There is doubtless much to be said for the Nietzschean precept »Live dangerously«, but in the twentieth century life is quite dangerous enough without taking on additional social gambles. Perhaps we are best advised to proceed empirically rather than dogmatically, testing the local political framework before we throw on it the full weight of policies derived from a doctrine which was developed for the needs of another century and another part of the world. Dudley Seers (1964), S.103 2. DER STRUKTURALISTISCHE S TAAT ALS E NTWICKLUNGSMOTOR 30 Der strukturalistische Staat Zentraler Bezugspunkt des Strukturalismus stellen die Erfahrungen der Kolonialzeit und ihre Auswirkungen auf räumliche, soziale, politische und nicht zuletzt ökonomische Strukturen in den kolonisierten Ländern dar. Dabei wird nicht nur im- oder gar explizit unterstellt, daß die mit dem Kolonialregime einhergehenden Veränderungen einen tiefgreifenden Einschnitt hinsichtlich Ausmaß, Richtung und Dynamik des bis dato vorherrschenden Entwicklungsweges markieren, sondern auch, daß die Einmaligkeit der Unterwerfung des Südens durch die hegemonialen industriellen Mächte des Nordens eine spezifische Methodik erfordert, die diese historische Erfahrung als Kristallisations- und Ausgangspunkt der weiteren Analyse zu reflektieren in der Lage ist. Entwicklungsländer werden demnach als 1 »(...) a sui generis group of economies« betrachtet, die sich von bereits entwickelten oder Industrieländern durch structural imbalances unterscheiden. Diese strukturellen Ungleichgewichte bildeten sich im Rahmen der Kolonialherrschaft heraus, können jedoch nach strukturalistischer Auffassung auch im Zuge einer postkolonialen Weltmarktintegration, die ausschließlich auf den Angebots- und Nachfrageentscheidungen von privaten Marktakteuren bei gegebenen Preisen beruht, bestenfalls zementiert, aber keineswegs überwunden werden. »The nexus of international exchange, often referred to loosely as ›the capitalist system‹, was credited with the major role in creating the specific form of backwardness found in the Third World. This specific form was called ›underdevelopment‹: it was not a prestine condition of low productivity and poverty but an historical condition of blocked, distorted and dependent development.«2 In der Literatur wird gemeinhin das Mißtrauen in den Preismechanismus als das konstituierende und alle unterschiedlichen Strömungen der Strukturalisten verbindende Element hervorgehoben.3 Dabei gilt es jedoch, zwischen zwei unterschiedlichen Argumentationssträngen zu differenzieren. Einerseits werden die Preise sowohl als flexibel als auch korrekt im Sinne einer Reflektion der tatsächlichen Angebots- und Nachfragerelationen betrachtet, münden jedoch aufgrund dualistischer, heterogener Strukturen nicht in einen von neoklassischen Lehrbüchern prognostizierten Gleichgewichtszustand, sondern rufen kumulative Prozes- —————— 1 2 3 Hirschman, A.O.(1981), Essays in Trespassing: Economics to Politics and Beyond, Cambridge: Cambridge University Press, S.6–7. Toye, J. (1987), Dilemmas of Development: Reflections on the Counter–Revolution in Development Theory and Policy, Oxford: Basil Blackwell, S.12. Vgl. auch Hirschman (1981), S.14–17. Vgl. exemplarisch Arndt, W. (1985), The Origins of Structuralism, in: World Development Nr. 2, S.151–159, S.153. Der strukturalistische Staat 31 se mit dem Resultat dauerhafter Stagnation und Unterentwicklung hervor (Kapitel 2.1). Andererseits wird ein Versagen des Preismechanismus konstatiert, das sich entweder in Preisrigiditäten oder in verzerrten Preisen ausdrückt, so daß eine Orientierung der privaten Akteure an ihnen zu suboptimalen Resultaten führt (Kapitel 2.2). Da beide Argumentationslinien zur Herleitung staatlicher Interventionen in den Marktprozeß dienen, und darüber hinaus die Interpretation der Funktionsweise von Volkswirtschaften der Entwicklungsländer, einschließlich ihrer Defizite, bereits den Kern der ökonomischen Fassung des Staates in sich bergen, sollen sie im folgenden dargestellt werden, bevor explizit auf die Rolle des Staates in der strukturalistischen Welt eingegangen wird (2.3). 2.1 Historisch verursachte Deformation des Marktprozesses Die Kolonialisierung und die sich daran anschließende Weltmarktintegration hat nach strukturalistischer Auffassung eine tiefe Fragmentierung der Ökonomien von Entwicklungsländern hervorgerufen, die sich in einer jeweils unterschiedlichen Wachstumsdynamik in den einzelnen Sektoren der Binnenwirtschaft und dementsprechend einem unterschiedlichen Partizipationsgrad der Wirtschaftssubjekte am Einkommensbildungsprozeß ausdrückt. Darüber hinaus restringiert das geringe Angebot externer und interner Ersparnisse die Investitionstätigkeiten heimischer Unternehmen, deren Anpassungsfähigkeiten an Nachfrageveränderung innerhalb des strukturalistischen Paradigmas generell als gering eingeschätzt werden. Während somit die tendenzielle Verschlechterung der terms of trade (Kapitel 2.1.1) und die dualistische Struktur von Entwicklungsländern (Kapitel 2.1.2) die Ausweitung der heimischen Produktionskapazitäten konterkarieren, münden Angebotsrigiditäten (Kapitel 2.1.3) und Verteilungskonflikte (Kapitel 2.1.4) zunehmend in inflationären Tendenzen. 2.1.1 Säkuläre Verschlechterung der Terms of Trade Als eines der wesentlichsten Hindernisse der Entwicklung – sei es gemessen an einer Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens oder des industriellen Outputs – wird die bestehende Form der internationalen Arbeitsteilung begriffen. Die kolonialen Austauschbeziehungen, die durch Primärgüterexporte seitens der Peripherie und Fertigwarenexporte der industriellen Zentren charakterisiert sind, bleiben auch nach der politischen Unabhängigkeit bestehen und verursachen zunehmend eine »(...) Drosselung der Entwicklung von außen«4. Sowohl die nationale als —————— 4 Vgl. Prebisch, R. (1968a), Für eine bessere Zukunft der Entwicklungsländer: Ausgewählte ökonomische Studien. Übersetzung amerikanischer Originaltitel. Herausgegeben von J.L. Schmidt und K.H. Domdey. Berlin: Die Wirtschaft, S.80. Deformation des Marktprozesses 33 auch internationale Nachfrage nach Rohstoffen im Vergleich zu derjenigen nach Industriegütern wächst relativ langsam, was mit unterschiedlichen Einkommensund Preiselastizitäten der Nachfrage nach diesen Gütern begründet wird. 5 Daraus werden erhöhte Importausgaben, insbesondere bei Beschleunigung des Industrialisierungsprozesses abgeleitet, denen unterproportional wachsende Exporteinnahmen gegenüberstehen. Letztere unterliegen zusätzlich zyklischen Schwankungen aufgrund von konjunkturellen Bewegungen innerhalb der Industrieländer, sind deshalb inhärent mit großer Unsicherheit behaftet und somit wenig kalkulierbar.6 Darüber hinaus wirkt die in Entwicklungs- und Industrieländern unterschiedliche Aneignung von Produktivitätsfortschritten verschärfend. Während in Industrieländern die jeweiligen Produktivitätsgewinne in höheren Nominaleinkommen in Form von Löhnen und Gehältern weitergegeben werden, münden sie in Entwicklungsländern in sinkenden Preisen. 7 Dies wird auf den Verarbeitungsgrad bzw. die gegebene Produktionsstruktur und die damit einhergehenden Anforderungen an den Faktor Arbeit zurückgeführt. In Industrieländern werden verarbeitete Produkte von qualifizierten Arbeitskräften hergestellt, die aufgrund ihrer relativen Beschränktheit über ein hohes Verhandlungs- und Durchsetzungspotential verfügen. Die Primärgüterproduktion erfordert dahingehend überwiegend unqualifizierte Arbeitskräfte. Der geringe Knappheitsgrad der nachgefragten Arbeitnehmer in Entwicklungsländern verhindert es, daß technischer Fortschritt in Lohnsteigerungen statt in Preissenkungen der Exportgüter resultiert.8 Über die Weltmarkteinbindung beider Ländergruppen führt dies ceteris paribus in Industrieländern zu steigenden bzw. in Entwicklungsländern zu sinkenden Realeinkommen. Demzufolge sind Entwicklungsländer innerhalb des strukturalistischen Kontextes bei unveränderter Produktions- und Handelsstruktur mit einem external bottleneck bzw. einem foreign exchange gap konfrontiert, die aufgrund der ge- —————— 5 6 7 8 Vgl. Prebisch (1968a), S.81 und S.142–143. Vgl. Prebisch, R. (1961), Economic Development or Monetary Stability: The False Dilemma, in: Economic Bulletin for Latin America Nr. 1, S.1–25, S.3–5. Vgl. Prebisch (1968a), S.156–158; vgl. auch Singer, H. (1968), The Distribution of Gains between Investing and Borrowing Countries, in: Theberge, J.D. (Hrsg.), Economics of Trade and Development, New York et. al.: John Wiley and Sons, Inc., S.236–248, S.241ff. Vgl. Myrdal, G. (1974), Ökonomische Theorie und unterentwickelte Regionen, Stuttgart: Fischer, S.59–60. Vgl. auch Prebisch (1968b), Development Problems of the Peripheral Countries and the Terms of Trade, in: Theberge, J.D. (Hrsg.), Economics of Trade and Development, New York et. al.: John Wiley and Sons, Inc., S.287–297, S.290–293. 34 Der strukturalistische Staat nannten Faktoren – unterschiedliche Elastizitäten, zyklische Schwankungen, mangelnde Aneignung von Produktivitätsfortschritten – durch tendenziell sinkende und darüber hinaus stark fluktuierende Exporteinnahmen bei gleichbleibender oder gar ansteigender Importneigung gekennzeichnet sind. Während demnach sich die Exporteinnahmen unabhängig von heimischen Wachstumsraten entwickeln, die Importausgaben ceteris paribus aber annahmegemäß mindestens proportional mit ihnen ansteigen, besteht bei anhaltendem Wachstum die Tendenz zu einer Erhöhung des Handelsbilanzdefizits und damit einer Restriktion des Entwicklungspfades.9 Obgleich die These von den langfristig sinkenden terms of trade bzw. ihr Erklärungsgehalt hinsichtlich vielfältiger Krisenerscheinungen in Entwicklungsländern auch innerhalb der strukturalistischen Debatte nicht unumstritten ist10, halten neo-strukturalistische Autoren trotz der in den letzten 50 Jahren erreichten Exportdiversifizierung an ihrer grundsätzlichen Aussage sowie an der Forderung nach einem strukturellen Wandel der internationalen Handelsbeziehungen fest, aus deren Asymmetrie das Auftreten von immer wiederkehrenden systemischen Zahlungsbilanzkrisen abgeleitet wird.11 —————— Vgl. Chenery, H.B. (1955), The Role of Industrialization in Development Programs, in: American Economic Review Nr. 2, S.40–57, S.53f. In einer gemeinsam mit Strout verfaßten Studie prognostiziert Chenery, daß ab 1975 die Devisenknappheit für die überwiegende Mehrheit von 50 untersuchten Länder zur bindenden Restriktion wird. Vgl. Chenery, H.B., Strout, A.M. (1966), Foreign Assistance and Economic Development, in: American Economic Review, Nr. 4, S.679–733, S.719. 10 Vgl. Seers, D. (1983), Structuralism versus Monetarism in Latin America: A Reappraisal of a Great Debate, with Lessons for Europe in the 1980s, in: Jansen, K. (Hrsg.) Monetarism, Economic Crisis and the Third World, London: Frank Cass, S.110–126, S.115–116. Eine kritische Diskussion der Argumente findet sich ebenfalls bei Singer, H.W. (1991), Terms of Trade: New Wine and New Bottles? in: Development Policy Review, und bei Singer, H.W., Sapsford, D., Sarkar, P. (1992), The Prebisch–Singer Terms of Trade Controversy Revisited, in: Journal of International Development Nr. 3, beide abgedruckt in: Singer, H.W., Growth, Development and Trade: Selected Essays of Hans W. Singer, Cheltenham, Northampton: Edward Elgar, 1998, S.109–119 bzw. S.140–158. 11 Vgl. exemplarisch Rosales, O. (1988), An Assesssment of the Structuralist Paradigm for Latin American Development and the Prospects for its Renovation, in: Cepal Review Nr. 34, S.19–36, S.34–35, und Sunkel, O., Zuleta, G. (1990), Neo–Structuralism versus Neo– Liberalism, in: Cepal Review Nr. 42, S.35–51, S.41ff. 9 Deformation des Marktprozesses 35 Schlußfolgerungen: Terms of Trade Erstens ist ökonomische Entwicklung, die auf der Verfügbarkeit von Deviseneinnahmen beruht, unter den gegebenen Marktstrukturen und -bedingungen zum Scheitern verurteilt. Dabei ist anzumerken, daß unterschiedliche Einkommenselastizitäten, deren Existenz hier nicht bestritten werden soll, lediglich formaler Ausdruck, aber nicht eine Begründung für ein differierendes Nachfrageverhalten und damit der Devisenknappheit darstellen können. Der Versuch, die Devisenknappheit durch eine Steigerung der Primärgüterproduktion zu verringern, führt lediglich zu einer Beschleunigung des Rohstoffpreisverfalls und damit zu einer weiteren Verknappung der Devisenerlöse. Das so skizzierte Verelendungswachstum weist zweitens kumulative Züge auf, die nicht eine weltweite Angleichung, sondern im Gegenteil eine weitere Ausdifferenzierung von Entwicklungsniveau und -bedingungen der jeweiligen Ländergruppen zur Konsequenz haben. Ökonomische Entwicklung im Sinne einer Erhöhung des Einkommensniveaus setzt drittens einen aus Sicht der Entwicklungsländer nationalen als auch internationalen Strukturwandel voraus, den die vom Strukturalismus identifizierten Marktakteure – Produzenten und Konsumenten – offensichtlich nicht zu induzieren in der Lage sind. Auch hier deutet sich wiederum eine Verwechslung von Wesen und Erscheinungsform an, da ökonomische Entwicklung sich in Strukturwandel ausdrückt, ihn aber nicht voraussetzen kann. 2.1.2 Dualismus Die internationale Arbeitsteilung zwischen Zentrum und Peripherie führt nicht nur zu einer Marginalisierung der Primärgüterexporteure im Rahmen des Welthandels, sondern findet auch ihre Entsprechung in der Binnenwirtschaft der Entwicklungsländer. Diese ist in einen sogenannten modernen Sektor, bestehend aus der Exportindustrie, und in einen die restliche Ökonomie umfassenden traditionellen Sektor aufgespalten. Die Begriffe ›Tradition‹ und ›Moderne‹ stellen einen ökonomischen, sozialen und kulturellen Gegensatz dar, der anhand von Kriterien wie beispielsweise der Produktivität, der Technologieintensität der Produktion oder der Mobilität von Produktionsfaktoren identifiziert wird und sich einerseits in einer Subsistenzwirtschaft mit stagnierendem Einkommensniveau und ande- 36 Der strukturalistische Staat rerseits in einem profitmaximierendem, expandierendem Unternehmertum manifestiert.12 Die Grundsteinlegung für die Herausbildung dieser dualen Struktur erfolgte nach Myrdal im Rahmen der Kolonialisierung, die er als eine Art exogenen Schock faßt, dessen kumulative Dynamik in der Beibehaltung oder Vertiefung des Zustandes endet, der erst durch den exogenen Schock hervorgerufen wurde, so daß die Enklavenbildung in Form eines Zirkelschlusses sowohl die Ursache als auch das Resultat von Unterentwicklung darstellt. »Das Kapital, die Unternehmen und die gelernten Arbeitskräfte, die von einer Kolonialmacht in ein abhängiges Land geschickt wurden, hatten natürlich die Tendenz, Enklaven zu bilden, die aus der umgebenden Wirtschaft herausgehoben und isoliert blieb. Ihre wirtschaftlichen Beziehungen mit der einheimischen Bevölkerung waren auf deren Beschäftigung als ungelernte Arbeiter beschränkt. (...) Diese Trennung behinderte die Übernahme der Kultur einschließlich der Technik und des Unternehmungsgeistes durch die einheimische Bevölkerung. Dies ist einer der wichtigsten Gründe dafür, warum die beschriebenen wirtschaftlichen Anfänge des Kolonialismus Enklaven blieben, sowie auch dafür, warum die Ausbreitung des expansiven Momentes nur äußerst schwach war oder gar fehlte.«13 Das Wachstumspotential des traditionellen Sektors wird aufgrund der mangelnden Investitionsfähigkeit und -neigung der heimischen Unternehmen als gering eingeschätzt. Dabei erfolgt ein Rückgriff auf Teufelskreise der Armut, die die Investitionstätigkeit von der Nachfrage- sowie Angebotsseite her begrenzen. »On the supply side, there is the small capacity to save, resulting from the low level of real income. The low real income is a reflection of low productivity, which in its turn is due largely to the lack of capital. The lack of capital is a result of the small capacity to save, and so the circle is complete. On the demand side, the inducement to invest may be low because of the small buying power of the people, which is due to their small real income, which again is due to low productivity. The low level of productivity, however, is a result of the small amount of capital used in production, which in its turn may be caused at least partly by the small inducement to invest.«14 —————— 12 Zur Diskussion um die unterschiedliche Differenzierung der beiden Sektoren vgl. Barber, W. (1970), Dualism Revisited: Economic Structures and the Framework of Economic Policy in a Post–Colonial Setting, in: Streeten, P. (Hrsg.), Unfashionable Economics: Essays in Honour of Lord Balogh, London: Weidenfeld and Nicolson, S.33–52, S.34–39. 13 Myrdal (1974), S.65. 14 Nurkse, R. (1966), Problems of Capital Formation in Underdeveloped Countries, Oxford: Basil Blackwell, S.5. Deformation des Marktprozesses 37 Die Angebotsrestriktion wirkt auf den heimischen Unternehmenssektor insgesamt stärker und umfassender, da selbst bei einer unterstellten positiven Investitionsneigung eine Investition aufgrund der unzureichenden Ersparnisse unterbleiben muß. Diese Vorstellung geht auf das Konzept der Sparlücke zurück, die damit an das Harrod-Domar-Modell anknüpft. Der gegebene kurzfristig fixe Bestand an finanziellen Ressourcen ist für die notwendigen Investitionen, die getätigt werden müssen, um ein höheres Entwicklungsniveau zu erreichen, nicht ausreichend. Dabei gelten die heimischen Ersparnisse in Form von Depositeneinlagen bei heimischen Geschäftsbanken und nicht deren Kreditangebot als finanzielle Ressourcen. Während demzufolge der durch die Subsistenzwirtschaft charakterisierte traditionelle Sektor aus Ermangelung eigener Ersparnisse eine ungenügende Investitionsdynamik aufweist, verfügen die im Exportsektor konzentrierten transnationalen Konzerne durchaus über ausreichende finanzielle Mittel. Dennoch realisieren auch sie damit keine über den Exportsektor hinausgehenden Investitionen, was auf die Enge der heimischen Absatzmärkte zurückgeführt wird.15 Demnach ist für die ausländischen Konzerne die Nachfrage-, und nicht wie im Falle der heimischen Unternehmen die Angebotsseite die restriktivere. Profite werden entweder im Exportsektor re-investiert oder in Form von Gewinnübertragungen selbst exportiert, so daß Spill-over-Effekte auf die heimische Ökonomie außerhalb des Exportsektors im wesentlichen ausbleiben. 16 «Without an adequat domestic market, little capital was applied to production in the nonexport portion of the economy and the specialization of labor could not proceed. Productivity remained at a low level and general income was small. Thus, a thriving export industry could operate for decades alongside a stagnating, poverty stricken domestic sector.«17 —————— 15 Vgl. Nurkse (1966), S.24–31. 16 Eine kritische Diskussion, die die Notwendigkeit von Direktinvestitionen für den Entwick- lungsprozeß betont, aber staatliche Regulierungen dafür einfordert, findet sich in: Ffrench– Davis, R., Arancibia, S.(1972), Notes on Foreign Capital and Latin America, in: Di Marco, L.E. (Hrsg.), International Economics and Development: Essays in Honor of Raúl Prebisch, New York, London: Academic Press, S.369–386. Der Rolle von Dirketinvestitionen widmet der think tank der (neo–)strukturalistischen Schule in dem Grundsatzpapier für die 90er Jahre nicht einmal eine ganze Seite. Siehe Economic Commission for Latin America and the Caribbean (ECLAC) (1990), Changing Production Patterns with Social Equity, Santiago, Chile: United Nations, S.45. 17 Levin, J.v. (1968), The Export Economies, in: Theberge, J.D. (Hrsg.), Economics of Trade and Development, New York et. al.: John Wiley and Sons, Inc., S.11–34, S.24. 38 Der strukturalistische Staat So sind Entwicklungsländer letztlich mit einer parallelen, wenngleich auch nahezu unverbundenen Existenz zweier Sektoren konfrontiert, die inhärent über nicht ausreichende Entwicklungsimpulse verfügen, die eine Überwindung des Status Quo erlaubten. Zu geringe heimische Ersparnisse und fehlende Investitionsanreize stellen die begrenzenden Faktoren dar, begründen gleichzeitig die Beharrlichkeit dieser dualistischen Struktur und münden in »(...) a somewhat lop-sided pattern of development in the peripheral areas«18. Einzig der der strukturalistischen Schule ebenfalls zuzurechnende Hirschman kommt zu dem Schluß, daß die Investitionstätigkeit nicht bereits in der Anfangsphase der Entwicklung durch die heimischen Ersparnisse begrenzt wird und weist »(T)his belief in the strategic importance of capital«19 zurück. Nach Hirschman werden die Ersparnisse erst in einer qualitativ nicht näher definierten Expansionsphase des modernen Sektors zu einer bindenden Restriktion der Einkommensbildung. Neostrukturalisten konzidieren zwar eine zunehmende Schwäche bei der Mobilisierung des internen Sparpotentials aufgrund mangelnder monetärer Stabilität wie Inflationsprozessen und häufigen Abwertungen der heimischen Währungen, betonen jedoch dennoch die Notwendigkeit eines Nettokapitalimportes für eine nachholende Entwicklung. Nach der Verschuldungskrise der 80er Jahre wird jedoch einem Nettokapitalimport in Form von Direktinvestitionen und langfristigen Krediten einem Zufluß an Portfolioinvestitionen und Krediten kurzfristiger Laufzeit deutlich Priorität eingeräumt. Schlußfolgerungen: Dualismus Um die Teufelskreise der Armut zu durchbrechen, muß erstens die Sparlücke geschlossen werden. Dabei ist anzumerken, daß das Konzept der Sparlücke als solches kein originär strukturalistisches Element darstellt, deren strukturalistische Interpretation sich aber von der postkeynesianischen oder liberalen Variante durch ihren expliziten Bezug auf historische Konstellationen und somit ihren Begründungszusammenhang unterscheidet. Das hindert sie jedoch nicht daran, einen Verbleib in der Allokationstheorie anzuzeigen. —————— 18 Nurkse (1966), S.25. Zu geringe (interne und externe) Ersparnisse werden auch heute noch als wesentliches Entwicklungs– und Wachstumshindernis betrachtet. Vgl. ECLAC (1990), S.49–51. 19 Hirschman, A.O. (1958), The Strategy of Economic Develoment, New Haven: Yale University Press, S.1, vgl. auch seine Ausführungen S.29–49. Deformation des Marktprozesses 39 Das Schließen der Sparlücke – und in dieser Hinsicht differieren die unterschiedlichen Sparlückenkonzepte – kann zweitens nicht durch die heimischen Marktakteure erfolgen, da gerade deren geringes Einkommensniveau ihre Existenz begründet. Dies impliziert nichts anderes, als daß Entwicklungsländer zunächst a priori kein über den Marktprozeß zu mobilisierendes Einkommens- und Wachstumspotential aufweisen, das offensichtlich erst nach einer Initialzündung durch eine exogene Instanz qua einem ökonomischen Urknall, sich herauszubilden beginnen kann. Die These, daß dieses Potential im Verlauf der Kolonialisierung entscheidend geschwächt wurde, kann nicht aufrechterhalten werden, so lange von einer fast vollständigen Trennung zwischen modernem und traditionellem Sektor ausgegangen wird und letzterer sich in seiner ursprünglichen Form dennoch nicht zu entwickeln vermag. Das Schließen der Sparlücke ist drittens lediglich eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung für ökonomische Entwicklung. Diese wird darüber hinaus an die Ausstattung mit und Verfügung über Primärgüter, allgemeiner formuliert eine Ressourcenausstattung, gebunden. Der Hinweis auf die Enge des heimischen Marktes als Ursache für die ausbleibende Investitionsdynamik außerhalb des rohstoffverarbeitenden Sektors bekräftigt nur das vorangegangene Argument und deutet gleichzeitig auf das Fehlen eines preistheoretischen Fundaments innerhalb des Strukturalismus hin. Ersteres, weil die in der Primärgüterproduktion tätigen transnationalen Konzerne offensichtlich keinerlei Restriktion hinsichtlich der Ersparnisse unterliegen, und sie dennoch keine Investitionen zur Erschließung des Binnenmarktes durchführen. Letzteres, weil der Weltmarkt immer die Referenzgröße bildet und eine Beschränkung der unternehmerischen Expansion auf den nationalen Markt nicht eine fehlende Nachfrage, sondern eine fehlende Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens und im Falle des gesamten Unternehmenssektors eines ganzen Landes bei gegebenen Preisen zum Ausdruck bringt. 2.1.3 Angebotsrigiditäten Entwicklungsländer weisen nach Ansicht der Strukturalisten umfangreiche Angebotsrigiditäten auf, die im Verlauf des Entwicklungsprozesses aufgebrochen, aber erst in einem späteren Entwicklungsstadium überwunden werden können. Die Rigiditäten, die sich in den geringen Preiselastizitäten des vor allem land- 40 Der strukturalistische Staat wirtschaftlichen, aber auch industriellen Produktionsangebotes ausdrücken, wirken wachstumshemmend und verursachen inflationäre Effekte. Bei gesamtwirtschaftlich erhöhter Nachfrage entweder aufgrund einer Steigerung des Pro-KopfEinkommens bei gegebener Bevölkerung oder eines Bevölkerungswachstums bei gegebenem Pro-Kopf-Einkommen erfolgen trotz Preiserhöhungen zunächst keine oder nur geringfügige Mengenanpassungen des heimischen Angebotes. Die ungenügenden Produktionsanpassungen werden auf folgende vier Faktoren zurückgeführt: die allgemein niedrige Produktivität von Landwirtschaft und Industrie, die in Entwicklungsländern trotz positiver Gewinnerwartungen geringere Bereitschaft sowie mangelnde Fähigkeit von Unternehmen, Geldvorschüsse in die Produktion zu leisten und die institutionellen Hindernisse. 20 Während letzteres sich zumeist auf das durch Mini- und Latifundien geprägte landwirtschaftliche Pachtsystem bezieht, werden die potentiellen Unternehmer durch die Vielzahl möglicher Investitionsprojekte kombiniert mit »over-sanguine expectations« (Hirschman), die zukünftigen im Vergleich zu aktuellen Investitionen höhere Renditen zuordnen, sowie nicht ausgebildeten Kapitalmärkten überfordert. Profitmaximierende Unternehmen stellen darüber hinaus überhaupt nur eine quantitativ geringe Schicht in Entwicklungsländern dar, deren bedeutendste Investitionsträger Staat und Familie sind, wobei diese wiederum ihre Investitionsentscheidungen nicht vorwiegend auf Preis- oder Nachfrageveränderungen gründen.21 Obgleich Neo-Strukturalisten durchaus eine zunehmende Orientierung der Unternehmensentscheidungen am Markt sowie einen ansteigenden Einfluß desselben auf das private Investitionsverhalten konstatieren, verbleibt der Hinweis auf die von Industrieländern divergierende Bildung und Umsetzung von Präferenzen, die eine simple Übertragung von theoretischem Modell und wirtschaftspolitischen Empfehlungen der mainstream economics ausschließen soll: »But there are also patterns of behaviour which are historically conditioned by cultural factors, perceptions of risk or economic and institutional structures.« 22 —————— 20 Vgl. González, N. (1988), An Economic Policy for Development, in: Cepal Review Nr. 34, S.7–17, S.8. Vgl. auch Hirschman (1958), S.1–24 und S.162–163. 21 Vgl. Brohman, J. (1995), Economism and Critical Silences in Development Studies: A Theoretical Critique of Neoliberalism, in: Third World Quarterly Nr. 2, S.297–318, S.299ff. Vgl. auch Nitsch, M. (1998), Vom Nutzen des monetär–keynesianischen Ansatzes für Entwicklungstheorie und –politik, Freie Universität Berlin, unveröffentlichtes Manuskript, S.11ff. 22 Bitar, S.(1988), Neo–Conservatism versus Neo–Structuralism in Latin America, in: Cepal Review Nr. 34, S.45–62, S.55 bzw. S.58–59. Deformation des Marktprozesses 41 Da der Aus- und Aufbau von Produktionskapazitäten demnach nicht nur von prinzipiell optimistischen Profiterwartungen abhängig ist und letztere durch marginale Preiserhöhungen nicht wesentlich verbessert werden, müssen die Preissteigerungen der von Nachfrageveränderungen betroffenen Güter außergewöhnlich hoch sein, um die die Investitionstätigkeit dämpfenden sozio-ökonomischen Faktoren zu kompensieren und positive Mengeneffekte erzielen zu können. »(W)hen they [entrepreneurs, MM] are somewhat more sluggish and inclined never to act except on the basis of incontrovertible evidence that a lot of money can indeed be made in this or that venture, then the use of price signals will be far more widespread and intensive.«23 Shapiro/Tayler beispielsweise benennen aufgrund »an established rule of thumb« eine erwartete Gewinnspanne von mindestens 30 - 40 % ergänzt um zusätzliche Anreize als Voraussetzung für die Aufnahme der Produktion neuer landwirtschaftlicher und industrieller Güter.24 In einer offenen Volkswirtschaft verursacht eine Überschußnachfrage jedoch nicht Preiserhöhungen, die Extraprofite in diesem Ausmaß erlauben, sondern einen Importsog, der, wenn die Importausgaben die durch Exporte erwirtschafteten Devisenreserven übersteigen, in einer Akkumulation von Auslandsverschuldung und kontinuierlichen Abwertungen mündet. Erst die Rationierung von Devisen und Importen, ergänzt um die Annahme, daß der geringen Preiselastizität des heimischen Angebotes eine mindestens ebenso geringe Preissowie eine hohe Einkommenselastizität der Nachfrage gegenübersteht, bewirkt, daß selbst moderate Steigerungen des Pro-Kopf-Einkommens in einer Überschußnachfrage mit zunächst sektoralen Preiserhöhungen kulminieren. 25 Sowohl die technologische Beschaffenheit der Produktionsverfahren bzw. -güter der »late late industrializers« (Hirschman) als auch die im Verlauf des Entwicklungsprozesses zu erfolgenden Einkommenserhöhungen lassen kompensierende Preissenkungstendenzen in anderen Bereichen kaum erwarten, so daß sektorale tendenziell in gesamtwirtschaftliche Preisniveausteigerungen übergehen. 26 —————— 23 Hirschman (1958), S.159. 24 Shapiro, H., Taylor, L. (1990), The State and Industrial Strategy, in: World Development Nr. 6, S.861–878, S.865. 25 Vgl. Weisskoff, R. (1971), Demand Elasticities for a Developing Economy: An Interna- tional Comparison of Consumption Patterns, in: Chenery, H.B., Bowles, S., Falcon, W. et. al. (Hrsg), Studies in Development Planning, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, S.322–358. Die geringe Preiselastizität der Nachfrage wird durch Weiskoffs empirische Analyse allerdings nicht bestätigt. 26 Vgl. Hirschman (1958), S.158–159. 42 Der strukturalistische Staat Unter gegebenen Bedingungen sind Entwicklungsländer daher mit regelmäßig auftretenden Zahlungsbilanzkrisen oder mit inflationären Schüben konfrontiert.27 Da die Industrialisierung mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturveränderungen, die Brüche und Verwerfungen beinhalten, einhergeht, und damit eine zeitliche quantitative und qualitative Identität von heimischem Angebot und Nachfrage als Spezialfall des Entwicklungspfades begriffen wird, erscheint die Inflation als notwendige, wenngleich auch ambivalente Begleiterscheinung des Aufholprozesses, an dessen Ende erst Wachstum mit monetärer Stabilität vereinbar ist. Letzteres setzt eine vollständige Auflösung der Rigiditäten voraus, so daß das gesellschaftliche und ökonomische System der Entwicklungsländer von modernen, mit denjenigen der Industrieländer vergleichbaren Technologien28 durchdrungen ist, eine Anpassung der Produktionsfaktoren an Marktsignale ohne Verzögerung erfolgen kann und damit einer beständigen Überschußnachfrage die Grundlage entzogen ist. »Development, therefore, would require creating the conditions under which capitalism could work, i.e. functioning labour and capital markets and national market integration.« 29 Wiewohl erkannt wird, daß eine akkommodierende Geldpolitik notwendige Voraussetzung für das Umschlagen inflationärer Impulse in eine akzelerierende Inflation ist, werden die damit assoziierten negativen Auswirkungen insbesondere auf die Ersparnisbildung und Verteilung gegenüber den Konsequenzen einer stabilitätsorientierten Politik von Strukturalisten als insgesamt geringer veranschlagt. Die Akzeptanz einer hohen Inflation als eine dem Wachstumsprozeß inhärente Begleiterscheinung ist innerhalb der neostrukturalistischen Debatte niedriger, was in der in kaum einem neostrukturalistischen Dokument fehlenden Forderung nach Aufrechterhaltung der makroökonomischen Gleichgewichte zum Ausdruck kommt. Allerdings berührt die doch deutlich verhaltenere Position der Neostrukturalisten lediglich die Höhe und nicht die Existenz der wachstumsbedingten Inflation als solche und kann deshalb nicht als eine theoretische Weiterentwicklung oder gar als Bruch mit dem strukturalistischen Argument interpretiert werden. —————— 27 Vgl. Prebisch (1961). Vgl. weiterhin Seers, D. (1964), Inflation and Growth: The Heart of the Controversy, sowie Grundwald, J. (1964), Invisible Hands in Inflation and Growth in Latin America, beide in: Baer, W., Kerstenetzky, I., Inflation and Growth in Latin America, Homewood, Illinois: Richard D. Irwin, S.89–103 bzw. S.290–318. 28 Hierbei wird ein weiter Technologiebegriff zugrunde gelegt. Insofern beinhaltet Technologie nicht nur die typische hardware in Form von Maschinen, sondern auch Produktionsverfahren und nicht zuletzt Managementkapazitäten sowie Unternehmenskultur. 29 Shapiro/Taylor (1990), S.863. Deformation des Marktprozesses 43 Eine permanente Beschränkung der Einkommensbildung auf die zur Verfügung stehenden Exporteinnahmen als Alternative zu einem Wachstumsprozeß mit Inflation wird jedoch angesichts der säkulären Verschlechterung der terms of trade, des Bevölkerungswachstums sowie dem steigenden Urbanisierungsgrad als eine Abkehr vom Ziel der Entwicklung und eine Akzeptanz weitreichender Stagnation interpretiert.30 Schlußfolgerungen: Angebotsrigiditäten Somit ist erstens eine kontinuierliche Erhöhung der Pro-Kopf-Einkommen in Entwicklungsländern aus strukturalistischer Sicht zunächst nicht ohne Inflation möglich. Erst wenn im Verlauf des Entwicklungsprozesses das gesamtwirtschaftliche Angebot den Industrieländern vergleichbare Preiselastizität aufweist, resultieren Nachfrageerhöhungen nicht ausschließlich in Preis-, sondern auch in entsprechenden Mengeneffekten. Eine Bekämpfung der durch die Angebotsrigiditäten bedingten Inflation mittels Zinssatzerhöhungen oder Kreditrestriktionen kann zweitens die eine Inflation verursachenden Faktoren nur um den Preis einer gesamtwirtschaftlichen Rezession unterdrücken, sie jedoch keineswegs abschwächen oder gar auflösen. Durch eine über die strukturellen Faktoren hinausgehende geld- und/oder fiskalpolitisch induzierte Verknappung des heimischen Angebotes werden Ressourcen vernichtet, die Defekte des Wirtschaftssystems verstärkt und damit insgesamt die Entwicklungsbemühungen zurückgeworfen. Dem Dilemma von Inflation und Zahlungsbilanzkrisen dauerhaft zu entrinnen erfordert drittens, daß die Angebotsrigiditäten aufgebrochen und allmählich überwunden werden, wobei die mittel- bis langfristige Überwindung der supply bottlenecks nicht durch private Akteure initiiert und gelenkt werden kann, da gerade deren Erwartungsbildungsprozeß und das kurzfristig orientierte Investitionsverhalten die Existenz dieser Rigiditäten begründet. —————— 30 Dabei wird häufig auf Berechnungen rekurriert, denen ein Bevölkerungswachstum von 3% plus eine um einen Prozentpunkt pro Jahr ansteigende städtische Bevölkerung zugrunde gelegt wird. Deshalb wird bereits bei einem konstanten Pro-Kopf-Einkommen eine sich um 4–5% pro Jahr anwachsende Angebotslücke insbesondere von Nahrungsmitteln prognostiziert. 44 Der strukturalistische Staat 2.1.4 Einkommens- und Vermögenskonzentration Die Dualität der Wirtschaftssektoren spiegelt sich ebenfalls in der Verteilung von Einkommen und Vermögen wider. Das gesamtwirtschaftliche Einkommen konzentriert sich einerseits auf die sogenannten ausländischen Faktoren in Form von Gewinnen der transnationalen Konzerne sowie der Gehälter ihrer aus dem Mutterland des Unternehmens stammenden Mitarbeiter und andererseits auf eine marginale Schicht von heimischen Arbeitnehmern, die im unteren oder mittleren Management dieser Konzerne beschäftigt sind und deren Einkommen das der sonstigen Arbeiter im modernen, geschweige denn im traditionellen Sektor um ein Vielfaches übersteigt. Diese relativ kleine Gruppe heimischer Einkommensbezieher unterscheidet sich von der übrigen Bevölkerung nicht nur durch ihre hohen Bezüge, sondern darüber hinaus durch ihre kulturelle Ausrichtung und Identität. Diese ist durch den way of life der (ehemals) kolonialen Mutterländer geprägt, was sich insbesondere in den Konsumgewohnheiten dieser Haushalte niederschlägt und in sogenannten Luxusgüterimporten zum Ausdruck kommt. 31 Eine hoch konzentrierte Einkommensverteilung führt in Entwicklungsländern demzufolge nicht notwendigerweise, wie zunächst häufig angenommen wurde, zu einer gesamtwirtschaftlich höheren Sparquote, die eine Beschleunigung der Investitions- und Wachstumsdynamik erlaubte. Statt dessen erfolgt eine »unzweckmäßige Verwendung« (Prebisch) der Einkommen dieser Bevölkerungsschicht, so daß das Volumen der tatsächlich realisierten heimischen Ersparnisse unter dem Niveau des endogenen Sparpotentials verbleibt und die Allokation der ohnehin knappen Devisenreserven suboptimal erfolgt: »So werden häufig Gelegenheiten des Sparens und der wirksamen Verwendung von Währungsreserven für produktive Einfuhren preisgegeben.«32 In einem Aufsatz, der den Herausforderungen Lateinamerikas in Zeiten der Hyperinflation und hoher Auslandsverschuldung gewidmet und der neostrukturalistischen Debatte um eine politische und ökonomische Neuorientierung zuzuordnen ist, werden abgesehen von dem Austausch des Begriffs ›Kolonialländer‹ durch ›entwickelte Länder‹ die Kernaussagen bestätigt und damit die Kontinuität des Argumentes gewahrt: »The conflict over income distribution sharpened as the development process continued. The high-income strata of the population acquired luxury goods in what amounted to a premature imitation of —————— 31 Vgl. Levin (1968), S.19–22. 32 Prebisch (1968a), S.42. Deformation des Marktprozesses 45 the consumption pattern of developed countries, thereby hampering efforts to achieve the levels of saving and productive investment necessary for growth while, at the same time, meeting the needs of the poorer segments of the population.«33 Über die Vertiefung der Spar- und Devisenlücke hinaus wird die Herausbildung eines genuinen Binnenmarktes durch die Einkommenskonzentration entscheidend geschwächt. Die Nachfrage der einkommensstarken Haushalte wird quantitativ als zu gering eingeschätzt, gemessen an demjenigen Absatzvolumen, das für den Aufbau heimischer Produktionskapazitäten, die eine Ausschöpfung der economies of scale erlaubten, als notwendig betrachtet wird. So müssen selbst Güter, die unter gegebenen Bedingungen in Entwicklungsländern prinzipiell produziert werden könnten, importiert werden, und die potentiellen Entwicklungsimpulse der Exportenklaven auf die restliche Ökonomie können sich nicht entfalten. «As it was, against the background of a poor, non-monetized selfsufficient subsistence sector, the concentration of a large share of export industry income in the hands of foreign factors and a small group of luxury importers frustrated the development of a domestic mass market for anything above the subsistence level.«34 Neben den Einkommen, die im Zentrum der strukturalistischen Debatte um equity and distribution stehen, wird in den 70er Jahren zunehmend die Konzentration von Vermögen thematisiert.35 Dabei wird der vom Kolonialregime induzierten Vermögensverteilung eine herausragende Bedeutung für die in Entwicklungsländern vorherrschende Armut zugewiesen. Basierend auf empirischen Studien wird der überwiegende Anteil von verarmten Bevölkerungsschichten in ländlichen Gebieten verortet. Insbesondere die mangelnde Verfügung über Grund und Boden sowie das damals noch häufig anzutreffende feudalistische System von Latifundien werden als strukturelle Faktoren identifiziert, die Verarmungsprozesse sowohl verursachen als auch vertiefen. 36 Sie verursachen Armut, da der ländlichen Bevölkerung, die vom Zugang zu Farmland in einer kommerzialisierbaren Größe ausgeschlossen ist, maximal die Möglichkeit zur —————— 33 Gonzáles (1988), S.8. 34 Levin (1968), S.22. 35 Einen guten Überblick über diese Diskussionszusammenhänge bieten Chenery, H., Ahluwalia, M.S., Bell, C.L.G. et.al. (Hrsg.) (1976), Redistribution with Growth, Oxford: Oxford University Press, 3. Auflage. 36 Vgl. insbesondere Ahluwalia, M.S. (1976a), Income Inequaltiy: Some Dimensions of the Problem, in: Chenery/Ahluwalia/Bell et.al. (Hrsg.), S.3–37, S.16ff. 46 Der strukturalistische Staat Erwirtschaftung eines Subsistenzeinkommens verbleibt. Weiterhin erfolgt die kaum das Existenzminimum überschreitende Entlohnung der landlosen (Wander-)Arbeiter nicht immer ausschließlich in monetärer Form, sondern wird häufig in Naturalien abgegolten. In beiden Fällen jedoch kann eine Akkumulation und damit ein Herauswachsen aus der Marginalisierung nicht erfolgen. 37 Darüber hinaus werden Abwanderungsprozesse in die städtischen Regionen in der Hoffnung auf quantitativ und qualitativ bessere Erwerbseinkommen induziert, ohne daß diese auch nur annähernd adäquate Aufnahmekapazitäten hinsichtlich der dazu erforderlichen kommunalen Infrastruktur oder der Beschäftigungsmöglichkeiten aufweisen. Die strukturellen Faktoren vertiefen aber auch bereits existierende Armutstendenzen, da Haushaltseinkommen nicht nur von Löhnen und Gehältern, sondern auch von den Renditerückflüssen der vorhandenen Vermögenswerte gespeist werden und damit selbst bei theoretisch gleichen Erwerbseinkommen die relativen Einkommensdifferenzen zunehmen.38 Nach strukturalistischer Auffassung verhindert demzufolge die Konzentration des gesamtwirtschaftlichen Vermögens, worunter neben Boden und Geldvermögen auch Humankapital eine immer stärkere Berücksichtigung erfährt, auf ein geringes Segment der Bevölkerung eine Angleichung der Einkommen der Haushalte sowie ihres materiellen und sozialen Lebensstandards, in dem sie die Einkommensströme dauerhaft perpetuiert. Aus dem Mangel an der Verfügung über Vermögenswerte werden weitere, sich nachteilig auf die finanzielle Situation niederschlagende Folgewirkungen abgeleitet. Für die ländliche Bevölkerung sind darunter vor allem der erschwerte Zugang zu Krediten, höhere Kosten bei der Kreditgewährung, relativ höhere Inputpreise sowie die verzögerte Übernahme von technologischen Weiterentwicklungen zu nennen, 39 während das geringe Angebot an Arbeitsplätzen im formellen Sektor, mangelnde Gesundheitsvorsorge, fehlende Wohnmöglichkeiten und eine unzureichende schulische und berufliche Qualifikation insbesondere für die städtischen working poor als entwicklungshemmend identifiziert werden.40 —————— 37 Vgl. Bell, C.L.G., Duloy, J.H. (1976), Rural Target Groups, in: Chenery/Ahluwalia/Bell et.al. (Hrsg.), S.113–135. 38 Vgl. Ahluwalia, M.S., Chenery, H. (1976), The Economic Framework, in: Chen- ery/Ahluwalia/Bell et.al. (Hrsg.), S.38–51, S.43ff. 39 Vgl. Bell/Duloy (1976), S.125–128. 40 Vgl. Rao, D.C. (1976), Urban Target Groups, in: Chenery/Ahluwalia/Bell et.al. (Hrsg.), S.136–157. Vgl. ECLAC (1990), S.14–17 und besonders Kapitel V, S.107ff. Deformation des Marktprozesses 47 Schlußfolgerungen: Einkommenskonzentration Zusammenfassend kann erstens festgehalten werden, daß selbst lang anhaltende Phasen wirtschaftlicher Entwicklung nicht automatisch in einer Reduzierung der Einkommens- und Vermögensdifferentiale münden und somit ein kausaler Zusammenhang zwischen Wachstum und Verteilung nicht erkennbar scheint.41 Während zunächst noch davon ausgegangen wurde, daß eine in der frühen Entwicklungsphase weiter zunehmende Einkommens- und Vermögenskonzentration zu einer höheren Investitions- und damit Wachstumsrate mit langfristig positiven Trickle-down-Effekten führt, wird seit Beginn der 70er Jahre selbst in einem frühen Entwicklungsstadium ein zwingend notwendiger trade-off von Wachstum und Verteilung negiert. Da das Phänomen weit verbreiteter Armut nicht automatisch aufgrund höherer Wachstumsraten reduziert werden kann,42 erfordert eine Umkehr der Verarmungsprozesse zweitens Eingriffe in dieses System. Dabei kann die Intervention sowohl auf eine Veränderung der Erstausstattung, d.h. eine Umverteilung des bestehenden Vermögens abzielen als auch die Aneignung des Zuwachses an Einkommen im Rahmen eines Wachstumsprozesses zugunsten der marginalisierten Haushalte diskriminieren. Da aber die Anpassung der Wirtschaftssubjekte an diese Veränderungen erst mittel- bis langfristig wirksam wird, ist es drittens kurzfristig notwendig, die Folgewirkungen der Einkommens- und Vermögenskonzentration durch entsprechende Sofortmaßnahmen zu kompensieren. —————— 41 Vgl. Ahluwalia (1976a), S.11–16. 42 Vgl. auch Sunkel/Zuleta (1990), S.41. 2.2 Allokatives Versagen des Preismechanismus Die Herausbildung von Preisen, verstanden als direkte und unmittelbare Knappheitssignale der angebotenen und nachgefragten Mengen, ist für ökonomische Akteure von herausragender Bedeutung, da Preise nicht nur Orientierungslinien für die aktuelle Disposition über Vermögen und Einkommen darstellen, sondern darüber hinaus in die Bildung von Erwartungen über zukünftige (ökonomische) Ereignisse einfließen. Sie beeinflussen daher insbesondere Gewinnerwartungen und somit Investitionsentscheidungen, die Grundlage von Wachstum und Einkommensbildungsprozessen sind. Im Mittelpunkt der strukturalistisch inspirierten Analyse um Marktversagen und Preisverzerrungen stehen die Bildung von Monopolen und die Existenz von Externalitäten (Kapitel 2.2.1), Lohnrigiditäten (Kapitel 2.2.2) sowie Einkommensansprüche von unterschiedlichen sozialen, am gesellschaftlichen Willensbildungsprozeß beteiligten Gruppen (Kapitel 2.2.3), die alle dazu führen, daß die am Markt gebildeten Preise die vorhandenen Mengen unter- oder überbewerten. 2.2.1 Marktunvollkommenheiten Binnenmärkte der Entwicklungsländer sind durch zahlreiche Marktunvollkommenheiten gekennzeichnet, die vor allem auf (positive) externe Effekte von Investitionen, aber auch auf eine geringe heimische Nachfrage und ansteigende economies of scale zurückgeführt werden. Während die geringe am Binnenmarkt wirksam werdende heimische Nachfrage aus einer Kombination von einem relativ geringen Pro-Kopf-Einkommen, einer relativ hoch konzentrierten Einkommensverteilung und von auf westlichen Konsummustern basierenden Präferenzstrukturen resultiert, bestehen die durch langfristig sinkende Durchschnittskosten hervorgerufenen economies of scale entweder auf der nicht stetigen Teilbarkeit Versagen des Preismechanismus 49 oder auf der (globalen) Unteilbarkeit von Großprojekten. 43 Beide Phänomene – die quantitativ geringe heimische Nachfrage sowie steigende economies of scale – rufen die Bildung von Oligopolen bzw. im Extremfall auch von (natürlichen) Monopolen hervor. Unvollständiger Wettbewerb aufgrund einer marktbeherrschenden Position eines oder mehrerer weniger national operierender Anbieter mündet gemessen an einem Marktgleichgewicht unter vollständiger Konkurrenz in ein geringeres Angebot von Gütern und Dienstleistungen zu jeweils höheren Preisen und ist somit aus allokationstheoretischer Perspektive als suboptimal zu qualifizieren. Wenn von einer staatlichen Subventionierung abgesehen wird, ist es im Bereich sinkender Durchschnittskosten immer erforderlich, von der Grenzkostenpreisregel abzuweichen, da andernfalls dauerhaft ein Defizit erwirtschaftet wird. Demgegenüber wird zur Kompensation für das geringe, auf dem heimischen Markt absetzbare Verkaufsvolumen zumindest temporär von einem höheren Preisniveau ausgegangen, das erst im Verlauf des Entwicklungsprozesses mit steigendem Pro-Kopf-Einkommen korrigiert werden kann. Der Aufbau von bestimmten Produktionszweigen, die von der Lieferung von Vorprodukten durch Oligopole bzw. Monopole abhängig sind, können demnach aufgrund des temporär oder sogar dauerhaft über dem Gleichgewichtspreis sich befindenden Güterpreises erschwert oder sogar gänzlich verhindert werden.44 Als wichtigste der Marktunvollkommenheiten jedoch gelten externe Effekte, die im Rahmen von Investitionsprozessen für Unternehmen anfallen, welche die Investitionen gerade nicht durchgeführt haben. Dabei können die generell als positiv eingestuften externen Effekte sowohl in pekuniärer als auch in nichtpekuniärer Form auftreten (vgl. auch Übersicht 1). Innerhalb der zuerst genannten Kategorie der pekuniären Effekte befinden sich solche, die bei der Verwendung von Einkommen bzw. Einkommenszuwächsen als Folge von Investitionen entstehen. Dieses Einkommen der Arbeitnehmer wird nicht nur gegenüber demjenigen Unternehmen nachfragewirksam, das Investition durchführt und damit —————— 43 Vgl. Chenery, H.B., Westphal, L.E. (1979), Economies of Scale and Investment over Time, in: Chenery, H.B. (Hrsg.), Structural Change and Development Policy, Washington, D.C.: International Bank for Reconstruction and Development, S.217–267, S.218–221. 44 Vgl. Chenery, H.B. (1979), The Interdependence of Investment Decisions, in: Chenery, H.B. (Hrsg.), Structural Change and Development Policy, Washington, D.C.: International Bank for Reconstruction and Development, S.173–216, S.211–212. Die marktbeherrschende Position der angesprochenen Mono– bzw. Oligopole muß sich ausschließlich auf den heimischen Binnenmarkt beziehen. Unter Berücksichtigung einer vollständig offenen Volkswirtschaft und damit des Weltmarktes als Absatzgebiet werden theoretisch auch nationale Monopole zu Grenzanbietern. 50 Der strukturalistische Staat erst dieses Arbeitnehmereinkommen generiert, sondern es wird auch nachfragewirksam hinsichtlich anderer Unternehmen verwendet. Der Nutzen einer Investition, gemessen an der dadurch ausgelösten Umsatzsteigerung, die sich aus einer höheren Lohn- und Gehaltssumme speist, entfällt somit nicht ausschließlich auf das Unternehmen, das den Geldvorschuß leistet, woraus pekuniäre Effekte gerade für Unternehmen abgeleitet werden, die diese Investitionen nicht getätigt haben. Die durch die Aufnahme neuer Produktionslinien kreierte Einkommenssteigerung und die daraus gespeiste Nachfrage nach Gütern, die das die Investition durchführende Unternehmen selbst produziert, ist jedoch allein zu gering, um ein ökonomisches Überleben dieser Investitionsprojekte zu gewährleisten. 45 Eine finanziell bedeutsame Nachfrage der restlichen, nicht an der Produktion beteiligten Bevölkerung nach diesen Gütern wird mit dem Verweis auf Teufelskreise der Armut ausgeschlossen. Eine automatische einzel- sowie gesamtwirtschaftliche Gültigkeit des Sayschen Theorems, daß jedes Angebot sich seine eigene Nachfrage schaffe, wird somit zurückgewiesen. Übersicht 1: Pekuniäre und nicht-pekuniäre externe Effekte von Investitionsprozessen PEKUNIÄRE EXTERNE E FFEKTE NICHT - PEKUNIÄRE EXTERNE E FFEKTE Angebot shadow prices (Scitovsky) backward linkages (Hirschman) Nachfrage demand complementarity (Rosenstein-Rodan) forward linkages (Hirschman) Investitionskonzept gesamtwirtschaftliche Investitionspläne sektorale Investitionsprogramme Wachstumsstrategie balanced growth unbalanced growth Eigene Darstellung —————— 45 Vgl. Rosenstein–Rodan, P.N. (1943), Problems of Industrialisation of Eastern and South Eastern Europe, in: Economic Journal Nr. 53 (June–September), S.202–211, S.205ff. Versagen des Preismechanismus 51 Eine weitere Art von pekuniären externen Effekten wird von Scitovsky diskutiert.46 Dabei werden bestehende Gleichgewichtspreise, auf deren Grundlage Investitionsentscheidungen gefällt werden, mit den dann nach der Durchführung der jeweiligen Investition sich bildenden Gleichgewichtspreisen verglichen. Eine Gegenüberstellung von Prä- zu Post-Investitions-Preisen offenbart, daß diese nicht notwendigerweise identisch sind, da Investitionen selbst über ihre Impulse auf Angebots- und Nachfragerelationen Preisveränderungen hervorrufen können. Unternehmen agieren somit nicht, wie neoklassische Modelle annehmen, als Preisnehmer und Mengenanpasser, sondern vielmehr als Preis- und Mengenanpasser, womit sie nicht nur den eigenen optimalen Ressourceneinsatz, sondern auch denjenigen anderer, durch Lieferbeziehungen verbundener Unternehmen modifizieren: »With reference to particular industries, it can be said that industries A,B,C,..., provide external economies to industries K,L,M,..., if investment in industries A,B,C,..., causes a decrease in the cost of supplying the demands for the products of K,L,M,...«47 Pekuniäre externe Effekte entweder auf der Nachfrageseite wie von Rosenstein-Rodan thematisiert oder auf der Angebotsseite analog Scitovsky bewirken gegenüber dem Wohlfahrtsoptimum insgesamt niedrigere Profiterwartungen in Entwicklungsländern, die sich in einer vergleichbar geringeren Investitionstätigkeit und dementsprechend in einem geringeren Angebot an heimischen Gütern und Dienstleistungen widerspiegeln. »The reason is that atomistic private producers cannot appropriate the external economies to which their activity gives rise, or that they cannot foresee the repercussions which will eventually make them into recipients of economies external to other firms but internal to their own.« 48 In beiden Fällen wird eine gesamtwirtschaftliche Koordinierung der Investitionsentscheidungen für erforderlich gehalten: Während die als notwendig erachtete demand complementarity durch eine simultane Umsetzung einer vorwiegend im Konsumgüterbereich angesiedelten kritischen Masse von Investitionsprojekten erreicht werden kann,49 soll die Ermittlung der einzelnen optimalen Investitionsvolumina durch eine Ex-ante-Berücksichtigung von zukünftigen Ex-post- —————— 46 Vgl. Scitovsky, T. (1954), Two Concepts of External Economies, in: Journal of Political Economy Nr. 62 (April), S.143–151. 47 Chenery (1979), S.176. 48 Hirschman (1958), S.55. 49 Vgl. dazu Rosenstein–Rodan (1943). Neben der arbeitsintensiven Konsumgüterindustrie wurden später auch Branchen berücksichtigt, die damals noch als Produzenten sogenannter nicht–handelbarer Kapitalgüter (z.B. Energie, Transport...) galten. 52 Der strukturalistische Staat Gleichgewichtspreisen mit Hilfe einer Berechnung von Schattenpreisen erfolgen.50 Das von Strukturalisten häufig zitierte Auseinanderfallen privater und sozialer Ertragsraten dergestalt, daß letztere erstere übersteigt, findet in positiven externen Effekten seine Begründung. Dabei verursacht das Auseinanderfallen von privater und sozialer Ertragsrate ein Unterschreiten des zu einem bestimmten Zeitpunkt und bei gegebenen Ressourcen maximal möglichen gesamtwirtschaftlichen Investitionsvolumens, da letzteres zwar unter gesamtwirtschaftlichen, aber nicht unter einzelwirtschaftlichen Gesichtspunkten als profitabel gilt. »The external economies in the market sense, just like those of the more conventional type, can create a discrepancy between the private and social marginal productivity of capital. The private inducement to invest in any single project may be quite inadequate because of market difficulty, even where the marginal productivity of capital applied over a range of complementary industries, in the sense just indicated, is very considerable. This is why a wave of new investments in different branches of production can economically succeed, enlarge the total market and so break the bonds of stationary equilibrium of underdevelopment.«51 Doch Investitionsprozesse können auch nicht-pekuniäre externe Effekte aufweisen. Nach Hirschman ist Unterentwicklung im wesentlichen auf unzureichende subjektive Fähigkeiten, über Ressourcen zu verfügen bzw. »(...) a shortage af the ability to make and carry out development decisions (...) what we shall call briefly the ›ability to invest‹...«52 zurückzuführen. Aufgrund von Planung, Finanzierung und Implementierung erwirbt das jeweilige Unternehmen spezifische (Management-)Fähigkeiten und Fertigkeiten, die via Absatz- und Lieferverbindungen auch Entscheidungsträgern anderer Unternehmen zugänglich sind. Diese werden veranlaßt, ebenfalls Investitionsvorhaben und Produktionsveränderungen vorzunehmen, die quasi in einer Art Kettenreaktion über backward linkages und forward linkages wiederum Anstoß zu weiteren Investitionen geben. Eine Differenzierung von pekuniären und nicht-pekuniären Effekten im Hirschmanschen Linkages-Konzept ist zuweilen schwierig, da sich die Argumentationslinien vordergründig sehr ähnlich sind. Während das Auftreten von pekuniären externen Effekten sich kontraproduktiv auf die Investitionstätigkeit auswirkt, da die zu erwartenden Einnahmen eines Investitionsprojektes die In- —————— 50 Vgl. Chenery (1979), S.177ff. 51 Nurkse (1966), S.15. Vgl. auch Hirschman (1958), S.76. 52 Hirschman (1958), S.36. Versagen des Preismechanismus 53 vestitionskosten aufgrund der nicht vorhandenen Internalisierung der positiven pekuniären externen Effekte unterschreiten, führt die Existenz ebenfalls positiver, aber nicht-pekuniärer externer Effekte, die bei der Durchführung von Investitionen als ›Koppelprodukte‹ anfallen, zu einer Ausweitung des gesamtwirtschaftlichen Investitionsvolumens. Nicht-pekuniäre externe Effekte induzieren jedoch ausschließlich solche Investitionen, die auch ohne ihre Existenz den einzelwirtschaftlichen Rentabilitätsbedingungen genügen, aber eben aufgrund mangelnder »skills, ability and attitudes« (Hirschman) nicht realisiert werden. Darüber hinaus verlieren nicht-pekuniäre im Gegensatz zu pekuniären Effekten in einem fortgeschritteneren Entwicklungsstadium zunehmend an Relevanz: »New investments no longer lead necessarily to a chain of related new investments once the economy is well rounded out, with all activities nicely dovetailed with one another.«53 Obwohl dieses Schneeballsystem in Entwicklungsländern entsprechend der Größe des jeweiligen modernen Sektors durchaus funktionsfähig ist, soll die Überwindung von Unterentwicklung nicht ausschließlich Marktkräften, d.h. den sich im Zeitablauf verstärkenden Ausbreitungseffekten der realisierten Investitionen überlassen werden, denn »(...) if the economy is to rely only in this process, its growth is going to be painfully slow.«54 Schlußfolgerungen: Marktunvollkommenheiten Es kann erstens festgehalten werden, daß bei gegebenen Marktunvollkommenheiten Entwicklungsländer dauerhaft oder zumindest während eines sehr langen Anpassungszeitraumes eine Unterversorgung mit Gütern und Dienstleistungen, verbunden mit höheren Preisen, aufweisen. Dies wirkt sich in zweifacher Hinsicht negativ auf die Pro-Kopf-Einkommen aus: Einerseits ist das geringe heimische Angebot Ausdruck einer zurückhaltenden Investitionstätigkeit, wodurch die Einkommensbildung restringiert und das gesamtwirtschaftliche Volumen der Nominaleinkommen ebenfalls gering ausfällt. Andererseits erfährt das Nominaleinkommen zusätzlich aufgrund der höheren Preise eine Entwertung. Der unvollständige Wettbewerb wirkt darüber hinaus wie eine Markteintrittsbarriere für zukünftige (heimische) Unternehmen und verfestigt daher bestehende Strukturdefizite und löst sie nicht selbständig auf. —————— 53 Hirschman (1958), S.43; vgl. auch seine Ausführungen S.29–49. 54 Hirschman (1958), S.41. 54 Der strukturalistische Staat Da eine Orientierung der wirtschaftlichen Akteure an den existierenden Marktpreisen zu einer Fehlallokation von knappen Ressourcen sowie einer Schwächung der Investitionsdynamik führt, eine Orientierung an den Preisen aber nicht gänzlich unterbunden werden kann, sollen zweitens die Marktunvollkommenheiten durch geeignete staatliche Maßnahmen so weit wie möglich neutralisiert werden. Während gesamtwirtschaftliche Investitionspläne im Rahmen einer Strategie des balanced growth eine Internalisierung von pekuniären externen Effekten ermöglichen sollen, zielen sektorale Investitionsprogramme, die häufig einem Ansatz des unbalanced growth folgen, auf die vermehrte Generierung nicht-pekuniärer externer Effekte ab, um so den Investitionsprozeß stärker zu dynamisieren. Um während des Anpassungszeitraumes ein Ausweichen der Akteure auf Importe und eine Verstärkung der Spar- und Devisenlücke zu verhindern, muß drittens eine außenwirtschaftliche Absicherung dieser Investitionsstrategien erfolgen. 2.2.2 Unterbeschäftigung und Surplus Labour Zentrales Charakteristikum von Entwicklungsländern ist die im traditionellen Sektor anzutreffende Unterbeschäftigung, die sich im Grenzprodukt eines dort beschäftigten Arbeiters in Höhe von Null ausdrückt: »For example, in many countries the market stalls (or the handicraft industries) are crowded with people who are not as fully occupied as they would wish to be. If ten percent of these people were removed, the amount traded would be the same, since those who remained would do more trade. This is the sense in which the marginal product of men in that industry is zero.«55 Das für die physische Reproduktion notwendige Mindesteinkommen markiert die untere Grenze des Durchschnittseinkommens pro Person im traditionellen Sektor, der historisch vorwiegend in ländlichen Gebieten, aber auch zunehmend im urbanen informellen Sektor verortet wird. Das Arbeitsangebot im modernen Sektor ist zu einem Lohn in Höhe dieses Subsistenzeinkommens plus der für die Übersiedlung in die städtischen Regionen anfallenden Kosten so lange absolut elastisch wie der Angebotsüberschuß —————— 55 Lewis, W.A. (1972), Reflections on Unlimited Labour, in: Di Marco, L.E. (Hrsg.), Interna- tional Economics and Development: Essays in Honor of Raúl Prebisch, New York, London: Academic Press, S.75–96, S.78. Versagen des Preismechanismus 55 durch Bevölkerungswachstum, Mobilisierung bisher nicht am Arbeitsprozeß Beteiligter und Einwanderung aufrechterhalten bleibt.56 Da sich die Entwicklung im modernen Sektor bis zum Abbau des Überschußangebotes unter konstanten Reallöhnen vollzieht, bleiben zunächst nicht nur jegliche Trickle-down-Effekte auf die im traditionellen, sondern auch auf die im modernen Sektor tätigen Arbeiter aus. Die Einkommenszuwächse der Industrialisierung fallen demnach komplett als steigende Profite an, die annahmegemäß vollständig reinvestiert werden und somit eine sich selbst verstärkende Wachstumsdynamik tragen. Erst in einem fortgeschrittenerem Entwicklungsstadium, wenn das Überschußangebot des Faktors Arbeit überwunden ist, beginnen die Reallöhne des modernen Sektors und, vermittelt über den Transmissionsmechanismus Land-Stadt-Migration, ebenfalls des traditionellen Sektors allmählich zu steigen. Ein kontinuierlicher Abbau der surplus labour impliziert daher mindestens eine Wachstumsrate des industriellen Sektors, die abzüglich der Produktivitätsgewinne den heimischen Arbeitnehmerzuwachs in einer geschlossenen, ergänzt um die Zuwanderungsrate in einer offenen Volkswirtschaft, übersteigen muß. Trotz bestehender Unterbeschäftigung kann es zu einem vorzeitigen Abbruch der Akkumulationsdynamik kommen. Zur Erklärung dieses Phänomens werden hauptsächlich folgende vier Faktoren herangezogen: erstens ein Ansteigen des durchschnittlichen Produktionsertrages pro Person im traditionellen Sektor, der auf eine Verlängerung der Arbeitszeit zurückzuführen ist; zweitens eine Stärkung der Verhandlungsmacht der Arbeiter im modernen Sektor; drittens eine erhöhte Produktivität des traditionellen Sektors, die nicht durch eine entsprechende Preissenkung kompensiert wird; oder viertens steigende landwirtschaftliche Preise, die auf einer zu geringen Angebotsausweitung der landwirtschaftlichen Produktionsmenge gemessen an der Nachfrage basieren. 57 Alle vier Argumente begründen entweder eine direkte oder über die Koppelung an die Einkommenshöhe des traditionellen Sektors indirekte Erhöhung der Reallöhne im modernen Sektor, ohne daß das überschüssige Arbeitsangebot jedoch vollständig abgebaut worden wäre. Wird zunächst von der institutionellen Erklärungshypothese über die ansteigende Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer im modernen Sektor, auf die noch im folgenden Paragraphen einzugehen sein wird, abgesehen und die Verlänge- —————— 56 Vgl. Lewis, W.A. (1954), Economic Development with Unlimited Supplies of Labour, in: The Manchester School Nr. 2, S.139–191, S.143–44 und S.176–177. 57 Vgl. Lewis (1954), S.172–175. 56 Der strukturalistische Staat rung der Arbeitszeit bereits als erstes Anzeichen einer Verknappung von Arbeit interpretiert, so verbleibt die durch die beiden zuletzt genannten Begründungszusammenhänge angedeutete relative Einkommensverbesserung des traditionellen gegenüber dem modernen Sektor als das ökonomisch herausragende retardierende Moment der Entwicklung. Entweder übersteigt die inländische Nachfrage nach Agrarprodukten das heimische Angebot, was sich in sektoralen Preissteigerungen ausdrückt, oder es erfolgt eine produktivitätsbedingte Steigerung des heimischen Angebotes an landwirtschaftlichen Gütern auf das Niveau der Nachfrage. In beiden Fällen jedoch kommt es nicht nur zu einem Anstieg des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens im traditionellen Sektor, sondern es erhöhen sich aufgrund der Koppelung der städtischen Löhne an das ländliche Einkommensniveau gleichzeitig die Lohnkosten im industriellen Sektor, die bei gegebenen gesamtwirtschaftlichen Preisen nicht übergewälzt werden können. Die Unternehmen sind somit trotz vorhandener Unterbeschäftigung seitens der Löhne einem Kostendruck ausgesetzt, der – solange keine kompensierende Senkung anderer Produktionskosten erfolgt – einen profit-squeeze hervorruft und in einem Wachstumseinbruch mündet. »Hence, if we postulate that the capitalist sector is not producing food, we must either postulate that the subsistence sector is increasing its output, or else conclude that the expansion of the capitalist sector will be brought to an end through adverse terms of trade eating into profits. (...) On the other hand, if we assume that the subsistence sector is producing more food, while we escape the Scylla of adverse terms of trade we may be caught by the Charybdis of real wages rising because the subsistence sector is more productive.«58 Damit birgt eine industrielle Entwicklung im Kontext einer in einen traditionellen und modernen Sektor gespaltenen Ökonomie den Kern ihres Abbruches bereits in sich. Dabei wird zunächst die Investitionsdynamik noch von konstanten (städtischen) Realeinkommen nahe des Subsistenzniveaus gestützt, und die Mengeneffekte können sich entfalten, ohne daß direkte Preiseffekte vom formalen Arbeitsmarkt ausgehen. Doch bei einem anhaltenden Wachstumsprozeß kommt es unweigerlich entweder zu positiven Mengeneffekten einer veränderten Produktionsweise der ländlichen Haushalte oder zu ebenfalls positiven Preiseffekten am Markt für landwirtschaftliche Güter, die, vermittelt über die Reallohnentwicklung, die laufenden Gewinne sowie die Gewinnerwartungen der Unternehmen negativ beeinträchtigen und damit die Investitionsneigung reduzieren. Eine kontinuierliche Industrialisierung bedarf somit einer Neutralisierung dieser —————— 58 Lewis (1954), S.173–174. Versagen des Preismechanismus 57 Störeffekte, wobei die traditionelle Landwirtschaft den Erfordernissen des im modernen Sektor angesiedelten Wachstumsprozesses anzupassen ist: »This also defines for us the case in which it is true to say that it is agriculture which finances industrialisation. (...)if the capitalist sector depends upon the peasants for food, it is essential to get the peasants to produce more, while if at the same time they can be prevented from enjoying the full fruit of their extra production, wages can be reduced relatively to the capitalist surplus.«59 Schlußfolgerungen: Surplus Labour Zusammenfassend kann erstens konstatiert werden, daß sich während eines Entwicklungsprozesses bis zum Beginn des Abbaus der Unterbeschäftigung bzw. der surplus labour die Einkommenseffekte ausschließlich in höheren Gewinnen niederschlagen und somit die Einkommenskonzentration aufgrund ausbleibender Trickle-down-Effekte noch zunehmen wird. Die Abhängigkeit der Reallöhne des modernen Sektors an die (reale) Einkommensentwicklung der Haushalte des traditionellen Sektors ruft zweitens ein Versagen des Preismechanismus des formalen Arbeitsmarktes hervor. Entgegen dem Überschußangebot an Arbeit passen sich die Reallöhne des industriellen Sektors nicht entsprechend flexibel an, sondern zeichnen sich durch Rigidität nach unten aus, wodurch eine vollständige Räumung des Arbeitsmarktes verhindert und ein Gleichgewicht bei dauerhafter Unterbeschäftigung etabliert wird. Gesamtgesellschaftliches Wachstum und Einkommensbildung werden drittens von der Intensität und der Geschwindigkeit bestimmt, mit denen der Industrialisierungspfad durchschritten wird. Dagegen gehen von der Landwirtschaft, die als Reservoir von ineffizient eingesetzten Arbeitskräften sowie insgesamt als wenig innovativ und alten Produktionsmethoden bzw. -strukturen verhaftet interpretiert wird, bestenfalls keinerlei Wachstumseffekte aus, und andernfalls übt sie einen auf die Industrialisierung restringierenden Einfluß aus. Eine Ausweitung der landwirtschaftlichen Importe, um den die Reallohnsteigerung hervorrufenden Faktoren entgegenzuwirken, muß viertens aufgrund der Knappheit der Devisenreserven sowie der geringen Devisenproduktivität der heimischen Unternehmen ausgeschlossen werden. Da die Störungen sowohl mengen- als auch preisinduziert verursacht auftreten können, ist jeweils eine quantitative Erhöhung des heimischen Angebotes an —————— 59 Lewis (1954), S.174–175. 58 Der strukturalistische Staat oder eine administrative Festlegung der Preise von landwirtschaftlichen Gütern jeweils für sich genommen nicht ausreichend. Deshalb ist es fünftens notwendig, nicht nur die Agrarpreise auf einem für den industriellen Unternehmenssektor finanziell tragbaren, unterhalb des sich am Markt bildenden Niveaus zu fixieren, sondern auch gleichzeitig das heimische Nahrungsmittelangebot auszuweiten, soll die Akkumulationsdynamik nicht bereits vor der Absorption der surplus labour des traditionellen Sektors vermindert werden. 2.2.3 Verteilungskonflikte und Verhandlungsmacht gesellschaftlicher Gruppen Immer wiederkehrende Forderungen sozialer Gruppen von tatsächlichen oder vermeintlichen wirtschaftlichen Verlierern nach einer Erhöhung ihrer Einkommen münden in harten, teilweise lang anhaltenden Verteilungskämpfen und, wenn den Einkommensansprüchen entsprechend nachgegeben wird, in einen sich gegenseitig verschärfenden Inflationsprozeß. Soziale Konflikte sind generell eine Begleiterscheinung von ökonomischer Entwicklung und Strukturwandel, da diese sich nicht identisch auf alle Einkommensbezieher, Branchen, Sektoren oder Regionen einer Ökonomie auswirken und somit die ursprüngliche Einkommensverteilung starken Veränderungen unterworfen ist, was den Widerstand der davon negativ Betroffenen hervorrufen kann. Darüber hinaus gilt der Verhandlungsprozeß zur Festlegung der Lohn- und Gehaltshöhe als nicht perfekt, worunter vor allem seine Begrenzung auf den formalen Arbeitsmarkt, die Nominallohnrigidität sowie das Auftreten monopolistischer Gruppen wie z.B. Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände subsumiert wird.60 Die besondere Brisanz und Schärfe sozialer Konflikte in Entwicklungs- gegenüber Industrieländern findet ihre Begründung in (noch) nicht funktionierenden Sozialsystemen, einem stärker begrenzten (fiskalischen) Verteilungsspielraum und der geringeren Anzahl von Beschäftigungs- und damit Einkommensalternativen. Da der Spielraum der individuellen und gesellschaftlichen Kompensation für Einkommensverluste somit insgesamt stärker begrenzt ist, versuchen deshalb unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen, die über ein für die Durch- —————— 60 Vgl. Tinbergen, J. (1984), The Future of Incomes Policies, in: Syrquin, M., Taylor, W., Westphal, L.E. (Hrsg.), Economic Structure and Performance: Essays in Honor of Hollis B. Chenery, Orlando: Academic Press, S.205–215, S.206ff. Versagen des Preismechanismus 59 führung eines Verteilungskampfes ausreichendes Mobilisierungs- und Sanktionspotential verfügen, den aktuellen Status Quo zu erhalten bzw. wenn möglich zu verbessern, um einer sozialen Marginalisierung dauerhaft zu entgehen. Zu den tendenziell besser organisierten Gruppen zählen Gewerkschaften, vor allem des öffentlichen Dienstes, sowie Unternehmen des modernen Sektors, denen eine strategische Bedeutung in der Dynamisierung der Entwicklung beigemessen wird. Demgegenüber gelten die ländliche und die dem urbanen informellen Sektor zugehörige Bevölkerung als wenig organisiert und somit relativ schutzlos. Häufig werden die Einkommensansprüche nicht direkt gegenüber anderen sozialen Gruppen, sondern gegenüber dem Staat geltend gemacht. Ist es einer Gruppe erfolgreich gelungen, die Einkommen ihrer Mitglieder durch höhere Subventionen und soziale Transfers oder geringere Steuerzahlungen zu steigern, so löst dies eine weitere Runde von Verteilungskämpfen aus. »Die Anpassung der Löhne und Gehälter der zurückgebliebenen Schichten, der Wechselkurse, der Steuern und Tarife kann nicht auf unbegrenzte Zeit verzögert werden und in dem Maße, wie es den benachteiligten Schichten gelingt, sich zu verteidigen und der Staat seine Haltung korrigiert, erhält die Spirale einen neuen Anstoß.«61 Fraglich ist jedoch, warum dieses »inflationary group behavior« (Hirschman) vom Staat nicht nur geduldet, sondern auch durch eine Anpassung der Geld- und Fiskalpolitik entsprechend begünstigt wird. Eine Erklärung rekurriert auf das Dilemma des entwicklungspolitisch stark engagierten Staates, der, um seine Investitionsvorhaben realisieren zu können, zumindest auf die Akzeptanz, wenn nicht gar Zustimmung, von politisch gut organisierten Gruppen angewiesen ist, die von diesen Vorhaben gerade nicht direkt tangiert sind. »A government that decides to undertake a major effort in one particular sector or region will frequently find that, as a result of these highly visible favors, demands from other sectors or regions become activated and have to be granted at least in part for the purpose of putting together the political coalition that will permit the original plan to go forward. (...) Every dollar that a government intends to spend on a project of its own choice is thus likely to lead, via a political complementarity or multiplier, to some additional, originally unintended public spending.«62 Aber auch bzw. gerade wenn der Zentralstaat keinerlei entwicklungspolitische Ambitionen verfolgt und somit lediglich der vom Marktprozeß induzierte Wachstums- und Einkommenszuwachs als neue Verteilungsmasse zur Verfü- —————— 61 Prebisch (1968a), S.126. 62 Hirschman (1981), S.196–197 (Hervorhebungen im Original). Vgl. auch seine Ausführun- gen auf S.185–188. 60 Der strukturalistische Staat gung steht, kann eine Zuspitzung der sozialen Konflikte bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen erfolgen. Um die auf das niedrige Entwicklungsniveau zurückgeführten Verteilungskämpfe vorübergehend zu entschärfen, räumt der Zentralstaat häufig mächtigen Interessensverbänden jeweils zeitlich versetzt weitreichende Zugeständnisse ein. Einkommensforderungen einer sozialen Gruppierung sowie deren Befriedigung werden durch Einkommensansprüche anderer Gruppierungen abgelöst und aufgrund der so initiierten Lohn-PreisSpirale mit den bekannten Konsequenzen eines sich beschleunigenden Inflationsprozesses zunichte gemacht. »Inflation has here the function of denying part of what the state, in its weakness and excessive friendliness, has granted. To the extend that the process is understood one might say that the state hands over to inflation the disagreeable job of saying no.«63 Unabhängig davon, ob und inwieweit er selbst eine dezidierte Entwicklungsstrategie verfolgt, gilt die organisatorische Schwäche und politische Isolation des historisch jungen Nationalstaates als Ursache dafür, daß er unterschiedlichen Teilen der Bevölkerung finanzielle Zugeständnisse gewährt, die seinen Verteilungsspielraum deutlich übersteigen und deshalb nur mit Hilfe eines Rückgriffes auf die Notenpresse finanziert werden können. Neben der eher populistischen Handhabung von Verteilungskämpfen, kommt es in Entwicklungsländern regelmäßig bis weit in die 80er Jahre hinein immer wieder zur legalen oder durch Putsch erlangten politischen Machtergreifung von Militärs, die eine offene Austragung sozialer Konflikte durch repressive Maßnahmen unterbunden haben. Der Mythos, eine sogenannte Entwicklungsdiktatur könne durchaus einen wesentlichen Beitrag zur Beschleunigung der Wachstumsdynamik leisten und die für den Aufholprozeß notwendige Phase entscheidend reduzieren, kann, abgesehen von dem empirisch nicht völlig zu leugnenden gleichzeitigen Auftreten von Einkommenssteigerungen und einigen autoritären Regimen, auf die These zurückgeführt werden, daß eine an demokratischen Spielregeln orientierte und der monetären Stabilität verpflichtete Regierung mit den sich zunächst noch verschärfenden sozialen und ökonomischen Gegensätzen überfordert sei. Die Restriktion, die der Konzeption und Durchführung einer Wirtschaftspolitik durch gesellschaftliche Kräfteverhältnisse auferlegt wird, spiegelt sich deshalb insbesondere in der neo-strukturalistischen Diskussion wider. Nach Jahren, teilweise Jahrzehnten der Militärdiktatur und extremer monetärer Instabilität wird der politischen Absicherung eines Entwicklungsvorhabens eine strategische Bedeutung zugeordnet. »The idea of a national project has thus assumed growing —————— 63 Hirschman (1981), S.202. Versagen des Preismechanismus 61 importance, as has the need to build up broad social and political support in order to sustain the project for extended periods. The factors are crucial in assessing whether the implementation of a given strategy is feasible.«64 Darüber hinaus betonen Neostrukturalisten zunehmend den inertiellen Charakter eines akzelerierenden Inflationsprozesses.65 Aufgrund ihrer langen Erfahrungen in einem inflationären Umfeld bilden Wirtschaftsakteure selbst dann noch positive Inflationserwartungen, wenn alle monetären und strukturellen Quellen der Inflationsentstehung bereits versiegt sind. Da die aus der Vergangenheit bekannte Inflationsrate, erhöht um einen Unsicherheitsaufschlag, in die Preisbildung und nominalen Forderungen der Wirtschaftsakteure einfließt, wird das Inflationsgedächtnis selbst zum treibenden Moment von sich gegenseitig aufschaukelnden Einkommensansprüchen. Im Extremfall wird bei sehr hoher Unsicherheit über die zukünftige Inflationsentwicklung auf eine vollständige Indexierung der Verträge zurückgegriffen, vor allem wenn es sich um Verträge handelt, mit denen Kreditbeziehungen eingegangen oder die Anpassung von Löhnen und Gehältern festgelegt werden. Allen Anstrengungen der Wirtschaftsakteure gemeinsam ist es jedoch, ihre nominalen Forderungen vor einer zukünftigen Entwertung zu schützen und darüber hinaus ihre weitergehenden Einkommensansprüche durchzusetzen. Eine Politik, die auf eine Reduzierung der Inflationsrate abzielt, muß deshalb auch in einem neo-strukturalistischen Kontext verteilungspolitische Aspekte und spezifische Momente der einzelnen Gesellschaften berücksichtigen: »To keep inflation down to a rate tolerable in terms of the country’s own history of price increases and social defences against them – a ›tolerable‹ rate might range from something pretty close to zero in India to 100 per cent in South America’s Southern Cone.«66 Schlußfolgerungen: Verteilungskonflikte Somit sind Entwicklungsländer beim gegebenen Niveau der Unterentwicklung und der marginal vorhandenen sozialen Absicherung aus strukturalistischer Sicht —————— 64 Bitar (1988), S.60. Vgl. auch ECLAC (1990), S.54–59. 65 Vgl. hierzu exemplarisch Cardoso, E.A. (1989), Hyperinflation in Latin America, in: Challenge January–February, S.11–19. 66 Taylor, L. (1988), Varieties of Stabilization Experience: Towards Sensible Macroeconom- ics in the Third World, Helsinki: World Institute for Development Economics Research of the United Nations University (Oxford: Clarendon Press), S.7. 62 Der strukturalistische Staat erstens permanent mit Verteilungskonflikten konfrontiert, die tendenziell inflationär wirken. Erst im Verlauf des Entwicklungsprozesses und dem allmählichen Aufbau von Sozialversicherungssystemen können diese Verteilungskonflikte gemildert bzw. völlig entschärft werden. Maßnahmen der Inflationsbekämpfung, die sich durch eine restriktive Geldund Fiskalpolitik auszeichnen, können zweitens keinen Beitrag zur Abschwächung der verteilungspolitisch bedingten Inflation leisten. Sie rufen statt dessen eine Mengenreaktion hervor, die die Produktionskapazitäten reduziert, die Arbeitslosigkeit ansteigen läßt und die Preisauftriebskräfte lediglich nach oben begrenzt. Darüber hinaus vertieft die Stagflation Verarmungstendenzen und bildet somit die Grundlage weiterer sozialer Konflikte. Solange keine adäquaten Kompensationsmöglichkeiten für die von der wirtschaftlichen Entwicklung negativ betroffenen Interessensverbände etabliert sind, soll drittens die gesellschaftliche Verankerung eines spezifischen Wirtschaftsprogramms durch eine verstärkte Integration der unterschiedlichen Akteure vor allem auf zentraler Ebene gewährleistet werden. Insbesondere ein Sozialpakt bestehend aus Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern sowie der Regierung wird als wesentliches Mittel der Konsensbildung nicht nur hinsichtlich der Einkommenspolitik interpretiert. 2.3 Entwicklungsplanung und Regulierung Entwicklungsländer weisen dualistische und heterogene Strukturen auf, die durch die Kolonialisierung hervorgerufen und die in deren Anschluß durch eine postkoloniale Weltmarkteinbindung mit einer hohen Spezialisierung auf Rohstoffexporte verstärkt werden. Das in vielen Bereichen auftretende Marktversagen, das in inflexiblen bzw. verzerrten Preisen zum Ausdruck kommt, verursacht bei gegebenen Ressourcen, daß das tatsächliche Angebot von Gütern und Dienstleistungen geringer ist als das unter Berücksichtigung des der jeweiligen Ökonomie innewohnenden Produktionspotentials maximal mögliche Angebot. Bezogen auf Güter und Dienstleistungen führt der Preismechanismus in Entwicklungsländern demnach zu einer Unterversorgung, während er gleichzeitig in ein Überangebot des Faktors Arbeit mündet. Demgegenüber weist das quantitative Angebot des Faktors Kapital im Extremfall überhaupt keine Korrelation zu seinem Preis, dem Zinssatz, auf, sondern ist lediglich abhängig von der Höhe und der Verteilung des gesamtwirtschaftlichen Einkommens. Das sogenannte freie Spiel der (Markt-)Kräfte kulminiert in Entwicklungsländern somit nicht in sozialer Integration und in steigendem (materiellem) Wohlstand durch eine sich beschleunigende Wachstumsdynamik, sondern bestenfalls in einer Verstetigung, schlimmstenfalls in einer Vertiefung der bestehenden Entwicklungsunterschiede, so daß die vorhandenen ökonomischen und sozialen Disparitäten auf nationaler und internationaler Ebene weiter ansteigen. Die privaten Marktakteure, Haushalte und Unternehmen sind unfähig aus sich heraus einen qualitativen Beitrag zur Überwindung von Stagnation und Unterentwicklung zu leisten, da sie entweder nicht entsprechend auf Marktsignale reagieren oder gerade weil sie gemäß ihrer einzelwirtschaftlichen Kalküle und der vorhandenen Anreizstrukturen rational auf Marktsignale reagieren. Wenn somit keiner der einzelwirtschaftlichen Akteure die Marginalisierungstendenzen aufzuhalten und schließlich umzukehren in der Lage ist, so bedarf es – so das strukturalistische Paradigma – der Intervention des Zentralstaates, wenn nicht generell von einer nachholenden Entwicklung Abschied genommen werden soll. »Hence growth demands more than a policy of liberalization designed to promote correct prices for an optimum allocation of productive forces in a static situation and in conditions of an extremely unequal 64 Der strukturalistische Staat distribution of income. On the contrary, the interplay of the market should be significantly complemented by dynamic action on the part of the State.« 67 Als zentrale wirtschaftspolitische Ziele einer strukturalistisch fundierten staatlichen Intervention in den Marktprozeß lassen sich erstens die Induzierung von Wachstum und Einkommensbildungsprozessen, zweitens die Überwindung von Armut und die Generierung von sozialer Gerechtigkeit und drittens der Aufbau sowie die Aufrechterhaltung der internen und externen (monetären) Stabilität nennen. Sowohl in der Theoriebildung als auch in der politischen Umsetzung läßt sich analog der Zeitachse eine Verschiebung der wirtschaftspolitischen Schwerpunktsetzung erkennen. Das zuerst genannte Ziel, das unter Rückgriff auf eine Importsubstituierende Industrialisierungsstrategie und der Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit heimischer Unternehmen erreicht werden sollte, dominierte die strukturalistische Debatte bis Anfang der 70er Jahre (Kapitel 2.3.1). Selbst die zwischen Strukturalisten und Monetaristen geführte Kontroverse um Inflationsentstehung und Inflationsbekämpfung aus den früheren 60er ist aus strukturalistischer Sicht lediglich eine davon abgeleitete Diskussion. Ab Mitte der 70er Jahre gilt die Überwindung absoluter und relativer Armut durch die Verfolgung eines Basic-needs-Ansatzes und der Reallohnsicherung durch Indexierung als neben der Importsubstituierende Industrialisierungsstrategie eigenständige und gleichwertige Zielsetzung (Kapitel 2.3.2). Diese Veränderung ist auf die wenig positiven verteilungspolitischen Resultate der bis dahin beobachtbaren relativ hohen Wachstumsraten zurückzuführen. Demgegenüber rückt in den 80er Jahren die Bekämpfung von Inflation und häufigen Abwertungen der heimischen Währung mittels eines heterodoxen Schockprogramms, komplementiert durch eine zentrale Einkommenspolitik, in den Mittelpunkt der dann bereits neo-strukturalistisch geprägten Diskussion (Kapitel 2.3.3). Hintergrund für diesen Wechsel zugunsten des dritten wirtschaftspolitischen Zieles sind die veränderten weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die Verschuldungskrise und eine kontinuierliche Deintermediation der Finanzsysteme der Entwicklungsländer in Form von Hyperinflation und Dollarisierung. Dagegen scheint es nach einer zumindest vorläufigen Reduzierung der Inflationsraten auf einstellige Werte Ende der 90er Jahre ein verstärktes Bemühen um die Rückkehr zu einer gleichwertigeren Betrachtungsweise aller Zielsetzungen zu geben. Obgleich die einzelnen wirtschaftspolitischen Ziele sich gegenseitig bedingen, existieren für sie jeweils spezifische Maßnahmenbündel, die im folgenden kurz skizziert werden, wobei jedoch nicht alle jemals von den Strukturalisten —————— 67 Sunkel/Zuleta (1990), S.41. Entwicklungsplanung und Regulierung 65 diskutierten Maßnahmen dargelegt werden können. Es erfolgt statt dessen eine Beschränkung auf die Kernelemente einer strukturalistisch inspirierten staatlichen Entwicklungsstrategie, die eine Einschätzung über die ökonomische Fundierung des Staates im strukturalistischen Paradigma erlauben soll. 2.3.1 Importsubstitutierende Industrialisierung und internationale Wettbewerbsfähigkeit Die von den Strukturalisten empfohlene Wachstumsstrategie weist sowohl eine nach innen gerichtete, auf die jeweilige Ökonomie beschränkte als auch eine auf die Veränderung internationaler Rahmenbedingungen abzielende Stoßrichtung auf.68 Von Industrieländern wird ein Abbau aller Arten von Markteintrittsbarrieren vor allem gegenüber nicht-traditionellen Exportprodukten aus Entwicklungsländern und eine Erhöhung der staatlichen Kapitalexporte in die Entwicklungsländer gefordert, womit die Devisen- und Sparlücken entscheidend reduziert werden sollen. Gleichzeitig wird Entwicklungsländern ein Zusammenschluß mit anderen peripheren Ländern empfohlen, um somit einen erweiterten und durch Außenzölle geschützten Binnenmarkt zu schaffen, der einerseits erst das Potential für eine heimische Nachfrage beinhaltet, die die Aufnahme einer Massenproduktion rechtfertigt, und der es andererseits den in diesem Wirtschaftsraum agierenden Unternehmen erlaubt, die economies of scale auszunutzen.69 Eine regionale Integration zwischen einzelnen Entwicklungsländern kann auch eine Abstimmung und daran anschließend ein koordiniertes Vorgehen bei der Planung neuer Industriezweige beinhalten, wobei die Auswahl der Standorte den regionalen Entscheidungsgremien überlassen bleibt. 70 Während mit den o.g. Maßnahmen sowohl Aufbau als auch Absatzgebiete vorwiegend nicht-traditioneller Güter erweitert werden sollen, ist eine Stabilisierung von Rohstoffpreisen bzw. —————— 68 Vgl. Prebisch, R. (1968c), A New Strategy of Development, in: The Journal of Economic Studies Nr.1, S.3–14. Für eine detailliertere Diskussion der auf multi– bzw. bilateraler Ebene zu ergreifenden Maßnahmen siehe Prebisch (1968a), S.238–290. 69 Vgl. Rosales (1988), S.23–24. 70 Eine Diskussion der damals in Lateinamerika ambitioniertesten Integrationsbemühungen findest sich bei Frambes–Alzérreca, A. (1989), Der Andenpakt: Wandlungen eines Integrationsprozesses, Marburg/L.: Schriftenreihe der Studiengesellschaft für Sozialgeschichte und Arbeiterbewegung, Band 75, S.132–141. 66 Der strukturalistische Staat von -erlösen durch die von Entwicklungs- und Industrieländer gemeinsam einzurichtenden buffer stocks vorgesehen. Neben dem grundsätzlichen Wandel weltwirtschaftlicher Beziehungsgeflechte, der jedoch einen politischen Konsens und gleichgerichtete ökonomische Interessen zwischen allen international relevanten Akteuren, insbesondere der Industrieländer, die im strukturalistischen Kontext gerade die Profiteure des internationalen Status Quo bilden, voraussetzt, kann ein einzelnes Land mittels einer Importsubstituierenden Industrialisierung (ISI-Strategie) versuchen, einen nationalen Strukturwandel einzuleiten. Die sich über drei unterschiedliche Phasen erstreckende ISI-Strategie ist dabei einerseits eine Reaktion auf die den Wachstumsprozeß restringierende Spar- und Devisenlücke und folgt andererseits der Notwendigkeit, eigene Produktionskapazitäten aufzubauen und damit das gesamtwirtschaftliche Angebot zu erhöhen. In der ersten Phase sollen sogenannte nicht-essentielle Importe entweder durch entsprechend hohe Zölle, Quoten oder gar durch ein generelles Importverbot drastisch reduziert werden, während die tatsächliche Substitution der als notwendig erachteten Importe durch inländische Produkte einer zweiten Phase vorbehalten bleibt. Somit kennzeichnet die erste Phase der ISI-Strategie eine Abschottung gegenüber einigen, häufig als Luxusgüter klassifizierten Importen und parallel dazu eine Erhöhung von Konsum- und Kapitalgüterimporten, insbesondere von Anlagen und Maschinen im Transport-, Energie- und Hochtechnologiesektor.71 Die zu den Zielen der Substitutionspolitik scheinbar paradox anmutende Ausweitung des Importvolumens dient in dieser Phase der ISI-Strategie dem schnellstmöglichen Aufbau einer industriellen Basis, mit deren Hilfe in der zweiten Phase die Produktion für den heimischen Binnenmarkt erfolgen soll und schließlich in einer dritten und letzten Phase auch der Weltmarkt mit nicht-traditionellen Gütern und Dienstleistungen beliefert werden kann. »(I)n its course, a country would aquire a comparative advantage in the goods it imports; for the ›fatter‹ the imports of a given consumer good grew, the greater was the likelihood that, in Hansel and Gretel fashion, they would be ›devoured‹ or ›swallowed‹ by a newly established domestic industry.«72 Eine zeitgleiche Erschließung des nationalen und internationalen Marktes wird mit dem Hinweis auf eine mangelnde industrielle Tiefe in Entwicklungsländern ausgeschlossen: »It would therefore be unrealistic to expect an industry —————— 71 Vgl. Hirschman, A.O. (1968), The Political Economy of Import–Substituting Industrializa- tion in Latin America, in: The Quarterly Journal of Economics Nr. 1, S.1–32, S.6ff. 72 Hirschman, A. O. (1992), Rival Views of Market Society and Other Recent Essays, Cam- bridge, Mass.: Harvard University Press, S.15–16. Entwicklungsplanung und Regulierung 67 to become an exporter before it has truly taken root in the country through a variety of the more obvious backward linkage investments. And the expeditious undertaking of these investments is therefore desirable not only per se, but also as a necessary waystation to the opening of the export base.«73 Die ISI-Strategie führt über die anvisierte Verringerung der Importe und Erhöhung der Exporterlöse somit erst in mittlerer bis langfristiger Perspektive zu einer Entlastung der heimischen Devisenreserven, während sie kurzfristig sogar zu einem Anstieg der Fremdwährungsnachfrage führt – der entscheidende Grund, warum die Implementierung einer aktiven ISI-Politik in einer Situation der Zahlungsbilanzkrise gerade nicht erfolgen kann.74 Gemeinsam mit tarifären und nicht-tarifären Handelshemmnissen gilt der Wechselkurs als wichtigstes Instrument zur Steuerung von Volumen und Zusammensetzung der Ex- und Importströme. Der Wert der heimischen Währung gegenüber den Währungen der jeweiligen Hauptlieferanten wird auf einem Niveau festgelegt, das die Finanzierung der als notwendig erachteten Importe ermöglichen soll und damit tendenziell als überbewertet charakterisiert werden kann. Dies trifft auch auf einen Wechselkurs zu, der zum Zeitpunkt seiner administrativen Fixierung zunächst noch als gleichgewichtig zu bezeichnen ist, da ein fixer Wechselkurs bei höheren inländischen Inflationsraten als im Währungsraum, gegenüber dem die Festlegung erfolgt, sofort einen, in diesem Fall marktvermittelten, Prozeß in die Überbewertung auslöst. Unter der Bedingung eines vereinheitlichten, aber überbewerteten Wechselkurses geht mit der preislichen Begünstigung von Importen notwendigerweise eine preisliche Diskriminierung der Exporte einher. Da die Exporte jedoch zu Beginn einer ISI-Strategie zu einem überwiegenden Anteil aus unverarbeiteten Primärgütern bestehen, verursacht die Überbewertung entsprechend der strukturalistischen Analyse lediglich eine Reduzierung von Einkommensübertragungen von Entwicklungs- zu Industrieländer im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung zugunsten der neu aufzubauenden Industriezweige und auf Kosten von Unternehmensgruppen wie beispielsweise Transnationalen Konzernen oder der Landoligarchie, von denen kaum Entwicklungsimpulse erwartet werden. 75 Insofern stellt die Benachteiligung von Exporteuren traditioneller Güter in dieser Phase weder einen Widerspruch zu den von den Strukturalisten verfolgten Zielen, insbesondere der Förderung des Wachstums und von Einkommensbildungsprozessen, dar, noch ist sie —————— 73 Hirschman (1968), S.26. 74 Vgl. Prebisch (1961), S.4. 75 Vgl. Hirschman (1981), S.189. 68 Der strukturalistische Staat Ausdruck einer generellen Abkehr vom Weltmarkt und selbstgewählter (wirtschaftlicher) Isolation, wie häufig fälschlicherweise behauptet wird. Spätestens zu einem Zeitpunkt, wenn ein zunehmender Anteil der neu geschaffenen industriellen Basis im Binnenmarkt verankert ist und eine, gemessen an der Auslandsnachfrage ausreichende Produktqualität bzw. –diversifikation ihrer jeweiligen Fertigung garantieren kann, wird auch aus strukturalistischer Perspektive die Überbewertung als ein Hindernis für eine weitere Expansion der Produktion und Eroberung von internationalen Absatzmärkten reflektiert. »It could therefore be suggested that, at a certain point, overvaluation of the currency turned from a stimulus to industrial progress into a drag on it.« 76 Eine Überwindung dieses Zustandes mittels einer Abwertung wird jedoch wegen ihres fehlenden selektiven Charakters als ambivalent betrachtet, denn im Zuge einer Abwertung verteuern sich ceteris paribus alle Importe, einschließlich der sogenannten Kapitalgüter, deren Import vor dem erfolgreichen Abschluß einer ISIStrategie als notwendig erachtet wird. Gleichzeitig verbilligen sich durch die Abwertung der heimischen Währung alle Exportgüter, einschließlich traditioneller Exporte, obwohl gerade letzteres aus verteilungspolitischen Aspekten und der Gefahr eines weiteren Verfalls der terms of trade unerwünscht ist, sollten die Rohstoffproduzenten auf die in heimischer Währung erhöhten Exporterlöse mit einer Angebotsausweitung reagieren. 77 »Devaluation is essential if internal costs have climbed more than the international prices of commodities, but it should not be applied to bring about changes in the structure of production and the composition of imports unless other measures are adopted as well.«78 Eine Abwertung im strukturalistischen Kontext muß deshalb gleichzeitig von einer zur Abwertung proportionalen Besteuerung der traditionellen Exporte sowie einer entsprechenden Senkung der Einfuhrzölle für präferentielle Güter und/oder einer Subventionierung der Importe begleitet werden.79 Im Extremfall wird »aus politischen und anderen Gründen« unter Verzicht auf eine Abwertung und damit —————— 76 Hirschman (1968), S.28. 77 Vgl. Prebisch, R. (1979), Las Teorías Neoclásicas del Liberalismo Económico, in: Revista de la Cepal Nr. 7, S.171–192, S.182–184. Verteilungspolitisch benachteiligt werden neben den bereits genannten, im Importsektor angesiedelten Unternehmen Arbeitnehmer, die Reallohnverluste hinnehmen müssen, wenn das Risiko einer Abwertungs–Inflations–Spirale gering gehalten werden soll. 78 Prebisch (1961), S.20. 79 Vgl. Prebisch (1961), S.9. Entwicklungsplanung und Regulierung 69 einer Aufrechterhaltung eines überbewerteten Wechselkurses eine Exportsubventionierung für Halb- und Fertigwaren empfohlen.80 Eine Alternative zur expliziten stellt die von seiner Wirkung her implizite Besteuerung und staatliche Alimentierung der fraglichen Ein- und Ausfuhrströme im Rahmen eines Systems multipler Wechselkurse dar. 81 Dabei werden unterschiedlichen Warenkategorien je nach ihrer im Rahmen der ISI-Strategie vorgesehenen Relevanz unterschiedliche Wechselkurse zugeordnet, wobei einerseits die als notwendig erachteten Importe für die Substitutionsgüterindustrie sowie die traditionellen Exporte einen stark überbewerteten und andererseits die nichttraditionellen Exporte und sonstigen Importe einen tendenziell unterbewerteten Wechselkurs in Anspruch nehmen können. Dabei können die jeweiligen An- und Verkaufsraten einer Einheit ausländischer Währung je einzelner Warenkategorie zusätzlich einen erheblichen Spanne aufweisen, wie das in den 40er Jahren unter Raúl Prebisch in seiner Funktion als Präsident der argentinischen Zentralbank eingeführte System veranschaulicht, in dem von vier der sechs existierenden Wechselkurse die An- und Verkaufsraten eines US-Dollar bis zu 80 % divergierten.82 Somit stehen Strukturalisten prinzipiell vier verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, mit deren Hilfe die gewünschte Höhe und Struktur der Ex- und Importströme anvisiert werden können. Der Einsatz tarifärer und nicht-tarifärer Maßnahmen als die üblichen Mittel zur Gestaltung der Handelspolitik werden für Entwicklungsländer, die sich noch in der Phase des Aufbaus einer Substitutionsgüterindustrie befinden, insofern ausgeschlossen, als diese Maßnahmen eine direkte Besteuerung traditioneller Exportprodukte erfordert. »In the industrializing societies of Latin America, for example, the interests tied to the traditional export sectors were still in a highly influential position and it was out of the question to tax them outright.«83 Erst wenn die Substitutionsgüterindustrie über ihren steigenden Anteil an der nationalen Wertschöpfung und an den Ex- —————— 80 Vgl. Prebisch (1968a), S.275–276. 81 Vgl. Baer, W., Herve, E. (1962), Multiple Exchange Rates and the Attainment of Multiple Objectives, in: Economica, S.174–184. 82 Vgl. Dornbusch, R. (1986), Multiple Exchange Rates for Commercial Transactions, in: Edwards, S., Ahamed, L. (Hrsg.), Economic Adjustment and Exchange Rates in Developing Countries, Chicago: The University of Chicago Press, S.143–165, Tabelle 4.1, S.145. Peru wies in der Anfangsphase des heterodoxen Wirtschaftsprogramms unter Alan García Perez mehr als 12 unterschiedliche Wechselkurse auf; vgl. Rojas Albonico, N. (1990), Wirtschaftsschock ja oder nein?, in: Lateinamerika Nachrichten Nr. 2, S.41–74, S.58. 83 Hirschman (1992), S.63. 70 Der strukturalistische Staat porterlösen eine ausreichende (politische) Machtbasis auf Kosten traditioneller Exporteure errungen hat, werden gegen letztere gerichtete diskriminierende Maßnahmen politisch als durchsetzbar eingeschätzt. Aber exakt zu diesem Zeitpunkt sind solche Maßnahmen im großen Stil obsolet geworden, da mit der politischen auch die ökonomische Relevanz jener Gruppen stark abgenommen hat. Sowohl eine Beibehaltung der Überbewertung als auch eine Abwertung der heimischen Währung mit dem Ziel eines (einheitlichen) gleichgewichtigen Wechselkurses als Alternative zur direkten Besteuerung ausgewählter Produkte stellen jedoch eine erhebliche Belastung des staatlichen Budgets dar, da ersteres eine Subventionierung nicht-traditioneller Exporte und letzteres eine staatliche Alimentierung der als unverzichtbar klassifizierten Importe bedingt, ohne daß diesen zusätzlichen Ausgaben proportionale Mehreinnahmen gegenüberstehen, wenn von der Besteuerung traditioneller Exporte im Rahmen einer Abwertung abgesehen wird. Multiple Wechselkurse für Leistungsbilanztransaktionen als die letzte der vier Möglichkeiten erfüllen dagegen aus strukturalistischer Sicht nicht nur den Anspruch einer Selektivität, die mit den Zielen der ISI-Strategie konsistent ist, sowie einer Flexibilität, die dem kontinuierlichen Aufbau der Substitutionsgüterindustrie Rechnung trägt, in dem sie Differenzierungen einzelner Branchen oder gar Güter durch zeitlich ungebundene Herauf- und Herabstufungen in präferentielle bzw. diskriminierendere Wechselkurskategorien zuläßt, sondern sie gelten darüber hinaus als kostenneutral. Idealtypisch wird die präferentielle Abgabe von Devisen seitens der Zentralbank an die jeweiligen Importeure von unverzichtbaren Gütern durch die unter dem Gleichgewichtspreis liegende Vergütung von Devisen finanziert, welche die Zentralbank Exporteuren traditioneller Güter gewährt. Selektivität, Flexibilität und Kostenneutralität können sicherlich als die wesentlichen Gründe angeführt werden, die für das häufige Verwenden von multiplen Wechselkursen als Instrument zur Steuerung der Ex- und Importströme und damit als außenwirtschaftliche Absicherung der ISI-Strategie verantwortlich zeichnen. Wenn jedoch die Ceteris-paribus-Klausel aufgehoben und dynamische Anpassungsprozesse seitens privater Akteure an die administrative Preisfestsetzung zugelassen werden, so ist die Kosteneutralität nicht mehr gewährleistet. Die Subventionierung eines beträchtlichen Anteils der Importe sowie von nichttraditionellen Exporten durch den Wechselkursmechanismus stellt einen erheblichen Anreiz zur Ausweitung der jeweiligen Im- und Exportvolumina und damit der dafür in das staatliche Budget einzustellenden Ausgaben dar, während die sie Entwicklungsplanung und Regulierung 71 finanzierenden Exporterlöse traditioneller Güter schrumpfen oder gar gänzlich zusammenbrechen. »One of the clearest examples of the costs in terms of distortions of excessive multiple rates occured in 1973. In that year the international price of wheat stood at a record level and so did the domestic price: the world price stood at an all time high and the domestic price at an all time low. At the same time, with the help of a whole battery of measures, exports of automobiles to Cuba were subsidized and were paid for by Cuba with promissory notes that exporters discounted with the central bank. The result is the expected: guided by the low domestic prices farmers did not produce much wheat and Argentina missed the opportunity to export a competitive commodity at good prices; instead we exported automobiles in exchange for which we received notes that for many years (perhaps even now?) are part of the international reserves of our central bank.«84 Temporär können Exporteure traditioneller Güter auf die verschlechterte Erlössituation auch mit einer Erhöhung ihrer Produktionsmenge reagieren, um zumindest das Umsatzniveau zu stabilisieren, was nach dem nationalen Preisverfall dann den internationalen Preis ihres Gutes tendenziell senkt und somit die terms of trade des Landes verschlechtert. Dies kann einen erneuten Eingriff des Staates in das Preisgefüge hervorrufen, da nach strukturalistischem Verständnis mit dem Sinken der terms of trade die Einkommensübertragungen an das Ausland bzw. der nationale Wohlfahrtsverlust stetig zunimmt. Langfristig jedoch können diese Exporteure ihre ursprüngliche Gewinnmarge nur durch eine Senkung ihrer Kosten, insbesondere im Bereich der Löhne und einer weiteren Verschlechterung der im Bergbau und der Landwirtschaft ohnehin unzureichenden Arbeitsbedingungen, wieder herstellen. Aber die Funktionsfähigkeit eines multiplen Wechselkurssystems erfordert nicht nur eine Entscheidung darüber, welche Güter bzw. Branchen mit welchem spezifischem Preis für den An- und Verkauf von Devisen belegt werden sollen, sondern es bedarf aufgrund der präferierten Devisenzuteilung bei prinzipiell begrenzten Devisenreserven weiterhin einer Festlegung quantitativer Obergrenzen je Warenkategorie. Das gleichzeitige Auftreten einer bindenden Preis- und Mengenkontrolle bedingt notwendigerweise ein System der Devisenbewirtschaftung, das sich einerseits in der Inkonvertibilität der heimischen Währung und andererseits in dem mit multiplen Wechselkursen einhergehenden hohen administrativen Kontrollaufwand widerspiegelt. Darüber hinaus werden Arbitragegeschäfte beispielsweise in Form der Über- und Unterfakturierung des —————— 84 Carta Económica (1983), in: El Cronista Comercial (Dezember), S.46, zitiert nach: Dorn- busch (1986), S.161–162. 72 Der strukturalistische Staat Im- bzw. Exportvolumens ausgelöst, die über die Entwicklung von Parallelmärkten das de jure negierte ›law of one price‹ für die Einheit einer Fremdwährung im Rahmen eines ökonomischen Prozesses tendenziell durchsetzt. Je geringer das Devisenangebot bei gegebenen Zahlungsverpflichtungen und je größer die Differenz zwischen den heimischen Preisen für je eine Einheit ausländischer Währung, um so höher ist der Anreiz für Haushalte und Unternehmen, die staatliche Regulierung zu umgehen. Im Extremfall widmen sich Unternehmen mehrheitlich dem Handel mit Devisen und der Vergabe von Fremdwährungskrediten und nicht mehr der Erhöhung oder Verbesserung ihrer Produktion. Handelt es sich hierbei um Unternehmen der Substitutionsgüterindustrie, so ergibt sich allein aufgrund des langsamen oder gar gänzlich ausbleibenden Strukturwandels, der mit der ISI-Strategie bewirkt werden sollte, ein zusätzlicher Handlungsbedarf des strukturalistisch inspirierten Staates in Form von Steuererleichterungen, Kredite von Entwicklungsbanken zu Vorzugskonditionen oder eine Abnahmegarantie für einen Anteil der Produktion. Bei einem Ausbleiben der erhofften Effekte kann auch ein öffentlich finanziertes Investitionsprogramm kombiniert mit einer Verstaatlichung von Unternehmen einer ganzen Branche aufgelegt werden. Während die bisherigen Einwände auch auf einen (vereinheitlichten) überbewerteten Wechselkurs zutreffen, können im Rahmen eines multiplen Wechselkurssystems neben dem erwünschten, aber nicht ausreichenden Strukturwandel noch kontraproduktive Struktureffekte auftreten, die häufig fälschlicherweise als eine unangenehme Begleiterscheinung der ISI-Strategie selbst bezeichnet werden. »Another reason for direct state intervention was that private industrialists frequently preferred to continue to rely on foreign suppliers of semi-processed and capital goods – this occasional resistance to backward linkage is yet another characteristic of ISI.«85 Aufgrund sowohl der wechselkursbedingten Subventionierung dieser Importgüter als auch der nicht-traditionellen Exporte entstehen Produktionsstätten, die sich durch eine hohe Import- und Reexportquote sowie einen geringen Verarbeitungsgrad auszeichnen. Ein überbewerteter Wechselkurs verursacht immer tendenziell eine preisliche Benachteiligung aller im Inland produzierenden Unternehmen auf dem Binnen- und Weltmarkt, unabhängig davon, in welcher Branche sie tätig sind bzw. welche Verarbeitungsstufen sie integriert haben, und verhindert den Aufbau von heimischen Wertschöpfungsketten bzw. kann einen gesamtwirtschaftlichen Deindustrialisierungsprozeß auslösen. Ein multiples Wechselkurssystem für Leistungsbilanztransaktionen dagegen resultiert in verlängerten Werkbänken mit einer marginalen Fertigungstiefe. —————— 85 Hirschman (1992), S.61. Entwicklungsplanung und Regulierung 73 Unternehmen, die unter Bedingung eines überbewerteten, aber vereinheitlichten Wechselkurses agieren, können ihre Wettbewerbfähigkeit nur durch entsprechend hohe Produktivitätsfortschritte ohne Lohnerhöhungen oder gar durch Nominallohnsenkungen aufrechterhalten. In einem multiplen Wechselkurssystem gründen die Unternehmen, die per Definition Beschäftigungsverhältnisse offerieren, die deutlich im untersten Segment der Qualifikations- und Entlohnungsskala angesiedelt sind, ihre ökonomische Existenzberechtigung fast ausschließlich auf die staatlichen Zuwendungen. Entfallen diese staatlichen Zuwendungen etwa durch die Schaffung eines vereinheitlichten Wechselkurses, entfällt auch ihre raison d‹être und die Produktion wird verlagert. Die zeitgenössische, diesmal allerdings liberale Variante von multiplen Wechselkursen stellen die mittlerweile weit verbreiteten Export Processing Zones (EPZ) dar, die nicht über das Wechselkursregime, sondern mit Hilfe der traditionellen Handels-, aber auch der Fiskal- und Arbeitsmarktpolitik kreiiert werden. Die Subventionierung gegenüber der heimischen Produktion außerhalb der EPZs kann somit über eine Zoll-, Abgaben- und Steuerbefreiung sowie einer regionalen Aufhebung der Arbeitsgesetze und Tarifregelungen erfolgen. Obwohl die in EPZs angesiedelten Unternehmen keine direkten staatlichen Zuwendungen erhalten, ist es m.E. gerechtfertigt auch in diesem Zusammenhang von Subventionen zu sprechen, da der Staat im Rahmen seiner Fiskalhoheit auf Zahlungen dieser Unternehmen und damit auf Einnahmen verzichtet. Unter allokationstheoretischen Aspekten kann zwischen diesen beiden Varianten jedoch kein qualitativer Unterschied konstatiert werden. »A tax-subsidy scheme administered through multiple exchange rates is just as efficient or inefficient as the equivalent system of trade taxes or subsidies.«86 Unter vermögensmarkttheoretischen Aspekten jedoch sind Zentralbank und Finanzministerium unter Bedingungen eines multiplen Wechselkurssystems mit einer kontinuierlichen Privatisierung ihrer Devisenreserven konfrontiert, da der staatliche An- und Verkauf von Devisen nicht dem law of one price entspricht. Dies spiegelt sich in der Reduzierung des offiziellen, von den Exporteuren mit der Zentralbank kontrahierten Devisenangebots und einer permanent steigenden Devisennachfrage wider. Wird die Devisenknappheit in der Anfangsphase der ISI-Strategieeinerseits noch als Ausdruck einer großen Spar- und Devisenlücke und damit eines hohen Entwicklungsbedarfes und andererseits bereits als Zeichen eines dynamischen Aufholprozesses interpretiert, der mit Hilfe staatlicher Nettokapitalimporte unterstützt wird, so erfolgt in einem zeitlich fortgeschritte- —————— 86 Dornbusch (1986), S.150. 74 Der strukturalistische Staat nerem Stadium, wenn die staatlichen Währungsreserven aufgebraucht und die maximale staatliche Verschuldungskapazität in Fremdwährung ausgeschöpft ist und damit spätestens im Verlauf einer Zahlungsbilanzkrise, eine Anpassung auch der Wechselkurspolitik durch Ad-hoc- oder institutionalisierte Abwertungen in Form eines Crawling-Peg-Regimes. Parallel zu den handels- und währungspolitischen Maßnahmen erfordert im strukturalistischen Kontext das Aufbrechen der Angebotsrigiditäten und die Erhöhung des durch monopolistische Tendenzen sowie externe Effekte geringen gesamtwirtschaftlichen Angebots eine staatliche Investitionspolitik. »The complementary effect of investment is therefore the essential mechanism by which new energies are channeled toward the development process and through which the vicious circle that seems to confine it can be broken. To give maximum play to this effect must therefore be a primary objective of development policy.«87 Aufgrund ihrer zentralen Funktion als »path-setter for additional investment«88 liegt der wirtschaftspolitische Schwerpunkt der Strukturalisten auf der Durchführung von Investitionen durch den Staat selbst, insbesondere in den für die Entwicklung als strategisch eingestuften Bereichen (Infrastruktur, Kreditwesen oder Schwermetallindustrie).89 Auflagen (Mindestlöhne, Local-contentKlauseln, Gewinnverwendung) und Vergünstigungen (Steuer- und Abgabenbefreiung, garantierte Mindestpreise, Kreditsubventionierung), die auch für private Unternehmen gelten können, werden lediglich als komplementär und aufgrund der »economic inertia« (Shapiro/Taylor) allein als nicht ausreichend begriffen. Unabhängig davon jedoch, ob es sich um staatliche oder private Investitionsvorhaben handelt, wird eine Supervision des Investitionsprozesses und eine Einbindung in einen gesamtwirtschaftlichen Entwicklungsplan als notwendig erachtet, soll der eingeschlagenen Entwicklungspfad ohne Zahlungsbilanzkrisen verlaufen: »(O)n the macrolevel there is a definite necessity, in planning a country‹s production structure, to keep some balance between the production of tradables and nontradables. A country, especially a poor one, cannot afford to invest in heavy infrastructural projects (which belong to the immobile sector) without at —————— 87 Hirschman (1958), S.43. 88 Hirschman spricht in diesem Zusammenhang auch von einem contagious effect der Investi- tionen (1958, S.41), der einige Jahre später von Myrdal in Form seiner Ausbreitungseffekte aufgegriffen wurde. Die heutige Verwendung des Begriffs contagion knüpft allerdings stärker an den im Myrdalschen Konzept überwiegenden ›Kontereffekten‹ an. Eine späte, wenn auch nur sprachliche Würdigung. Vgl. Myrdal (1974), Kapitel 3 und 5. 89 Vgl. Shapiro/Taylor (1990), S.862. Siehe auch Baer, W. (1994), Privatisation in Latin America, in: The World Economy Nr. 4, S.509–528, S.509ff. Entwicklungsplanung und Regulierung 75 the same time investing in the production of tradables. This makes a joint planning for both types of projects, already often complementary at the microlevel, desirable.«90 Die bereits an anderer Stelle erwähnte kontrovers geführte Debatte über die Notwendigkeit einer Wachstumsstrategie, die sich an der staatlichen Herbeiführung der vom Markt versagten Gleichgewichtsbedingungen orientiert, versus einer Wachstumsstrategie, die auf den durch staatliche Aktivitäten hervorgerufenen sektoralen oder regionalen Ungleichgewichten basiert, wurde durch die Implementierung beider Konzepte in unterschiedlichen Ländern und den darauf beruhenden Erfahrungen zugunsten eines unbalanced growth beendet. Denn während letzteres sich auf Investitionen in einigen ausgesuchten Bereichen konzentriert, erfordert ein ›big push‹ gesamtwirtschaftliche Investitionsprogramme, die den fiskal- und währungspolitischen Spielraum relativ schnell überfordern. »A poor country cannot afford investment ›digging holes and filling them up again‹, simply to break the deadlock of unemployment and set the multiplier to work. Nor can it afford overall investment to generate ›balanced growth‹, because even though it would generate its own savings it would not generate its own foreign exchange, nor would it in fact generate ›balanced growth‹, where there are bottlenecks in supply.«91 Darüber hinaus mußte konstatiert werden, daß weder ein balanced growth ausschließlich gleichgewichtig verläuft, noch ein unbalanced growth nur Ungleichgewichte verursacht, sich beide auf dasselbe Referenzsystem beziehen und der Gegensatz insofern relativ künstlich ist. Projekt- und Sektorplanung im Rahmen eines Unbalanced-growth-Konzeptes als Alternative zu gesamtwirtschaftlichen Investitionsprogrammen setzen jedoch auch die Formulierung eines konkreten Entwicklungspfades voraus, aus dem der für die Umsetzung notwendige (in- und externe) Finanzierungsbedarf abgeleitet werden kann. Auf dieser Grundlage erfolgt dann erstens eine Identifikation derjenigen Branchen oder Regionen, welche die meisten linkages aufweisen, zweitens eine Selektion von einzelnen Wachstumspolen dieser Branchen bzw. Regionen, die mit dem zuvor ausgearbeiteten Entwicklungspfad und den vorgegebenen —————— 90 Tinbergen, J. (1972), Consequences of the Existence of AImmobile« Industries, in: Di Marco, L.E. (Hrsg.), International Economics and Development: Essays in Honor of Raúl Prebisch, New York, London: Academic Press, S.129–134, S.132. 91 Singer, H.W. (1987), What Keynes and Keynesianism can teach us about less developed countries, in: Thirlwall, A.P. (Hrsg), abgedruckt in: Singer, H.W., Growth, Development and Trade: Selected Essays of Hans W. Singer, Cheltenham, Northampton: Edward Elgar, S.19–32, S.26. Für eine kritische Einschätzung seines Unbalanced–growth–Konzeptes siehe Hirschman (1992), S.26–33. 76 Der strukturalistische Staat Budgetbeschränkungen konsistent sein müssen,92 und drittens eine zeitliche und quantitative Festlegung der Anfangs- und Folgeinvestitionen.93 Ziel dieser pronocierten Politik der Ungleichgewichte ist es, durch eine Abfolge von einer staatlich generierten Überschußnachfrage einerseits und dem Aufbau von Überschußkapazitäten andererseits umfangreiche Multiplikatoreneffekte auszulösen, die weitere, bestenfalls ausschließlich privat finanzierte Investitionen induzieren. Der Staat hat hier die Funktion eines »binding agent« (Hirschman), der erst durch die Bereitstellung der für die Entwicklung notwendigen Faktoren (Ersparnisse, moderne Technologien, unternehmerische Entscheidungskompetenz) einen Lernprozeß für private Unternehmen initiieren kann, im Zuge dessen sie sich aufgrund der Multiplikatoreneffekte nicht nur die Bereitschaft, sondern auch die Fähigkeit, Investitionen zu tätigen, aneignen können. Die Finanzierung dieser Industrialisierungsvorhaben erfolgt durch umfangreiche staatliche Kapitalimporte, budgetäre sowie außerbudgetäre Fonds und eine administrative Kreditallokation. Kredite werden entweder von der Zentralbank gegen die Ausgabe staatlicher Wertpapiere in ihr Portfolio direkt an die Regierung bzw. öffentliche Unternehmen oder indirekt über Geschäfts- und eigens zu diesem Zweck gegründete Entwicklungsbanken vergeben. Die Geschäftsbanken unterliegen der Auflage, daß sie einen bestimmten Anteil ihres Aktivgeschäftes mit (staatlichen oder privaten) Schuldnern abzuwickeln haben, die präferierten Sektoren entstammen. Weiterhin dient die Festlegung von Zinsobergrenzen dazu, die Kreditkosten so gering und damit den Anreiz für Investitionen so hoch wie möglich zu gestalten. Dahinter verbirgt sich nicht nur die Annahme, daß die vorherrschenden Preise nicht nur nicht korrekt, sondern anhand vorgegebener Zielsetzungen exakt manipulierbar sind. »Die staatlichen Eingriffe in das Preissystem sind die entscheidenden, da sie im politischen Prozeß der Demokratie so abgestimmt sind, daß sie die nichtstaatlichen Eingriffe in dem Sinne unterstützen oder neutralisieren, so daß das Gesamtergebnis den Wertungen und Zielen entspricht, die aus dem demokratischen politischen Prozeß hervorgegangen sind.«94 Eine Zinssatzsubventionierung resultiert jedoch in einem Anstieg der Kreditnachfrage, insbesondere wenn das Realzinsniveau negativ ist.95 Zusätzlich sind —————— 92 Nicht alle linkages beinhalten entwicklungsfördernde Charakteristika vgl. Hirschman (1981), S.65f. 93 Vgl. Hirschman (1958), S.98–119. 94 Myrdal (1974), S.57. 95 In 8 von 19 lateinamerikanischen Ländern waren die Aktivzinsen und in 14 von diesen 19 Ländern die Passivzinsen zeitweilig real negativ in zweistelliger Höhe, vgl. Galbis, V. Entwicklungsplanung und Regulierung 77 nicht nur Beschränkungen der Kreditaufnahme für multinationale Unternehmen, sondern ein generelles Verbot ihrer Investitionsfinanzierung auf dem heimischen Kreditmarkt erforderlich: Ersteres da multinationale und heimische Unternehmen in der strukturalistischen Welt um denselben, beschränkten Sparfonds konkurrieren, wodurch eine Kreditfinanzierung von Investitionen ausländischer Unternehmen in heimischer Währung die für heimische Unternehmen zur Verfügung stehenden Finanzierungsmittel deutlich verringern würde und darüber hinaus eine Fremdwährungsfinanzierung ausländischer Investitionsvorhaben in Form von Direktinvestitionen die Devisenlücke verringerte; letzteres, da mit der Finanzierung von Investitionen multinationaler Unternehmen auf dem heimischen Kreditmarkt das Risiko eines Wohlstandstransfers von Entwicklungs- zu Industrieländern verbunden ist. »On account of the low real cost of credit, giving foreign firms access to internal credit under the terms described means accepting a transfer of assets from the national community to foreigners. In fact, foreign firms using such credit may derive a real profit from these borrowings, and nothing will prevent that profit from being eventually remitted to the original country.«96 Der Ausschluß multinationaler Unternehmen vom Zugang zu zinssubventionierten Krediten hindert heimische Unternehmen (sowie gegebenenfalls Haushalte) jedoch nicht daran, den o.g. ›profit transfer‹ vom staatlichen in das eigene Budget vorzunehmen. Wird die Nachfrage nach Finanzierungsmitteln seitens des heimischen Unternehmenssektors durch Zentralregierung und -bank nicht völlig befriedigt, muß eine Kreditrationierung auf dem offiziellen Markt erfolgen, von der nicht notwendigerweise angenommen werden kann, daß sie banküblichen Kriterien entspricht. Nur wenn die Bewertung der Bonität der Kreditnehmer, die Festlegung der für den Kredit erforderlichen Sicherheiten und insbesondere die Bestimmung eines real positiven Aktivzinssatzes in der Entscheidungskompetenz der Kreditinstitute verbleibt, kann von einem banküblichen Kreditvergabeprozeß gesprochen werden, dessen Funktionsweise ja gerade durch Zinsobergrenzen und insbesondere der Auflage, einen bestimmten Anteil des Aktivgeschäftes mit präferierten Sektoren abzuwickeln, eingeschränkt werden soll. Die Belastung des Portfolios der in den staatlich motivierten Kreditallokationsprozeß involvierten Geschäftsbanken mit einem steigenden Anteil notleidender oder gar uneinbring- —————— (1979), Inflation and Interest Rate Policies in Latin America, 1967–76, in: IMF Staff Papers Nr. 2, S.334–366, Tabelle 4 und 5. 96 Ffrench–Davis/Arancibia (1972), S.381–382 (Hervorhebung im Original). 78 Der strukturalistische Staat licher Forderungen ist ein Ergebnis dieser administrativen Kreditlenkung, woraus sich zusätzliche Ansprüche an das staatliche Budget ergeben. Ein weiteres Resultat besteht in der Etablierung eines parallelen Kreditmarktes, bei dessen Anbieter es sich wiederum um Unternehmen handelt, die präferierten Zugang zum offiziellen Kreditmarkt haben. Aufgrund der großen Spanne zwischen ihren eigenen (subventionierten) Zinskosten und den für duale Finanzsysteme charakteristisch hohen Realzinsen auf dem sogenannten informellen Kreditmarkt sind die Gewinnerwartungen bezogen auf den Handel mit Krediten tendenziell höher und das Risiko deutlich niedriger als bei einer vergleichbaren Investition in Produktionskapazitäten. Der strukturalistische Staat sieht sich daher erneut mit der Notwendigkeit einer zusätzlichen Regulierung – sei es durch verstärkte Kontrollen und Überwachung des Kreditvergabeprozesses, Unterdrückung des Parallelmarktes oder eine eigene Durchführung aller Investitionen – konfrontiert, die eine zweckmäßigere Verwendung der bereitgestellten Kreditmittel garantieren soll. Der geringe Anreiz zur Geldvermögensbildung aufgrund niedriger Passivzinsen, die noch unterhalb des Aktivzinsniveaus liegen müssen, wurde erst mit zunehmender Dollarisierung und Kapitalflucht problematisiert, da bis zu diesem Zeitpunkt davon ausgegangen wurde, daß Entwicklungsländer keine nennenswerten Ersparnisse aufzuweisen hätten. Die mit dem Begriff financial repression bezeichnete staatliche Regulierung des Marktes für Geld und Kredit führt nicht nur zu einer Kreditverknappung und somit einem Ergebnis, das zu verhindern erklärtes Ziel der financial repression ist, sondern auch zu einem Anstieg der öffentlichen In- und Auslandsverschuldung, einer Monetisierung der staatlichen inländischen Verschuldung und einem damit einhergehenden inflationären Prozeß sowie einer Reduzierung der Steuerungsfähigkeit der Zentralbank durch das Eingehen mittel- bis langfristiger Kreditbeziehungen mit der Regierung, Geschäfts- und Entwicklungsbanken. »Find an economist with a keen interest in development planning and almost certainly there will be an economywide model in the offing.«97 Tatsächlich werden allgemeine und partielle Gleichgewichtsanalysen bei der Erstellung eines nationalen Entwicklungsplanes sowie der Diskussion von Auswirkungen staatlicher Investitionsprogramme auf die Produktionsstruktur, Einkommen, Konsum —————— 97 Bell, C., Srinivasan, T.N. (1984), On the Uses and Abuses of Economywide Models in Development Policy Analysis, in: Syrquin, M., Taylor, L., Westphal, L.E. (Hrsg.), Economic Structure and Performance: Essays in Honor of Hollis B. Chenery, Orlando: Academic Press, S.451–476, S.451. Entwicklungsplanung und Regulierung 79 oder etwa Verteilung verwendet.98 Darüber hinaus dienen Input-Output-Analysen dazu, die Verflechtungen einzelner Branchen miteinander transparent zu machen und die potentiellen linkages herauszukristallisieren. 99 Die Bestimmung von Volumen und Abfolge staatlicher Investitionen in ausgewählten Sektoren erfolgt schließlich häufig auf der Grundlage des Konzepts der optimalen Überkapazität (optimal excess capacity) bzw. der optimalen Knappheit (optimal shortage),100 die formaler Ausdruck von anzustrebenden Ungleichgewichtszuständen sind. Insgesamt beruhen viele Analysen auf sog. Two-gap-Modellen, wobei sich die Restriktionen mehrheitlich auf die gesamtwirtschaftlich verfügbaren (nationalen) Ersparnisse sowie Fremdwährungsvolumina beziehen. 101 Auffällig an dem Rekurs auf ökonometrische Verfahren, die sich mit der Weiterentwicklung der Informationstechnologien verstärkt einer nicht-linearen Programmierung bedienen, ist ihr Bedeutungswandel vom analytischen Instrument zum Mittelpunkt der Analyse selbst. »Although planning models originated as numerical procedures for solving specific problems of resource alloction, they are increasingly being used as a means of theorizing about development phenomena.«102 Die strukturalistische Theoriebildung ist zunehmend durch eine quantitative Ausrichtung charakterisiert, wobei die Formalisierung immer stärker die Funktion eines Substituts der theoretischen Fundierung der Wirtschaftspolitik übernimmt. Diese Entwicklung, gekoppelt mit einem technokratischen Herange- —————— 98 Zur Einführung vgl. Kendrick, D., Taylor, L. (1971), Numerical Methods and Nonlinear Models for Economic Planning, in: Chenery, H.B., Bowles, S., Falcon, W. u.a. (Hrsg.), Studies in Development Planning, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, S.11–28. 99 Vgl. Hirschman (1981), S.63f. An dieser Stelle wird auch auf zahlreiche andere, vor allem historische Studien verwiesen, die Input–Output–Relationen verwenden. 100 Chenery gilt als ein Pionier des Überkapazitätskonzeptes vgl. Chenery, H.B. (1952), Overcapacity and the Acceleration Principle, in: Econometrica Nr. 20, S.1–28. Vgl. darüber hinaus auch Westphal, L.E. (1971), An Intertemporal Planning Model Featuring Economies of Scale, in: Chenery, H.B., Bowles, S., Falcon, W. u.a. (Hrsg.), Studies in Development Planning, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, S.60–88. Westphal formuliert hier anhand eines koreanischen Investitionsprogrammes einen »optimal excess capacity expansion path« für zwei der untersuchten 11 Sektoren. 101 Vgl. z.B. Bruno, M. (1971), Optimal Patterns of Trade and Development, in: Chenery, H.B., Bowles, S., Falcon, W. u.a. (Hrsg.), Studies in Development Planning, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, S.173–186. 102 Chenery, H.B. (1971), General Introduction, in: Chenery, H.B., Bowles, S., Falcon, W. u.a. (Hrsg.), Studies in Development Planning, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, S.1–3, S.2. 80 Der strukturalistische Staat hen, erreicht in den 70er Jahren ihren Höhepunkt, symbolisiert aber gleichzeitig den methodischen Niedergang des Strukturalismus. Der Neostrukturalismus, der sich auf dem Hintergrund des Verschuldungskrisenmanagements der 80er Jahre herauszubilden begann, verschiebt die Akzente hin zu einer kritischeren Einschätzung der Wirkungsweise staatlicher Regulierungen. Obwohl die Kernelemente der strukturalistischen Analyse weiterhin als gültig anerkannt und bestätigt werden, wird die mangelhafte analytische Aufarbeitung staatlicher Interventionen in den Marktprozeß als eines der Defizite des Strukturalismus reflektiert. »An indepth consideration of the role of the State as an economic agent and as an arena for social and political conflicts was conspicuously absent from these industrialization proposals.«103 Die auch von Neostrukturalisten konstatierte Unfähigkeit privater Akteure, allein eine erfolgreiche Industrialisierung einzuleiten, gilt nicht mehr automatisch als hinreichende Legitimation für die vollständige Übernahme dieser Funktion durch den Staat selbst.104 Im Mittelpunkt der Kritik steht dabei die begrenzte staatliche »managerial capacity« (Shapiro/Taylor), worunter die Fertigkeit der Regierung verstanden wird, eine von ihr entworfene Entwicklungsstrategie umzusetzen. Neostrukturalisten empfehlen nunmehr ein Konzept der selektiven Intervention, das eine Konzentration der staatlichen Maßnahmen auf Schlüsselbereiche sowie einen sukzessiven Aufbau von Institutionen bzw. eine Verbesserung deren administrativer Leistungsfähigkeit beinhaltet.105 Neben einem generellen Bekenntnis zum crowding-in privater durch staatliche Investitionen findet sich ein wachsendes Einverständnis mit einem Teilrückzug des Staates aus seiner Funktion als Produzent zugunsten einer Public-Private-Partnership.106 Damit hinterfragt der Neostrukturalismus jedoch keineswegs die (preis-) theoretischen und methodi- —————— 103 Rosales (1988), S.26. Siehe auch S.33f. 104 Womit die Neostrukturalisten direkt an Hirschman (1958) anknüpfen. Vgl. exemplarisch Shapiro/Taylor (1990), S.872. 105 Vgl. ECLAC (1990), S.124ff, Bitar (1988), S.47ff und S.52 sowie Ffrench–Davis, R. (1988), An outline of a neo–structuralist approach, in: CEPAL–Review Nr. 34, S.37–44, S.38f und S.44. 106 Vgl. Economic Commission for Latin America and the Caribbean (ECLAC) (1998),The Fiscal Convenant: Strengths, Weaknesses, Challenges, Santiago, Chile: United Nations, S.241–244. Siehe auch Amsden, A.H. (1997), Editorial: Bringing Production Back In – Understanding Government‹s Economic Role in Late Industrialization, in: World Development Nr. 4, S.469–480, S.473f. Für eine kritische Einschätzung der Privatisierung staatlicher Unternehmen in Lateinamerika und der damit verbundenen Risiken vgl. Baer (1994), S.520–526. Entwicklungsplanung und Regulierung 81 schen Grundlagen der strukturalistischen Politikempfehlungen, sondern lediglich das damit verbundene Ausmaß der staatlichen Aktivitäten, deren Scheitern auf ein gemessen an der Aufgabe unzureichendes Know-how seitens der Regierung zurückgeführt wird. Allein die Hinwendung zu einem »pragmatic approach» (Sunkel/Zuletta) hebt somit das Strukturalisten auszeichnende Ziel-MittelDenken auch innerhalb des Neostrukturalismus nicht auf, der sich deshalb zeitweise in interpretationsbedürftigen bzw. Ad-hoc-Aussagen verlieren muß, da der für die Beurteilung staatlicher Interventionen ehemals gültige Maßstab relativiert, aber nicht substituiert wurde. »However, it is equally clear that there are extremely important direct functions of production or consumption and investment expenditure which the State and public enterprieses should continue to perform in order, among other things, to carry out activities that are essential to development and to ensure that external savings will complement domestic savings rather than taking their place.«107 Ähnliche Argumentationsmuster finden sich in der neostrukturalistischen Position zur Importsubstituierenden Industrialisierung. Der bisher implementierten ISI-Strategie wird durchaus eine Tendenz zum (kontraproduktiven) Protektionismus und dem Aufbau von ineffizienten, nicht-weltmarktfähigen nationalen Monopolen bescheinigt.108 Darüber hinaus nimmt auch mittel- bis langfristig die Devisenknappheit nicht ab, da lediglich die Struktur, aber nicht die absolute Höhe der Importe Veränderungen unterworfen ist. 109 Der rohstoffexportierende Sektor dient deshalb notgedrungen als »financer of last resort« (Rosales) hinsichtlich der für die Finanzierung der Investitionen erforderlichen Devisen und erfährt dadurch einen Zuwachs und nicht wie prognostiziert eine Abnahme an Bedeutung. Die auch aus neostrukturalistischer Sicht ambivalenten Ergebnisse der ISI-Strategie werden jedoch entweder auf nationale bzw. internationale Rahmenbedingungen oder auf die fehlende Bereitschaft und/oder mangelnde Fähigkeiten der jeweiligen Regierungen, eine an der Aufrechterhaltung des Entwicklungsprozesses orientierten Wirtschaftspolitik umzusetzen, zurückgeführt. »The purpose here is not to provide a blanket argument for any sort of state intervention, or to dismiss the fact that extensive state intervention in a number of —————— 107 González (1988), S.16. 108 Vgl. Seers (1983), S.116; siehe auch Rosales (1988), S.31–34. 109 Vgl. Singer, H.W., Alizadeh, P. (1986), Import substitution revisited in a darkening exter- nal environment, in: Asian Journal of Economics and Social Studies Nr. 3, abgedruckt in: Singer H.W., Growth, Development and Trade: Selected Essays of Hans W. Singer, Cheltenham, Northampton: Edward Elgar, 1998, S.120–139, S.138f. 82 Der strukturalistische Staat instances has not been particularly successful in the development of a viable industrial base. Nevertheless it is becoming increasingly clear that it is not the extent and the duration of state intervention which determines the success or failure of ISI or EOI [Export-Oriented Industrialisation, MM] but rather it is the economic-political situation the state faces both internally and externally, its political commitments, and its administrative capacity which matters.«110 Wenn von übermäßigen staatlichen Eingriffen in den Wirtschaftsprozeß abgesehen wird, entscheiden exogene und außerökonomische Faktoren über das Sein oder Nicht-Sein einer Nationalökonomie. Als ›übermäßig‹ oder ›extensiv‹ wird eine staatliche Regulierung innerhalb des (neo-)strukturalistischen Paradigma dann definiert, wenn der Eingriff nicht das erwünschte Resultat zeitigt, womit wiederum das mit dem Eingriff verbundene Ausmaß, nicht jedoch die mit der Regulierung ausgelösten Marktprozesse problematisiert werden. Die mangelhafte Reflektion der preistheoretischen Grundlagen des Strukturalismus zeigt sich insbesondere in den neostrukturalistischen Forderungen einerseits nach einem verbesserten institution-building, das gemeinsam mit einer verbesserten Bankengesetzgebung eine höhere Stabilität der Finanzmärkte gewährleisten soll, und andererseits nach der Aufrechterhaltung einer administrierten Kreditallokation mit »moderate real interest rates« (Bitar) für diejenigen ökonomischen Akteure, die als relevante Träger der ›neuen‹ Strategie identifiziert werden: »Financial system regulated as to serve the purposes of productive development, with regulated real interes rates and preferential access and interest rates for small and infant producers. Central Bank subordinate to the Executive Branch, on a level similiar to that of fiscal policy and productive development.«111 Die Fortführung einer Importsubstitution bei gleichzeitiger Eroberung von Weltmarktanteilen wird von Neostrukturalisten nicht mehr prinzipiell ausgeschlossen.112 Im Gegensatz zu dem von Liberalen favorisierten export-ledgrowth propagieren Neostrukturalisten nun ein »export-adequate-growth« (Shapiro/Taylor). Eine solche Wachstumsstrategie soll im Vergleich zur Importsubstituierenden Industrialisierung einerseits Importrestriktionen und Exportanreize —————— 110 Singer/Alizadeh (1986), S.124. 111 Ffrench–Davis (1988), S.41. Zur Relevanz des institution–buildings vgl. Held, G. (1994), Liberalization or Financial Development?, in: CEPAL Review Nr. 54, S.27–45. Zu einzelnen staatlichen Maßnahmen der KMU–Förderung siehe Sunkel/Zuletta (1990), S.44–45. 112 Vgl. Cardoso, E., Fishlow, A. (1989), Latin American Economic Development: 1950– 1980, Working Paper Nr. 3161, Cambridge, Mass.: National Bureau of Economic Research, S.10–12; Bitar (1988), S 47; González (1988), S.16f. Entwicklungsplanung und Regulierung 83 stärker im Sinne der Unterstützung einer Weltmarktintegration einsetzen und andererseits den Aufbau internationaler Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Industrie als explizites Ziel berücksichtigen, während die Veränderung der Produktionsstruktur hin zur Ansiedlung höherwertiger Verarbeitungsstufen weiterhin als vorrangige wirtschaftspolitische Aufgabe des Staates betrachtet wird. 113 »It is the responsibility of the State to guide the structural adjustment towards greater specialization and competitiveness within a long-term perspective: a form of guidance that the market does not provide. This is the proper function of the ›leader‹ State.«114 Neben Maßnahmen zur Erhöhung der Qualifikation und verbesserter Diffundierung des technischen Fortschritts, die auch wesentlicher Bestandteil einer ISI-Strategie sind, soll »genuine« (ECLAC) oder »structural competitiveness« (Sunkel/Zuletta) durch eine graduelle Öffnung des Binnenmarktes gegenüber dem Weltmarkt, eine Vereinheitlichung der Zölle, stabile und hohe reale Wechselkurse sowie umfassende Existenzgründungsprogramme erworben werden.115 Letztlich läßt sich diese von alten und neuen Strukturalisten als qualitativ verändert bezeichnete Strategie auf eine Empfehlung zum weitgehenden Verzicht quantitativer Regulierungen und ein verbales Bekenntnis zur Steigerung der internationalen Konkurrenzfähigkeit, das vor allem durch geringer werdende fiskalische Verteilungsspielräume und ein rezessives oder gar depressives weltwirtschaftliches Umfeld motiviert zu sein scheint, reduzieren. In diesem Zusammenhang wird immer wieder die Forderung nach stabilen realen Wechselkursen, die entweder Exporte begünstigen oder zumindest dem Neutralitätskriterium genügen sollen, erhoben. Eine Abwertung des nominalen zur Stabilisierung des realen Wechselkurses als alleinige Maßnahme wird jedoch aufgrund der damit verbundenen kontraktiven und inflationären Effekte abgelehnt.116 Von der Besteuerung traditioneller Exporte abgesehen, empfehlen Neostrukturalisten entsprechend ihren Vorgängern den Einsatz des Wechselkurses zur Erhöhung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit nur mit sinkender tarifärer Importprotektion.117 Entspricht die Zollsenkung der abwertungsbedingten Erhöhung der Importpreise, so verbleiben die Importkosten in heimischer Wäh- —————— 113 Vgl. ECLAC (1990), S.81–88; Shapiro/Taylor (1990), S.870–873, Sunkel/Zuletta (1990), S.43f und S.49. Singer/Alizadeh (1986) empfehlen eine Verschmelzung des Konzepts der Importsubstitution und Exportorientierung zur »integrated industrialization«, S.125–128. 114 Bitar (1988), S.59. 115 ECLAC (1990), S.82–88 und S.103–123. 116 Vgl. Taylor (1988), S.42f. und González (1988), S.10f. 117 Vgl. ECLAC (1990), S.104f. 84 Der strukturalistische Staat rung unverändert, so daß von der Abwertung kein Preisniveauschub und damit keine Erhöhung der Produktionskosten ausgeht. Obgleich duale oder multiple Wechselkurse in Einzelfällen auch explizit noch Akzeptanz finden, präferieren Neostrukturalisten vereinheitlichte Wechselkurse im Rahmen eines CrawlingPeg-Regimes.118 Den Wechselkurs zur Verbesserung der Export- ohne Beeinträchtigung der Importfähigkeit einzusetzen, erkennt die Schwächung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit von Exporten durch eine Überbewertung an, negiert jedoch den Aspekt, daß auch Importe relativ teurer werden müssen, wenn die preisliche Benachteiligung der binnenwirtschaftlichen Produktion abgebaut werden soll, unabhängig davon, welches Marktsegment Abnehmer dieser Produktionsgüter ist. Ein Crawling-Peg-Regime bei gleichzeitigem unilateralen Zollabbau zur Steigerung der internationalen Konkurrenzfähigkeit zu etablieren, kann aber auch als Versuch interpretiert werden, die unterstellten handelspolitischen Vorteile eines multiplen Wechselkurssystems ohne die mit solchen Regimen verbundenen nachteiligen Wirkungen in Form der Inkonvertibilität der heimischen Währung und der Devisenbewirtschaftung zu realisieren. Da der Kern des neostrukturalistischen Arguments Handelsbilanzaktivitäten in den Mittelpunkt stellt und wiederum weitestgehend von den mit häufigen Abwertungen verbundenen Vermögensmarktimplikationen und Kapitalbilanztransaktionen abstrahiert wird, bleibt die Kontinuität des strukturalistischen Arguments gewahrt und muß die Neostrukturalisten somit die gleiche Kritik wie ihre Vorgänger treffen. Eine Abwertung des nominalen Wechselkurses wertet in heimischer Währung denominiertes Vermögen ab und in Fremdwährung kontrahierte Verbindlichkeiten auf, stranguliert einerseits somit in Fremdwährung verschuldete (private und staatliche) Akteure durch eine Erhöhung der Finanzierungskosten ihrer Verbindlichkeiten und bewirkt andererseits durch die Verringerung der Vermögenssicherheit der Währung eine Portfolioumschichtung von Vermögenseigentümern zugunsten von Fremdwährung. Ceteris paribus erhöht sich die Nachfrage nach Fremdwährung, wodurch die heimische Währung erneut unter Abwertungsdruck gerät. Darüber hinaus bietet ein Crawling-Peg-Regime kombiniert mit Zollsenkungen bei dauerhaft höherer Inflationsrate als im Währungsraum der Haupthandelspartner in Abhängigkeit der Höhe der Tarifprotektion in der Ausgangssituation lediglich eine kurz- bis maximal mittelfristige Perspektive, ein positives Inflationsdifferential im Hinblick auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Exportprodukte zu neutralisieren und birgt ansonsten die Gefahr einer Ab- —————— 118 Vgl. Taylor (1990), S.49 bzw. S.117; siehe auch Ffrench–Davis (1988), S.42. Entwicklungsplanung und Regulierung 85 wertungs-Inflations-Spirale in sich. Dementsprechend ist auch der Wandel der neostrukturalistischen Position ab Beginn der 90er Jahre zu interpretieren, einen nominal stabilen Wechselkurs, jedoch diesmal als Instrument zur Desinflation zu verwenden. 2.3.2 Arbeitsplätze und Indexierung Die zeitweilige Verschärfung der Einkommens- und Vermögenskonzentration zu Beginn des Wachstumsprozesses beinhaltet für die Ersparnisbildung und die damit einhergehende Kapitalakkumulation aufgrund des Konsum- und vor allem des hohen Importkoeffizienten der vermögenden Schichten nicht eine stimulierende, sondern eine retardierende Wirkung auf den Entwicklungsprozeß. Für eine Beschleunigung des Wachstumsprozesses sind deshalb eine umfangreiche Bereitstellung von Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten sowie ein Eingriff in den Vermögensbestand erforderlich, die das Aufkommen einer wertmäßig relevanten kaufkräftigen Binnennachfrage erst ermöglichen und somit eine Auslastung der im Rahmen der ISI-Strategie aufgebauten Produktionskapazitäten erlauben. »Distributional objectives are commonly sought through policies aimed at promoting employment, which would raise the total wage bill (and possibly wage share), thus benefiting lower-income groups. (...) Equally important, in our view, are policies aimed at altering the pattern of concentration of productive assets over time and reducing barriers to entry into more profitable types of production.«119 Sowohl die Investitionsprogramme von vorwiegend staatlichen Unternehmen als auch ein forcierter Ausbau der öffentlichen Administration stellen im strukturalistischen Kontext Kernelemente einer arbeitsmarktorientierten Wirtschaftspolitik dar, die von privaten Akteuren fehlenden oder als zu gering eingeschätzten positiven Beschäftigungseffekte zu kompensieren versucht. »Because the dynamic insufficiency of the growth process made it difficult to provide productive work for the entire urban labour force, in various countries the public sector —————— 119 Ahluwalia/Chenery (1976), S.44. Eine detailliertere Diskussion weiterer verteilungspoliti- scher Maßnahmen siehe auch Ahluwalia, M.S. (1976b), The Scope for Policy Intervention, in: Chenery/Ahluwalia/Bell et. al. (Hrsg.), S.73–90 sowie Bell, C.L.G. (1976), The Political Framework, in: Chenery/Ahluwalia/Bell et. al. (Hrsg.), S.52–72. 86 Der strukturalistische Staat became the employer of last resort (...).«120 Ergänzt werden die Beschäftigungsprogramme um eine Lohnpolitik, die Mindestlöhne, Nominallohnerhöhungen sowie eine Reallohnsicherung miteinander kombiniert. Während Nominallohnerhöhungen, die den Produktivitätsfortschritt überschreiten, auf eine Umverteilung der Einkommen zugunsten der abhängig Beschäftigten abzielen, dient die Indexierung der Nominallöhne an die vergangene Preissteigerungs- oder Abwertungsraten als Instrument der Stabilisierung der Reallöhne und damit der Absicherung der Umverteilungspolitik. Darüber hinaus wird die Indexierung insbesondere in einem inflationären Umfeld zur Vermeidung von in zeitlich kurzen Intervallen ausgetragenen Interessenskonflikten und der damit verbundenen sozialen Auseinandersetzungen bzw. wirtschaftlichen Folgekosten eingesetzt.»The basic rationale [of indexation, MM] is to avoid the costs of a permanent recontracting process between interested parties.«121 Selbst wenn die Lohnerhöhungen formal auf den Geltungsbereich des öffentlichen Dienstes beschränkt sind, muß aufgrund der Relevanz staatlicher Unternehmen für die betroffenen Ökonomien davon ausgegangen werden, daß Lohnabschlüsse des öffentlichen Dienstes als ›Schrittmacher‹ für andere Unternehmen bzw. Tarifbereiche des modernen Sektors fungieren. In Kombination mit einem überbewerteten Wechselkurs und bei gegebenem Preisniveau verursachen Nominallohnsteigerungen oberhalb des Produktivitätsfortschrittes bei Unternehmen ein profit squeeze, der nur dann nicht in Produktionseinstellungen mündet, wenn die betroffenen Betriebe ihr erwirtschaftetes Defizit auf das staatliche Budget abwälzen können. Lediglich wenn es sich um öffentliche Unternehmen handelt, ist eine Subventionierung ihrer Verluste automatisch gewährleistet, während alle anderen Unternehmen sich um eine jährliche Zuteilung aus dem Budget bemühen müssen. Letzteres liefert einerseits eine weitere Erklärung für die hohe Verbreitung staatlicher bzw. halbstaatlicher Unternehmen, und stellt andererseits eine ökonomische Grundlage für das häufig beobachtbare Rent-seeking-Verhalten von privaten Unternehmen sowie die von Strukturalisten als charakteristisches Merkmal von Entwicklungsländern hervorgehobenen Verteilungskonflikte dar. Verteilungskonflikte zur Wahrung der einzelwirtschaftlichen Existenz müssen in einer solchen Konstellation geradezu ausbrechen, da eine Subventionierung von Unternehmen in einer nicht-planwirtschaftlich organisierten Ökonomie —————— 120 Rosales (1988), S.29. 121 Machinea, J.L., Fanelli, J.M. (1988), Stopping Hyperinflation: The Case of the Austral Plan in Argentina, 1985–87, in: Bruno, M, Di Tella, G., Dornbusch, R., Fischer, S.(Hrsg.), Inflation Stabilization, Cambridge, Mass.: MIT Press, S.111–152, S.122. Entwicklungsplanung und Regulierung 87 niemals flächendeckend sein kann. Erfolgt eine weitreichende Finanzierung der unternehmerischen Defizite seitens des Staates ohne kompensatorische Einnahmensteigerungen bzw. Ausgabensenkungen, so bleibt ein dadurch gespeister Inflationsprozeß nicht aus, der durch die Indexierung der Nominallöhne über die Höhe und Häufigkeit der Lohnanpassung selbst zusätzlich beschleunigt wird.122 Die Überlagerung der Industriepolitik mit der für den städtischen Sektor entworfenen Arbeitsmarkt- bzw. Umverteilungspolitik hat somit weitreichende geld-, fiskal- und unternehmenspolitische Konsequenzen und beinhaltet ein hohes Instabilitätspotential für das heimische Finanzsystem. Während mit den oben genannten Maßnahmen ein Abbau der offenen Arbeitslosigkeit vorwiegend im modernen Sektor angestrebt wird, konzentriert sich die Agrarpolitik auf die Modernisierung der Landwirtschaft durch vor allem großflächigen Anbau sowie auf eine staatliche Preisregulierung für die wichtigsten Nahrungsmittelpreise, wobei beides nur indirekt in einer Verringerung der Unterbeschäftigung infolge einer Freisetzung von Arbeitskräften im traditionellen Sektor resultieren soll. Neben der Veränderung landwirtschaftlicher Produktionsmethoden besteht das mittelfristige Ziel einer Bewirtschaftung großer Anbauflächen durch eine entsprechend hoch maschinisierte und anfänglich importintensive Landwirtschaft in der vollständigen Versorgung der ansteigenden Gesamtbevölkerung bzw. eines schnell wachsenden modernen Sektors mit ausreichenden Nahrungsmitteln für den Eigenbedarf und eine damit korrespondierende Verringerung der Devisenausgaben für Nahrungsmittelimporte. Darüber hinaus wird eine Erhöhung der Devisenerlöse durch zukünftige Exporte nichttraditioneller cash crops und eine Reduzierung der für die landwirtschaftliche Produktion notwendigen importierten Inputs durch den Aufbau der Substitutionsgüterindustrie erwartet. Die Förderung der (staatlich oder privat geführten) Großbetriebe erfolgt mittels direkter Kontrollen (z.B. zentrale Saatgutverteilung und Vermarktung) sowie über finanzielle Anreize (z.B. präferierte Devisen- und Kreditzuteilung bzw. Subventionen). Um einen Kaufkraftverlust städtischer Arbeitnehmer als Konsequenz einer Anhebung der Nahrungsmittelpreise z.B. aufgrund ansteigender Produktionskosten und eine dadurch bedingte Preis-LohnPreis-Spirale auszuschließen, werden die sich im Warenkorb eines durchschnitt- —————— 122 Für Israel wurde dieser Prozeß nachgezeichnet von Bruno, M. (1993), Crisis, Stabilization, and Economic Reform, Oxford: Clarendon Press, S.67–74. Bruno (S. 68) besteht allerdings darauf, daß das Beharrungsvermögen der Inflation (bzw. der Inflationserwartungen seitens der ökonomischen Akteure) mit immer kürzeren Anpassungsintervallen geringer wird: »Monthly, weekly, and ultimately daily indexation would reduce inertia.« 88 Der strukturalistische Staat lichen städtischen Haushaltes befindlichen Agrarerzeugnisse preislich fixiert. 123 Eine Landreform als direkter Eingriff in die Vermögensstruktur stattet Kleinbauern mit Flächen in einer kommerzialisierbaren Größe aus und beschleunigt somit eine Veränderung von traditionellen zu modernen Produktionsmethoden, die ebenfalls durch spezifische staatliche Programme komplementiert werden müssen.124 Mehr Anbauflächen, bessere Anbaumethoden, höhere landwirtschaftliche Erzeugung und stabile Agrarpreise sind annahmegemäß die Resultate der strukturalistischen Modernisierungsstrategie für den Agrarsektor. Eine zwangsläufiges Resultat dieser green revolution besteht jedoch in der hohen finanziellen Belastung des staatlichen Budgets. Bei Verkaufspreisen, die auf einem Niveau unter den Herstellungskosten fixiert werden, um den Industrialisierungsprozeß hinsichtlich der Lohnkosten von dieser Seite zu entlasten, ist die landwirtschaftliche Produktion durchgängig auf umfangreiche Subventionen und Vergünstigungen angewiesen. Werden diese gewährt, so können ähnliche Effekte hinsichtlich ihrer Verwendung bzw. Umgehung von staatlichen Auflagen auftreten wie bei der bereits diskutierten präferierten Kredit- und Devisenzuteilung für Unternehmen des industriellen Sektors. Auf eine Landreform, die als wesentliches Instrument für die Transformation der traditionellen Landwirtschaft betrachtet wird, wurde häufig verzichtet, da die monetären Entschädigungen für die Enteignungen des Grundeigentums den fiskalpolitischen Spielraum zu übersteigen drohten.125 Dadurch entfiel gleichzeitig die Alimentierung der von einer Landreform betroffenen (traditionellen) Haushalte aus dem Budget, was sich in einem entsprechenden Rückgang des für die Gesamtgesellschaft spezifischen Nahrungsmittelangebotes und damit in einer Erhöhung der Nahrungsmittelimporte widerspiegelte. Letzteres könnte auch eine ökonomische Erklärung für den von Strukturalisten oftmals beklagten Präferenzwechsel der Haushalte zugunsten sogenannter westlicher Konsummuster liefern. Aber selbst unter Bedingungen einer Landreform und vorwiegend privater, kleinbäuerlicher Bewirtschaftung können hohe, staatlich garantierte Erzeugerpreise, die einen monetären Anreiz für eine Angebotsausweitung darstellen sollen, und niedrigeren, weil subventio- —————— 123 Vgl. Felix, D. (1964), Monetarists, Structuralists, and Import–Substituting Industrializa- tion: A Critical Appraisal, in: Baer, W., Kerstenetzky, I. (Hrsg.), Inflation and Growth in Latin America, Homewood, Illinois: Richard D. Irwin, S.370–401, S.378ff. Siehe auch Rosales (1988), S.26. 124 Vgl. Ahluwalia/Chenery (1976), S.45. Siehe auch Singer (1987), S.26–27. 125 Vgl. Bell/Duloy (1976), S.119–122, die die politischen und monetären Kosten einer Landreform für unterschiedliche Ökonomien in Afrika, Asien und Lateinamerika diskutieren. Entwicklungsplanung und Regulierung 89 nierten Verkaufspreisen zur Realeinkommenstützung nicht-bäuerlicher Haushalte in einer Dekapitalisierung des staatlichen Marketingboards und einem drastischen Rückgang des heimischen Nahrungsmittelangebotes resultieren. Je größer der spread zwischen Erzeuger- und Verkaufspreis ist, desto höher ist der Anreiz für Kleinbauern, sich auf den Handel mit Nahrungsmitteln zu spezialisieren, in dem auf dem offiziellen Markt relativ billig Nahrungsmittel ge- und entsprechend teuer an das Marketingboard oder auf dem Parallelmarkt verkauft werden. Wenig überraschen kann deshalb die Desillusionierung des ehemaligen nicaraguanischen Landwirtschaftsministers Jaime Wheelook: »Alles in allem bereichert sich hier der Produzent zwar weniger, auch nicht in Dollars, aber setzt auch nicht sein Eigentum aufs Spiel, wenn er produziert. Wenn seine Rentabilität niedrig ist, bringen wir sie mit Hilfe von verschiedenen Mechanismen in Ordnung. Das ist ein Stabilitäts- und Sicherheitsfaktor für sie. Was uns mehr Sorgen bereitet, ist das aufkommende Phänomen einer nicht zu unterschätzenden Spekulantenschicht, die mehr als sonst jemand Profite macht und über Nacht ihr Glück auf Kosten aller anderen macht.«126 Im Extremfall verbleibt das Marketingboard bei hohem finanziellen Umsatz mit ebenso hohen Verlusten bei gleichzeitig quantitativ schrumpfendem landwirtschaftlichen Angebot. Vorwiegend wurde als Ergebnis empirischer Studien in den 70er Jahren konstatiert, daß es sich bei den Haushalten, die einer sozialen Marginalisierung ausgesetzt sind, nicht primär um arbeitslose Wirtschaftssubjekte, sondern um Selbständige handele, die sich überwiegend aus dem ländlichen Raum und dem informellen urbanen Sektor rekrutieren.127 Dementsprechend wurde der bisherige auf Wachstum und der Schaffung neuer (formaler) Beschäftigungsverhältnisse ausgerichtete Ansatz zu einer Verbesserung der Einkommensverteilung zugunsten einer Grundbedürfnisstrategie abgelöst, da Wirtschaftswachstum bestenfalls die gegebene Einkommensverteilung nur unverändert belasse, aber keineswegs korrigiere. »And the real problem of long-term development, surely, is to equip the present generation of children, feed them, clothe them, house them, educate them, and train them in such a way that they become more efficient producers than their forefathers have been. That, surely, is the process of economic devel- —————— 126 Arce, B., Ortega, H., Wheelook, J. (1987), Sandinistas: Interviews von Jesús Ceberio, Gabriele Invernizzi und Francis Pisani, Frankfurt/M.: ISP–Verlag, S.80. Zur Agrarpreispolitik vgl. Medal, J.L. (1985), La Revolución Nicaragüense: Balance Económico y Alternativas Futuras, Managua: Centro de Investigación y Asesoria Socio–Económica, S.39f. 127 Vgl. Ahluwalia (1976a) sowie Singer (1984), S.101. 90 Der strukturalistische Staat opment in a much more significant sense than the process of physical capital formation.«128 Obwohl für die Umsetzung des Basic-needs-Ansatzes eine relativ flächendeckende staatliche Finanzierung der ländlichen integrierten Entwicklung und der sozialen Infrastruktur notwendig ist, um die eingeforderte Zielgruppenorientierung zu erreichen, werden die dafür notwendigen finanziellen Mittel (noch) nicht als die wesentliche Restriktion betrachtet: »The required redesign of the public services from urban to rural, from middle class to deprived groups, from sophisticated to simple, with greater emphasis on the needs of women and small children, is not constrained by money but by political inhibitions, administrative obstacles, and institutional barriers.«129 Innerhalb des Neostrukturalismus besteht ein Konsens darüber, daß eine simple Fortführung der strukturalistischen Umverteilungspolitik entweder aus fiskal- bzw. stabilitätspolitischen Gründen oder aufgrund von den mit den bisherigen Maßnahmen einhergehenden Effizienzverlusten nicht wünschenswert ist. 130 Während für einzelne Neostrukturalisten eine staatliche Umverteilungspolitik überhaupt erst als Konsequenz eines zukünftigen hohen Wirtschaftswachstums finanzierbar erscheint, plädiert die Mehrheit für eine sofortige Renaissance der Umverteilungspolitik. »As we already noted, ECLAC rejects the ›trickle-down‹ theory because past experience shows that economic growth by itself does not automatically lead to equity. (...) Instead, ECLAC advocates an integrated approach under which considerations of equity are incorporated into economic policy, while social policy take due account of efficiency.« 131 Dabei stehen die Verbesserung des Steuereinziehungsverfahrens verbunden mit einer Anhebung —————— 128 Singer, H.W. (1969), Keynesian Models of Economic Development and Their Limitations: An Analysis in the Light of Gunnar Myrdal’s ›Asian Drama‹, UN Asian Institute for Economic and Development Planning Occasional Papers, abgedruckt in: Singer, H.W. (1998), Growth, Development and Trade: Selected Essays of Hans W. Singer, Cheltenham, Nothampton: Edward Elgar, S.53–69, S.60. 129 Streeten, P. (1980), Can Basic Human Needs Be Met by the Year 2000? in: Haq, K. (Hrsg.), Dialogue for a New Order, New York, Oxford, Toronto u.a.: Pergamon Press, S.219–231, S.226. 130 Vgl. z.B. Cardoso/Fishlow (1989), S.28–38. 131 Ramos, J. (1995), Can Growth and Equity Go Hand in Hand?, in: CEPAL–Review Nr. 56, S.13–24. Vgl. auch ECLAC (1998), S.30–35 und ausführlicher Kapitel VI–VIII sowie ECLAC (1990), S.77–81 bzw. Bitar (1988), S.57–58. Skeptischer hinsichtlich einer gleichzeitigen Realisierung von Wachstums– und Verteilungszielen zeigen sich dagegen Sunkel/Zuletta (1990), S.42 bzw. S.46 wie auch Amsden (1997), S.474–476, die lediglich eine Erhöhung des politischen, jedoch nicht budgetären Spielraums durch geringeres ›anti– social behavior‹ als Folge einer egalitäreren Einkommensverteilung beobachtet. Entwicklungsplanung und Regulierung 91 der direkten Steuersätze, eine Beschleunigung der Humankapitalbildung durch eine quantitative und qualitative Ausweitung der schulischen, betrieblichen und berufsbegleitenden Qualifikationsangebote sowie insgesamt eine Dezentralisierung aller öffentlichen sozialen Dienstleistungen durch ihre (Teil-)Privatisierung bzw. Übertragung dieser Verantwortungsbereiche an regionale oder lokale Gebietskörperschaften als wichtigste Maßnahmen im Vordergrund. Während ersteres und letzteres eher auf eine direkte monetäre Entlastung des Bundesbudgets abzielen, soll die verstärkte Förderung von formaler Ausbildung nicht nur einer Umverteilungspolitik der selektiven Intervention via einer Repriorisierung der öffentlichen Ausgaben genügen, sondern vor allem die Wachstumsrate der Ökonomie durch die Bereitstellung eines der Nachfrage adäquaten Arbeitskräftepools deutlich erhöhen.132 Im Gegensatz zur Grundbedürfnisstrategie wird die Trennungslinie der sozialen Marginalisierung in den 90er Jahren wieder stärker zwischen Lohnempfängern und Arbeitslosen verortet, was dem verteilungspolitischen Konzept der Neostrukturalisten, Armut durch formale, in der Privatwirtschaft verankerte Beschäftigungsverhältnisse zu verringern, eine argumentative Grundlage liefert. Die Verteilungspolitik verbleibt mit dem Kunstgriff der Erweiterung des Kapitalbegriffs um Humankapital durchaus im Rahmen des Harrod-Domar-Modells, wobei sich der neostrukturalistische Staat vorwiegend auf die Bereitstellung von Rahmenbedingungen beschränken kann, von denen angenommen wird, daß sie die Wirtschaftsakteure befähigen, am Wirtschaftsprozeß aktiv teilzunehmen. Insbesondere mit weitreichender Akzeptanz zur Privatisierung sozialer Dienstleistungen, einschließlich von Ausbildungskrediten, die durch individuelle Rentenbeiträge abgesichert werden sollen, sowie Löhnen, die bis zum Anteil von 25% entsprechend der Gewinnentwicklung des Unternehmens, bei dem die jeweiligen Arbeitnehmer beschäftigt sind, fluktuieren können,133 wird das ehemals strukturalistische Verständnis von einer gesamtgesellschaftlichen im neostrukturalistischen Kontext in eine individuelle Verantwortung der einzelnen Wirtschaftssubjekte für ihre Einkommenserzielung transformiert. «Finally, and – in terms of the challenge of growth with equity – most importantly, the supply and use of social services must be oriented towards the more productive development of the persons concerned in order to make them capable of playing a more dynamic role in —————— 132 Vgl. ECLAC (1990), S.78ff. und Ramos (1995), S.15f. 133 Vgl. exemplarisch Ramos (1995), S.20ff. 92 Der strukturalistische Staat the economic system. This is the essence of a human resources development policy whose goal is to combine greater equity with increased productivity.«134 Neben der Aufrechterhaltung von Stützungspreisen und der Einführung von Termin- und Versicherungsmärkten für landwirtschaftliche Güter bzw. den Agrarsektor,135 erteilen Neostrukturalisten der Fortführung einer industriellen Entwicklung auf Kosten der Landwirtschaft eine klare Absage, ohne jedoch ein qualitativ anderes Konzept dafür aufweisen zu können. »Agriculture must be viewed not merely as a source of surpluses to support industrialization, but also as a dynamic source of growth, employment, and better distribution of income. Agricultural progress is essential to provide food for a growing nonagricultural labor force, raw materials for industrial production, and savings and tax revenue to support development of the rest of the economy; to earn more foreign exchange (or save foreign exchange when primary products are imported); and to provide a growing market for domestic manufactures.«136 2.3.3 Heterodoxes Schockprogramm und zentrale Einkommenspolitik Der Strukturalismus negiert auf der analytischen Ebene weder die inflationären Erscheinungen, durch die Ökonomien von Entwicklungsländern gekennzeichnet sind, noch die damit verbundenen destabilisierenden Wirkungen wie von theoretischen Kontrahenten häufig mit dem Verweis auf eine oftmals praktizierte expansive Geld- und Fiskalpolitik unterstellt wird. Strukturalisten führen dagegen das Wesen der Inflation auf Faktoren zurück, die mit einer restriktiven Geld- und Fiskalpolitik nicht überwunden werden können. »There is inflation because the economy is structurally vulnerable, because there are regressive income distribution factors, because there are not enough savings to expedite investment within a given economic and social structure.«137 Dennoch weist jede einzelne der bislang dargestellten Maßnahmen zur Überwindung der die Inflation verursachende —————— 134 ECLAC (1990), S.81. 135 Vgl. Sunkel/Zuletta (1990), S.44. 136 Meier, G.M. (1989), Leading Issues in Economic Development, New York, Oxford: Ox- ford University Press, S.325 (Hervorhebungen nicht im Original). Vgl. weiterhin Rosales (1988), S.30–31 und ECLAC (1990), S.99. 137 Prebisch (1961), S.3; vgl. auch Hirschman (1981), S.181. Entwicklungsplanung und Regulierung 93 strukturelle Heterogenität tendenziell inflationäre Elemente auf. Zusammengenommen birgt die bislang dargestellte strukturalistische Wirtschaftspolitik gar die Gefahr eines sich beschleunigenden inflationären Prozesses in sich, der im wesentlichen über das Budget des Finanzministers gesteuert und durch die Zentralbank alimentiert wird. Neben dem Inflationsprozeß selbst, der in Einzelfällen den Verlust aller Geldfunktionen der heimischen Währung hervorruft und in eine Hyperinflation umschlägt, ist die Binnenökonomie durch die administrierte Kreditrationierung und eine damit einhergehende Spaltung bzw. Vertiefung bereits vorhandener dualer Strukturen, insbesondere auf dem Kreditmarkt, gefährdet, was sich in einer weitreichenden Deintermediation des Finanzsektors ausdrücken kann. Die Weltmarktintegration auf der Grundlage der ISI-Strategie bei einem überbewertetem Wechselkurs bedingt eine Akkumulation vorwiegend staatlicher Fremdwährungsverschuldung, die eine Devisenrationierung sowie eine Inkonvertibilität der heimischen Währung hervorrufen kann. Zahlungsbilanzkrisen und damit verbundene Abwertungsschübe erfordern immer wieder eine Korrektur der Wirtschaftspolitik, wobei die Steuerungsfähigkeit der Ökonomie durch die Geldund Fiskalpolitik proportional zu den binnen- und außenwirtschaftlichen Korrekturerfordernissen abnimmt. Aus diesem Hintergrund mahnen Neostrukturalisten eine Reorientierung der Wirtschaftspolitik an, die in einer Rückkehr und schließlich Aufrechterhaltung der makroökonomischen (monetären) Gleichgewichte resultieren soll, wobei hierunter keine grundsätzliche Abkehr von der bisherigen Regulierungspraxis verstanden wird: »The neo-structuralists seek to regulate capital movements, the exchange rate, trade policy and the interest rate, in order to build a stable macroeconomic framework which, as a source of confidence in future economic policy, promotes capital formation and the acquisition of comparative advantages as a means of taking advantage of and increasing investment and innovation opportunities.«138 Obgleich der Inflationsprozeß immer noch vorwiegend auf strukturelle und verteilungspolitische Faktoren zurückgeführt wird, besteht ein Konsens darüber, daß die betreffenden Strukturen weder mit einer strukturalistisch, aber auch nicht mit einer neostrukturalistisch inspirierten Wirtschaftspolitik in einem solch kurzen Zeitraum verändert werden können, der es dem Staat erlauben würde, die der Ökonomie inhärenten inflationären und durch seine Politik zusätzlich ausgelösten destabilisierenden Effekte unberücksichtigt zu lassen. —————— 138 Sunkel/Zuletta (1990), S.45. Vgl. auch ECLAC (1998), S.9f., ECLAC (1990), S.45–47, Cardoso/Fishlow (1989), S.26 Ffrench–Davis (1988), S.41f. und Rosales (1988), S.32–34. 94 Der strukturalistische Staat Wirtschaftssubjekte entwickeln in Ökonomien mit einer langen Tradition hoher jährlicher Preissteigerungsraten darüber hinaus kontinuierlich Inflationserwartungen, die zunehmend einen weiteren strukturellen Faktor der Inflationsentstehung darstellen.139 Diese Inflationserwartungen fließen in die entsprechenden Dispositionen der ökonomischen Akteure ein, indem sie sich in den von ihnen abgeschlossenen Verträgen durch sog. Inflationsanpassungsklauseln vor einer Entwertung ihrer pekuniären Forderungen zu schützen versuchen. Das sogenannte Inflationsgedächtnis oder auch die »inflation inertia« (Cardoso) wird nicht automatisch nach Versiegen der geld- und fiskalpolitischen Quellen erlöschen, so daß die freiwillige Indexierung von Forderungen an die Inflations- oder Abwertungsrate der heimischen Währung immer noch bestehen bleibt und somit ein von der Geldangebots- und staatlichen Nachfragepolitik unabhängiges Antriebsmoment des Inflationsprozesses existiert. Eine Zurückführung der Inflationsrate setzt deshalb im neostrukturalisten Kontext vor allem eine Reduzierung der Inflationserwartungen der Wirtschaftssubjekte voraus, wobei die Persistenz der Inflationserwartungen in einem hoch inflationären Umfeld nur durch ein Schockprogramm durchbrochen werden kann. »In the interests of social efficiency, the adjustment should be gradual; in the case of high inflation, shock policies are more appropriate and inevitable.«140 Der Kern eines heterodoxen Schockprogramms besteht neben einer ›Währungsreform‹ in einem Verbot der Indexierung zukünftiger Kontrakte sowie einem Preis-Lohnstop. Diese ›Währungsreform‹ zeichnet sich durch eine symmetrische Streichung von Nullen auf Strom- und Bestandsgrößen und einem neuen Namen für die heimische Währung aus, welches auf die Psychologie der Wirtschaftssubjekte abzielt und damit ihren Erwartungsbildungsprozeß zu beeinflussen versucht. Damit wird offensichtlich, daß es sich hierbei zweifelsohne nicht um eine Währungsreform, auf die in fast allen, mit dieser Thematik befaßten neostrukturalistischen Texten Bezug genommen wird, sondern vielmehr um eine Währungsumstellung handelt, da eine Währungsreform auf einer überproportionalen Verringerung der nominalen Vermögens- und Schuldbestände gegenüber den Zahlungsströmen beruht. Die als institutionelle Faktoren verstandenen administrativen Regelungen sollen zeitlich befristet sowohl Verteilungskämpfe als auch die Projektion vergangener Inflationsraten in die Zukunft unterbinden, selbst wenn gegenwärtig beim Abschluß der Kontrakte noch Inflationserwartungen seitens einzelner Vertragspartner vorherrschen. »The main —————— 139 Vgl. Cardoso (1989), S.15. 140 Sunkel/Zuletta (1990), S.42. Entwicklungsplanung und Regulierung 95 implication is that all it takes to deflate a ballon is to let the air out; hence high inflation could be eliminated by a synchronized wage-price freeze. This admittedly requires some coordination, but would seem to be otherwise painless, since no real budgetary or other cuts would be required.«141 Während eines (umfassenden) Preis-Lohnstops ist jedoch nicht nur eine Erhöhung des absoluten Preisniveaus ausgeschlossen, sondern es bleibt auch eine Veränderung der relativen Preisstrukturen aus. Wenn nicht alle Kontrakte mindestens einmal pro Tag entsprechend der Inflationsrate angepaßt werden, ist es aus neostrukturalistischer Sicht unabdingbar, daß vor dem eigentlichen price freeze eine Freigabe der absoluten Preise und Deindexierung bestehender Verträge erfolgt, um zunächst eine gesamtwirtschaftliche, synchronisierte – und nicht wie in einer preisregulierten Ökonomie sektorale, jeweils zeitliche versetzte – Anpassung der relativen Preisstrukturen zu ermöglichen. Sonst ist die von Neostrukturalisten angestrebte verteilungspolitische Neutralität des Preis-Lohnstops nicht gewährleistet, und zukünftige Verteilungskämpfe auf der Grundlage der Fixierung des an einem beliebigen Tag gegebenen nominalen Status Quo gefährden das Schockprogramm – wie bereits Strukturalisten konstatieren mußten: »It is impossible to stop the clock at the present moment, since the stabilization of wages also implies the stabilization of the existing disparities in income distribution. And an anti-inflationary programme which does not set resolutely to work to correct these irregularities lacks economic efficiency and social significance, while incurring a very serious risk of a relapse into inflation.«142 Gelingt es der Regierung, die Preisfixierung so lange aufrechtzuerhalten, bis die zukünftigen Erwartungen der Wirtschaftssubjekte auf der Grundlage der seit der Implementierung des heterodoxen Schockprogramms zu verzeichnenden Preisniveauveränderungen im Idealfall von Null gebildet werden, dann ist das Inflationsgedächtnis nicht mehr in der Gegenwart wirksam und kann somit die Aufhebung des Preis-Lohnstops erfolgen. Als Anker für die Erwartungsbildung —————— 141 Bruno (1993), S.82. Für eine kurze Darstellung des Plan Austral (Argentinien), des Plan Cruzado (Brasilien) und des Plan Inti (Peru) vgl. Taylor (1988), S.121–133. Eine ausführlichere Diskussion findet sich in Machinea/Fanelli (1988) bzw. in Modiano, E.M. (1988), The Cruzado First Attempt: The Brazilian Stabilization Program of February 1986, in: Bruno, M., Di Tella, G., Dornbusch, R., Fischer, S.(Hrsg.), Inflation Stabilization, Cambridge, Mass.: MIT Press, S.215–258 sowie Thorpe, R. (1988), Is There Life in Heterodoxy Yet? The Lessons from the Peruvian Experience, Development Studies Working Papers Nr. 6, Oxford. 142 Prebisch (1961), S.24; vgl. auch Machinea/Fanelli (1988), S.124f. 96 Der strukturalistische Staat in der Übergangsphase dient dabei der Wechselkurs, der gegenüber einer wertstabileren Währung wie beispielsweise dem US Dollar ebenfalls fixiert wird. Während der Strukturalismus mit seinen währungspolitischen Empfehlungen langfristig auf eine Neutralisierung bzw. eine Überwindung der strukturellen Heterogenität und nur darüber vermittelt auf eine Reduzierung der Inflationsrate abzielt, erfolgt die Wahl des Wechselkursregimes kombiniert mit einer auf zentraler Ebene angesiedelten Einkommenspolitik im neostrukturalistischen Kontext als direkte Maßnahme der kurzfristigen Inflationsbekämpfung. Beiden Ansätzen gemeinsam ist dennoch, daß sie die Währungspolitik als integralen Bestandteil der Wirtschafts- und Sozialpolitik verstehen, wobei die Einkommenspolitik einen zentralen Stellenwert einnimmt.143 Unabhängig davon, ob das die Inflation auslösende Moment in einer zu hohen gesamtwirtschaftlichen Nachfrage bei gegebenem binnenwirtschaftlichen Güterangebot oder in einem zu hohen Geldangebot bei gegebener Nachfrage nach heimischer Währung besteht und mithin unabhängig davon, ob die Inflation als gütermarkt- oder vermögensmarktbedingt zu klassifizieren ist, entsteht kein Inflationsprozeß ohne Nominallohnerhöhungen. »But the essence of inflation is a rapid and continuous rise of money wages. Without rising money wages, inflation cannot occur, whatever starts a violent rise in money wages starts inflation.«144 Diesem Zusammenhang zollt der Neostrukturalismus durch die Integration der Einkommenspolitik in heterodoxe Stabilisierungsprogramme in Form eines Preis-Lohnstops oder eines Sozialpaktes Anerkennung. Die Entstehung bzw. Aufrechterhaltung eines kumulativen Inflationsprozesses soll durch die genannten institutionellen Regelungen unterbunden werden, in dem die Wirksamkeit seines Transmissionsriemens Nominallohnerhöhungen außer Kraft gesetzt wird. Erschöpft sich jedoch eine Wirtschaftspolitik mit dem expliziten Ziel der Inflationsreduktion auf die administrative Ausschaltung einer Preis-Lohn-Spirale, ohne gleichzeitig auf eine Veränderung der ökonomischen Bedingungen, die diese Spirale hervorrufen, hinzuwirken, so ist die administrative Regelung nicht dauerhaft gegenüber privaten Marktakteuren aufrechtzuerhalten und die Anti-Inflationspolitik muß scheitern. 145 Dabei drückt sich das Scheitern, das sich —————— 143 Prebisch (1968a), S.129; siehe Prebisch (1961) S.20 sowie Ffrench–Davis (1988), S.43. 144 Robinson, J. (1938), The Economics of Inflation, in: The Economic Journal, September, S.507–513, S.510–511. 145 Zu den 5 gescheiterten Stabilisierungsversuche Brasiliens seit der zweiten Hälfte der 80er Jahren vgl. die Ausführungen von Macedo, R. (1996), Vom Cruzado zum Real: Die Stabi- Entwicklungsplanung und Regulierung 97 bereits während des offiziell noch gültigen Preis-Lohnstops in anhaltender Kapitalflucht sowie in einer Warenknappheit und weitreichenden Versorgungsengpässen andeuten kann, die mit der Etablierung eines informellen Gütermarktes in heimischer und/oder Fremdwährung einhergehen, spätestens nach der Aufhebung der Preisfixierung in einem raschen Wiederanstieg der Inflationsraten aus. Ein neben den Nominallohnerhöhungen weiterhin unabdingbarer Faktor für das Zustandekommen eines kumulativen Inflationsprozesses besteht in der Beschleunigung der Kreditvergabe und damit der Geldschöpfung. Wird die Ausweitung des heimischen Geldangebotes durch eine restriktive Geldpolitik verweigert, kann eine Preis-Lohn-Spirale nicht erfolgen, und gesamtwirtschaftliche Nominallohnerhöhungen münden ceteris paribus demnach nicht in einem weiteren Preisniveauschub, sondern in Entlassungen von Arbeitnehmern und Konkursen von Unternehmen bei nahezu konstantem Preisniveau. Wenn nicht Friedmansche Hubschrauber in einer Art Out-of-area-Operation die Ökonomie mit Zahlungsmitteln versorgen, müssen somit im Verlauf eines Inflationsprozesses Schuldbestände seitens privater oder staatlicher Akteure akkumuliert werden, um die Aufrechterhaltung eines Inflationsprozesses überhaupt gewährleisten zu können. In einer Ökonomie können aber nur Schuldbestände bis zu dem Umfang aufgebaut werden, wie Gläubiger bereit sind, Forderungen in heimischer Währung einzugehen. Während eines Inflationsprozesses weist die jeweilige Währung jedoch einen sukzessiven Verlust von Geldfunktionen (Vermögensaufbewahrung-, Wertstandard-, sowie Zahlungsmittel- bzw. Güteraneignungsfunktion) auf, der Vermögenseigentümer veranlaßt, ihre in heimischer Währung denominierten Forderungen zugunsten von Fremdwährungsforderungen oder Sachvermögen umzuschichten. Deshalb kann es sich bei den im gleichen Ausmaß wie die Schuldbestände aufzubauenden Geldvermögensbeständen mehrheitlich nicht um Forderungen von privaten Haushalten handeln, da diese bereits beim Verlust der Vermögensaufbewahrungsfunktion Forderungen in heimischer Währung nicht mehr freiwillig halten. Es müssen demnach Forderungen von Akteuren sein, die zum Aufbau von heimischen Geldvermögensbeständen keine Alternative haben: die Zentralbank, der Staat oder das Geschäftsbankensystem. Erstere, weil die Zentralbank in ihrer geldemitierenden Funktion in heimischer Währung immer Gläubigerin ist und letzteres, da die Geschäftsbanken, solange Dollarkredite verboten sind, keine (offiziellen) Forderungen in Fremdwährung eingehen —————— lisierungspläne seit der Redemokratisierung, in: Calcagnotto, G., Fritz, B. (Hrsg.), Inflation und Stabilisierung in Brasilien, Frankfurt/M.: Vervuert, 1996, S.49–65. 98 Der strukturalistische Staat können und sie deshalb nur die Wahlmöglichkeit zwischen dem Aufbau von Forderungen in heimischer Währung oder dem generellen Verzicht auf ein Aktivgeschäft haben. Die Geschäftsbanken weisen jedoch aufgrund ihres Passivgeschäftes mit der Zentralbank ein ausgeglichenes Portfolio auf, während der Staat aufgrund seiner Steuerforderungen gegenüber den privaten Akteuren sowohl Nettogläubiger als auch aufgrund seiner Ausgabenhöhe gegenüber der Zentralbank und dem Geschäftsbankensystem Nettoschuldner in einer solchen Ökonomie sein kann. Der Unternehmenssektor dagegen nimmt makroökonomisch gesehen tendenziell einen ansteigenden Schuldnerstatus ein, da ein kumulativer Inflationsprozeß die Revolvierung des vorgeschossenen Kapitals in Form von Krediten erleichtert und für den Unternehmenssektor einen Anreiz zur Ausweitung der nominalen Verschuldung bildet. Somit kann festgehalten werden, daß, unabhängig von dem Zeitpunkt, an dem ein Inflationsprozeß durch geld-, fiskaloder einkommenspolitische Maßnahmen beendet werden soll, der vorherige Aufbau von Schuldbeständen in heimischer Währung als Relikt des Inflationsprozesses durch die Wirtschaftspolitik berücksichtigt werden muß, wenn eine Überschuldung der jeweiligen ökonomischen Akteure im Verlauf des Stabilisierungsprogramms verhindert werden soll. Neostrukturalisten führen die baldige Rückkehr zur Inflation auf den fehlenden politischen Willen der Regierung oder auf die fehlende Verteilungsneutralität eines konkreten Stabilisierungskonzeptes zurück, wobei letzteres es der Regierung unmöglich macht, das Schockprogramm konsequent umzusetzen, selbst wenn sie ausreichenden und guten Willens ist. Das Festhalten an der prinzipiellen Möglichkeit einer Verteilungsneutralität von Anti-Inflationsprogrammen geht auf die Vorstellung zurück, daß das Phänomen der Inflation selbst keine verteilungspolitischen Konsequenzen bzw. keine Implikationen auf die sogenannten realen Sphären, worunter der Güter- und Arbeitsmarkt verstanden wird, beinhalte, wenn nur eine hundertprozentige, synchronisierte Indexierung aller Kontrakte erfolgen könne.146 Da letzteres technisch nicht umsetzbar ist, besteht aus neostrukturalistischer Sicht die Notwendigkeit einer Politik der Inflationsbekämpfung, von der angenommen wird, daß sie nicht nur theoretisch, sondern auch hinsichtlich ihrer Durchführbarkeit dem Kriterium der Verteilungsneutrali- —————— 146 Zu der weitestgehend auch auf den Neostrukturalismus zutreffende Kritik an der (neoklassich–monetaristischen) Vorstellung einer Trennung von realer und monetärer Sphäre am Beispiel der Indexierung siehe Riese, H. (1986), Theorie der Inflation, Tübingen: Mohr, S.168–173. Entwicklungsplanung und Regulierung 99 tät entsprechen kann und auch entsprechen muß, wenn nicht ein Erfolg dieser Politik von Beginn an ausgeschlossen werden soll. Aber ebensowenig wie ein Inflationsprozeß – selbst bei hundertprozentiger Indexierung der Kontrakte – verteilungspolitisch neutral ist, kann eine Wirtschaftspolitik, die auf eine Reduzierung der Inflationsrate abzielt, verteilungspolitisch neutral sein. Im Rahmen eines Inflationsprozesses werden nicht nur Zahlungsströme angepaßt, sondern auch Vermögensbestände umbewertet. Dabei erfolgt die Umbewertung der Bestände nicht nur entsprechend der Inflationsrate und damit dem Indexierungsmaßstab, sondern es findet eine darüber hinausgehende Umbewertung sowohl innerhalb der Gruppe der Vermögensbestände als auch einzelner Beständekategorien gegenüber den Zahlungsströmen selbst, statt. Beispielsweise wird in heimischer Währung denominiertes Geldvermögen gegenüber Geldvermögen in Fremdwährung sowie Sach- und Produktivvermögen relativ abgewertet, wodurch sich die Relation Geldvermögensbestände in heimischer Währung zu den Zahlungsströmen versus alle anderen Vermögensbestände zu den Zahlungsströmen deutlich verändert. Die jeweilige Umbewertung der Bestände sowohl untereinander als auch gegenüber den Zahlungsströmen entspricht eben nicht nur dem Indexierungsmaßstab, was allein eine Proportionalität gewährleisten würde. Die Umbewertung der Bestände beinhaltet darüber hinaus einen pekuniären Obulus für den Verlust bzw. der Übernahme von Geldfunktionen im Verlauf des Inflationsprozesses, was einer relativen Ab- bzw. Aufwertung gleichkommt. In einem Extremfall, in dem für die heimischen Wirtschaftsakteure ein Ausweichen auf Fremdwährung nicht oder nur sehr bedingt möglich ist, kann die Vermögensaufbewahrungs- und Zahlungsmittelfunktion der heimischen Währung sogar selbst auf Waren übergehen, was während eines gültigen price freeze in eine weitreichende Hortung dieser Güter mündet. Die von Neostrukturalisten konstatierte fehlende Verteilungsneutralität eines Inflationsprozesses ist somit nicht technischer oder politischer Natur, sondern ökonomischer Ausdruck des Wesensmerkmals aller Inflationsprozesse, das durch keine technokratischen Maßnahmen eliminiert werden kann. Während demnach das neostrukturalistische Argument nicht den Inflationsprozeß selbst erklären kann, offenbart es dennoch erneut, daß der Neostrukturalismus über keine eigenständige Geld- und Vermögensmarkttheorie verfügt. Er ist der Vorstellung eines Geldschleiers verpflichtet, dessen Instabilitätspotential zumindest theoretisch von den realen Spähren abzuschirmen ist, und er bleibt damit trotz der in keinem neostrukturalistischen Dokument fehlenden verbalen Abgrenzung gegenüber der Orthodoxie einem neoklassischen Denken verhaftet. 100 Der strukturalistische Staat Während eines Desinflationsprozesses erfolgt in Umkehrung der obigen Argumentation nicht nur eine relative Aufwertung der heimischen Geldvermögensbestände, sondern auch der im Verlauf des Inflationsprozesses akkumulierten Verschuldungsbestände vor allem gegenüber der Höhe der Zahlungsströme, mit denen die in heimischer Währung denominierten Verbindlichkeiten bedient werden müssen. Die durch einen Preis-Lohnstop herbeigeführte Fixierung der Einkommenströme gegenüber den Schuldenbeständen kommt somit für heimische Schuldner in ihrer Wirkungsweise einer Deflation gleich und macht eine Währungsreform notwendig.147 Diesem Problem kann aber nicht dadurch entgangen werden, daß der Staat mit Hilfe von sogenannten Konversionstabellen (tablitas) versucht, die Bestände in Zahlungsströme zu transferieren und diese nach Streichung der Nullen in die neue Währung zu konvertieren. Eine Währungsreform zielt auf eine überproportionale Reduzierung der vorhandenen nominalen Bestände gegenüber den Zahlungsströmen ab, um einerseits die durch das heimische Geldvermögen gespeiste Nachfrage vorwiegend von privaten Akteuren nach Fremdwährung zu limitieren und andererseits eine Überschuldung vor allem des Unternehmenssektors und gegebenenfalls des Staates als Ausgangslage für eine Stabilisierung zu vermeiden, was sich beides zinssenkend und damit auf die Gewinnerwartungen insgesamt positiv auswirkt. Während die nominalen Geldvermögensbestände privater Haushalte tatsächlich nach einem kumulativen Inflationsprozeß nur noch marginal oder überhaupt nicht mehr vorhanden sind, trifft dies auf die privaten und/oder staatlichen Schuldbestände leider nicht zu. Bei einem Verzicht auf eine Währungsreform sehen sich deshalb Regierungen, die ein heterodoxes (Schock-)Programm implementieren, häufig gezwungen, eine staatlich verordnete Reduzierung der nominalen Kreditzinsen, eine Subventionierung der Zinsverbindlichkeiten und/oder Vorzugskredite zu- —————— 147 Häufig werden eine Währungsreform und ein kumulativer Inflationsprozeß als alternative Wege betrachtet, die jeweiligen Bestände zu reduzieren. Vgl. z. B. Tober, S.(1995), Die Beendigung extremer monetärer Instabilität, in: Betz, K., Riese, H. (Hrsg.), Wirtschaftspolitik in einer Geldwirtschaft, Marburg: Metropolis, S.29–52, S.48–51. Während eine Währungsreform als Aeinmaliger administrativer Akt« (Tober) eine Entwertung vornimmt, soll dies bereits durch den Inflationsprozeß erfolgt sein. Hierbei muß implizit davon ausgegangen werden, daß alle Bestände (Vermögen bzw. Verschuldung) bei allen Akteuren (privaten oder staatlichen) durch die Inflation entwertet sind, wodurch erst eine Währungsreform obsolet werden würde. Dies ist jedoch nur dann gegeben, wenn der Inflationsprozeß hyperinflationäre Züge annimmt und selbst durch einen Rückgang der Geldnachfrage auf Null zusammenbricht. In jeder Phase vor dem Zusammenbruch ist jedoch eine Währungsreform unerläßlich. Entwicklungsplanung und Regulierung 101 gunsten hochverschuldeter Unternehmen anzubieten.148 Die den Unternehmen gewährte weiche Budgetrestriktion entlastet einerseits das Geschäftsbankensystem, aber verhindert andererseits, daß die Zentralbank ihr geldpolitisches Instrumentarium für die Stabilisierung der heimischen Währung und damit der Zurückgewinnung aller Geldfunktionen durch sie einsetzen und der Staat eine fiskalpolitische Konsolidierung einleiten kann. Die Fiktion von einer theoretischen und administrativ umsetzbaren Verteilungsneutralität eines Desinflationsprozesses gerät in dem Moment an ihre wirtschaftspolitischen Grenzen, in dem die Geld- und Fiskalpolitik zur Verhinderung einer Überschuldung diskretionär eingesetzt werden. Dabei wirkt nicht das diskretionäre Eingreifen per se destabilisierend, wie häufig von orthodoxen Ökonomen behauptet, sondern das Fehlen einer Währungsreform, das ein diskretionäres Eingreifen zwingend erforderlich macht, wenn nicht mindestens eine Kontraktion der Ökonomie und schlimmstenfalls ein Zusammenbruch des Geschäftsbankensystems im Zuge des Preis-Lohnstops billigend in Kauf genommen werden soll. Zugleich ist die Verweigerung einer Währungsreform gleichbedeutend mit der Verweigerung einer harten Budgetrestriktion für die Ökonomie. Das heterodoxe Schockprogramm ist somit nicht in der Lage, einen erfolgreichen Desinflationsprozeß einzuleiten, wobei der Erfolg daran gemessen werden soll, ob die heimische Währung am Ende des Prozesses wieder alle Geldfunktionen ausfüllen kann, was sich in einer dauerhaften Zurückführung der Inflationsrate ohne Unterdrückung des Einkommensbildungsprozesses widerspiegeln müßte. Nach Aufhebung des Preis-Lohnstops – in Einzelfällen wird die Aufhebung durch die ökonomischen Akteure auch vorzeitig erzwungen – erfolgt ein Wiederanstieg der Inflation, obgleich die inflation inertia während des price freeze gebrochen schien. Basierend auf den Erfahrungen zahlreicher gescheiterter Stabilisierungsversuche erfolgt innerhalb des Neostrukturalismus zunehmend eine Adaption sogenannter orthodoxer oder neoliberaler Maßnahmen, u.a. einer entsprechend hohen Abwertung des Wechselkurses zur Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Exporte vor der Implementie- —————— 148 Vgl. für den Plan Austral Machinea/Fanelli (1988), S.127. Die Reduzierung der Zinssätze wird damit begründet, Schuldner gegenüber Gläubigern bei sinkenden Inflationsraten und steigenden realen Kreditzinsen nicht benachteiligen zu wollen. Sollte der Desinflationsprozeß wie theoretisch angenommen verteilungsneutral durchzuführen sein, erübrigte sich eine solche Maßnahme, da das Verhältnis von Gläubigern und Schuldnern entsprechend der symmetrischen Streichung der Nullen sowohl bei den Beständen als auch bei den Strömen unverändert bliebe. 102 Der strukturalistische Staat rung des Schockprogramms und beginnend mit der Einleitung des Programms, eine fiskalpolitische Konsolidierung basierend auf der Hoffnung höherer Staatseinnahmen aufgrund der Wirkungen des Oliveira-Tanzi-Effekts, aber vor allem aufgrund von Ausgabenkürzungen. Als Ausweg aus diesem Stop-go-Zyklus wird auch die Forderung nach einem Anstieg externer, in den 90er Jahren selbstverständlich privater Kapitalzuflüsse bzw. eine Reduzierung heimischer Kapitalexporte nicht nur als Ergebnis erfolgreicher Stabilisierungsbemühungen, sondern vor allem als notwendige Voraussetzung für den Erfolg eines Stabilisierungsprogramms propagiert. Damit schließt sich denn auch der Kreis, wenn auch in einem zeitgenössischen Kontext, zu den alten Strukturalisten und ihrer These vom ›foreign exchange gap‹ als wesentliches Entwicklungshindernis schließt. Die theoretische Unzulänglichkeit des Neostrukturalismus, die mit der Unfähigkeit oder Unwilligkeit von Politikern, ein angeblich konsistentes Programm konsequent zu implementieren, verwechselt wird, erzwingt so, wenn Empfehlungen in konkrete wirtschaftspolitische Maßnahmen gegossen werden, ein muddling through des neostrukturalistisch inspirierten Staates und kann doch die Annäherung an den neoliberalen Staat nicht verhindern.