X pro Woche, 6 Monate lang) fehlende Kontrolle während Attacken Verzweifelung über Fressanfälle Patienten essen hastig und allein - Differentialdiagnose: o ≠ Anorexie, da kein Gewichtsverlust o ≠ Bulimie, da keine gegensteuernden Maßnahmen häufiger als Anorexie oder Bulimie öfter bei Frauen als bei Männern hängt mit Übergewicht & Diätversuchen in Vorgeschichte zusammen - damit einher gehen: o Beeinträchtigungen in Berufstätigkeit & sozialen Funktionsfähigkeit o Depression o geringe Selbstachtung o Substanzmissbrauch o Unzufriedenheit mit eigener Figur - Risikofaktoren: o Übergewicht in Kindheit o kritische Kommentare zum Übergewicht o negatives Selbstbild o Depression o körperl. oder sex. Missbrauch in Kindheit - Einige Forscher sehen Binge-Eating als schwächere Version der Bulimie an, da es zwischen Binge-Eating- Patienten und dem Nicht-Purging-Typ kaum Unterschiede gibt 5 Ätiologie der Essstörungen Biologische Faktoren (Hunger, Essverhalten & Sättigung) - Genetische Faktoren bei Anorexie & Bulimie o treten in best. Familien gehäuft auf o Verwandte 1. Grades: 4X so häufig auch Anorexie oder Bulimie wie bei Allgemeinbevölkerung o Zwillingsstudien Einfluss genetischer Faktoren höhere Konkordanzraten für eineiige als zweieiige Zwillinge o Hauptmerkmale von Essstörungen sind offensichtlich erblich o mögliche genetische Diathese - Essstörungen & Gehirn o Hypothalamus steuert Hunger & Sättigung Kortisol wird von Hypothalamus gesteuert bei Anoretkitkern außerhalb der Norm als Folge des Hungerns, nicht als Ursache Hypothalamus-Modell keine Erklärung für verzerrte Körperwahrnehmung & Angst vor Gewichtszunahme Hypothalamus-Dysfunktion ≠ (alleinige) Ursache für Anorexie o Endogene Opioide vermindern Schmerzempfindung heben Stimmung unterdrücken Appetit werden in Hungerphasen freigesetzt Einfluss bei Anorexie & Bulimie Hungern bei Anorektikern erhöhte endogene Opioidwerte euphorischer Zustand wird verstärkt erhöhter Opioidspiegel aufgrund übermäßiger körperl. Betätigung diese wirkt dann als Verstärker niedrige Opioidwerte Heißhunger; Nahrungsaufnahme euphorischer Zustand Fressanfall Bulimie spielen zumindest bei Bulimie eine Rolle hier: niedrige Werte des Beta-Endorphin o Serotonin & Bulimie Serotoninmangel Fressanfälle, da kein Sättigungsgefühl somit wichtiger ursächlicher Faktor Patienten haben geringe Werte von Serotoninmetaboliten Patienten reagieren schwächer auf Serotoninantagonisten verdeutlicht ein nicht ausreichend aktiviertes Serotoninsystem Zusammenhang zw. Serotonin und komorbider Depression & impulsivem Verhalten 6 Soziokulturelle Variablen (Angst vor Gewichtszunahme, verzerrte Wahrnehmung, abnorme Essgewohnheiten) - Veränderte Schönheitsnorm o Exposition gg. kaum zu erreichenden Schönheitsideal Unzufriedenheit mit eigenem Körper gestörtes Essverhalten - Zunehmende Prävalenz von Übergewicht o Nahrung & wenig Bewegung verdoppelte Prävalenz seit 1900 Idealvorstellung ≠ Realität - Diäten - Einfluss der Medien o Konnotationen von Fett & Fettleibigkeit Erfolglosigkeit geringe Selbstbeherrschung weniger Attraktivität Einsamkeit, Schüchternheit, Zuwendungsbedürftigkeit Einfluss des Geschlechts - Frauen: o stark beeinflusst von kulturellen Schlankheitsnormen o Bewertung nach ihrem Äußeren (≠ ♂: nach Leistung) o Diäten & Essstörungsrate am häufigsten in oberer sozioökonomischer Schicht o Models, Tänzerinnen & Turnerinnen: hohes Risiko, zu erkranken Kulturspezifische Unterschiede - Hohe Prävalenz in Industrienationen o Kultur beeinflusst Wahrnehmung des eigenen Körpers Ethnische Unterschiede - 8X so hohe Inzidenz der Anorexie bei weißen im Vgl. zu farbigen Frauen entscheidende Variable ist aber nicht ethnische Zugehörigkeit, sondern die soziale Schicht 7 Psychodynamische Theorien - Symptome zur Bedürfnisbefriedigung o bspw. Stärkung des Gefühls der eigenen Wirksamkeit Einhalten einer Diät Vermeidung des sexuellen Erwachsenwerdens o gestörte Eltern-Kind-Beziehungen als Hauptursache für Essstörungen o best. Persönlichkeitseigenschaften geringes Selbstwertgefühl Perfektionismus - Familiäre Beziehungen & Anorexie o Unfähigkeitsgefühl in Kindheit, wenn Eltern dem Kind Wünsche aufzwingen ohne dessen Bedürfnisse zu berücksichtigen Kind kann eigenen inneren Zustand nicht erkennen & hat kein Selbstvertrauen Anorexie = Versuch, Kompetenz & Respekt zu erwerben & Gefühle der Hilflosigkeit, Unfähigkeit & Machtlosigkeit abzuwehren Anorexie = Mittel, um Kontrolle & Identität zu erwerben - Familiäre Beziehungen & Bulimie o konfliktreiche Mutter-Tochter-Beziehung kein ausreichendes Selbstgefühl Essstörung Fressanfälle & Entleerungen = Konflikt zw. Sehnsucht nach Mutter & Wunsch, sie zurückzuweisen Theorie der Familiensysteme (nach Minuchin et al.) bzgl. Anorexie & Bulimie - - Welchen Platz hat Patient mit Symptomen innerhalb dysfunktionaler Familienstruktur? Kind = physiologisch verletzbar Essstörung = Ersatz für andere Familienkonflikte Merkmale der Familien o Verstrickung übermäßig starke Bindungen & Vertrautheit o Überbesorgtheit o Rigidität Aufrechterhaltung des Status quo o fehlende Konfliktlösung Vermeidung oder chronische Konflikte ABER: unklare Kausalität, Hinweis darauf, dass Essstörungen eher zu Familienkonflikten führen als umgekehrt 8 Persönlichkeit & Essstörungen - auch Essstörung ( Unterernährung) kann Persönlichkeit beeinflussen - retrospektive Berichte über Anorektiker vor Störungsbeginn o perfektionistisch v.a. Versuch, den von Gesellschaft auferlegten hohen Ansprüchen gerecht zu werden o schüchtern o nachgiebig - retrospektive Berichte über Bulimiker vor Störungsbeginn o perfektionistisch o schüchtern o nachgiebig o histrionische Merkmale o affektive Labilität o extravertierte soziale Disposition Problem: verzerrte Erinnerung - - Persönlichkeitsfragebögen für Anorektiker & Bulimiker o starke Tendenz zu emotionaler Labilität & Angst o geringe Selbstachtung o hoher Wert auf Traditionalismusmaß starkes Festhalten an Familie & sozialen Normen o Anorexie vs. Bulimie Anorektiker: Depression, soziale Isolation, Angst Bulimiker: diffusere & schwerwiegendere psychische Störungen - starke Prädiktoren für Risiko einer Essstörung o Neigung zu negativen Emotionen o gering ausgeprägtes interozeptives Bewusstsein Fähigkeit, versch. biologische Zustände des eigenen Körpers zu unterscheiden Kindesmissbrauch & Essstörungen - überdurchschnittlich oft sex. Missbrauch in Kindheit (v.a. Bulimie) o Unklarheit, ob dies für Ätiologie entscheidend ist überdurchschnittlich viel körperliche Misshandlung in Kindheit 9 Kognitiv-verhaltenstheoretische Ansätze Anorexie - positive & negative Verstärkung o Angst vorm Dickwerden & gestörte Körperwahrnehmung = motivierende Faktoren, die Hungern & Gewichtsverlust zu Verstärkern machen o Verhalten, durch das Schlankheit erreicht / aufrechterhalten wird, wird durch Angstreduktion negativ verstärkt o Diäten & Gewichtsverlust werden durch Gefühl der Selbstkontrolle positiv verstärkt - Kritik von Gleichaltrigen & Eltern Bulimie - Teufelskreis: o geringes Selbstwertgefühl & starke negative Affekte o Diät, um sich selbst besser zu fühlen o stark eingeschränkte Nahrungsaufnahme o Diät wird nicht eingehalten o Fressanfall o kompensatorisches Verhalten, um Angst vor Gewichtszunahme zu verringern Zusammenfassung der ätiologischen Komponenten der Essstörungen Prädisponierende Faktoren Psychische Problembereiche Spezifische Symptombildung Sekundäre Symptome Familiäre Faktoren Niedriges (labiles) Selbstwertgefühl Extreme Bedeutung von Figur & Gewicht Ängste, Depressionen Soziokulturelle Faktoren Identitäts- & (Schlankheitsideal, Autonomiekonflikte Geschlechtsrollenstereotyp) Teufelskreis von Untergewicht, Erbrechen, Heißhungeranfällen & Diät Beziehungsstörungen Individuelle Faktoren (Trennungserlebnisse, sex. Traumata) Interaktionelle Probleme (Vermeidung sex. Kontakte, soziale Rückzugstendenzen) KörperschemaStörungen Biologische Faktoren (Serotoninmangel, SetPoint) Geringe Fähigkeit, Stress & Spannungen zu ertragen Vermehrte Körperliche Leistungsorientierung Folgeerscheinungen 10 Behandlung der Essstörungen Biologische Behandlungsmöglichkeiten - Antidepressiva bei Bulimie o aber Therapieabbrüche & Rückfälle, wenn Medikament abgesetzt Psychologische Behandlung der Anorexie - Zweistufige Behandlung o 1.) Gewichtszunahme, um medizinische Komplikationen & Todesgefahr zu minimieren operante Konditionierung: Isolierung, Belohnung für Essen & Gewichtszunahme o Gesellschaft, TV, Radio, Spaziergänge, Post, usw. o 2.) langfristige Beibehaltung des Gewichts medizinische, verhaltenstherapeutische, psychodynamische Interventionen - Ich-Analysen Förderung der Selbständigkeit - Familientherapie Psychologische Behandlung der Bulimie Kognitive VT - Infragestellen von Normen & Überzeugungen regelmäßiges Essen als grundlegendes Behandlungsziel alternativer Umgang mit Belastungen Reaktionsverhinderung bei Konfrontationen o keine Entleerungsmaßnahmen nach Essen bei VT gleichzeitige Einnahme von Antidepressiva zur Linderung der komorbiden Depression Selbsthilfegruppen beste Wirksamkeit mit VT Interpersonale Therapie - Verbesserung der zwischenmenschlichen Beziehung im Fokus vergleichsweise gute Wirksamkeit aber nicht so schnelle Ergebnisse 11