spielzeiteuropa 05/06 Zeitung

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OKTOBER
22. + 23. Oktober | 19:30
Spielort: Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
Andriy Zholdak (Charkiw/Ukraine)
Romeo und Julia. Das Fragment nach William Shakespeare
Uraufführung
NOVEMBER
11. – 13. November
Guy Cassiers / ro theater (Rotterdam)
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
> Fr 11. November | 18:30
Proust 1: De kant van Swann – In Swanns Welt
> Fr 11. November | 22:30
Sa 12. November | 16:30
> Sa 12. November | 20:00
Proust 3: De kant van Charlus – In Charlus’ Welt
> So 13. November | 20:00
Proust 4: De kant van Marcel – In Marcels Welt
18. + 19. November I 20:00
Aydin Teker (Istanbul)
23. – 26. November | 20:00
27. November | 17:00
Claude Régy (Paris)
Proust 2: De kant van Albertine – In Albertines Welt
aKabi
Uraufführung
4.48 Psychose von Sarah Kane
DEZEMBER
Lloyd Newson / DV8 Physical Theatre (London)
1. – 3. Dezember | 20:00
8. – 10. Dezember | 20:00
Just for Show
10. + 11. Dezember | 15:00
Jossi Wieler / Theater X (Tokio)
Yotsuya Ghost Story nach Tsuruya Nanboku
Europäische Erstaufführung
16. – 18. Dezember | 20:00
Simon McBurney / Complicite (London)
Measure for Measure von William Shakespeare
JANUAR
in Planung
12. + 13. Januar | 22:00
14. Januar | 18:00 + 22:00
Hans Peter Litscher (Paris)
12. – 14. Januar | 20:00
Hotel Pro Forma (Kopenhagen)
25. + 26. Januar | 19:30
Gilles Jobin (Genf)
26. Januar | 21:30
15., 20. + 21. Januar | 18:00 + 20:00
Ein Käfig ging einen Vogel fangen Annäherungen an Kafkas Relativitätstheorie
27. + 28. Januar I 20:00
Uraufführung
Ich bin nur scheintot nach Hans Christian Andersen
Steak House
Deutschsprachige Erstaufführung
François Sarhan / Bertrand Raynaud / Fred Pommerehn (Paris, Berlin)
Les articulations de la Reine (Knochen und Zungen der Königin)
FEBRUAR
2. – 4. Februar | 20:00
The Forsythe Company (Dresden, Frankfurt/Main)
Three Atmospheric Studies
Änderungen vorbehalten
V E R A N S T A L T U N GSORT
VORVERKAUF
KOSTENLOSES ABO
Haus der Berliner Festspiele
Kasse im Haus der Berliner Festspiele
spielzeiteuropa – die Zeitung
Schaperstraße 24
Schaperstraße 24 | Mo bis Sa 14:00 – 18:00
Die nächste Ausgabe der Zeitung erscheint
10719 Berlin-Wilmersdorf
im Nov auch So 14:00 – 18:00
Ende November 2005 (Dezember-Programm)
U3 + U9 Spichernstraße | Bus 204, 249
… und bei allen bekannten Theaterkassen
– kostenlos zu abonnieren unter:
Karten + Informationen Tel (030) 254 89-100
«Romeo und Julia. Das Fragment»
Mo bis Fr 10:00 – 18:00
Tel (030) 254 89-100
in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
Im Internet: www.berlinerfestspiele.de
Fax (030) 254 89-230
10178 Berlin-Mitte
[email protected]
S + U Alexanderplatz | U2 Rosa-Luxemburg-Platz
Ermäßigte Karten auch im Vorverkauf
[email protected]
Bus 200, 240 | Tram M2, M8
Abendkasse jeweils 1 Stunde vor Vorstellungsbeginn
www.berlinerfestspiele.de
spielzeiteuropa – die Zeitung begleitet, wie im letzten Jahr, die Tanz- und Theatersaison mit aktuellen Programminformationen und Hintergrundberichten zu Stücken und Künstlern sowie einem ausführlichen Porträt des «Regisseurs des
Interview Guy Cassiers > 4
Proust 1–4 > 7
Guy Cassiers großer Zyklus nach Proust und Claude Régys Erarbeitung von Sarah Kanes letztem Stück «Psychose 4.48»
beschreiben keine Erinnerungen im herkömmlichen Sinn. Sie sind, so unterschiedlich Material und theatraler Zugriff
sein mögen, szenische Darstellung von Erinnerungsprozessen: im postkommunistischen Charkiw, im großflächigen Ge-
aKabi > 9
4.48 Psychose > 10
ver
del
ov
«Der Körper erinnert…» ist die zweite spielzeiteuropa überschrieben. Andriy Zholdaks «Romeo und Julia. Das Fragment»,
Claude Régy: Außenseiter und Vorbild > 11
Programmüberblick > 12
ej S
Monats».
Romeo und Julia. Das Fragment > 3
Fot
oS
erg
sellschaftsbild Prousts, in der suizidalen Vorhölle Sarah Kanes. Der Körper im Theater, realer Schauspieler und tatsächliche Fiktion in einem, steht in dieser Doppelung für die so einzig im Theater mögliche Herausforderung: Erinnerung zu
zeigen, die mit der Erinnerung des Betrachters verschmelzen kann. Proust nannte diese spontane, durch eine Sinneswahrnehmung ausgelöste Erinnerung souvenir involontaire. Theater verkörpert vor allem diese «Souvenirs» als ungeheu-
… Medea in Berlin
ren Raum zum Schauen.
Allen Lesern eine anregende Lektüre und spannende Theaterabende wünscht
Zwei weitere Gastspiele und eine Neuinszenierung
Die Redaktion
von Andriy Zholdak an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
17. Oktober | 19:30
Fluch und Sühne von Stefan Schmidtke
Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch
nach Alexander Solschenizyn
Wie nur kann man einen Fluch loswerden? Zu spüren war
jungen Ukrainischen Sowjetrepublik. Das legendäre
lassen ihren Emotionen in völliger Glückseligkeit freien
er überall, doch keiner wusste, wann und wie er über das
«Haus der Staatlichen Industrie» («Gosprom») wurde ge-
Lauf. Andere sind voller Hass und Ablehnung und fordern
Schewtschenko-Theater im ukrainischen Charkiw herein-
rade hochgezogen. Mit seinen elf Stockwerken kündet der
wie besessen das Verbot der Aufführungen und die Ver-
gebrochen war. Die Direktoren verließen, einer rasch ge-
noch immer beeindruckende Gebäudekomplex am riesi-
treibung dieses «Regie-Scharlatans». Mittlerweile tourt
folgt vom nächsten, glücklos das Theater. Die Regisseure
gen Dsershinski-Platz von den Aufbruchszeiten, als man
das Ensemble mit zahlreichen preisgekrönten Inszenie-
verzweifelten. Das Haus schlummerte einen Dornröschen-
daran ging, den «Neuen Menschen» zu erschaffen.
rungen durch ganz Europa.
schlaf. Für den Namensgeber, den ukrainischen Dichter
Das Theater hieß damals «Berezil». Im Ukrainischen be-
Den finalen Befreiungsschlag führte das Regiegenie
Taras Schewtschenko
schreibt das Wort «Berezil» den Zustand der Natur im
schließlich im Mai 2004 auf einer Gastspielreise an ei-
(1814–1861), wäre
Frühling, wenn die Wasser das Eis aufbrechen. Kurbas in-
nem grauen Sonntagmorgen im noch schläfrigen Wien.
Andriy Zholdak
Romeo und Julia. Das Fragment
Romeo und Julia in Charkiw …
Regie, Bühne, Kostüme | Andriy Zholdak
Gastspiel des Shevchenko-Theaters, Charkiw/Ukraine
19. Oktober | 19:30
Monat der Liebe
nach Iwan Turgenjew
Regie, Bühne, Kostüme | Andriy Zholdak
Gastspiel des Shevchenko-Theaters, Charkiw/Ukraine
Am 5. September hat Andriy Zholdak in Charkiw in der
sierte Fehlentwicklungen der postkommunistischen Ge-
es ein Albtraum ge-
szenierte erstmals die Stücke des jungen Dichters Myko-
Der kräftige Intendant mit wildem Haarschopf, gefolgt
Ostukraine mit zwei öffentlichen Proben die Arbeit an sei-
sellschaft: die tragische Verstrickung von alten und neuen
16. November | 19:30 Premiere
wesen.
la Kulish – ein Zeitgenosse, der später Kurbas’ Schicksal
von einem wunderlichen Tross aus beleibten Damen mit
nem «Romeo-und-Julia»-Fragment abgeschlossen. Es ist
Ausweglosigkeiten, wo jede Liebe zwischen Menschen,
Uraufführung
Es musste etwas Au-
teilen sollte. Im Jahre 1933 setzte das NKWD (Nationa-
kahlgeschorenen Köpfen, zierlichen Blondinen in hauten-
eine Auseinandersetzung mit der Stadt, in der er seit drei
bereits bevor sie sich entwickeln kann, auf dem Müll lan-
Medea in der Stadt
ßergewöhnliches pas-
les Komitee für Innere Angelegenheiten – das Vorläuferor-
gen Kleidern, Kindern, zittrigen älteren Herren in Turn-
Jahren Theaterdirektor ist und das Komplementärstück
det, wie die Föten in den privaten Abtreibungspraxen, die
Regie, Kostüme | Andriy Zholdak
sieren. Man berief
gan des sowjetischen Geheimdienstes KGB) der jungen
schuhen, einem zottigen Hund und allerlei Jungvolk,
zu seiner Auseinandersetzung mit «Medea» in Berlin, sei-
in Charkiw neuerdings zu finden sind.
Bühne | Andriy Zholdak, Susanne Münzner
zum x-ten Mal einen
Blüte der Kultur ein jähes Ende. Die Schauspieler wurden
stapfte zielsicher durch die engen Gassen des achten Ge-
ner ersten Regiearbeit in Deutschland (Uraufführung
Hier arbeitet Zholdak – ohne den Formenkanon seiner
Koproduktion der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
neuen Intendanten:
unter Druck gesetzt, sich in einer Debatte gegen Kurbas
meindebezirks. Auch der unablässig niederprasselnde
«Medea in der Stadt» am 16. November an der Volksbüh-
Traumsprache zu verlassen, aber mit Mut zum Eklekti-
und dem Shevchenko-Theater, Charkiw/Ukraine
den Regisseur An-
und den von ihm beschrittenen künstlerischen Weg aus-
Regen konnte die Schar der Charkiwer Schauspieler nicht
ne am Rosa-Luxemburg-Platz).
schen – die einzelnen Konfliktzonen ab: Erstarrung und
weitere Vorstellungen 17. + 18. November
driy Zholdak – An-
zusprechen. Nach einer Abstimmung, bei der ihn seine
davon abhalten, genau dort, wo Les Kurbas als Student
Zholdak inszeniert nicht die tragisch-paradigmatische
Wut, Ohnmacht und Anmut, Beziehungen zwischen den
weitere Informationen www.volksbuehne-berlin.de
fang vierzig, hoch
eingeschüchterte Truppe im Stich ließ, wurde er seiner
gewohnt hatte – neben der Schankwirtschaft «Zur närri-
Liebesgeschichte von Romeo und Julia. So weit kommt es
Geschlechtern und Generationen, Alltag und Traum, Cha-
aufgeschossen und niemals zu überhören. Zholdak, der in
Funktion enthoben und das Theater umbenannt. Kurbas
schen Kastanie», wo heute eine Gedenktafel angebracht
gar nicht in dieser mit den alten Geistern der Vergangen-
os und Ordnung. Eine intensive Totalität entsteht. Die
Moskau beim berühmten Anatolij Wassiljew studiert hat
verschwand in einem Konzentrationslager. Nach seiner
ist –, auf der Straße auf die Knie zu fallen. Der Intendant
heit und den neuen Gespenstern der Gegenwart kämp-
Schauspieler verkörpern die ganze Bandbreite menschli-
und dann an verschiedenen Theatern in Russland und der
Erschießung 1934 verfluchte seine Witwe dieses Theater
sprach eindringlich zu seinen Leuten. Von Schuld und
fenden Stadt. Für den ganzen ersten Teil reicht ihm der
cher Möglichkeiten. Sie treten fast immer als Kollektiv
Ukraine arbeitete, ist für die verfallene Industriestadt
und seine Schauspieler. Der Ort, an dem Kurbas’ Leiche
Sühne, von Zukunft und Verantwortung, von der Liebe
kurze Prolog des Chors als Zeitdiagnose vollkommen aus,
auf, und trotzdem wirkt jeder einzigartig – eine Ansamm-
Charkiw das, was man als «Luxus pur» bezeichnen könn-
vergraben wurde, ist bis heute nicht bekannt. Die einzi-
zum Theater und der Kunst, bis sich aus aller Munde ein
er wird immer wieder skandiert: «Zwei Häuser, beide
lung sehr besonderer Individuen. Sie stürzen sich mit Be-
22. + 23. Oktober | 19:30
te. Anstandslos betreibt er Eigenreklame. Er legte sich
gen Dokumente aus dieser künstlerisch fruchtbaren Zeit,
«Vergib uns, Les!» in den grauen Himmel erhob. Das Wei-
gleich an Würde, brechen aus altem Groll in neuen Streit
geisterung in die Niederungen eines entgleitenden All-
Spielort: Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
den Titel «Tobilewitsch IV.» zu (die Tobilewitschs, seine
ein paar Fotos, Bühnenbildentwürfe und Texte, sind im
tere kann man sich am besten als Intermezzo in einer
aus, in dem Bürgerblut Bürgerhände unsauber macht.
tags, nach einer vom Volk erkämpften «Revolution», die
Vorfahren, spielten eine wichtige Rolle im Theaterleben
staubigen kleinen Theatermuseum im Foyer des Theaters
Zholdak-Inszenierung vorstellen: Die Wolkendecke stiebt
Aus den unheilvollen Lenden dieser beiden Feinde erhält
vielen offenbar schon nach wenigen Monaten nur noch
der Ukraine), geniert sich nicht, von sich selbst in der
zu besichtigen. Der Geist der Vergangenheit scheint noch
auseinander, und der Himmel beginnt in magischen Far-
ein Paar sterndurchkreuzter Liebender das Leben; deren
als kosmetische Operation erscheint, als ein Austausch
Romeo und Julia. Das Fragment
dritten Person zu sprechen und zettelt an jeder Ecke
nicht ganz verschwunden zu sein.
ben zu schimmern. Auf einer watteweichen Wolke
unglücklicher trauriger Untergang begräbt mit ihrem Tod
von Herrschaftstechniken.
nach William Shakespeare
Skandale an. «Wenn es im ‹Hamlet› wirklich nackte Men-
2002 stürzte sich die Schauspielertruppe gemeinsam mit
schmiegt sich die Seele der leidgeprüften Witwe Kurbas’
den Streit der Eltern …»
Und dann findet man doch noch einiges Spezifische aus
schen zu sehen gibt, bleibt der Bürgermeister der Pre-
ihrem neuen Intendanten in die Arbeit. Das Ensemble
an ihren geliebten Les, welcher auf das versammelte
Die 42 Akteure, darunter einige der berühmtesten Schau-
Shakespeares «Romeo und Julia» wieder, sogar an Texten.
miere fern», lautete eine Warnung aus dem Bürgermeis-
wurde in zwei Gruppen aufgeteilt. Beide probierten gleich-
Schauspielervolk hinabblickt – und wahrscheinlich sprach-
spielerInnen der Ukraine, «verdiente Schauspieler des
Wie der französische Theaterprofessor Georges Banu über
Bühne | Andriy Zholdak, Tatjana Dimowa
teramt. Die lange von den Verwirrungen des modernen
zeitig an ganz unterschiedlichen Materialien: die eine
los ist … Als die Schauspieler diese Ruhe in sich aufge-
Volkes», und zwei Schauspielprofessoren begeben sich,
Zholdak sagte, benutzt dieser Texte eher als «Werkzeug»
Kostüme | Tatjana Dimowa
Musik, Toninstallation | Alexander Schetynsky
Theaters verschonten Bürger der Stadt Charkiw klauen
Hälfte an einer freien Fantasie nach Alexander Solscheni-
nommen haben, springen sie auf und fallen sich, weinend
anfangs streng nach Geschlechtern getrennt, in ein dyna-
zur Erzeugung von Explosionen. Die Liebe als Blitz aus
neuerdings mit Vorliebe Theaterplakate aus den Schau-
zyns Lagernovelle «Ein Tag im Leben des Iwan Denisso-
vor Glück, in die Arme. So haben sie den Fluch von ihrem
misches Ritual des Exzesses und der Reinigung. Sie ent-
heiterem Himmel. Das Risiko der Begegnung, das Miss-
Theater genommen.
wickeln dabei eine Kraft, wie man sie vielleicht nur mit
trauen, das jeder Liebe eigen ist, und auch eine Ahnung
den frühen Chorarbeiten von Einar Schleef vergleichen
von der paradoxen Überfülle dieses Gefühls: «Ich wün-
Uraufführung | Koproduktion
Idee, Regie | Andriy Zholdak
kästen. Die Ankündigungen zu «Monat der Liebe», Plaka-
witsch», die andere an einer Version nach Turgenjews
te mit kopulierenden Hunden, mussten schon zum dritten
«Ein Monat auf dem Lande» – abgewandelt zu «Monat der
Mal neu aufgelegt werden.
Liebe». Zholdaks Inszenierung des «Iwan Denissowitsch»
Stefan Schmidtke, 35, ist leitender Dramaturg/Schauspiel
kann. Das ist kein Theater mehr und geht weit über eine
sche nur, was ich bereits besitze. So grenzenlos ist mei-
Dauer ca. 3h 30 | eine Pause
Das Schewtschenko-Theater mit seinen heute rund 200
ist keine Bühnenfassung des Buches, sondern kompo-
bei den Wiener Festwochen.
normale Bühnenpräsentation hinaus. Der Text wird zum
ne Huld, die Liebe, so tief das Meer, je mehr ich gebe, je
In ukrainischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Mantra, Schauspieler und Publikum nähern sich trance-
mehr auch hab ich: beides ist unendlich.»
Karten 10,- / 15,- / 20,- / 25,- / 30,-
haften Zuständen. Und trotzdem ist alles leicht und ir-
Das Skandalöse an dieser Inszenierung ist nicht ihr tabu-
mit Darstellern des Shevchenko-Theaters, Charkiw/Ukraine
Mitarbeitern ist eines von sechs Repertoirehäusern in der
niert aus eindrucksvollen Bildern eine Apparatur der Ent-
1,5-Millionenstadt. In den Jahren 1926 bis 1933 wurde
menschlichung in Ordnungen, in denen Unterdrückung
an diesem Haus ukrainische Theatergeschichte geschrie-
regiert. Wo geschwiegen wird, spricht sein Theater be-
eigenen Wunsch die Leitung des Schewtschenko-Thea-
gendwie selbstverständlich.
loser Blick in die Abgründe menschlichen Zusammenle-
Eine Koproduktion von
ben. Der Regisseur Les Kurbas, der in Wien am Reinhardt-
redt. Seine Metapher vom Gang durch das menschliche
ters in Charkiw ab. Vorausgegangen waren dieser Ent-
Der zweite Teil steht unter einem vom neuen ukrainischen
bens in einer zerfallenden Welt, sondern die Schönheit
State Academic Drama Theatre «T. Shevchenko», Charkiw
Seminar studiert hatte und den man auch den «ukrai-
Chaos ist eine Warnung an die postsowjetische Gesell-
scheidung Auseinandersetzungen mit der Stadt im Zu-
Präsidenten Juschtschenko jüngst ausgerufenen Motto
der Bilder, die dabei entstehen.
«Agency Culture-Europe»
nischen Meyerhold» nennt, war mit seiner in Kiew
schaft. Zholdaks Theater versetzt seine Zuschauer in ei-
sammenhang mit seinen letzten Inszenierungen.
ähnlich kulturkonservativen Inhalts wie neulich das des
gegründeten Theatertruppe in das Haus nach Charkiw
nen Zustand der Freiheit. Die einen haben beim Nach-
deutschen Bundespräsidenten: «Kunst muss volksver-
Carl Hegemann, Dramaturg der Volksbühne am
umgezogen. Die Stadt war seit 1918 die Hauptstadt der
hauseweg entzündete Augen, gestikulieren aufgeregt und
bunden und erbaulich sein.» Dieser Teil zeigt auf tabui-
Rosa-Luxemburg-Platz
Anm. d. Red.: Anfang September gab Andriy Zholdak auf
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin
spielzeiteuropa | Berliner Festspiele
Guy Cassiers, neben Luk Perceval und Johan Simons einer
Tee getunkte Madeleine. Dieses Theater hat für mich vor
der führenden Regisseure der niederländisch-flämischen
allem damit zu tun, eine verlorene Vergangenheit aufzu-
kann ich die beiden Komponenten eines Ereignisses, Bild
Theaterszene, wurde 1960 in Antwerpen geboren und stu-
spüren und ihre Geschichte zu erzählen.
und Ton, asynchron benutzen, das macht für mich die
dierte Grafikdesign an der dortigen Kunstakademie. Erste
Auto vorbeifahren und hört es gleichzeitig. Im Theater
Kraft des Theaters mit aus. Wenn wir ein Auto sehen, müs-
Theaterprojekte ab 1982, u. a. «The Cement Garden» nach
spielzeiteuropa
sen wir es nicht auch noch hören. Dass das Auto schließ-
Ian McEwan (1984). Von 1988 bis 1992 war er künstleri-
Welche Erfahrungen haben Sie mit eingeschworenen
lich vorbeigefahren ist, muss ich nicht noch zeigen, wenn
scher Leiter der Oud Huis Stekelbees Company, ab 1992
Proust-Lesern gemacht?
ich es höre. Man kann also verschiedene Informationen
das ro theater in Rotterdam, dessen künstlerischer Leiter
Guy Cassiers
Dabei hoffe ich den Zuschauer zu aktivieren, der die Din-
freier Regisseur u. a. für das Kaaitheater in Brüssel und
an verschiedene Sinne weitergeben und dabei aufteilen.
er 1998 wird. Im Frühjahr 2003 beginnt Guy Cassiers, der
Merkwürdigerweise verhalten sich die Proust-Leser bei-
ge zusammenfügt und sich somit sein eigenes Kunstwerk
in der Verbindung von literarischen Texten mit multimedia-
nahe, als würden sie zu einer Sekte gehören. In jedem
schafft. Seinen eigenen Film, wenn Sie so wollen. Erinne-
len Formen eine ganz eigene Theatersprache entwickelte,
Land gibt es eine Proust-
die Arbeit an seinem vierteiligen Zyklus nach Marcel
Gesellschaft. Meist geht
Prousts «Á la recherche du temps perdu». «Proust 1-4»
es da gar nicht so litera-
wird nun erstmals vollständig im deutschsprachigen Raum
turwissenschaftlich zu.
vorgestellt (der dritte Teil war bereits bei der vergangenen
Man trifft sich, um sich
spielzeiteuropa zu sehen). Im kommenden Jahr wird
über die «Recherche»
Guy Cassiers als Intendant Nachfolger von Luk Perceval
auszutauschen, weil sie
am Het Toneelhuis Antwerpen.
nach der langen Lektü-
Das schönste Kompliment
ist, wenn die Leute hinterher
sagen: Jetzt will ich Proust
auch lesen.
rung ist also mit
Proust der eigentliche Projektionsraum, in dem der
sich
Erinnernde
gleichsam Regie
führt. Dann gibt
es aber auch noch
re unweigerlich zu ei-
die unfreiwilligen
nem Teil des Lebens geworden ist. Von diesen Experten
oder unwillkürlichen Erinnerungen (Prousts souvenir involontaire), die darin untergebracht werden müssen.
spielzeiteuropa
haben natürlich viele unsere Aufführungen besucht. Sie
Die Frage, ob man Romane für die Bühne bearbeiten soll
freuen sich einerseits, dass das Buch diese Aufmerksam-
bzw. überhaupt kann, wird zurzeit wieder einmal heftig
keit durch das Theater erhält, andererseits ist hinterher
spielzeiteuropa
diskutiert. Prousts «Recherche» ist allein ihres Umfangs –
die häufigste Frage: Warum fehlt denn diese wichtige
Setzen Sie da auch auf die unwillkürlichen Erinnerungen
mehr als 4000 Seiten –, aber auch ihrer Erzählweise we-
Passage oder jenes Motiv? Insgesamt haben wir von Sei-
der Zuschauer?
gen ein Sonderfall. Warum haben Sie gerade dieses Werk
ten der Proust-Fans den größten Zuspruch erhalten. Wir
gewählt?
haben ihre schlimmste Befürchtung, der Roman würde in
Guy Cassiers
kleine Anekdoten für die Bühne aufgelöst, widerlegt. Es
Ein Zoom beispielsweise kann für einen Moment, in dem
Guy Cassiers
geht auch bei uns um einen mentalen Zustand, die Be-
es nur um diese eine Figur geht, dazu beitragen, dass
Der eigentliche Anlass für mich war ein Drehbuch von Ha-
deutung der sinnlichen Wahrnehmung. Womit wir bei der
sich der Zuschauer die Umgebung oder das, was er in
rold Pinter, das nie verfilmt wurde. Ich glaube nicht, dass
für Proust so wichtigen Behauptung sind, dass diese
diesem Moment nicht sieht, vorstellen will. Das ist viel-
es sich dabei um eine gute Adaption des Buches handelt,
Wahrnehmung erst die Wirklichkeit erschafft.
leicht der Punkt, wo die Erinnerungswelt Prousts und sei-
aber es regte mich trotzdem dazu an, mich eingehender
ner Figuren mit der Erinnerungswelt des einzelnen Zu-
mit Proust zu beschäftigen. Paradox an Pinters Entwurf
spielzeiteuropa
ist, dass er das Ganze in Bilder aufzulösen versucht, wäh-
Für die eigene Wirklichkeit des Theaters setzen Sie ver-
höchste Ziel als Regisseur: Was kann ich so kunstvoll aus-
rend es doch hauptsächlich um Sprache und die Schön-
schiedene Bilder auf unterschiedlichen Projektionsflä-
lassen, dass die Bühne mit der inneren Welt ihres Betrachters verschmilzt.
heit der Sprache geht. Pinter hat praktisch keine Zeile
chen ein, wodurch eine Art filmischer Raum der Erinne-
von Proust übernommen und auch die Dialoge der Figu-
rung entsteht. Hatten Sie dafür von vornherein einen
ren neu erfunden. Trotzdem hat er die Essenz des Bu-
fertigen Stücktext?
ches voll erfasst, allerdings so, dass man den Film nur
schauers zusammentreffen kann. Das ist für mich das
spielzeiteuropa
Versuchen Sie eine kurze Einführung in die vier Abende,
mit guter Kenntnis des Romans verstehen würde. Woran
Guy Cassiers
vom Porträt des Künstlers als junger Mann und seiner
das Filmprojekt dann wahrscheinlich gescheitert ist.
Bei diesem Projekt – wie bei anderen übrigens auch – ha-
ersten Liebe bis zum Schriftsteller, der seine Geschichte
ben wir nicht mit dem Text für die Bühne angefangen,
erinnert und beginnt, sie aufzuschreiben.
spielzeiteuropa
nicht mit Dialogen, sondern mit Texten, die zunächst ein-
Ihre Version ist also nicht nur für Proust-Kenner?
mal die innere Welt der Figuren erforschen sollten, ihre
Guy Cassiers
Gedanken. Die andere Seite des Verfahrens war die Frage,
Sie beginnt mit dem allerschönsten Moment von Marcels
Guy Cassiers
wie sich das für die Zuschauer entwickeln würde. In die-
Leben, dem Gute-Nacht-Kuss seiner Mutter. Dieser Mo-
Unsere Inszenierung kann man verstehen, ohne den Ro-
sem Sinne verwende ich auch die Kamera: nicht um mehr
ment, bevor er den Kuss erhält, soll in der Erinnerung so
manzyklus zu kennen. Das schönste Kompliment für mich
zu zeigen, sondern eigentlich um weniger, aber dafür kon-
lange wie möglich ausgedehnt werden. Der Kuss selbst ist
ist, wenn die Leute hinterher sagen: Jetzt will ich auch
zentrierter sehen zu lassen. Dabei erscheint mir wichtig,
ja nur kurz und schnell vorbei. Das ist die Grundbewe-
den Roman lesen. Die «Recherche» gehört ja offensicht-
was der Bildausschnitt nicht zeigt, was man nicht sieht.
gung, jeden Moment vor etwas Bedeutendem auszudeh-
lich zu den Werken der Weltliteratur, die ungelesen zu
Das ist für mich genauso wichtig wie das, was man sieht.
nen, damit man damit weiterleben kann. Alle vier Abende
Hause im Regal stehen. Prousts Roman ist faszinierend,
In diesem Sinne kann man bei uns von Film sprechen und
beginnen und enden wie in einer Art Vortraum zwischen
und doch muss ich zugeben, dass ich mich an einigen
seinen spezifischen Techniken wie Schnitt, Montage,
Noch-Wachsein und Schlaf, es geht also immer um die
Stellen richtig gelangweilt habe. Wenn ich mir aber die
Sound.
langen Momente dazwischen. Eine Person erscheint auf
Komposition dieses Riesenwerks vor Augen halte, dann
der Bühne und scheint sich den Kopf abzuschneiden, wo-
haben selbst solche Stellen natürlich ihre erkennbare
spielzeiteuropa
rauf ihr Gesicht auf der Projektionsfläche erscheint: der
Funktion, und man staunt, wie weit Proust gegangen ist.
Wobei diese einzelnen Mittel auf der Bühne auseinander
Weg in den mentalen Zustand der Erinnerung – als Ouver-
Sein ganzes Leben in einem Roman festzuhalten, das nö-
zu treten scheinen.
türe des Ganzen.
tigt mir den höchsten Respekt ab. Proust versucht bis ins
Der erste Abend ist der Kindheit gewidmet und besteht
kleinste Detail zu ergründen, wie seine Sinne funktionie-
Guy Cassiers
aus zwei Teilen. Marcel und die drei Frauen um ihn her-
ren. Für mich war die größte Herausforderung, das auf die
Der große Unterschied zum Film ist, dass dort die Sin-
um: seine Mutter, Gilberte, das erste Mädchen, in das er
Bühne zu bringen, was den Sinnesreiz auslöst, wie die in
neswahrnehmungen synchronisiert sind: Man sieht ein
sich verliebt, und deren Mutter, in die er sich auch ver-
spielzeiteuropa
spielzeiteuropa
Was bedeutet das für die Schauspieler?
Gilberte, der obendrein den Gute-Nacht-Kuss verhindert,
Am Ende zeigt sich die «Recherche» mit der Figur ihres
wenn er zu Besuch ist, den Jungen aber in die Welt der
Schöpfers als Szene eines Einsamen, der eine Welt her-
Kunst einführt. In diesem Verhältnis steckt schon alles,
vorruft und gleichsam darin stirbt. Genau dieser Punkt,
Guy Cassiers
was später von Bedeutung sein wird: die ästhetisierende
der in der biographischen Literatur oft überhöht wird, fin-
Wie eingangs gesagt, ich benutze oft die Situation des
Idealisierung des Körpers und parallel dazu ihre Bezie-
det hier eine konkrete theatrale Deutung. Gab es dafür
Films für die Arbeit auf der Bühne. Für die Schauspieler
hung zur Kunst.
Anregungen?
heißt das manchmal, dass sie mit ihrer Rolle, mit ihrem
Im zweiten Teil dieses Abends springt die Handlung zwanzig Jahre zurück, und wir erleben ein Paar, das sich tren-
Text in eine Szene kommen, in der sie nicht das ZusamGuy Cassiers
menwirken aller Elemente kennen, obwohl ich sie natür-
nen will, dann aber für immer zusammenbleibt: Swann
Am vierten Abend, der mit dem
und Odette. Im ersten Teil haben wir eine Gruppe von
Verlust dieser beiden Freunde
Personen durch die Augen eines schon erwachsen wir-
einsetzt,
kenden Kindes gesehen, im zweiten Teil zwei Erwachse-
Schriftsteller. Von den beiden
wird
Marcel
zum
ne, die eher kindisch wirken. In diesem zweiten Teil, der
Proust-Figuren, die wir schon
zwanzig Jahre zurückliegt und in dem Proust also noch
aus den anderen Teilen kennen,
Für mich ist wichtig,
dass Persönlichkeiten
mit eigenen Handschriften
ein Ensemble bilden.
lich so gut wie
möglich
über
das Ganze infor-
Proust 1: De kant van Swann – In Swanns Welt
miere. Vor einer
Der erste Teil erzählt von Marcels Kindheit und Jugend in Combray. Drei Frauen tauchen in seiner Erinnerung auf: sei-
Kamera wird der
ne Mutter, seine Jugendliebe Gilberte und deren Mutter, die geheimnisvolle Odette Swann. Die Frauen repräsentieren
Schauspieler zu
die verschiedenen Stufen in Marcels aufkeimendem Gefühlsleben. Im Kontrast dazu folgt im zweiten Teil die Schilde-
gar nicht existiert, gibt es keine (filmischen) Projektionen.
bleibt der jüngere ein Medium
Die Projektionen, d. h. die Erinnerungswelt setzt auf der
der Reflexion, während der äl-
Bühne ein, wenn Proust da ist – daher sehen wir in die-
tere zum Schriftsteller wird. Wir
ihm neue Mög-
sem zweiten Teil des Abends nur Pixel auf den Figuren.
beziehen uns in diesem Teil auf
lichkeiten eröff-
Im ersten Teil gibt es die Bilder von wunderbaren Blu-
die Erinnerungen Céleste Alba-
menbuketts.
rets («Monsieur Proust», erschienen 1973), seiner Haus-
grundsätzlich stärker macht. Mein Prinzip bei der Arbeit
hälterin, die ihm in den letzten zehn Jahren seines Le-
mit neuen Technologien – Kamera, Videoscreen, Live-Ka-
spielzeiteuropa
bens bei der Abfassung seines Werks geholfen hat. Sie
mera, Mikrofon – ist immer, dem Schauspieler die beste
Demnach haben die Projektionsflächen noch eine andere
war die perfekte Begleiterin in dieser Phase der Selbst-
Möglichkeit zu geben, die Figur, den Text zum Ausdruck
Funktion, nämlich die einzelnen Räume der Erzählung zu
isolation, in der sein Buch über die Erinnerung entstand.
zu bringen. Während der Proben schaffen wir eine Art
trennen und gleichzeitig psychologisch zu verbinden.
seinem eigenen
rung der «erwachsenen» Liebesbeziehung zwischen Charles Swann und Odette, die sich 20 Jahre zuvor in Madame Ver-
Regisseur,
durins Salon zum ersten Mal begegneten. Von Eifersucht geprägt, endet ihre leidenschaftliche Liebe in Gleichgültigkeit
net
und
was
– ein Modell für viele andere Proust’sche Liebesgeschichten.
ihn
Durch ihre Augen wird der Autor Proust selbst zur Fiktion,
Spielplatz für die Schauspieler, um nicht nur den Auftritt
zu einer Figur. Hier wird sich also alles vermischen, die
zu proben, sondern alle schauspielerischen Mittel mit
Guy Cassiers
Personen der Vergangenheit mit der Realität des Autors,
dieser Technik zu erforschen.
Die Screens sind Vorhänge, die nicht nur den Projektio-
der über sie schreibt. Nach 4200 Seiten sagt er: Jetzt
nen dienen, sondern sie markieren auch die Grenze zu
kann ich mit dem Schreiben beginnen – und stirbt. Für
spielzeiteuropa
den Räumen, in denen Proust nicht ist. In den folgenden
uns würde das bedeuten, jetzt könnten wir mit dem The-
2006 übernehmen Sie als Nachfolger von Luk Perceval
zwei Stücken bzw. Abenden wird er mehr und mehr von
ater richtig anfangen.
Het Toneelhuis in Antwerpen. Was haben Sie dort vor?
11. November | 18:30
ten Abend gibt es eine heimliche Beziehung des Helden
spielzeiteuropa
Guy Cassiers
Die vier Teile Ihrer Proust-Recherche wurden über mehre-
In Rotterdam haben wir die merkwürdige Situation, dass
re Jahre entwickelt. Konnten Sie eine Theatertruppe dar-
kaum jemand weiß, wo sich das Theater befindet. In Ant-
auf einschwören, bis zum ungewissen Ende durchzuhal-
werpen, mit der historischen «Bourla», weiß nicht nur je-
ten?
der genau, wo das Theater ist, sondern dazu auch, was
mit Jacqueline Blom, Marc De Corte, Herman Gilis,
Dauer 2h 35 | eine Pause
Guy Cassiers Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
der Welt der aristokratischen Salons angezogen. Im zweizu Albertine. Der dritte ähnelt einem Stillleben der Sa-
Proust 1: De kant van Swann – In Swanns Welt
Marlies Heuer, Joop Keesmaat, Paul R. Kooij, Eelco Smits, Fania Sorel und dem Kryptos Kwartet
Foto Pan Sok
liebt. Und der große Konkurrent Swann, der Vater von
Theater-Recherche nach Marcel Proust in vier Teilen
dort gespielt werden sollte. Dort ist das Theater Teil der
Identität der Stadt. In der ersten Spielzeit werden wir uns
also auch sehr viel Zeit dafür nehmen, was das Publikum,
semblearbeit. In den Niederlanden ist das ja sonst nicht
was die Politiker wollen – in Diskussionen gemeinsam mit
üblich; dort wird eine Produktion geprobt und dann zwei
unseren Künstlern. Das heißt, wir wollen zusammen her-
Monate gespielt. Im besten Fall gibt es noch eine Wieder-
ausfinden, was die Zukunft dieses Theaters sein könnte.
aufnahme. Mit Proust haben wir uns auf eine Reise bege-
Außerdem strebe ich danach, dass der Betrieb mehr in
ben, zunächst mit den beteiligten Künstlern und dann zu-
kleinen Gruppen oder Zellen organisiert ist, die ihre Auto-
sammen mit dem Publikum. Wären die ersten beiden
nomie behalten. Es gibt also eine Gruppe, die sich mit
Teile nicht so erfolgreich gewesen, wäre es wahrscheinlich
den visuellen Künsten im Theater beschäftigt, oder die
sehr schwer geworden, bis ans Ende zu kommen. Für das
Gruppe der Schauspieler, und dabei geht es nicht darum,
Ensemble war es auch ein hohes Risiko, aber eben auch
dass die nur ihr eigenes Ding machen, sondern dass ih-
Proust 2: De kant van Albertine – In Albertines Welt
eine große Erfahrung, diese Aufführungen Schritt für
nen stärker bewusst wird, was ihr Beitrag zum Ganzen ist.
Als junger Mann trifft Marcel Albertine wieder, die er zum ersten Mal inmitten einer Schar junger Mädchen am Strand
Schritt zu entwickeln und aus sich selbst entstehen zu
Eine andere Gruppe wird eine kleine Bühne außerhalb
von Balbec gesehen hat. Ihre Liebesgeschichte wird von Anfang an von Eifersucht, Lügen und Misstrauen begleitet.
lassen. Bestimmte Szenen, wie die Salons, haben wir am
des Theaters bespielen. Für mich ist wichtig, dass Per-
Gleich Swann ist Marcel von dem Gedanken besessen, seine Geliebte könnte lesbische Beziehungen haben. Albertines
Anfang vor Publikum ausprobiert, um zu sehen, was die
sönlichkeiten mit sehr verschiedenem Hintergrund und
heimlicher Einzug bei ihm verschlechtert ihr Verhältnis zusehends, er beginnt sie wie eine Gefangene zu halten… «In
Leute davon halten. Das waren keine Proustianer, die da
eigenen Handschriften, die nicht aus dem Theater stam-
Albertines Welt» spiegelt die intime Gefühlswelt zweier Liebender in all ihrer Komplexität und ihren Verwirrungen wider.
lons, die Proust besucht – eine Welt, von der er Teil sein
hinterher mit uns diskutierten, aber es war sehr spannend
men, diese beibehalten und ein Ensemble bilden können.
möchte und in der sein Inneres zerfällt. In der dekaden-
zu beobachten, wie die Leute mehr und mehr von dem
Auch das wird eine Art Reise, wahrscheinlich eine noch
11. November | 22:30 und 12. November | 16:30
ten Welt der Salons nimmt niemand davon Notiz, dass
Projekt angeregt wurden, so dass sie keinen der nächsten
viel größere als mit Proust.
Paul R. Kooij, Eelco Smits, Fania Sorel
sich draußen der Erste Weltkrieg ankündigt. Und wenn
Schritte verpassen wollten. Die öffentlichen Proben der
doch, nur um sich darüber zu freuen, dass man sich end-
noch nicht fertigen Inszenierungen haben uns sehr gehol-
Gespräch Thomas Irmer und Markus Luchsinger
lich über etwas anderes unterhalten kann. Marcel erkennt,
fen. Ich finde, das sollte man viel öfter im Theater ma-
Fotos Andrea Stappert
wohl zu spät, dass er zu viel Zeit in diesen Kreisen ver-
chen. Trotzdem hat Prousts Welt auch viel mit Isolation
bracht hat. Er verliert seine besten Freunde im Krieg.
zu tun, und das war für mich auch so.
6
Proust 2: De kant van Albertine – In Albertines Welt
Dauer 1h 25 | keine Pause
mit Marlies Heuer,
Proust 1 + 2 als Doppelvorstellung am 11. November
Foto Jaap Ruurs
Guy Cassiers
Ja, das basiert auf einer ungewöhnlichen Langzeit-En-
Foto Elio Montanare
Proust 3: De kant van Charlus – In Charlus’ Welt
Marcel findet Einlass in die höchsten Kreise der Pariser Aristokratie. Zentrale Figuren sind der charismatische Militär
Robert de Saint-Loup und der exzentrische homosexuelle Baron de Charlus. Der dritte Teil des Proust-Zyklus zeichnet
das Panorama einer gesellschaftlichen Klasse, die geprägt ist von Heuchelei, hohler Etikette und Rassismus und die mit
Beginn des Ersten Weltkrieges kollabiert. Der Einsatz visueller Mittel legt hier nicht nur den Blick auf die Gedankenwelt
der Figuren frei, sondern funktioniert auch als Spiegelmetapher für die Dekadenz einer Gesellschaft, die von der Dynamik des sozialen Voyeurismus und Exhibitionismus lebt.
12. November | 20:00
Proust 3: De kant van Charlus – In Charlus’ Welt
mit Katelijne Damen, Marlies Heuer, Joop Keesmaat,
Paul R. Kooij, Eelco Smits, Fania Sorel, Steven Van Watermeulen, Tom Van Bauwel und dem Rotterdams Jongenskoor,
Dauer 2h 45 | eine Pause
Proust 2 + 3 als Doppelvorstellung am 12. November
Foto Pan Sok
Leitung Geert van den Dungen
Guy Cassiers / ro theater, Rotterdam
Textfassung | Guy Cassiers, Erwin Jans, Eric de Kuyper
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Kostüme | Valentine Kempynck (BELGAT)
Übersetzung | Céline Linssen
nach Marcel Prousts Romanzyklus
Video | Kantoor voor Bewegend Beeld
«Á la recherche du temps perdu»
In niederländischer Sprache mit deutscher Simultanübersetzung
Lichtdesign | Enrico Bagnoli
Regie | Guy Cassiers
Dramaturgie | Erwin Jans
Aydin Teker aKabi
Bühne | Marc Warning
Video-Konzept | Marc Warning, Kantoor voor Bewegend Beeld (Eelko Ferwerda, Jasper Wessels)
Musikalische Leitung | Wim Selles (Proust 3)
Einzelkarten 18,- (erm. 12,-)
Kreativität, so scheint es, war der türkischen Choreogra-
derte ihr Leben. «Das war unglaublich wichtig für mich.
Proust-Abo (Proust 1 – 4) 54,- (erm. 36,-)
fin Aydin Teker von klein auf eigen. «Als Kind», so erinnert
Plötzlich gab es einen anderen Weg. Ich begriff: Ich will
Sounddesign | Diederik De Cock (Proust 3 + 4)
Publikumsgespräch am 12. November 18:30
In Koproduktion mit KunstenFESTIVALdesArts, Brüssel (Proust 2 + 3), Wiener Festwochen (Proust 3) und spielzeiteuropa | Berliner Festspiele (Proust 4)
Proust 4: De kant van Marcel – In Marcels Welt
sie sich, «wenn meine Großmutter mir Haushaltsarbeiten
kein Ballett, sondern so etwas. Meine ganze Einstellung
auftrug, was ich hasste, machte ich immer etwas beson-
zum Tanz änderte sich, und ich wurde eine sehr gute Stu-
deres daraus. Musste ich die Wäsche aufhängen, so häng-
dentin. Ich wollte nach Europa und Choreografin werden.
te ich sie nach einer bestimmten Ordnung auf, nach Far-
Ich wollte so etwas machen.»
18. + 19. November | 20:00
be oder Größe – und die anderen standen um mich herum
Nach Abschluss des Konservatoriums erhielt Teker ein
Uraufführung | Koproduktion
und sahen mir dabei zu. Ich machte immer aus allem ein
Stipendium für die London School of Contemporary
aKabi
Spiel.» Später fand Tekers Kreativität ein Ventil im Tanz.
Dance. Anschließend war sie Meisterschülerin bei der be-
Ballett war damals in der Türkei wenig populär, und als
kannten japanischen Choreografin Kazuko Hirabayashi in
Idee, Choreografie | Aydin Teker
sie sich, angespornt von der Großmutter, am Staatlichen
New York. 1988 kehrte sie in die Türkei zurück, lehrte zu-
Musik | Manuel Mota, Margarida Garcia
Konservatorium bewarb, waren die Nachbarn in Yenima-
nächst am Staatstheater in Istanbul, seit 1991 an der Mi-
Kostüme | Aysegul Alev
halle, einem konservativen Vorort von Ankara, schockiert.
mar Sinan Universität, deren Modern Dance Department
Schuhe | Punto
«Sie konnten es kaum glauben, dass meine Eltern mich
sie seit 1996 leitet. In den letzten fünfzehn Jahren wur-
Im letzten Teil zieht sich Proust in sein Zimmer zurück, um an seinem Romanwerk zu arbeiten. Die einzige Vertraute
auf diese Schule ließen. Und sie sagten zu ihnen: Ihr
de sie zu zahlreichen internationalen Tanzprogrammen
Tänzer | Serap Meric, Ayse Orhon, Emre Olcay,
dieser letzten Lebensjahre ist seine Haushälterin Céleste Albaret, zugleich seine Sekretärin und Krankenschwester. Kein
habt eine einzige Tochter und die schickt ihr zu diesen
und -festivals eingeladen, wobei sie ihre Choreografien
Sebnem Yuksel, Aydan Turker
anderer Mensch kannte die Person des Schriftstellers so gut wie sie, sie war auch die erste Leserin seines Romans. Ihre
köçek [männliche Unterhaltungstänzer zur Zeit des Os-
auch häufig für Räume abseits der herkömmlichen Bühne
1973 mit über 80 Jahren niedergeschriebenen Erinnerungen sind eine wichtige Grundlage des vierten Teils. In den Ge-
manischen Reichs, als der öffentliche Tanz für Frauen als
entwickelte. Ihr Stück «Aulos» beispielsweise führte sie
Dauer ca. 1h | keine Pause
sprächen zwischen Proust und Céleste wechseln sich banale Alltagsprobleme ab mit tiefen Einsichten in das Erinnern
Tabu galt]. Für mich aber war Tanzen – wie Fliegen.»
zwischen 1990 und 1994 an den unterschiedlichsten Or-
Karten 16,- (erm. 12,-)
und Vergessen und die Rolle der Kunst als Schöpferin einer Welt, die die Zeit transzendiert.
Die Ballettschule war jedoch nicht das, was sie erwartet
ten auf, neben einem Schrottplatz in Istanbul genauso
hatte. «Die Ausbildung war sehr, sehr traditionell. Als ich
wie unter der Brooklyn Bridge.
Eine Koproduktion von
mit zehn auf das Konservatorium kam, spielte meine ei-
Aydin Teker weiß, dass sich nicht jeder Tänzer auf ihren
Bimeras (Istanbul), Alkantara (Lissabon)
gene Persönlichkeit, meine Kreativität keinerlei Rolle. Es
Perfektionismus einlassen will. «Jeder, der mit mir arbei-
und spielzeiteuropa | Berliner Festspiele
hieß: Das ist Position eins, das ist Position zwei! Es wur-
tet, muss sehr geduldig sein. Ich quäle sie – und mich
Proust 4: De kant van Marcel – In Marcels Welt
mit Marlies Heuer, Paul R. Kooij, Eelco Smits, Fania Sorel
zum Teil nach Céleste Albarets «Monsieur Proust»
Dauer 1h 30 | keine Pause
den mir Dinge vorgemacht – und ich tat so, als würde ich
selbst. … Ich möchte keine Barbiepuppen, keine perfek-
Publikumsgespräch am 19. November
sie nachmachen… Nach ein paar Jahren wusste ich: Das
ten Körper. Ich möchte etwas ausdrücken. … Nicht um
im Anschluss an die Vorstellung
will ich nicht. Ich will keine Fee mehr sein. Ich will nicht
die Bewegung geht es, sondern um die Idee, darum, et-
mehr so tun als ob.»
was Wesentliches herauszufinden.»
Nur wusste sie nicht, was sie wollte – bis sie den zeitgeFoto Pan Sok
13. November | 20:00
nössischen Tanz entdeckte. Die erste Begegnung, die
Aufführung einer deutschen Compagnie in Ankara, verän-
The British Council Newsletter, September 2001 (gekürzt)
gelrecht aus, nehmen Geschwindigkeit aus den Dialogen,
r
ist der Naturalismus. Zu glauben, der Schauspieler auf
verlangsamen das Sprechen bis zur Verzerrung. Einzelne
sche Hilfsmittel den Theaterton verweigert. Wie so oft im
der Bühne solle «natürlich» sein. Für Régy ist Theater ein
Silben, die sonst gern verschliffen werden, klingen so
französischen Theater spielt auch in Régys Arbeiten eine
Gegenraum zur Welt, einer der Stille, in dem Außenwelt-
überexakt artikuliert, dass selbst vertraute Worte befrem-
ausgetüftelte Lichtregie eine große Rolle. So lässt sich
geräusche sich so verschieben lassen, dass man wieder
den. Die fast hypnotische Leere in den Stimmen verwei-
ein Fokus setzen, Bewegung durch wechselnde Schatten-
bei sich selbst ankommt. Den Zuschauer bei seinem Un-
gert den theatralen Ton, ein Timbre oder eine Intonation.
fälle simulieren, die Figur mit aller Wucht aus dem Dun-
terbewusstsein packen, das ist Régys Ziel: nicht durch
Nichts soll in Régys Inszenierungen auf einen Sinn fest-
kel holen. Ihr Spiel heißt für Régy nicht Zeichen setzen,
al V
Das Dümmste überhaupt im Theater, sagt Claude Régy,
«In dem neuen Text gibt es momentan noch nicht einmal
Schreiben aufzugehen». Und wir, die wir zuhören oder le-
Figuren, nur Sprache und Bilder, wobei auch die Bilder
sen, müssen uns erlauben, uns gehen zu lassen und in
lediglich Sprache sind…» Sarah Kane, Februar 1998
den Text einzutauchen, um diese Unmittelbarkeit in uns
23. – 26. November | 20:00
zu erfahren, um auch jenseits des Verstehens empfäng-
27. November | 17:00
«4.48» – Theaterstück oder vielmehr ein Gedicht, da
lich zu werden, um uns zu öffnen für unausgesprochene
Sarah Kane, als sie diesen Text schrieb, erkunden wollte,
Korrespondenzen zwischen scheinbar fremden Sphären.
wie ein Gedicht zugleich theatralisch sein könnte.
Denn, wie Sarah Kane sagte: «Viel wichtiger als der Inhalt
Raum auftut. Stimmen, deren Intimität auch ohne techni-
die Kopie von Welt und deren Aktualität. Nicht durch kri-
genagelt werden: Den Sinn im Theater konkret erfahren
sondern zunächst einmal gegenwärtig sein. Nicht «natür-
tische Reflexion und Moral. Sondern durch das Vordrin-
zu lassen heißt, den Zuschauer auf sich selbst zurückzu-
lich» sind seine Figuren, aber auf eine paradoxe Weise
gen in den Bereich aller reizbaren Sinne, die nicht Wie-
führen.
authentisch, auch noch jenseits unseres Raum-Zeitemp-
dererkennung signalisieren, sondern Vorstellungswelten
Lange übersprang Claude Régy den tiefen Graben, der
findens.
öffnen. Seit einem halben Jahrhundert erprobt der Regis-
die französische Bühnenlandschaft in Privattheater und
Mit «Les Ateliers contemporains» – mehr Produktions-
seur, wie sich das Schweigen im Hinterland der Sprache
öffentlich subventionierte Bühnen teilt, indem er hier wie
struktur, denn Theatertruppe – hat Claude Régy in Frank-
zum Klingen bringen lässt. Wie man den Blick für Dunkel-
dort seine Inszenierungen zeigte. Ebenso lange scheute
reich Uraufführungsgeschichte geschrieben. Dabei über-
heit schärft. Claude Régy setzt seine Theaterfiguren we-
Régy, der bis heute keine Leitungsfunktion in irgendeiner
raschte der 1923 geborene Regisseur immer wieder mit
der in Szene noch ins gleißende Licht. Er lässt sie noch
der französischen Theaterhäuser übernehmen will, nicht
internationalen Dramatikern oder Autoren, die wie Sarah
im nachtschwarzen Abseits existieren. Auch dort also, wo
nur die Institution, sondern auch zu große, unpersönliche
Kane scheinbar einer ganz anderen Generation samt Le-
das Theater den Schau-
Räume. Immer wieder arbeitete er – wie im Privattheater
bensgefühl angehörten. Wie kaum ein anderer französi-
spieler gewöhnlich mund-
üblich – mit den Größen des französischen Theaters und
scher Regisseur hat Claude Régy auf den Schulterschluss
Foto Pascal Victor
Fot
oP
asc
Claude Régy 4.48 Psychose
von Barbara Engelhardt
icto
Claude Régy: Außenseiter und Vorbild
tot und den Zuschauer
Films, mit Gérard Depardieu, Jeanne Moreau, Isabelle
mit Theaterautoren und -machern seiner eigenen Genera-
nachtblind macht.
Huppert, Valérie Dréville und vielen mehr. Genauso zeig-
tion verzichtet. Moden haben ihn nie verführt. Auch Auf-
Schon in den 60er Jahren
te er ein Gespür für junge Talente: Schauspieler, die im
tragsarbeiten für die großen Häuser hat er in den aller-
– Régy hatte ein Jurastu-
Idealfall jene kompromisslose Ästhetik umzusetzen wis-
meisten Fällen ausgeschlagen.
dium und erste Inszenie-
sen, mit der Régy in all den Jahren nicht nur einhelligen
Régy nimmt sich Zeit, den Texten, egal ob Prosa oder
rungen hinter sich – ver-
Beifall eingeheimst hat. Zu sperrig blieben für manchen
Drama, wirklich auf die Spur zu kommen, und das in oft
abschiedete er sich von
Zuschauer diese zeitlupenhaften Gesten und Bewegun-
monatelangen Arbeitsphasen. Heute zeigt Régy seine Ar-
der konventionellen Hand-
gen, zu monoton neutral das Sprechen, zu finster viel-
beiten in den subventionierten Theaterhäusern Frank-
lungsdramaturgie.
Mar-
leicht auch Régys obsessive Suche nach dem ewig Unbe-
reichs. Nur eines will er auch da partout verhindern: dass
guerite Duras half ihm dabei, mit der er gemeinsam auch
kannten, dem Tod im Leben des Menschen. Sich in die
sein Theater von irgendjemandem, und sei’s die Politik,
Prosa fürs Theater adaptierte («L’amante anglaise») oder
Stille hineinzuhören oder das Schwebende, Haltlose einer
vereinnahmt wird. Als Trostpflaster für eine Gesellschaft
Nathalie Sarraute, zwei der wenigen französischen Auto-
durch die Regie verweigerten Interpretation selbst zu er-
des Leerlaufs, als Krankenpfleger für soziale Brennpunk-
ren seiner Laufbahn. Seither hat Régy vor allem interna-
den, empfanden viele andere aber als eine echte Alterna-
te missverstanden zu werden, sei das Ende von Kunst
tionale Dramatiker in Frankreich erstaufgeführt und ein-
tive zur französischen Schauspielpraxis.
und das größte Missverständnis der aktuellen Kulturpoli-
4.48 Psychose
geführt: Pinter, Bond, Harrower, Fosse unter anderen.
Zugleich Außenseiter bleiben und Vorbild sein – dieses
tik. Die Aufgabe des Theaters, so Régy, ist vielmehr, dem
von Sarah Kane
Aber auch Peter Handke und Botho Strauß, die ihn ge-
Kunststück ist Régy im französischen Theater gelungen,
Chaos eine Chance zu geben.
«4.48» kann man verstehen als eine, in Kanes eigenen
eines Stücks ist seine Form. Jede bedeutende Kunst ist
lehrt hätten, betont er, dass der Theaterdialog nie das
indem er seine existenzielle Vorstellung von Kunst immer
Worten, «chaotische Depression», als ein «offenbar ge-
subversiv, entweder in ihrer Form oder ihrem Inhalt. Und
Regie | Claude Régy
sagt, was er zu sagen scheint: Wo keine Geschichten
wieder in große Theatermomente überführt hat. Und
Barbara Engelhardt ist Frankreich-Korrespondentin für
brochenes und schizophrenes Gebilde, das seinen Stoff
die ganz große Kunst ist in beidem subversiv, in Form
Übersetzung | Evelyne Pieiller
mehr erzählt werden, wird das Theater zum Resonanz-
nicht zuletzt, weil ihm, dem Theatermann, immer wieder
Theater der Zeit in Strasbourg.
ohne Kommentar präsentiert und das Publikum auffor-
und Inhalt. Oft ist gerade die Form das Element, das die-
Bühne | Daniel Jeanneteau
raum für all das, was hinter den Worten liegt oder ihnen
filmische Bilder auf der Bühne gelingen: Gesichter, die
dert, selbst darauf zu reagieren».
jenigen am stärksten provoziert, die Zensur ausüben wol-
Lichtdesign | Dominique Bruguière
vorhergedacht wurde.
wie Großaufnahmen, mal flächig, mal mehr mit Tiefen-
Wie schon bei «Gier» (Crave), ihrem vorangegangenen
len. Beckett, Barker, Pinter, Bond – sie alle wurden nicht
Sounddesign | Philippe Cachia
Régys streng abstrakte Inszenierungen heben jedes Zeit-
schärfe aus dem Theaterhalbdunkel herausleuchten. Kör-
Stück, geht es um Verzweiflung und Selbstmord. In Zu-
so sehr wegen des Inhalts ihrer Werke kritisiert, sondern
Video | Erwan Huon
empfinden auf. Die Schauspieler schwitzen die Worte re-
perkonturen, hinter denen sich ein scheinbar unendlicher
sammenhang mit «Gier» sagte sie, der Grund dafür sei,
weil sie eine nicht-naturalistische Form benutzten, die
dass sie dieses Stück geschrieben habe, als sie völlig ver-
eine allzu einfache Interpretation verhinderte. … Form
zweifelt war.
und Inhalt streben danach, ein und dasselbe zu sein – die
mit Isabelle Huppert und Gérard Watkins
Auch scheint es, dass seit «Gier» der Rhythmus wichtiger
Form ist die Bedeutung.»
Dauer 1h 50 | keine Pause
Veranstalter
wird als der Inhalt. Es scheint, dass sie bei ihren beiden
Das ist eine Art Revolution, eine Rebellion gegen die
In französischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Berliner Festspiele
Kommunikation
Herausgeber | Berliner Festspiele
letzten Stücke, «Gier» und «4.48 Psychose», den Rhyth-
Überbewertung von Bedeutung, gegen einen – falschen –
Karten 24,- (erm. 16,-)
Ein Geschäftsbereich der
Leitung Kerstin Schilling
Redaktion | Giselind Rinn, Thomas Irmer
mus des Werks bereits gespürt hat, bevor sie wusste, was
Schmalspurbegriff von Bedeutung.
Kulturveranstaltungen
Presse Jagoda Engelbrecht
Produktion | Bernd Krüger
sie schrieb. Dank des Rhythmus und der Komposition –
Zweifellos ist das ein Hinweis, wie diese absolut neue Art
Produktion | Les Ateliers Contemporains
des Bundes in Berlin GmbH
Telefon (030) 254 89-262
Gestaltung | granma | berlin werbeagentur
die Wahl der Worte und demnach der Klang – entstehen
des Schreibens, die uns das Echo der Schmerzensschreie
und Théâtre des Bouffes du Nord (CICT), Paris
Intendant Prof. Dr. Joachim Sartorius
[email protected]
Art Direction | Dirk Lebahn
Impressum Nr. 6 > 2005 | 06
gleichzeitig mit dem Sinn mehrere Bedeutungen auf ein-
dieser Welt zusammen mit der Verstörung in uns selbst
Mit freundlicher Unterstützung der
Kfm. Geschäftsführer Dr. Thomas Köstlin
mal.
zu Gehör bringt, gelesen, gehört und schließlich realisiert
Französischen Botschaft / Bureau du Théâtre et de la Danse,
Gefördert durch
In der Knappheit jeder Zeile verbirgt sich ein verdichteter
werden muss.
der Association Française d’Action Artistique (AFAA)
Peter Böhme, Michael Grimm,
Mechanismus, der Sprengstoff gleicht.
Es ist ganz einfach, da es unmittelbar ist.
und des französischen Kulturministeriums
Heinz Bernd Kleinpaß
Aus diesem Grund konnte Sarah Kane in «4.48» schrei-
In «Gier» schrieb Sarah Kane: «Gott, ich wünschte, ich
In Partnerschaft mit Air France | Spezieller Dank an Cartier
ben: «Ein Wort aufs Papier und wir haben das Drama.»
hätte Musik, aber alles, was ich habe, sind Worte.»
Aus diesem Grund gibt es kein Theater.
Sie muss sich keine Sorgen machen, ihre Musik und ihre
Publikumsgespräch am 24. November im Anschluss
Nur Sprache. Arbeit an der Sprache.
Worte werden auf uns hereinstürzen.
an die Vorstellung
Zu schreiben, in sich selbst den Kern dieses unmittelbaren Vorgangs zu finden, bedeutete für sie einfach «im
Claude Régy
Titelfoto | Andrea Stappert
Kartenbüro I Protokoll
Herstellung | enka-druck, Berlin
Redaktionsschluss 1. Oktober 2005
© Berliner Festspiele, 2005
10
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Wir danken
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