Kap2 - Berliner Institut für Finanzmarktforschung

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There is doubtless much to be said for the Nietzschean precept
»Live dangerously«, but in the twentieth century
life is quite dangerous enough
without taking on additional social gambles.
Perhaps we are best advised
to proceed empirically rather than dogmatically,
testing the local political framework
before we throw on it the full weight of policies
derived from a doctrine which was developed
for the needs of another century and another part of the world.
Dudley Seers (1964), S.103
2.
DER STRUKTURALISTISCHE S TAAT
ALS E NTWICKLUNGSMOTOR
30
Der strukturalistische Staat
Zentraler Bezugspunkt des Strukturalismus stellen die Erfahrungen der Kolonialzeit und ihre Auswirkungen auf räumliche, soziale, politische und nicht zuletzt
ökonomische Strukturen in den kolonisierten Ländern dar. Dabei wird nicht nur
im- oder gar explizit unterstellt, daß die mit dem Kolonialregime einhergehenden
Veränderungen einen tiefgreifenden Einschnitt hinsichtlich Ausmaß, Richtung und
Dynamik des bis dato vorherrschenden Entwicklungsweges markieren, sondern
auch, daß die Einmaligkeit der Unterwerfung des Südens durch die hegemonialen industriellen Mächte des Nordens eine spezifische Methodik erfordert, die
diese historische Erfahrung als Kristallisations- und Ausgangspunkt der weiteren
Analyse zu reflektieren in der Lage ist. Entwicklungsländer werden demnach als
1
»(...) a sui generis group of economies« betrachtet, die sich von bereits entwickelten oder Industrieländern durch structural imbalances unterscheiden. Diese
strukturellen Ungleichgewichte bildeten sich im Rahmen der Kolonialherrschaft
heraus, können jedoch nach strukturalistischer Auffassung auch im Zuge einer
postkolonialen Weltmarktintegration, die ausschließlich auf den Angebots- und
Nachfrageentscheidungen von privaten Marktakteuren bei gegebenen Preisen
beruht, bestenfalls zementiert, aber keineswegs überwunden werden. »The nexus of international exchange, often referred to loosely as ›the capitalist system‹,
was credited with the major role in creating the specific form of backwardness
found in the Third World. This specific form was called ›underdevelopment‹: it
was not a prestine condition of low productivity and poverty but an historical condition of blocked, distorted and dependent development.«2
In der Literatur wird gemeinhin das Mißtrauen in den Preismechanismus als
das konstituierende und alle unterschiedlichen Strömungen der Strukturalisten
verbindende Element hervorgehoben.3 Dabei gilt es jedoch, zwischen zwei unterschiedlichen Argumentationssträngen zu differenzieren. Einerseits werden die
Preise sowohl als flexibel als auch korrekt im Sinne einer Reflektion der tatsächlichen Angebots- und Nachfragerelationen betrachtet, münden jedoch aufgrund
dualistischer, heterogener Strukturen nicht in einen von neoklassischen Lehrbüchern prognostizierten Gleichgewichtszustand, sondern rufen kumulative Prozes-
——————
1
2
3
Hirschman, A.O.(1981), Essays in Trespassing: Economics to Politics and Beyond, Cambridge: Cambridge University Press, S.6–7.
Toye, J. (1987), Dilemmas of Development: Reflections on the Counter–Revolution in
Development Theory and Policy, Oxford: Basil Blackwell, S.12. Vgl. auch Hirschman
(1981), S.14–17.
Vgl. exemplarisch Arndt, W. (1985), The Origins of Structuralism, in: World Development
Nr. 2, S.151–159, S.153.
Der strukturalistische Staat
31
se mit dem Resultat dauerhafter Stagnation und Unterentwicklung hervor (Kapitel
2.1). Andererseits wird ein Versagen des Preismechanismus konstatiert, das sich
entweder in Preisrigiditäten oder in verzerrten Preisen ausdrückt, so daß eine
Orientierung der privaten Akteure an ihnen zu suboptimalen Resultaten führt
(Kapitel 2.2). Da beide Argumentationslinien zur Herleitung staatlicher Interventionen in den Marktprozeß dienen, und darüber hinaus die Interpretation der Funktionsweise von Volkswirtschaften der Entwicklungsländer, einschließlich ihrer
Defizite, bereits den Kern der ökonomischen Fassung des Staates in sich bergen,
sollen sie im folgenden dargestellt werden, bevor explizit auf die Rolle des Staates in der strukturalistischen Welt eingegangen wird (2.3).
2.1 Historisch verursachte Deformation
des Marktprozesses
Die Kolonialisierung und die sich daran anschließende Weltmarktintegration hat
nach strukturalistischer Auffassung eine tiefe Fragmentierung der Ökonomien
von Entwicklungsländern hervorgerufen, die sich in einer jeweils unterschiedlichen Wachstumsdynamik in den einzelnen Sektoren der Binnenwirtschaft und
dementsprechend einem unterschiedlichen Partizipationsgrad der Wirtschaftssubjekte am Einkommensbildungsprozeß ausdrückt. Darüber hinaus restringiert
das geringe Angebot externer und interner Ersparnisse die Investitionstätigkeiten
heimischer Unternehmen, deren Anpassungsfähigkeiten an Nachfrageveränderung innerhalb des strukturalistischen Paradigmas generell als gering eingeschätzt werden. Während somit die tendenzielle Verschlechterung der terms of
trade (Kapitel 2.1.1) und die dualistische Struktur von Entwicklungsländern
(Kapitel 2.1.2) die Ausweitung der heimischen Produktionskapazitäten konterkarieren, münden Angebotsrigiditäten (Kapitel 2.1.3) und Verteilungskonflikte
(Kapitel 2.1.4) zunehmend in inflationären Tendenzen.
2.1.1 Säkuläre Verschlechterung der Terms of Trade
Als eines der wesentlichsten Hindernisse der Entwicklung – sei es gemessen an
einer Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens oder des industriellen Outputs –
wird die bestehende Form der internationalen Arbeitsteilung begriffen. Die kolonialen Austauschbeziehungen, die durch Primärgüterexporte seitens der Peripherie und Fertigwarenexporte der industriellen Zentren charakterisiert sind, bleiben
auch nach der politischen Unabhängigkeit bestehen und verursachen zunehmend
eine »(...) Drosselung der Entwicklung von außen«4. Sowohl die nationale als
——————
4
Vgl. Prebisch, R. (1968a), Für eine bessere Zukunft der Entwicklungsländer: Ausgewählte
ökonomische Studien. Übersetzung amerikanischer Originaltitel. Herausgegeben von J.L.
Schmidt und K.H. Domdey. Berlin: Die Wirtschaft, S.80.
Deformation des Marktprozesses
33
auch internationale Nachfrage nach Rohstoffen im Vergleich zu derjenigen nach
Industriegütern wächst relativ langsam, was mit unterschiedlichen Einkommensund Preiselastizitäten der Nachfrage nach diesen Gütern begründet wird. 5 Daraus
werden erhöhte Importausgaben, insbesondere bei Beschleunigung des Industrialisierungsprozesses abgeleitet, denen unterproportional wachsende Exporteinnahmen gegenüberstehen. Letztere unterliegen zusätzlich zyklischen Schwankungen aufgrund von konjunkturellen Bewegungen innerhalb der Industrieländer, sind deshalb inhärent mit großer Unsicherheit behaftet und somit wenig
kalkulierbar.6
Darüber hinaus wirkt die in Entwicklungs- und Industrieländern unterschiedliche Aneignung von Produktivitätsfortschritten verschärfend. Während in Industrieländern die jeweiligen Produktivitätsgewinne in höheren Nominaleinkommen in Form von Löhnen und Gehältern weitergegeben werden, münden sie
in Entwicklungsländern in sinkenden Preisen. 7 Dies wird auf den Verarbeitungsgrad bzw. die gegebene Produktionsstruktur und die damit einhergehenden Anforderungen an den Faktor Arbeit zurückgeführt. In Industrieländern werden
verarbeitete Produkte von qualifizierten Arbeitskräften hergestellt, die aufgrund
ihrer relativen Beschränktheit über ein hohes Verhandlungs- und Durchsetzungspotential verfügen. Die Primärgüterproduktion erfordert dahingehend überwiegend unqualifizierte Arbeitskräfte. Der geringe Knappheitsgrad der nachgefragten Arbeitnehmer in Entwicklungsländern verhindert es, daß technischer Fortschritt in Lohnsteigerungen statt in Preissenkungen der Exportgüter resultiert.8
Über die Weltmarkteinbindung beider Ländergruppen führt dies ceteris paribus
in Industrieländern zu steigenden bzw. in Entwicklungsländern zu sinkenden
Realeinkommen.
Demzufolge sind Entwicklungsländer innerhalb des strukturalistischen Kontextes bei unveränderter Produktions- und Handelsstruktur mit einem external
bottleneck bzw. einem foreign exchange gap konfrontiert, die aufgrund der ge-
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5
6
7
8
Vgl. Prebisch (1968a), S.81 und S.142–143.
Vgl. Prebisch, R. (1961), Economic Development or Monetary Stability: The False Dilemma, in: Economic Bulletin for Latin America Nr. 1, S.1–25, S.3–5.
Vgl. Prebisch (1968a), S.156–158; vgl. auch Singer, H. (1968), The Distribution of Gains
between Investing and Borrowing Countries, in: Theberge, J.D. (Hrsg.), Economics of
Trade and Development, New York et. al.: John Wiley and Sons, Inc., S.236–248, S.241ff.
Vgl. Myrdal, G. (1974), Ökonomische Theorie und unterentwickelte Regionen, Stuttgart:
Fischer, S.59–60. Vgl. auch Prebisch (1968b), Development Problems of the Peripheral
Countries and the Terms of Trade, in: Theberge, J.D. (Hrsg.), Economics of Trade and Development, New York et. al.: John Wiley and Sons, Inc., S.287–297, S.290–293.
34
Der strukturalistische Staat
nannten Faktoren – unterschiedliche Elastizitäten, zyklische Schwankungen,
mangelnde Aneignung von Produktivitätsfortschritten – durch tendenziell sinkende und darüber hinaus stark fluktuierende Exporteinnahmen bei gleichbleibender oder gar ansteigender Importneigung gekennzeichnet sind. Während
demnach sich die Exporteinnahmen unabhängig von heimischen Wachstumsraten entwickeln, die Importausgaben ceteris paribus aber annahmegemäß mindestens proportional mit ihnen ansteigen, besteht bei anhaltendem Wachstum die
Tendenz zu einer Erhöhung des Handelsbilanzdefizits und damit einer Restriktion des Entwicklungspfades.9 Obgleich die These von den langfristig sinkenden
terms of trade bzw. ihr Erklärungsgehalt hinsichtlich vielfältiger Krisenerscheinungen in Entwicklungsländern auch innerhalb der strukturalistischen Debatte
nicht unumstritten ist10, halten neo-strukturalistische Autoren trotz der in den
letzten 50 Jahren erreichten Exportdiversifizierung an ihrer grundsätzlichen
Aussage sowie an der Forderung nach einem strukturellen Wandel der internationalen Handelsbeziehungen fest, aus deren Asymmetrie das Auftreten von immer wiederkehrenden systemischen Zahlungsbilanzkrisen abgeleitet wird.11
——————
Vgl. Chenery, H.B. (1955), The Role of Industrialization in Development Programs, in:
American Economic Review Nr. 2, S.40–57, S.53f. In einer gemeinsam mit Strout verfaßten Studie prognostiziert Chenery, daß ab 1975 die Devisenknappheit für die überwiegende
Mehrheit von 50 untersuchten Länder zur bindenden Restriktion wird. Vgl. Chenery, H.B.,
Strout, A.M. (1966), Foreign Assistance and Economic Development, in: American Economic Review, Nr. 4, S.679–733, S.719.
10 Vgl. Seers, D. (1983), Structuralism versus Monetarism in Latin America: A Reappraisal
of a Great Debate, with Lessons for Europe in the 1980s, in: Jansen, K. (Hrsg.) Monetarism, Economic Crisis and the Third World, London: Frank Cass, S.110–126, S.115–116.
Eine kritische Diskussion der Argumente findet sich ebenfalls bei Singer, H.W. (1991),
Terms of Trade: New Wine and New Bottles? in: Development Policy Review, und bei
Singer, H.W., Sapsford, D., Sarkar, P. (1992), The Prebisch–Singer Terms of Trade Controversy Revisited, in: Journal of International Development Nr. 3, beide abgedruckt in:
Singer, H.W., Growth, Development and Trade: Selected Essays of Hans W. Singer, Cheltenham, Northampton: Edward Elgar, 1998, S.109–119 bzw. S.140–158.
11 Vgl. exemplarisch Rosales, O. (1988), An Assesssment of the Structuralist Paradigm for
Latin American Development and the Prospects for its Renovation, in: Cepal Review Nr.
34, S.19–36, S.34–35, und Sunkel, O., Zuleta, G. (1990), Neo–Structuralism versus Neo–
Liberalism, in: Cepal Review Nr. 42, S.35–51, S.41ff.
9
Deformation des Marktprozesses
35
Schlußfolgerungen: Terms of Trade
Erstens ist ökonomische Entwicklung, die auf der Verfügbarkeit von Deviseneinnahmen beruht, unter den gegebenen Marktstrukturen und -bedingungen zum
Scheitern verurteilt. Dabei ist anzumerken, daß unterschiedliche Einkommenselastizitäten, deren Existenz hier nicht bestritten werden soll, lediglich formaler
Ausdruck, aber nicht eine Begründung für ein differierendes Nachfrageverhalten
und damit der Devisenknappheit darstellen können.
Der Versuch, die Devisenknappheit durch eine Steigerung der Primärgüterproduktion zu verringern, führt lediglich zu einer Beschleunigung des Rohstoffpreisverfalls und damit zu einer weiteren Verknappung der Devisenerlöse. Das so
skizzierte Verelendungswachstum weist zweitens kumulative Züge auf, die nicht
eine weltweite Angleichung, sondern im Gegenteil eine weitere Ausdifferenzierung von Entwicklungsniveau und -bedingungen der jeweiligen Ländergruppen
zur Konsequenz haben.
Ökonomische Entwicklung im Sinne einer Erhöhung des Einkommensniveaus
setzt drittens einen aus Sicht der Entwicklungsländer nationalen als auch internationalen Strukturwandel voraus, den die vom Strukturalismus identifizierten Marktakteure – Produzenten und Konsumenten – offensichtlich nicht zu induzieren in
der Lage sind. Auch hier deutet sich wiederum eine Verwechslung von Wesen
und Erscheinungsform an, da ökonomische Entwicklung sich in Strukturwandel
ausdrückt, ihn aber nicht voraussetzen kann.
2.1.2 Dualismus
Die internationale Arbeitsteilung zwischen Zentrum und Peripherie führt nicht
nur zu einer Marginalisierung der Primärgüterexporteure im Rahmen des Welthandels, sondern findet auch ihre Entsprechung in der Binnenwirtschaft der Entwicklungsländer. Diese ist in einen sogenannten modernen Sektor, bestehend aus
der Exportindustrie, und in einen die restliche Ökonomie umfassenden traditionellen Sektor aufgespalten. Die Begriffe ›Tradition‹ und ›Moderne‹ stellen einen
ökonomischen, sozialen und kulturellen Gegensatz dar, der anhand von Kriterien
wie beispielsweise der Produktivität, der Technologieintensität der Produktion
oder der Mobilität von Produktionsfaktoren identifiziert wird und sich einerseits
in einer Subsistenzwirtschaft mit stagnierendem Einkommensniveau und ande-
36
Der strukturalistische Staat
rerseits in einem profitmaximierendem, expandierendem Unternehmertum manifestiert.12 Die Grundsteinlegung für die Herausbildung dieser dualen Struktur
erfolgte nach Myrdal im Rahmen der Kolonialisierung, die er als eine Art exogenen Schock faßt, dessen kumulative Dynamik in der Beibehaltung oder Vertiefung des Zustandes endet, der erst durch den exogenen Schock hervorgerufen
wurde, so daß die Enklavenbildung in Form eines Zirkelschlusses sowohl die
Ursache als auch das Resultat von Unterentwicklung darstellt. »Das Kapital, die
Unternehmen und die gelernten Arbeitskräfte, die von einer Kolonialmacht in ein
abhängiges Land geschickt wurden, hatten natürlich die Tendenz, Enklaven zu
bilden, die aus der umgebenden Wirtschaft herausgehoben und isoliert blieb. Ihre
wirtschaftlichen Beziehungen mit der einheimischen Bevölkerung waren auf
deren Beschäftigung als ungelernte Arbeiter beschränkt. (...) Diese Trennung
behinderte die Übernahme der Kultur einschließlich der Technik und des Unternehmungsgeistes durch die einheimische Bevölkerung. Dies ist einer der wichtigsten Gründe dafür, warum die beschriebenen wirtschaftlichen Anfänge des
Kolonialismus Enklaven blieben, sowie auch dafür, warum die Ausbreitung des
expansiven Momentes nur äußerst schwach war oder gar fehlte.«13
Das Wachstumspotential des traditionellen Sektors wird aufgrund der mangelnden Investitionsfähigkeit und -neigung der heimischen Unternehmen als
gering eingeschätzt. Dabei erfolgt ein Rückgriff auf Teufelskreise der Armut, die
die Investitionstätigkeit von der Nachfrage- sowie Angebotsseite her begrenzen.
»On the supply side, there is the small capacity to save, resulting from the low
level of real income. The low real income is a reflection of low productivity,
which in its turn is due largely to the lack of capital. The lack of capital is a result of the small capacity to save, and so the circle is complete. On the demand
side, the inducement to invest may be low because of the small buying power of
the people, which is due to their small real income, which again is due to low
productivity. The low level of productivity, however, is a result of the small
amount of capital used in production, which in its turn may be caused at least
partly by the small inducement to invest.«14
——————
12 Zur Diskussion um die unterschiedliche Differenzierung der beiden Sektoren vgl. Barber,
W. (1970), Dualism Revisited: Economic Structures and the Framework of Economic Policy in a Post–Colonial Setting, in: Streeten, P. (Hrsg.), Unfashionable Economics: Essays
in Honour of Lord Balogh, London: Weidenfeld and Nicolson, S.33–52, S.34–39.
13 Myrdal (1974), S.65.
14 Nurkse, R. (1966), Problems of Capital Formation in Underdeveloped Countries, Oxford:
Basil Blackwell, S.5.
Deformation des Marktprozesses
37
Die Angebotsrestriktion wirkt auf den heimischen Unternehmenssektor insgesamt stärker und umfassender, da selbst bei einer unterstellten positiven Investitionsneigung eine Investition aufgrund der unzureichenden Ersparnisse unterbleiben muß. Diese Vorstellung geht auf das Konzept der Sparlücke zurück, die
damit an das Harrod-Domar-Modell anknüpft. Der gegebene kurzfristig fixe
Bestand an finanziellen Ressourcen ist für die notwendigen Investitionen, die
getätigt werden müssen, um ein höheres Entwicklungsniveau zu erreichen, nicht
ausreichend. Dabei gelten die heimischen Ersparnisse in Form von Depositeneinlagen bei heimischen Geschäftsbanken und nicht deren Kreditangebot als finanzielle Ressourcen. Während demzufolge der durch die Subsistenzwirtschaft charakterisierte traditionelle Sektor aus Ermangelung eigener Ersparnisse eine ungenügende Investitionsdynamik aufweist, verfügen die im Exportsektor konzentrierten transnationalen Konzerne durchaus über ausreichende finanzielle Mittel.
Dennoch realisieren auch sie damit keine über den Exportsektor hinausgehenden
Investitionen, was auf die Enge der heimischen Absatzmärkte zurückgeführt
wird.15 Demnach ist für die ausländischen Konzerne die Nachfrage-, und nicht
wie im Falle der heimischen Unternehmen die Angebotsseite die restriktivere.
Profite werden entweder im Exportsektor re-investiert oder in Form von Gewinnübertragungen selbst exportiert, so daß Spill-over-Effekte auf die heimische
Ökonomie außerhalb des Exportsektors im wesentlichen ausbleiben. 16 «Without
an adequat domestic market, little capital was applied to production in the nonexport portion of the economy and the specialization of labor could not proceed.
Productivity remained at a low level and general income was small. Thus, a
thriving export industry could operate for decades alongside a stagnating, poverty stricken domestic sector.«17
——————
15 Vgl. Nurkse (1966), S.24–31.
16 Eine kritische Diskussion, die die Notwendigkeit von Direktinvestitionen für den Entwick-
lungsprozeß betont, aber staatliche Regulierungen dafür einfordert, findet sich in: Ffrench–
Davis, R., Arancibia, S.(1972), Notes on Foreign Capital and Latin America, in: Di Marco,
L.E. (Hrsg.), International Economics and Development: Essays in Honor of Raúl
Prebisch, New York, London: Academic Press, S.369–386. Der Rolle von
Dirketinvestitionen widmet der think tank der (neo–)strukturalistischen Schule in dem
Grundsatzpapier für die 90er Jahre nicht einmal eine ganze Seite. Siehe Economic Commission for Latin America and the Caribbean (ECLAC) (1990), Changing Production Patterns with Social Equity, Santiago, Chile: United Nations, S.45.
17 Levin, J.v. (1968), The Export Economies, in: Theberge, J.D. (Hrsg.), Economics of Trade
and Development, New York et. al.: John Wiley and Sons, Inc., S.11–34, S.24.
38
Der strukturalistische Staat
So sind Entwicklungsländer letztlich mit einer parallelen, wenngleich auch
nahezu unverbundenen Existenz zweier Sektoren konfrontiert, die inhärent über
nicht ausreichende Entwicklungsimpulse verfügen, die eine Überwindung des
Status Quo erlaubten. Zu geringe heimische Ersparnisse und fehlende Investitionsanreize stellen die begrenzenden Faktoren dar, begründen gleichzeitig die
Beharrlichkeit dieser dualistischen Struktur und münden in »(...) a somewhat
lop-sided pattern of development in the peripheral areas«18. Einzig der der strukturalistischen Schule ebenfalls zuzurechnende Hirschman kommt zu dem Schluß,
daß die Investitionstätigkeit nicht bereits in der Anfangsphase der Entwicklung
durch die heimischen Ersparnisse begrenzt wird und weist »(T)his belief in the
strategic importance of capital«19 zurück. Nach Hirschman werden die Ersparnisse erst in einer qualitativ nicht näher definierten Expansionsphase des modernen Sektors zu einer bindenden Restriktion der Einkommensbildung. Neostrukturalisten konzidieren zwar eine zunehmende Schwäche bei der Mobilisierung
des internen Sparpotentials aufgrund mangelnder monetärer Stabilität wie Inflationsprozessen und häufigen Abwertungen der heimischen Währungen, betonen
jedoch dennoch die Notwendigkeit eines Nettokapitalimportes für eine nachholende Entwicklung. Nach der Verschuldungskrise der 80er Jahre wird jedoch
einem Nettokapitalimport in Form von Direktinvestitionen und langfristigen
Krediten einem Zufluß an Portfolioinvestitionen und Krediten kurzfristiger
Laufzeit deutlich Priorität eingeräumt.
Schlußfolgerungen: Dualismus
Um die Teufelskreise der Armut zu durchbrechen, muß erstens die Sparlücke
geschlossen werden. Dabei ist anzumerken, daß das Konzept der Sparlücke als
solches kein originär strukturalistisches Element darstellt, deren strukturalistische
Interpretation sich aber von der postkeynesianischen oder liberalen Variante
durch ihren expliziten Bezug auf historische Konstellationen und somit ihren Begründungszusammenhang unterscheidet. Das hindert sie jedoch nicht daran,
einen Verbleib in der Allokationstheorie anzuzeigen.
——————
18 Nurkse (1966), S.25. Zu geringe (interne und externe) Ersparnisse werden auch heute noch
als wesentliches Entwicklungs– und Wachstumshindernis betrachtet. Vgl. ECLAC (1990),
S.49–51.
19 Hirschman, A.O. (1958), The Strategy of Economic Develoment, New Haven: Yale University Press, S.1, vgl. auch seine Ausführungen S.29–49.
Deformation des Marktprozesses
39
Das Schließen der Sparlücke – und in dieser Hinsicht differieren die unterschiedlichen Sparlückenkonzepte – kann zweitens nicht durch die heimischen
Marktakteure erfolgen, da gerade deren geringes Einkommensniveau ihre Existenz begründet. Dies impliziert nichts anderes, als daß Entwicklungsländer zunächst a priori kein über den Marktprozeß zu mobilisierendes Einkommens- und
Wachstumspotential aufweisen, das offensichtlich erst nach einer Initialzündung
durch eine exogene Instanz qua einem ökonomischen Urknall, sich herauszubilden beginnen kann. Die These, daß dieses Potential im Verlauf der Kolonialisierung entscheidend geschwächt wurde, kann nicht aufrechterhalten werden, so
lange von einer fast vollständigen Trennung zwischen modernem und traditionellem Sektor ausgegangen wird und letzterer sich in seiner ursprünglichen Form
dennoch nicht zu entwickeln vermag.
Das Schließen der Sparlücke ist drittens lediglich eine notwendige, jedoch
keine hinreichende Bedingung für ökonomische Entwicklung. Diese wird darüber
hinaus an die Ausstattung mit und Verfügung über Primärgüter, allgemeiner formuliert eine Ressourcenausstattung, gebunden. Der Hinweis auf die Enge des
heimischen Marktes als Ursache für die ausbleibende Investitionsdynamik außerhalb des rohstoffverarbeitenden Sektors bekräftigt nur das vorangegangene Argument und deutet gleichzeitig auf das Fehlen eines preistheoretischen Fundaments innerhalb des Strukturalismus hin. Ersteres, weil die in der Primärgüterproduktion tätigen transnationalen Konzerne offensichtlich keinerlei Restriktion
hinsichtlich der Ersparnisse unterliegen, und sie dennoch keine Investitionen zur
Erschließung des Binnenmarktes durchführen. Letzteres, weil der Weltmarkt immer die Referenzgröße bildet und eine Beschränkung der unternehmerischen
Expansion auf den nationalen Markt nicht eine fehlende Nachfrage, sondern eine
fehlende Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens und im Falle des gesamten
Unternehmenssektors eines ganzen Landes bei gegebenen Preisen zum Ausdruck bringt.
2.1.3 Angebotsrigiditäten
Entwicklungsländer weisen nach Ansicht der Strukturalisten umfangreiche Angebotsrigiditäten auf, die im Verlauf des Entwicklungsprozesses aufgebrochen,
aber erst in einem späteren Entwicklungsstadium überwunden werden können.
Die Rigiditäten, die sich in den geringen Preiselastizitäten des vor allem land-
40
Der strukturalistische Staat
wirtschaftlichen, aber auch industriellen Produktionsangebotes ausdrücken, wirken wachstumshemmend und verursachen inflationäre Effekte. Bei gesamtwirtschaftlich erhöhter Nachfrage entweder aufgrund einer Steigerung des Pro-KopfEinkommens bei gegebener Bevölkerung oder eines Bevölkerungswachstums bei
gegebenem Pro-Kopf-Einkommen erfolgen trotz Preiserhöhungen zunächst keine oder nur geringfügige Mengenanpassungen des heimischen Angebotes. Die
ungenügenden Produktionsanpassungen werden auf folgende vier Faktoren zurückgeführt: die allgemein niedrige Produktivität von Landwirtschaft und Industrie, die in Entwicklungsländern trotz positiver Gewinnerwartungen geringere
Bereitschaft sowie mangelnde Fähigkeit von Unternehmen, Geldvorschüsse in
die Produktion zu leisten und die institutionellen Hindernisse. 20 Während letzteres sich zumeist auf das durch Mini- und Latifundien geprägte landwirtschaftliche Pachtsystem bezieht, werden die potentiellen Unternehmer durch die Vielzahl möglicher Investitionsprojekte kombiniert mit »over-sanguine expectations«
(Hirschman), die zukünftigen im Vergleich zu aktuellen Investitionen höhere
Renditen zuordnen, sowie nicht ausgebildeten Kapitalmärkten überfordert. Profitmaximierende Unternehmen stellen darüber hinaus überhaupt nur eine quantitativ geringe Schicht in Entwicklungsländern dar, deren bedeutendste Investitionsträger Staat und Familie sind, wobei diese wiederum ihre Investitionsentscheidungen nicht vorwiegend auf Preis- oder Nachfrageveränderungen gründen.21 Obgleich Neo-Strukturalisten durchaus eine zunehmende Orientierung der
Unternehmensentscheidungen am Markt sowie einen ansteigenden Einfluß desselben auf das private Investitionsverhalten konstatieren, verbleibt der Hinweis
auf die von Industrieländern divergierende Bildung und Umsetzung von Präferenzen, die eine simple Übertragung von theoretischem Modell und wirtschaftspolitischen Empfehlungen der mainstream economics ausschließen soll: »But
there are also patterns of behaviour which are historically conditioned by cultural
factors, perceptions of risk or economic and institutional structures.« 22
——————
20 Vgl. González, N. (1988), An Economic Policy for Development, in: Cepal Review Nr. 34,
S.7–17, S.8. Vgl. auch Hirschman (1958), S.1–24 und S.162–163.
21 Vgl. Brohman, J. (1995), Economism and Critical Silences in Development Studies: A
Theoretical Critique of Neoliberalism, in: Third World Quarterly Nr. 2, S.297–318,
S.299ff. Vgl. auch Nitsch, M. (1998), Vom Nutzen des monetär–keynesianischen Ansatzes
für Entwicklungstheorie und –politik, Freie Universität Berlin, unveröffentlichtes
Manuskript, S.11ff.
22 Bitar, S.(1988), Neo–Conservatism versus Neo–Structuralism in Latin America, in: Cepal
Review Nr. 34, S.45–62, S.55 bzw. S.58–59.
Deformation des Marktprozesses
41
Da der Aus- und Aufbau von Produktionskapazitäten demnach nicht nur von
prinzipiell optimistischen Profiterwartungen abhängig ist und letztere durch
marginale Preiserhöhungen nicht wesentlich verbessert werden, müssen die
Preissteigerungen der von Nachfrageveränderungen betroffenen Güter außergewöhnlich hoch sein, um die die Investitionstätigkeit dämpfenden sozio-ökonomischen Faktoren zu kompensieren und positive Mengeneffekte erzielen zu können. »(W)hen they [entrepreneurs, MM] are somewhat more sluggish and
inclined never to act except on the basis of incontrovertible evidence that a lot of
money can indeed be made in this or that venture, then the use of price signals
will be far more widespread and intensive.«23 Shapiro/Tayler beispielsweise
benennen aufgrund »an established rule of thumb« eine erwartete Gewinnspanne
von mindestens 30 - 40 % ergänzt um zusätzliche Anreize als Voraussetzung für
die Aufnahme der Produktion neuer landwirtschaftlicher und industrieller Güter.24 In einer offenen Volkswirtschaft verursacht eine Überschußnachfrage jedoch nicht Preiserhöhungen, die Extraprofite in diesem Ausmaß erlauben, sondern einen Importsog, der, wenn die Importausgaben die durch Exporte erwirtschafteten Devisenreserven übersteigen, in einer Akkumulation von Auslandsverschuldung und kontinuierlichen Abwertungen mündet. Erst die Rationierung
von Devisen und Importen, ergänzt um die Annahme, daß der geringen Preiselastizität des heimischen Angebotes eine mindestens ebenso geringe Preissowie eine hohe Einkommenselastizität der Nachfrage gegenübersteht, bewirkt,
daß selbst moderate Steigerungen des Pro-Kopf-Einkommens in einer Überschußnachfrage mit zunächst sektoralen Preiserhöhungen kulminieren. 25 Sowohl
die technologische Beschaffenheit der Produktionsverfahren bzw. -güter der
»late late industrializers« (Hirschman) als auch die im Verlauf des Entwicklungsprozesses zu erfolgenden Einkommenserhöhungen lassen kompensierende
Preissenkungstendenzen in anderen Bereichen kaum erwarten, so daß sektorale
tendenziell in gesamtwirtschaftliche Preisniveausteigerungen übergehen. 26
——————
23 Hirschman (1958), S.159.
24 Shapiro, H., Taylor, L. (1990), The State and Industrial Strategy, in: World Development
Nr. 6, S.861–878, S.865.
25 Vgl. Weisskoff, R. (1971), Demand Elasticities for a Developing Economy: An Interna-
tional Comparison of Consumption Patterns, in: Chenery, H.B., Bowles, S., Falcon, W. et.
al. (Hrsg), Studies in Development Planning, Cambridge, Mass.: Harvard University Press,
S.322–358. Die geringe Preiselastizität der Nachfrage wird durch Weiskoffs empirische
Analyse allerdings nicht bestätigt.
26 Vgl. Hirschman (1958), S.158–159.
42
Der strukturalistische Staat
Unter gegebenen Bedingungen sind Entwicklungsländer daher mit regelmäßig auftretenden Zahlungsbilanzkrisen oder mit inflationären Schüben konfrontiert.27 Da die Industrialisierung mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Strukturveränderungen, die Brüche und Verwerfungen beinhalten, einhergeht,
und damit eine zeitliche quantitative und qualitative Identität von heimischem
Angebot und Nachfrage als Spezialfall des Entwicklungspfades begriffen wird,
erscheint die Inflation als notwendige, wenngleich auch ambivalente Begleiterscheinung des Aufholprozesses, an dessen Ende erst Wachstum mit monetärer
Stabilität vereinbar ist. Letzteres setzt eine vollständige Auflösung der Rigiditäten voraus, so daß das gesellschaftliche und ökonomische System der Entwicklungsländer von modernen, mit denjenigen der Industrieländer vergleichbaren
Technologien28 durchdrungen ist, eine Anpassung der Produktionsfaktoren an
Marktsignale ohne Verzögerung erfolgen kann und damit einer beständigen
Überschußnachfrage die Grundlage entzogen ist. »Development, therefore,
would require creating the conditions under which capitalism could work, i.e.
functioning labour and capital markets and national market integration.« 29 Wiewohl erkannt wird, daß eine akkommodierende Geldpolitik notwendige Voraussetzung für das Umschlagen inflationärer Impulse in eine akzelerierende Inflation ist, werden die damit assoziierten negativen Auswirkungen insbesondere auf
die Ersparnisbildung und Verteilung gegenüber den Konsequenzen einer stabilitätsorientierten Politik von Strukturalisten als insgesamt geringer veranschlagt.
Die Akzeptanz einer hohen Inflation als eine dem Wachstumsprozeß inhärente
Begleiterscheinung ist innerhalb der neostrukturalistischen Debatte niedriger,
was in der in kaum einem neostrukturalistischen Dokument fehlenden Forderung
nach Aufrechterhaltung der makroökonomischen Gleichgewichte zum Ausdruck
kommt. Allerdings berührt die doch deutlich verhaltenere Position der Neostrukturalisten lediglich die Höhe und nicht die Existenz der wachstumsbedingten
Inflation als solche und kann deshalb nicht als eine theoretische Weiterentwicklung oder gar als Bruch mit dem strukturalistischen Argument interpretiert werden.
——————
27 Vgl. Prebisch (1961). Vgl. weiterhin Seers, D. (1964), Inflation and Growth: The Heart of
the Controversy, sowie Grundwald, J. (1964), Invisible Hands in Inflation and Growth in
Latin America, beide in: Baer, W., Kerstenetzky, I., Inflation and Growth in Latin America, Homewood, Illinois: Richard D. Irwin, S.89–103 bzw. S.290–318.
28 Hierbei wird ein weiter Technologiebegriff zugrunde gelegt. Insofern beinhaltet Technologie nicht nur die typische hardware in Form von Maschinen, sondern auch Produktionsverfahren und nicht zuletzt Managementkapazitäten sowie Unternehmenskultur.
29 Shapiro/Taylor (1990), S.863.
Deformation des Marktprozesses
43
Eine permanente Beschränkung der Einkommensbildung auf die zur Verfügung stehenden Exporteinnahmen als Alternative zu einem Wachstumsprozeß
mit Inflation wird jedoch angesichts der säkulären Verschlechterung der terms of
trade, des Bevölkerungswachstums sowie dem steigenden Urbanisierungsgrad
als eine Abkehr vom Ziel der Entwicklung und eine Akzeptanz weitreichender
Stagnation interpretiert.30
Schlußfolgerungen: Angebotsrigiditäten
Somit ist erstens eine kontinuierliche Erhöhung der Pro-Kopf-Einkommen in Entwicklungsländern aus strukturalistischer Sicht zunächst nicht ohne Inflation möglich. Erst wenn im Verlauf des Entwicklungsprozesses das gesamtwirtschaftliche
Angebot den Industrieländern vergleichbare Preiselastizität aufweist, resultieren
Nachfrageerhöhungen nicht ausschließlich in Preis-, sondern auch in entsprechenden Mengeneffekten.
Eine Bekämpfung der durch die Angebotsrigiditäten bedingten Inflation mittels
Zinssatzerhöhungen oder Kreditrestriktionen kann zweitens die eine Inflation
verursachenden Faktoren nur um den Preis einer gesamtwirtschaftlichen Rezession unterdrücken, sie jedoch keineswegs abschwächen oder gar auflösen. Durch
eine über die strukturellen Faktoren hinausgehende geld- und/oder fiskalpolitisch
induzierte Verknappung des heimischen Angebotes werden Ressourcen vernichtet, die Defekte des Wirtschaftssystems verstärkt und damit insgesamt die Entwicklungsbemühungen zurückgeworfen.
Dem Dilemma von Inflation und Zahlungsbilanzkrisen dauerhaft zu entrinnen
erfordert drittens, daß die Angebotsrigiditäten aufgebrochen und allmählich überwunden werden, wobei die mittel- bis langfristige Überwindung der supply
bottlenecks nicht durch private Akteure initiiert und gelenkt werden kann, da gerade deren Erwartungsbildungsprozeß und das kurzfristig orientierte Investitionsverhalten die Existenz dieser Rigiditäten begründet.
——————
30 Dabei wird häufig auf Berechnungen rekurriert, denen ein Bevölkerungswachstum von 3%
plus eine um einen Prozentpunkt pro Jahr ansteigende städtische Bevölkerung zugrunde
gelegt wird. Deshalb wird bereits bei einem konstanten Pro-Kopf-Einkommen eine sich um
4–5% pro Jahr anwachsende Angebotslücke insbesondere von Nahrungsmitteln prognostiziert.
44
Der strukturalistische Staat
2.1.4 Einkommens- und Vermögenskonzentration
Die Dualität der Wirtschaftssektoren spiegelt sich ebenfalls in der Verteilung
von Einkommen und Vermögen wider. Das gesamtwirtschaftliche Einkommen
konzentriert sich einerseits auf die sogenannten ausländischen Faktoren in Form
von Gewinnen der transnationalen Konzerne sowie der Gehälter ihrer aus dem
Mutterland des Unternehmens stammenden Mitarbeiter und andererseits auf eine
marginale Schicht von heimischen Arbeitnehmern, die im unteren oder mittleren
Management dieser Konzerne beschäftigt sind und deren Einkommen das der
sonstigen Arbeiter im modernen, geschweige denn im traditionellen Sektor um
ein Vielfaches übersteigt. Diese relativ kleine Gruppe heimischer Einkommensbezieher unterscheidet sich von der übrigen Bevölkerung nicht nur durch ihre
hohen Bezüge, sondern darüber hinaus durch ihre kulturelle Ausrichtung und
Identität. Diese ist durch den way of life der (ehemals) kolonialen Mutterländer
geprägt, was sich insbesondere in den Konsumgewohnheiten dieser Haushalte
niederschlägt und in sogenannten Luxusgüterimporten zum Ausdruck kommt. 31
Eine hoch konzentrierte Einkommensverteilung führt in Entwicklungsländern
demzufolge nicht notwendigerweise, wie zunächst häufig angenommen wurde,
zu einer gesamtwirtschaftlich höheren Sparquote, die eine Beschleunigung der
Investitions- und Wachstumsdynamik erlaubte. Statt dessen erfolgt eine »unzweckmäßige Verwendung« (Prebisch) der Einkommen dieser Bevölkerungsschicht, so daß das Volumen der tatsächlich realisierten heimischen Ersparnisse
unter dem Niveau des endogenen Sparpotentials verbleibt und die Allokation der
ohnehin knappen Devisenreserven suboptimal erfolgt: »So werden häufig Gelegenheiten des Sparens und der wirksamen Verwendung von Währungsreserven
für produktive Einfuhren preisgegeben.«32
In einem Aufsatz, der den Herausforderungen Lateinamerikas in Zeiten der
Hyperinflation und hoher Auslandsverschuldung gewidmet und der neostrukturalistischen Debatte um eine politische und ökonomische Neuorientierung
zuzuordnen ist, werden abgesehen von dem Austausch des Begriffs ›Kolonialländer‹ durch ›entwickelte Länder‹ die Kernaussagen bestätigt und damit die
Kontinuität des Argumentes gewahrt: »The conflict over income distribution
sharpened as the development process continued. The high-income strata of the
population acquired luxury goods in what amounted to a premature imitation of
——————
31 Vgl. Levin (1968), S.19–22.
32 Prebisch (1968a), S.42.
Deformation des Marktprozesses
45
the consumption pattern of developed countries, thereby hampering efforts to
achieve the levels of saving and productive investment necessary for growth
while, at the same time, meeting the needs of the poorer segments of the population.«33
Über die Vertiefung der Spar- und Devisenlücke hinaus wird die Herausbildung eines genuinen Binnenmarktes durch die Einkommenskonzentration entscheidend geschwächt. Die Nachfrage der einkommensstarken Haushalte wird
quantitativ als zu gering eingeschätzt, gemessen an demjenigen Absatzvolumen,
das für den Aufbau heimischer Produktionskapazitäten, die eine Ausschöpfung
der economies of scale erlaubten, als notwendig betrachtet wird. So müssen
selbst Güter, die unter gegebenen Bedingungen in Entwicklungsländern prinzipiell produziert werden könnten, importiert werden, und die potentiellen Entwicklungsimpulse der Exportenklaven auf die restliche Ökonomie können sich nicht
entfalten. «As it was, against the background of a poor, non-monetized selfsufficient subsistence sector, the concentration of a large share of export industry
income in the hands of foreign factors and a small group of luxury importers
frustrated the development of a domestic mass market for anything above the
subsistence level.«34
Neben den Einkommen, die im Zentrum der strukturalistischen Debatte um
equity and distribution stehen, wird in den 70er Jahren zunehmend die Konzentration von Vermögen thematisiert.35 Dabei wird der vom Kolonialregime induzierten Vermögensverteilung eine herausragende Bedeutung für die in Entwicklungsländern vorherrschende Armut zugewiesen. Basierend auf empirischen
Studien wird der überwiegende Anteil von verarmten Bevölkerungsschichten in
ländlichen Gebieten verortet. Insbesondere die mangelnde Verfügung über
Grund und Boden sowie das damals noch häufig anzutreffende feudalistische
System von Latifundien werden als strukturelle Faktoren identifiziert, die Verarmungsprozesse sowohl verursachen als auch vertiefen. 36 Sie verursachen Armut, da der ländlichen Bevölkerung, die vom Zugang zu Farmland in einer
kommerzialisierbaren Größe ausgeschlossen ist, maximal die Möglichkeit zur
——————
33 Gonzáles (1988), S.8.
34 Levin (1968), S.22.
35 Einen guten Überblick über diese Diskussionszusammenhänge bieten Chenery, H.,
Ahluwalia, M.S., Bell, C.L.G. et.al. (Hrsg.) (1976), Redistribution with Growth, Oxford:
Oxford University Press, 3. Auflage.
36 Vgl. insbesondere Ahluwalia, M.S. (1976a), Income Inequaltiy: Some Dimensions of the
Problem, in: Chenery/Ahluwalia/Bell et.al. (Hrsg.), S.3–37, S.16ff.
46
Der strukturalistische Staat
Erwirtschaftung eines Subsistenzeinkommens verbleibt. Weiterhin erfolgt die
kaum das Existenzminimum überschreitende Entlohnung der landlosen (Wander-)Arbeiter nicht immer ausschließlich in monetärer Form, sondern wird häufig in Naturalien abgegolten. In beiden Fällen jedoch kann eine Akkumulation
und damit ein Herauswachsen aus der Marginalisierung nicht erfolgen. 37 Darüber hinaus werden Abwanderungsprozesse in die städtischen Regionen in der
Hoffnung auf quantitativ und qualitativ bessere Erwerbseinkommen induziert,
ohne daß diese auch nur annähernd adäquate Aufnahmekapazitäten hinsichtlich
der dazu erforderlichen kommunalen Infrastruktur oder der Beschäftigungsmöglichkeiten aufweisen. Die strukturellen Faktoren vertiefen aber auch bereits existierende Armutstendenzen, da Haushaltseinkommen nicht nur von Löhnen und
Gehältern, sondern auch von den Renditerückflüssen der vorhandenen Vermögenswerte gespeist werden und damit selbst bei theoretisch gleichen Erwerbseinkommen die relativen Einkommensdifferenzen zunehmen.38
Nach strukturalistischer Auffassung verhindert demzufolge die Konzentration
des gesamtwirtschaftlichen Vermögens, worunter neben Boden und Geldvermögen auch Humankapital eine immer stärkere Berücksichtigung erfährt, auf ein
geringes Segment der Bevölkerung eine Angleichung der Einkommen der Haushalte sowie ihres materiellen und sozialen Lebensstandards, in dem sie die Einkommensströme dauerhaft perpetuiert. Aus dem Mangel an der Verfügung über
Vermögenswerte werden weitere, sich nachteilig auf die finanzielle Situation
niederschlagende Folgewirkungen abgeleitet. Für die ländliche Bevölkerung sind
darunter vor allem der erschwerte Zugang zu Krediten, höhere Kosten bei der
Kreditgewährung, relativ höhere Inputpreise sowie die verzögerte Übernahme
von technologischen Weiterentwicklungen zu nennen, 39 während das geringe
Angebot an Arbeitsplätzen im formellen Sektor, mangelnde Gesundheitsvorsorge, fehlende Wohnmöglichkeiten und eine unzureichende schulische und berufliche Qualifikation insbesondere für die städtischen working poor als entwicklungshemmend identifiziert werden.40
——————
37 Vgl. Bell, C.L.G., Duloy, J.H. (1976), Rural Target Groups, in: Chenery/Ahluwalia/Bell
et.al. (Hrsg.), S.113–135.
38 Vgl. Ahluwalia, M.S., Chenery, H. (1976), The Economic Framework, in: Chen-
ery/Ahluwalia/Bell et.al. (Hrsg.), S.38–51, S.43ff.
39 Vgl. Bell/Duloy (1976), S.125–128.
40 Vgl. Rao, D.C. (1976), Urban Target Groups, in: Chenery/Ahluwalia/Bell et.al. (Hrsg.),
S.136–157. Vgl. ECLAC (1990), S.14–17 und besonders Kapitel V, S.107ff.
Deformation des Marktprozesses
47
Schlußfolgerungen: Einkommenskonzentration
Zusammenfassend kann erstens festgehalten werden, daß selbst lang anhaltende Phasen wirtschaftlicher Entwicklung nicht automatisch in einer Reduzierung
der Einkommens- und Vermögensdifferentiale münden und somit ein kausaler
Zusammenhang zwischen Wachstum und Verteilung nicht erkennbar scheint.41
Während zunächst noch davon ausgegangen wurde, daß eine in der frühen Entwicklungsphase weiter zunehmende Einkommens- und Vermögenskonzentration
zu einer höheren Investitions- und damit Wachstumsrate mit langfristig positiven
Trickle-down-Effekten führt, wird seit Beginn der 70er Jahre selbst in einem frühen Entwicklungsstadium ein zwingend notwendiger trade-off von Wachstum und
Verteilung negiert.
Da das Phänomen weit verbreiteter Armut nicht automatisch aufgrund höherer
Wachstumsraten reduziert werden kann,42 erfordert eine Umkehr der Verarmungsprozesse zweitens Eingriffe in dieses System. Dabei kann die Intervention sowohl auf eine Veränderung der Erstausstattung, d.h. eine Umverteilung des
bestehenden Vermögens abzielen als auch die Aneignung des Zuwachses an
Einkommen im Rahmen eines Wachstumsprozesses zugunsten der marginalisierten Haushalte diskriminieren.
Da aber die Anpassung der Wirtschaftssubjekte an diese Veränderungen erst
mittel- bis langfristig wirksam wird, ist es drittens kurzfristig notwendig, die Folgewirkungen der Einkommens- und Vermögenskonzentration durch entsprechende
Sofortmaßnahmen zu kompensieren.
——————
41 Vgl. Ahluwalia (1976a), S.11–16.
42 Vgl. auch Sunkel/Zuleta (1990), S.41.
2.2 Allokatives Versagen
des Preismechanismus
Die Herausbildung von Preisen, verstanden als direkte und unmittelbare Knappheitssignale der angebotenen und nachgefragten Mengen, ist für ökonomische
Akteure von herausragender Bedeutung, da Preise nicht nur Orientierungslinien
für die aktuelle Disposition über Vermögen und Einkommen darstellen, sondern
darüber hinaus in die Bildung von Erwartungen über zukünftige (ökonomische)
Ereignisse einfließen. Sie beeinflussen daher insbesondere Gewinnerwartungen
und somit Investitionsentscheidungen, die Grundlage von Wachstum und Einkommensbildungsprozessen sind. Im Mittelpunkt der strukturalistisch inspirierten Analyse um Marktversagen und Preisverzerrungen stehen die Bildung von
Monopolen und die Existenz von Externalitäten (Kapitel 2.2.1), Lohnrigiditäten
(Kapitel 2.2.2) sowie Einkommensansprüche von unterschiedlichen sozialen, am
gesellschaftlichen Willensbildungsprozeß beteiligten Gruppen (Kapitel 2.2.3),
die alle dazu führen, daß die am Markt gebildeten Preise die vorhandenen Mengen unter- oder überbewerten.
2.2.1 Marktunvollkommenheiten
Binnenmärkte der Entwicklungsländer sind durch zahlreiche Marktunvollkommenheiten gekennzeichnet, die vor allem auf (positive) externe Effekte von Investitionen, aber auch auf eine geringe heimische Nachfrage und ansteigende
economies of scale zurückgeführt werden. Während die geringe am Binnenmarkt
wirksam werdende heimische Nachfrage aus einer Kombination von einem relativ geringen Pro-Kopf-Einkommen, einer relativ hoch konzentrierten Einkommensverteilung und von auf westlichen Konsummustern basierenden Präferenzstrukturen resultiert, bestehen die durch langfristig sinkende Durchschnittskosten
hervorgerufenen economies of scale entweder auf der nicht stetigen Teilbarkeit
Versagen des Preismechanismus
49
oder auf der (globalen) Unteilbarkeit von Großprojekten. 43 Beide Phänomene –
die quantitativ geringe heimische Nachfrage sowie steigende economies of scale
– rufen die Bildung von Oligopolen bzw. im Extremfall auch von (natürlichen)
Monopolen hervor. Unvollständiger Wettbewerb aufgrund einer marktbeherrschenden Position eines oder mehrerer weniger national operierender Anbieter
mündet gemessen an einem Marktgleichgewicht unter vollständiger Konkurrenz
in ein geringeres Angebot von Gütern und Dienstleistungen zu jeweils höheren
Preisen und ist somit aus allokationstheoretischer Perspektive als suboptimal zu
qualifizieren. Wenn von einer staatlichen Subventionierung abgesehen wird, ist
es im Bereich sinkender Durchschnittskosten immer erforderlich, von der
Grenzkostenpreisregel abzuweichen, da andernfalls dauerhaft ein Defizit erwirtschaftet wird. Demgegenüber wird zur Kompensation für das geringe, auf dem
heimischen Markt absetzbare Verkaufsvolumen zumindest temporär von einem
höheren Preisniveau ausgegangen, das erst im Verlauf des Entwicklungsprozesses mit steigendem Pro-Kopf-Einkommen korrigiert werden kann. Der Aufbau
von bestimmten Produktionszweigen, die von der Lieferung von Vorprodukten
durch Oligopole bzw. Monopole abhängig sind, können demnach aufgrund des
temporär oder sogar dauerhaft über dem Gleichgewichtspreis sich befindenden
Güterpreises erschwert oder sogar gänzlich verhindert werden.44
Als wichtigste der Marktunvollkommenheiten jedoch gelten externe Effekte,
die im Rahmen von Investitionsprozessen für Unternehmen anfallen, welche die
Investitionen gerade nicht durchgeführt haben. Dabei können die generell als
positiv eingestuften externen Effekte sowohl in pekuniärer als auch in nichtpekuniärer Form auftreten (vgl. auch Übersicht 1). Innerhalb der zuerst genannten Kategorie der pekuniären Effekte befinden sich solche, die bei der Verwendung von Einkommen bzw. Einkommenszuwächsen als Folge von Investitionen
entstehen. Dieses Einkommen der Arbeitnehmer wird nicht nur gegenüber demjenigen Unternehmen nachfragewirksam, das Investition durchführt und damit
——————
43 Vgl. Chenery, H.B., Westphal, L.E. (1979), Economies of Scale and Investment over Time,
in: Chenery, H.B. (Hrsg.), Structural Change and Development Policy, Washington, D.C.:
International Bank for Reconstruction and Development, S.217–267, S.218–221.
44 Vgl. Chenery, H.B. (1979), The Interdependence of Investment Decisions, in: Chenery,
H.B. (Hrsg.), Structural Change and Development Policy, Washington, D.C.: International
Bank for Reconstruction and Development, S.173–216, S.211–212. Die marktbeherrschende Position der angesprochenen Mono– bzw. Oligopole muß sich ausschließlich auf den
heimischen Binnenmarkt beziehen. Unter Berücksichtigung einer vollständig offenen
Volkswirtschaft und damit des Weltmarktes als Absatzgebiet werden theoretisch auch nationale Monopole zu Grenzanbietern.
50
Der strukturalistische Staat
erst dieses Arbeitnehmereinkommen generiert, sondern es wird auch nachfragewirksam hinsichtlich anderer Unternehmen verwendet. Der Nutzen einer Investition, gemessen an der dadurch ausgelösten Umsatzsteigerung, die sich aus einer
höheren Lohn- und Gehaltssumme speist, entfällt somit nicht ausschließlich auf
das Unternehmen, das den Geldvorschuß leistet, woraus pekuniäre Effekte gerade für Unternehmen abgeleitet werden, die diese Investitionen nicht getätigt
haben. Die durch die Aufnahme neuer Produktionslinien kreierte Einkommenssteigerung und die daraus gespeiste Nachfrage nach Gütern, die das die Investition durchführende Unternehmen selbst produziert, ist jedoch allein zu gering, um
ein ökonomisches Überleben dieser Investitionsprojekte zu gewährleisten. 45 Eine
finanziell bedeutsame Nachfrage der restlichen, nicht an der Produktion beteiligten Bevölkerung nach diesen Gütern wird mit dem Verweis auf Teufelskreise der
Armut ausgeschlossen. Eine automatische einzel- sowie gesamtwirtschaftliche
Gültigkeit des Sayschen Theorems, daß jedes Angebot sich seine eigene Nachfrage schaffe, wird somit zurückgewiesen.
Übersicht 1:
Pekuniäre und nicht-pekuniäre externe Effekte von Investitionsprozessen
PEKUNIÄRE
EXTERNE E FFEKTE
NICHT - PEKUNIÄRE
EXTERNE E FFEKTE
Angebot
shadow prices
(Scitovsky)
backward linkages
(Hirschman)
Nachfrage
demand complementarity
(Rosenstein-Rodan)
forward linkages
(Hirschman)
Investitionskonzept
gesamtwirtschaftliche
Investitionspläne
sektorale
Investitionsprogramme
Wachstumsstrategie
balanced growth
unbalanced growth
Eigene Darstellung
——————
45 Vgl. Rosenstein–Rodan, P.N. (1943), Problems of Industrialisation of Eastern and South
Eastern Europe, in: Economic Journal Nr. 53 (June–September), S.202–211, S.205ff.
Versagen des Preismechanismus
51
Eine weitere Art von pekuniären externen Effekten wird von Scitovsky diskutiert.46 Dabei werden bestehende Gleichgewichtspreise, auf deren Grundlage
Investitionsentscheidungen gefällt werden, mit den dann nach der Durchführung
der jeweiligen Investition sich bildenden Gleichgewichtspreisen verglichen. Eine
Gegenüberstellung von Prä- zu Post-Investitions-Preisen offenbart, daß diese
nicht notwendigerweise identisch sind, da Investitionen selbst über ihre Impulse
auf Angebots- und Nachfragerelationen Preisveränderungen hervorrufen können.
Unternehmen agieren somit nicht, wie neoklassische Modelle annehmen, als
Preisnehmer und Mengenanpasser, sondern vielmehr als Preis- und Mengenanpasser, womit sie nicht nur den eigenen optimalen Ressourceneinsatz, sondern
auch denjenigen anderer, durch Lieferbeziehungen verbundener Unternehmen
modifizieren: »With reference to particular industries, it can be said that industries A,B,C,..., provide external economies to industries K,L,M,..., if investment
in industries A,B,C,..., causes a decrease in the cost of supplying the demands for
the products of K,L,M,...«47
Pekuniäre externe Effekte entweder auf der Nachfrageseite wie von Rosenstein-Rodan thematisiert oder auf der Angebotsseite analog Scitovsky bewirken
gegenüber dem Wohlfahrtsoptimum insgesamt niedrigere Profiterwartungen in
Entwicklungsländern, die sich in einer vergleichbar geringeren Investitionstätigkeit und dementsprechend in einem geringeren Angebot an heimischen Gütern
und Dienstleistungen widerspiegeln. »The reason is that atomistic private producers cannot appropriate the external economies to which their activity gives rise,
or that they cannot foresee the repercussions which will eventually make them
into recipients of economies external to other firms but internal to their own.« 48
In beiden Fällen wird eine gesamtwirtschaftliche Koordinierung der Investitionsentscheidungen für erforderlich gehalten: Während die als notwendig erachtete
demand complementarity durch eine simultane Umsetzung einer vorwiegend im
Konsumgüterbereich angesiedelten kritischen Masse von Investitionsprojekten
erreicht werden kann,49 soll die Ermittlung der einzelnen optimalen Investitionsvolumina durch eine Ex-ante-Berücksichtigung von zukünftigen Ex-post-
——————
46 Vgl. Scitovsky, T. (1954), Two Concepts of External Economies, in: Journal of Political
Economy Nr. 62 (April), S.143–151.
47 Chenery (1979), S.176.
48 Hirschman (1958), S.55.
49 Vgl. dazu Rosenstein–Rodan (1943). Neben der arbeitsintensiven Konsumgüterindustrie
wurden später auch Branchen berücksichtigt, die damals noch als Produzenten sogenannter
nicht–handelbarer Kapitalgüter (z.B. Energie, Transport...) galten.
52
Der strukturalistische Staat
Gleichgewichtspreisen mit Hilfe einer Berechnung von Schattenpreisen erfolgen.50 Das von Strukturalisten häufig zitierte Auseinanderfallen privater und
sozialer Ertragsraten dergestalt, daß letztere erstere übersteigt, findet in positiven
externen Effekten seine Begründung. Dabei verursacht das Auseinanderfallen
von privater und sozialer Ertragsrate ein Unterschreiten des zu einem bestimmten
Zeitpunkt und bei gegebenen Ressourcen maximal möglichen gesamtwirtschaftlichen Investitionsvolumens, da letzteres zwar unter gesamtwirtschaftlichen, aber
nicht unter einzelwirtschaftlichen Gesichtspunkten als profitabel gilt. »The
external economies in the market sense, just like those of the more conventional
type, can create a discrepancy between the private and social marginal
productivity of capital. The private inducement to invest in any single project
may be quite inadequate because of market difficulty, even where the marginal
productivity of capital applied over a range of complementary industries, in the
sense just indicated, is very considerable. This is why a wave of new investments
in different branches of production can economically succeed, enlarge the total
market and so break the bonds of stationary equilibrium of underdevelopment.«51
Doch Investitionsprozesse können auch nicht-pekuniäre externe Effekte aufweisen. Nach Hirschman ist Unterentwicklung im wesentlichen auf unzureichende subjektive Fähigkeiten, über Ressourcen zu verfügen bzw. »(...) a shortage af the ability to make and carry out development decisions (...) what we shall
call briefly the ›ability to invest‹...«52 zurückzuführen. Aufgrund von Planung,
Finanzierung und Implementierung erwirbt das jeweilige Unternehmen spezifische (Management-)Fähigkeiten und Fertigkeiten, die via Absatz- und Lieferverbindungen auch Entscheidungsträgern anderer Unternehmen zugänglich sind.
Diese werden veranlaßt, ebenfalls Investitionsvorhaben und Produktionsveränderungen vorzunehmen, die quasi in einer Art Kettenreaktion über backward
linkages und forward linkages wiederum Anstoß zu weiteren Investitionen geben.
Eine Differenzierung von pekuniären und nicht-pekuniären Effekten im
Hirschmanschen Linkages-Konzept ist zuweilen schwierig, da sich die Argumentationslinien vordergründig sehr ähnlich sind. Während das Auftreten von
pekuniären externen Effekten sich kontraproduktiv auf die Investitionstätigkeit
auswirkt, da die zu erwartenden Einnahmen eines Investitionsprojektes die In-
——————
50 Vgl. Chenery (1979), S.177ff.
51 Nurkse (1966), S.15. Vgl. auch Hirschman (1958), S.76.
52 Hirschman (1958), S.36.
Versagen des Preismechanismus
53
vestitionskosten aufgrund der nicht vorhandenen Internalisierung der positiven
pekuniären externen Effekte unterschreiten, führt die Existenz ebenfalls positiver, aber nicht-pekuniärer externer Effekte, die bei der Durchführung von Investitionen als ›Koppelprodukte‹ anfallen, zu einer Ausweitung des gesamtwirtschaftlichen Investitionsvolumens. Nicht-pekuniäre externe Effekte induzieren
jedoch ausschließlich solche Investitionen, die auch ohne ihre Existenz den einzelwirtschaftlichen Rentabilitätsbedingungen genügen, aber eben aufgrund mangelnder »skills, ability and attitudes« (Hirschman) nicht realisiert werden. Darüber hinaus verlieren nicht-pekuniäre im Gegensatz zu pekuniären Effekten in
einem fortgeschritteneren Entwicklungsstadium zunehmend an Relevanz: »New
investments no longer lead necessarily to a chain of related new investments
once the economy is well rounded out, with all activities nicely dovetailed with
one another.«53 Obwohl dieses Schneeballsystem in Entwicklungsländern entsprechend der Größe des jeweiligen modernen Sektors durchaus funktionsfähig
ist, soll die Überwindung von Unterentwicklung nicht ausschließlich Marktkräften, d.h. den sich im Zeitablauf verstärkenden Ausbreitungseffekten der realisierten Investitionen überlassen werden, denn »(...) if the economy is to rely only in
this process, its growth is going to be painfully slow.«54
Schlußfolgerungen: Marktunvollkommenheiten
Es kann erstens festgehalten werden, daß bei gegebenen Marktunvollkommenheiten Entwicklungsländer dauerhaft oder zumindest während eines sehr langen
Anpassungszeitraumes eine Unterversorgung mit Gütern und Dienstleistungen,
verbunden mit höheren Preisen, aufweisen. Dies wirkt sich in zweifacher Hinsicht
negativ auf die Pro-Kopf-Einkommen aus: Einerseits ist das geringe heimische
Angebot Ausdruck einer zurückhaltenden Investitionstätigkeit, wodurch die Einkommensbildung restringiert und das gesamtwirtschaftliche Volumen der Nominaleinkommen ebenfalls gering ausfällt. Andererseits erfährt das Nominaleinkommen zusätzlich aufgrund der höheren Preise eine Entwertung. Der unvollständige
Wettbewerb wirkt darüber hinaus wie eine Markteintrittsbarriere für zukünftige
(heimische) Unternehmen und verfestigt daher bestehende Strukturdefizite und
löst sie nicht selbständig auf.
——————
53 Hirschman (1958), S.43; vgl. auch seine Ausführungen S.29–49.
54 Hirschman (1958), S.41.
54
Der strukturalistische Staat
Da eine Orientierung der wirtschaftlichen Akteure an den existierenden Marktpreisen zu einer Fehlallokation von knappen Ressourcen sowie einer Schwächung der Investitionsdynamik führt, eine Orientierung an den Preisen aber nicht
gänzlich unterbunden werden kann, sollen zweitens die Marktunvollkommenheiten durch geeignete staatliche Maßnahmen so weit wie möglich neutralisiert werden. Während gesamtwirtschaftliche Investitionspläne im Rahmen einer Strategie
des balanced growth eine Internalisierung von pekuniären externen Effekten
ermöglichen sollen, zielen sektorale Investitionsprogramme, die häufig einem Ansatz des unbalanced growth folgen, auf die vermehrte Generierung nicht-pekuniärer externer Effekte ab, um so den Investitionsprozeß stärker zu dynamisieren.
Um während des Anpassungszeitraumes ein Ausweichen der Akteure auf Importe und eine Verstärkung der Spar- und Devisenlücke zu verhindern, muß drittens eine außenwirtschaftliche Absicherung dieser Investitionsstrategien erfolgen.
2.2.2 Unterbeschäftigung und Surplus Labour
Zentrales Charakteristikum von Entwicklungsländern ist die im traditionellen
Sektor anzutreffende Unterbeschäftigung, die sich im Grenzprodukt eines dort
beschäftigten Arbeiters in Höhe von Null ausdrückt: »For example, in many
countries the market stalls (or the handicraft industries) are crowded with people
who are not as fully occupied as they would wish to be. If ten percent of these
people were removed, the amount traded would be the same, since those who
remained would do more trade. This is the sense in which the marginal product
of men in that industry is zero.«55 Das für die physische Reproduktion notwendige Mindesteinkommen markiert die untere Grenze des Durchschnittseinkommens pro Person im traditionellen Sektor, der historisch vorwiegend in ländlichen Gebieten, aber auch zunehmend im urbanen informellen Sektor verortet
wird. Das Arbeitsangebot im modernen Sektor ist zu einem Lohn in Höhe dieses
Subsistenzeinkommens plus der für die Übersiedlung in die städtischen Regionen anfallenden Kosten so lange absolut elastisch wie der Angebotsüberschuß
——————
55 Lewis, W.A. (1972), Reflections on Unlimited Labour, in: Di Marco, L.E. (Hrsg.), Interna-
tional Economics and Development: Essays in Honor of Raúl Prebisch, New York, London: Academic Press, S.75–96, S.78.
Versagen des Preismechanismus
55
durch Bevölkerungswachstum, Mobilisierung bisher nicht am Arbeitsprozeß
Beteiligter und Einwanderung aufrechterhalten bleibt.56
Da sich die Entwicklung im modernen Sektor bis zum Abbau des Überschußangebotes unter konstanten Reallöhnen vollzieht, bleiben zunächst nicht
nur jegliche Trickle-down-Effekte auf die im traditionellen, sondern auch auf die
im modernen Sektor tätigen Arbeiter aus. Die Einkommenszuwächse der Industrialisierung fallen demnach komplett als steigende Profite an, die annahmegemäß
vollständig reinvestiert werden und somit eine sich selbst verstärkende Wachstumsdynamik tragen. Erst in einem fortgeschrittenerem Entwicklungsstadium,
wenn das Überschußangebot des Faktors Arbeit überwunden ist, beginnen die
Reallöhne des modernen Sektors und, vermittelt über den Transmissionsmechanismus Land-Stadt-Migration, ebenfalls des traditionellen Sektors allmählich zu
steigen. Ein kontinuierlicher Abbau der surplus labour impliziert daher mindestens eine Wachstumsrate des industriellen Sektors, die abzüglich der Produktivitätsgewinne den heimischen Arbeitnehmerzuwachs in einer geschlossenen, ergänzt um die Zuwanderungsrate in einer offenen Volkswirtschaft, übersteigen
muß.
Trotz bestehender Unterbeschäftigung kann es zu einem vorzeitigen Abbruch
der Akkumulationsdynamik kommen. Zur Erklärung dieses Phänomens werden
hauptsächlich folgende vier Faktoren herangezogen: erstens ein Ansteigen des
durchschnittlichen Produktionsertrages pro Person im traditionellen Sektor, der
auf eine Verlängerung der Arbeitszeit zurückzuführen ist; zweitens eine Stärkung der Verhandlungsmacht der Arbeiter im modernen Sektor; drittens eine
erhöhte Produktivität des traditionellen Sektors, die nicht durch eine entsprechende Preissenkung kompensiert wird; oder viertens steigende landwirtschaftliche Preise, die auf einer zu geringen Angebotsausweitung der landwirtschaftlichen Produktionsmenge gemessen an der Nachfrage basieren. 57 Alle vier Argumente begründen entweder eine direkte oder über die Koppelung an die Einkommenshöhe des traditionellen Sektors indirekte Erhöhung der Reallöhne im
modernen Sektor, ohne daß das überschüssige Arbeitsangebot jedoch vollständig
abgebaut worden wäre.
Wird zunächst von der institutionellen Erklärungshypothese über die ansteigende Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer im modernen Sektor, auf die noch
im folgenden Paragraphen einzugehen sein wird, abgesehen und die Verlänge-
——————
56 Vgl. Lewis, W.A. (1954), Economic Development with Unlimited Supplies of Labour, in:
The Manchester School Nr. 2, S.139–191, S.143–44 und S.176–177.
57 Vgl. Lewis (1954), S.172–175.
56
Der strukturalistische Staat
rung der Arbeitszeit bereits als erstes Anzeichen einer Verknappung von Arbeit
interpretiert, so verbleibt die durch die beiden zuletzt genannten Begründungszusammenhänge angedeutete relative Einkommensverbesserung des traditionellen
gegenüber dem modernen Sektor als das ökonomisch herausragende retardierende Moment der Entwicklung. Entweder übersteigt die inländische Nachfrage
nach Agrarprodukten das heimische Angebot, was sich in sektoralen Preissteigerungen ausdrückt, oder es erfolgt eine produktivitätsbedingte Steigerung des
heimischen Angebotes an landwirtschaftlichen Gütern auf das Niveau der Nachfrage. In beiden Fällen jedoch kommt es nicht nur zu einem Anstieg des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens im traditionellen Sektor, sondern es erhöhen sich aufgrund der Koppelung der städtischen Löhne an das ländliche Einkommensniveau gleichzeitig die Lohnkosten im industriellen Sektor, die bei
gegebenen gesamtwirtschaftlichen Preisen nicht übergewälzt werden können.
Die Unternehmen sind somit trotz vorhandener Unterbeschäftigung seitens der
Löhne einem Kostendruck ausgesetzt, der – solange keine kompensierende Senkung anderer Produktionskosten erfolgt – einen profit-squeeze hervorruft und in
einem Wachstumseinbruch mündet. »Hence, if we postulate that the capitalist
sector is not producing food, we must either postulate that the subsistence sector
is increasing its output, or else conclude that the expansion of the capitalist
sector will be brought to an end through adverse terms of trade eating into profits. (...) On the other hand, if we assume that the subsistence sector is producing
more food, while we escape the Scylla of adverse terms of trade we may be
caught by the Charybdis of real wages rising because the subsistence sector is
more productive.«58
Damit birgt eine industrielle Entwicklung im Kontext einer in einen traditionellen und modernen Sektor gespaltenen Ökonomie den Kern ihres Abbruches
bereits in sich. Dabei wird zunächst die Investitionsdynamik noch von konstanten (städtischen) Realeinkommen nahe des Subsistenzniveaus gestützt, und die
Mengeneffekte können sich entfalten, ohne daß direkte Preiseffekte vom formalen Arbeitsmarkt ausgehen. Doch bei einem anhaltenden Wachstumsprozeß
kommt es unweigerlich entweder zu positiven Mengeneffekten einer veränderten
Produktionsweise der ländlichen Haushalte oder zu ebenfalls positiven Preiseffekten am Markt für landwirtschaftliche Güter, die, vermittelt über die Reallohnentwicklung, die laufenden Gewinne sowie die Gewinnerwartungen der Unternehmen negativ beeinträchtigen und damit die Investitionsneigung reduzieren.
Eine kontinuierliche Industrialisierung bedarf somit einer Neutralisierung dieser
——————
58 Lewis (1954), S.173–174.
Versagen des Preismechanismus
57
Störeffekte, wobei die traditionelle Landwirtschaft den Erfordernissen des im
modernen Sektor angesiedelten Wachstumsprozesses anzupassen ist: »This also
defines for us the case in which it is true to say that it is agriculture which
finances industrialisation. (...)if the capitalist sector depends upon the peasants
for food, it is essential to get the peasants to produce more, while if at the same
time they can be prevented from enjoying the full fruit of their extra production,
wages can be reduced relatively to the capitalist surplus.«59
Schlußfolgerungen: Surplus Labour
Zusammenfassend kann erstens konstatiert werden, daß sich während eines
Entwicklungsprozesses bis zum Beginn des Abbaus der Unterbeschäftigung bzw.
der surplus labour die Einkommenseffekte ausschließlich in höheren Gewinnen
niederschlagen und somit die Einkommenskonzentration aufgrund ausbleibender
Trickle-down-Effekte noch zunehmen wird.
Die Abhängigkeit der Reallöhne des modernen Sektors an die (reale) Einkommensentwicklung der Haushalte des traditionellen Sektors ruft zweitens ein
Versagen des Preismechanismus des formalen Arbeitsmarktes hervor. Entgegen
dem Überschußangebot an Arbeit passen sich die Reallöhne des industriellen
Sektors nicht entsprechend flexibel an, sondern zeichnen sich durch Rigidität
nach unten aus, wodurch eine vollständige Räumung des Arbeitsmarktes verhindert und ein Gleichgewicht bei dauerhafter Unterbeschäftigung etabliert wird.
Gesamtgesellschaftliches Wachstum und Einkommensbildung werden drittens von der Intensität und der Geschwindigkeit bestimmt, mit denen der Industrialisierungspfad durchschritten wird. Dagegen gehen von der Landwirtschaft, die
als Reservoir von ineffizient eingesetzten Arbeitskräften sowie insgesamt als
wenig innovativ und alten Produktionsmethoden bzw. -strukturen verhaftet interpretiert wird, bestenfalls keinerlei Wachstumseffekte aus, und andernfalls übt sie
einen auf die Industrialisierung restringierenden Einfluß aus.
Eine Ausweitung der landwirtschaftlichen Importe, um den die Reallohnsteigerung hervorrufenden Faktoren entgegenzuwirken, muß viertens aufgrund der
Knappheit der Devisenreserven sowie der geringen Devisenproduktivität der
heimischen Unternehmen ausgeschlossen werden.
Da die Störungen sowohl mengen- als auch preisinduziert verursacht auftreten können, ist jeweils eine quantitative Erhöhung des heimischen Angebotes an
——————
59 Lewis (1954), S.174–175.
58
Der strukturalistische Staat
oder eine administrative Festlegung der Preise von landwirtschaftlichen Gütern
jeweils für sich genommen nicht ausreichend. Deshalb ist es fünftens notwendig,
nicht nur die Agrarpreise auf einem für den industriellen Unternehmenssektor
finanziell tragbaren, unterhalb des sich am Markt bildenden Niveaus zu fixieren,
sondern auch gleichzeitig das heimische Nahrungsmittelangebot auszuweiten,
soll die Akkumulationsdynamik nicht bereits vor der Absorption der surplus labour
des traditionellen Sektors vermindert werden.
2.2.3 Verteilungskonflikte und Verhandlungsmacht
gesellschaftlicher Gruppen
Immer wiederkehrende Forderungen sozialer Gruppen von tatsächlichen oder
vermeintlichen wirtschaftlichen Verlierern nach einer Erhöhung ihrer Einkommen münden in harten, teilweise lang anhaltenden Verteilungskämpfen und,
wenn den Einkommensansprüchen entsprechend nachgegeben wird, in einen sich
gegenseitig verschärfenden Inflationsprozeß. Soziale Konflikte sind generell eine
Begleiterscheinung von ökonomischer Entwicklung und Strukturwandel, da
diese sich nicht identisch auf alle Einkommensbezieher, Branchen, Sektoren oder
Regionen einer Ökonomie auswirken und somit die ursprüngliche Einkommensverteilung starken Veränderungen unterworfen ist, was den Widerstand der davon negativ Betroffenen hervorrufen kann. Darüber hinaus gilt der Verhandlungsprozeß zur Festlegung der Lohn- und Gehaltshöhe als nicht perfekt, worunter vor allem seine Begrenzung auf den formalen Arbeitsmarkt, die Nominallohnrigidität sowie das Auftreten monopolistischer Gruppen wie z.B. Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände subsumiert wird.60
Die besondere Brisanz und Schärfe sozialer Konflikte in Entwicklungs- gegenüber Industrieländern findet ihre Begründung in (noch) nicht funktionierenden Sozialsystemen, einem stärker begrenzten (fiskalischen) Verteilungsspielraum und der geringeren Anzahl von Beschäftigungs- und damit Einkommensalternativen. Da der Spielraum der individuellen und gesellschaftlichen Kompensation für Einkommensverluste somit insgesamt stärker begrenzt ist, versuchen
deshalb unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen, die über ein für die Durch-
——————
60 Vgl. Tinbergen, J. (1984), The Future of Incomes Policies, in: Syrquin, M., Taylor, W.,
Westphal, L.E. (Hrsg.), Economic Structure and Performance: Essays in Honor of Hollis B.
Chenery, Orlando: Academic Press, S.205–215, S.206ff.
Versagen des Preismechanismus
59
führung eines Verteilungskampfes ausreichendes Mobilisierungs- und Sanktionspotential verfügen, den aktuellen Status Quo zu erhalten bzw. wenn möglich
zu verbessern, um einer sozialen Marginalisierung dauerhaft zu entgehen. Zu den
tendenziell besser organisierten Gruppen zählen Gewerkschaften, vor allem des
öffentlichen Dienstes, sowie Unternehmen des modernen Sektors, denen eine
strategische Bedeutung in der Dynamisierung der Entwicklung beigemessen
wird. Demgegenüber gelten die ländliche und die dem urbanen informellen Sektor zugehörige Bevölkerung als wenig organisiert und somit relativ schutzlos.
Häufig werden die Einkommensansprüche nicht direkt gegenüber anderen sozialen Gruppen, sondern gegenüber dem Staat geltend gemacht. Ist es einer Gruppe
erfolgreich gelungen, die Einkommen ihrer Mitglieder durch höhere Subventionen und soziale Transfers oder geringere Steuerzahlungen zu steigern, so löst
dies eine weitere Runde von Verteilungskämpfen aus. »Die Anpassung der Löhne und Gehälter der zurückgebliebenen Schichten, der Wechselkurse, der Steuern und Tarife kann nicht auf unbegrenzte Zeit verzögert werden und in dem
Maße, wie es den benachteiligten Schichten gelingt, sich zu verteidigen und der
Staat seine Haltung korrigiert, erhält die Spirale einen neuen Anstoß.«61
Fraglich ist jedoch, warum dieses »inflationary group behavior« (Hirschman)
vom Staat nicht nur geduldet, sondern auch durch eine Anpassung der Geld- und
Fiskalpolitik entsprechend begünstigt wird. Eine Erklärung rekurriert auf das
Dilemma des entwicklungspolitisch stark engagierten Staates, der, um seine
Investitionsvorhaben realisieren zu können, zumindest auf die Akzeptanz, wenn
nicht gar Zustimmung, von politisch gut organisierten Gruppen angewiesen ist,
die von diesen Vorhaben gerade nicht direkt tangiert sind. »A government that
decides to undertake a major effort in one particular sector or region will
frequently find that, as a result of these highly visible favors, demands from
other sectors or regions become activated and have to be granted at least in part
for the purpose of putting together the political coalition that will permit the
original plan to go forward. (...) Every dollar that a government intends to spend
on a project of its own choice is thus likely to lead, via a political complementarity or multiplier, to some additional, originally unintended public spending.«62
Aber auch bzw. gerade wenn der Zentralstaat keinerlei entwicklungspolitische
Ambitionen verfolgt und somit lediglich der vom Marktprozeß induzierte
Wachstums- und Einkommenszuwachs als neue Verteilungsmasse zur Verfü-
——————
61 Prebisch (1968a), S.126.
62 Hirschman (1981), S.196–197 (Hervorhebungen im Original). Vgl. auch seine Ausführun-
gen auf S.185–188.
60
Der strukturalistische Staat
gung steht, kann eine Zuspitzung der sozialen Konflikte bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen erfolgen. Um die auf das niedrige Entwicklungsniveau
zurückgeführten Verteilungskämpfe vorübergehend zu entschärfen, räumt der
Zentralstaat häufig mächtigen Interessensverbänden jeweils zeitlich versetzt
weitreichende Zugeständnisse ein. Einkommensforderungen einer sozialen
Gruppierung sowie deren Befriedigung werden durch Einkommensansprüche
anderer Gruppierungen abgelöst und aufgrund der so initiierten Lohn-PreisSpirale mit den bekannten Konsequenzen eines sich beschleunigenden Inflationsprozesses zunichte gemacht. »Inflation has here the function of denying part
of what the state, in its weakness and excessive friendliness, has granted. To the
extend that the process is understood one might say that the state hands over to
inflation the disagreeable job of saying no.«63
Unabhängig davon, ob und inwieweit er selbst eine dezidierte Entwicklungsstrategie verfolgt, gilt die organisatorische Schwäche und politische Isolation des
historisch jungen Nationalstaates als Ursache dafür, daß er unterschiedlichen
Teilen der Bevölkerung finanzielle Zugeständnisse gewährt, die seinen Verteilungsspielraum deutlich übersteigen und deshalb nur mit Hilfe eines Rückgriffes
auf die Notenpresse finanziert werden können. Neben der eher populistischen
Handhabung von Verteilungskämpfen, kommt es in Entwicklungsländern regelmäßig bis weit in die 80er Jahre hinein immer wieder zur legalen oder durch
Putsch erlangten politischen Machtergreifung von Militärs, die eine offene Austragung sozialer Konflikte durch repressive Maßnahmen unterbunden haben. Der
Mythos, eine sogenannte Entwicklungsdiktatur könne durchaus einen wesentlichen Beitrag zur Beschleunigung der Wachstumsdynamik leisten und die für den
Aufholprozeß notwendige Phase entscheidend reduzieren, kann, abgesehen von
dem empirisch nicht völlig zu leugnenden gleichzeitigen Auftreten von Einkommenssteigerungen und einigen autoritären Regimen, auf die These zurückgeführt werden, daß eine an demokratischen Spielregeln orientierte und der monetären Stabilität verpflichtete Regierung mit den sich zunächst noch verschärfenden sozialen und ökonomischen Gegensätzen überfordert sei.
Die Restriktion, die der Konzeption und Durchführung einer Wirtschaftspolitik durch gesellschaftliche Kräfteverhältnisse auferlegt wird, spiegelt sich deshalb insbesondere in der neo-strukturalistischen Diskussion wider. Nach Jahren,
teilweise Jahrzehnten der Militärdiktatur und extremer monetärer Instabilität
wird der politischen Absicherung eines Entwicklungsvorhabens eine strategische
Bedeutung zugeordnet. »The idea of a national project has thus assumed growing
——————
63 Hirschman (1981), S.202.
Versagen des Preismechanismus
61
importance, as has the need to build up broad social and political support in order
to sustain the project for extended periods. The factors are crucial in assessing
whether the implementation of a given strategy is feasible.«64 Darüber hinaus
betonen Neostrukturalisten zunehmend den inertiellen Charakter eines
akzelerierenden Inflationsprozesses.65 Aufgrund ihrer langen Erfahrungen in
einem inflationären Umfeld bilden Wirtschaftsakteure selbst dann noch positive
Inflationserwartungen, wenn alle monetären und strukturellen Quellen der Inflationsentstehung bereits versiegt sind. Da die aus der Vergangenheit bekannte
Inflationsrate, erhöht um einen Unsicherheitsaufschlag, in die Preisbildung und
nominalen Forderungen der Wirtschaftsakteure einfließt, wird das Inflationsgedächtnis selbst zum treibenden Moment von sich gegenseitig aufschaukelnden
Einkommensansprüchen. Im Extremfall wird bei sehr hoher Unsicherheit über
die zukünftige Inflationsentwicklung auf eine vollständige Indexierung der Verträge zurückgegriffen, vor allem wenn es sich um Verträge handelt, mit denen
Kreditbeziehungen eingegangen oder die Anpassung von Löhnen und Gehältern
festgelegt werden. Allen Anstrengungen der Wirtschaftsakteure gemeinsam ist es
jedoch, ihre nominalen Forderungen vor einer zukünftigen Entwertung zu schützen und darüber hinaus ihre weitergehenden Einkommensansprüche durchzusetzen. Eine Politik, die auf eine Reduzierung der Inflationsrate abzielt, muß deshalb auch in einem neo-strukturalistischen Kontext verteilungspolitische Aspekte
und spezifische Momente der einzelnen Gesellschaften berücksichtigen: »To
keep inflation down to a rate tolerable in terms of the country’s own history of
price increases and social defences against them – a ›tolerable‹ rate might range
from something pretty close to zero in India to 100 per cent in South America’s
Southern Cone.«66
Schlußfolgerungen: Verteilungskonflikte
Somit sind Entwicklungsländer beim gegebenen Niveau der Unterentwicklung
und der marginal vorhandenen sozialen Absicherung aus strukturalistischer Sicht
——————
64 Bitar (1988), S.60. Vgl. auch ECLAC (1990), S.54–59.
65 Vgl. hierzu exemplarisch Cardoso, E.A. (1989), Hyperinflation in Latin America, in:
Challenge January–February, S.11–19.
66 Taylor, L. (1988), Varieties of Stabilization Experience: Towards Sensible Macroeconom-
ics in the Third World, Helsinki: World Institute for Development Economics Research of
the United Nations University (Oxford: Clarendon Press), S.7.
62
Der strukturalistische Staat
erstens permanent mit Verteilungskonflikten konfrontiert, die tendenziell inflationär wirken. Erst im Verlauf des Entwicklungsprozesses und dem allmählichen
Aufbau von Sozialversicherungssystemen können diese Verteilungskonflikte
gemildert bzw. völlig entschärft werden.
Maßnahmen der Inflationsbekämpfung, die sich durch eine restriktive Geldund Fiskalpolitik auszeichnen, können zweitens keinen Beitrag zur Abschwächung der verteilungspolitisch bedingten Inflation leisten. Sie rufen statt dessen
eine Mengenreaktion hervor, die die Produktionskapazitäten reduziert, die Arbeitslosigkeit ansteigen läßt und die Preisauftriebskräfte lediglich nach oben begrenzt. Darüber hinaus vertieft die Stagflation Verarmungstendenzen und bildet
somit die Grundlage weiterer sozialer Konflikte.
Solange keine adäquaten Kompensationsmöglichkeiten für die von der wirtschaftlichen Entwicklung negativ betroffenen Interessensverbände etabliert sind,
soll drittens die gesellschaftliche Verankerung eines spezifischen Wirtschaftsprogramms durch eine verstärkte Integration der unterschiedlichen Akteure vor allem
auf zentraler Ebene gewährleistet werden. Insbesondere ein Sozialpakt bestehend aus Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern sowie der Regierung wird als
wesentliches Mittel der Konsensbildung nicht nur hinsichtlich der Einkommenspolitik interpretiert.
2.3 Entwicklungsplanung und Regulierung
Entwicklungsländer weisen dualistische und heterogene Strukturen auf, die
durch die Kolonialisierung hervorgerufen und die in deren Anschluß durch eine
postkoloniale Weltmarkteinbindung mit einer hohen Spezialisierung auf Rohstoffexporte verstärkt werden. Das in vielen Bereichen auftretende Marktversagen, das in inflexiblen bzw. verzerrten Preisen zum Ausdruck kommt, verursacht
bei gegebenen Ressourcen, daß das tatsächliche Angebot von Gütern und Dienstleistungen geringer ist als das unter Berücksichtigung des der jeweiligen Ökonomie innewohnenden Produktionspotentials maximal mögliche Angebot. Bezogen auf Güter und Dienstleistungen führt der Preismechanismus in Entwicklungsländern demnach zu einer Unterversorgung, während er gleichzeitig in ein
Überangebot des Faktors Arbeit mündet. Demgegenüber weist das quantitative
Angebot des Faktors Kapital im Extremfall überhaupt keine Korrelation zu seinem Preis, dem Zinssatz, auf, sondern ist lediglich abhängig von der Höhe und
der Verteilung des gesamtwirtschaftlichen Einkommens. Das sogenannte freie
Spiel der (Markt-)Kräfte kulminiert in Entwicklungsländern somit nicht in sozialer Integration und in steigendem (materiellem) Wohlstand durch eine sich beschleunigende Wachstumsdynamik, sondern bestenfalls in einer Verstetigung,
schlimmstenfalls in einer Vertiefung der bestehenden Entwicklungsunterschiede,
so daß die vorhandenen ökonomischen und sozialen Disparitäten auf nationaler
und internationaler Ebene weiter ansteigen. Die privaten Marktakteure, Haushalte und Unternehmen sind unfähig aus sich heraus einen qualitativen Beitrag zur
Überwindung von Stagnation und Unterentwicklung zu leisten, da sie entweder
nicht entsprechend auf Marktsignale reagieren oder gerade weil sie gemäß ihrer
einzelwirtschaftlichen Kalküle und der vorhandenen Anreizstrukturen rational
auf Marktsignale reagieren. Wenn somit keiner der einzelwirtschaftlichen Akteure die Marginalisierungstendenzen aufzuhalten und schließlich umzukehren in
der Lage ist, so bedarf es – so das strukturalistische Paradigma – der Intervention
des Zentralstaates, wenn nicht generell von einer nachholenden Entwicklung
Abschied genommen werden soll. »Hence growth demands more than a policy
of liberalization designed to promote correct prices for an optimum allocation of
productive forces in a static situation and in conditions of an extremely unequal
64
Der strukturalistische Staat
distribution of income. On the contrary, the interplay of the market should be
significantly complemented by dynamic action on the part of the State.« 67
Als zentrale wirtschaftspolitische Ziele einer strukturalistisch fundierten
staatlichen Intervention in den Marktprozeß lassen sich erstens die Induzierung
von Wachstum und Einkommensbildungsprozessen, zweitens die Überwindung
von Armut und die Generierung von sozialer Gerechtigkeit und drittens der Aufbau sowie die Aufrechterhaltung der internen und externen (monetären) Stabilität
nennen. Sowohl in der Theoriebildung als auch in der politischen Umsetzung
läßt sich analog der Zeitachse eine Verschiebung der wirtschaftspolitischen
Schwerpunktsetzung erkennen. Das zuerst genannte Ziel, das unter Rückgriff auf
eine Importsubstituierende Industrialisierungsstrategie und der Verbesserung der
internationalen Wettbewerbsfähigkeit heimischer Unternehmen erreicht werden
sollte, dominierte die strukturalistische Debatte bis Anfang der 70er Jahre (Kapitel 2.3.1). Selbst die zwischen Strukturalisten und Monetaristen geführte Kontroverse um Inflationsentstehung und Inflationsbekämpfung aus den früheren 60er
ist aus strukturalistischer Sicht lediglich eine davon abgeleitete Diskussion. Ab
Mitte der 70er Jahre gilt die Überwindung absoluter und relativer Armut durch
die Verfolgung eines Basic-needs-Ansatzes und der Reallohnsicherung durch
Indexierung als neben der Importsubstituierende Industrialisierungsstrategie
eigenständige und gleichwertige Zielsetzung (Kapitel 2.3.2). Diese Veränderung
ist auf die wenig positiven verteilungspolitischen Resultate der bis dahin beobachtbaren relativ hohen Wachstumsraten zurückzuführen. Demgegenüber
rückt in den 80er Jahren die Bekämpfung von Inflation und häufigen Abwertungen der heimischen Währung mittels eines heterodoxen Schockprogramms,
komplementiert durch eine zentrale Einkommenspolitik, in den Mittelpunkt der
dann bereits neo-strukturalistisch geprägten Diskussion (Kapitel 2.3.3). Hintergrund für diesen Wechsel zugunsten des dritten wirtschaftspolitischen Zieles
sind die veränderten weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die Verschuldungskrise und eine kontinuierliche Deintermediation der Finanzsysteme der
Entwicklungsländer in Form von Hyperinflation und Dollarisierung. Dagegen
scheint es nach einer zumindest vorläufigen Reduzierung der Inflationsraten auf
einstellige Werte Ende der 90er Jahre ein verstärktes Bemühen um die Rückkehr
zu einer gleichwertigeren Betrachtungsweise aller Zielsetzungen zu geben.
Obgleich die einzelnen wirtschaftspolitischen Ziele sich gegenseitig bedingen, existieren für sie jeweils spezifische Maßnahmenbündel, die im folgenden
kurz skizziert werden, wobei jedoch nicht alle jemals von den Strukturalisten
——————
67 Sunkel/Zuleta (1990), S.41.
Entwicklungsplanung und Regulierung
65
diskutierten Maßnahmen dargelegt werden können. Es erfolgt statt dessen eine
Beschränkung auf die Kernelemente einer strukturalistisch inspirierten staatlichen Entwicklungsstrategie, die eine Einschätzung über die ökonomische Fundierung des Staates im strukturalistischen Paradigma erlauben soll.
2.3.1 Importsubstitutierende Industrialisierung
und internationale Wettbewerbsfähigkeit
Die von den Strukturalisten empfohlene Wachstumsstrategie weist sowohl eine
nach innen gerichtete, auf die jeweilige Ökonomie beschränkte als auch eine auf
die Veränderung internationaler Rahmenbedingungen abzielende Stoßrichtung
auf.68 Von Industrieländern wird ein Abbau aller Arten von Markteintrittsbarrieren vor allem gegenüber nicht-traditionellen Exportprodukten aus Entwicklungsländern und eine Erhöhung der staatlichen Kapitalexporte in die Entwicklungsländer gefordert, womit die Devisen- und Sparlücken entscheidend reduziert
werden sollen. Gleichzeitig wird Entwicklungsländern ein Zusammenschluß mit
anderen peripheren Ländern empfohlen, um somit einen erweiterten und durch
Außenzölle geschützten Binnenmarkt zu schaffen, der einerseits erst das Potential für eine heimische Nachfrage beinhaltet, die die Aufnahme einer Massenproduktion rechtfertigt, und der es andererseits den in diesem Wirtschaftsraum agierenden Unternehmen erlaubt, die economies of scale auszunutzen.69 Eine regionale Integration zwischen einzelnen Entwicklungsländern kann auch eine Abstimmung und daran anschließend ein koordiniertes Vorgehen bei der Planung
neuer Industriezweige beinhalten, wobei die Auswahl der Standorte den regionalen Entscheidungsgremien überlassen bleibt. 70 Während mit den o.g. Maßnahmen sowohl Aufbau als auch Absatzgebiete vorwiegend nicht-traditioneller
Güter erweitert werden sollen, ist eine Stabilisierung von Rohstoffpreisen bzw.
——————
68 Vgl. Prebisch, R. (1968c), A New Strategy of Development, in: The Journal of Economic
Studies Nr.1, S.3–14. Für eine detailliertere Diskussion der auf multi– bzw. bilateraler
Ebene zu ergreifenden Maßnahmen siehe Prebisch (1968a), S.238–290.
69 Vgl. Rosales (1988), S.23–24.
70 Eine Diskussion der damals in Lateinamerika ambitioniertesten Integrationsbemühungen
findest sich bei Frambes–Alzérreca, A. (1989), Der Andenpakt: Wandlungen eines Integrationsprozesses, Marburg/L.: Schriftenreihe der Studiengesellschaft für Sozialgeschichte
und Arbeiterbewegung, Band 75, S.132–141.
66
Der strukturalistische Staat
von -erlösen durch die von Entwicklungs- und Industrieländer gemeinsam einzurichtenden buffer stocks vorgesehen.
Neben dem grundsätzlichen Wandel weltwirtschaftlicher Beziehungsgeflechte, der jedoch einen politischen Konsens und gleichgerichtete ökonomische Interessen zwischen allen international relevanten Akteuren, insbesondere der Industrieländer, die im strukturalistischen Kontext gerade die Profiteure des internationalen Status Quo bilden, voraussetzt, kann ein einzelnes Land mittels einer
Importsubstituierenden Industrialisierung (ISI-Strategie) versuchen, einen nationalen Strukturwandel einzuleiten. Die sich über drei unterschiedliche Phasen
erstreckende ISI-Strategie ist dabei einerseits eine Reaktion auf die den Wachstumsprozeß restringierende Spar- und Devisenlücke und folgt andererseits der
Notwendigkeit, eigene Produktionskapazitäten aufzubauen und damit das gesamtwirtschaftliche Angebot zu erhöhen. In der ersten Phase sollen sogenannte
nicht-essentielle Importe entweder durch entsprechend hohe Zölle, Quoten oder
gar durch ein generelles Importverbot drastisch reduziert werden, während die
tatsächliche Substitution der als notwendig erachteten Importe durch inländische
Produkte einer zweiten Phase vorbehalten bleibt. Somit kennzeichnet die erste
Phase der ISI-Strategie eine Abschottung gegenüber einigen, häufig als Luxusgüter klassifizierten Importen und parallel dazu eine Erhöhung von Konsum- und
Kapitalgüterimporten, insbesondere von Anlagen und Maschinen im Transport-,
Energie- und Hochtechnologiesektor.71 Die zu den Zielen der Substitutionspolitik scheinbar paradox anmutende Ausweitung des Importvolumens dient in dieser Phase der ISI-Strategie dem schnellstmöglichen Aufbau einer industriellen
Basis, mit deren Hilfe in der zweiten Phase die Produktion für den heimischen
Binnenmarkt erfolgen soll und schließlich in einer dritten und letzten Phase auch
der Weltmarkt mit nicht-traditionellen Gütern und Dienstleistungen beliefert
werden kann. »(I)n its course, a country would aquire a comparative advantage
in the goods it imports; for the ›fatter‹ the imports of a given consumer good
grew, the greater was the likelihood that, in Hansel and Gretel fashion, they
would be ›devoured‹ or ›swallowed‹ by a newly established domestic industry.«72 Eine zeitgleiche Erschließung des nationalen und internationalen Marktes
wird mit dem Hinweis auf eine mangelnde industrielle Tiefe in Entwicklungsländern ausgeschlossen: »It would therefore be unrealistic to expect an industry
——————
71 Vgl. Hirschman, A.O. (1968), The Political Economy of Import–Substituting Industrializa-
tion in Latin America, in: The Quarterly Journal of Economics Nr. 1, S.1–32, S.6ff.
72 Hirschman, A. O. (1992), Rival Views of Market Society and Other Recent Essays, Cam-
bridge, Mass.: Harvard University Press, S.15–16.
Entwicklungsplanung und Regulierung
67
to become an exporter before it has truly taken root in the country through a
variety of the more obvious backward linkage investments. And the expeditious
undertaking of these investments is therefore desirable not only per se, but also
as a necessary waystation to the opening of the export base.«73 Die ISI-Strategie
führt über die anvisierte Verringerung der Importe und Erhöhung der Exporterlöse somit erst in mittlerer bis langfristiger Perspektive zu einer Entlastung der
heimischen Devisenreserven, während sie kurzfristig sogar zu einem Anstieg der
Fremdwährungsnachfrage führt – der entscheidende Grund, warum die Implementierung einer aktiven ISI-Politik in einer Situation der Zahlungsbilanzkrise
gerade nicht erfolgen kann.74
Gemeinsam mit tarifären und nicht-tarifären Handelshemmnissen gilt der
Wechselkurs als wichtigstes Instrument zur Steuerung von Volumen und Zusammensetzung der Ex- und Importströme. Der Wert der heimischen Währung
gegenüber den Währungen der jeweiligen Hauptlieferanten wird auf einem Niveau festgelegt, das die Finanzierung der als notwendig erachteten Importe ermöglichen soll und damit tendenziell als überbewertet charakterisiert werden
kann. Dies trifft auch auf einen Wechselkurs zu, der zum Zeitpunkt seiner administrativen Fixierung zunächst noch als gleichgewichtig zu bezeichnen ist, da ein
fixer Wechselkurs bei höheren inländischen Inflationsraten als im Währungsraum, gegenüber dem die Festlegung erfolgt, sofort einen, in diesem Fall marktvermittelten, Prozeß in die Überbewertung auslöst. Unter der Bedingung eines
vereinheitlichten, aber überbewerteten Wechselkurses geht mit der preislichen
Begünstigung von Importen notwendigerweise eine preisliche Diskriminierung
der Exporte einher. Da die Exporte jedoch zu Beginn einer ISI-Strategie zu einem überwiegenden Anteil aus unverarbeiteten Primärgütern bestehen, verursacht die Überbewertung entsprechend der strukturalistischen Analyse lediglich
eine Reduzierung von Einkommensübertragungen von Entwicklungs- zu Industrieländer im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung zugunsten der neu aufzubauenden Industriezweige und auf Kosten von Unternehmensgruppen wie
beispielsweise Transnationalen Konzernen oder der Landoligarchie, von denen
kaum Entwicklungsimpulse erwartet werden. 75 Insofern stellt die Benachteiligung von Exporteuren traditioneller Güter in dieser Phase weder einen Widerspruch zu den von den Strukturalisten verfolgten Zielen, insbesondere der Förderung des Wachstums und von Einkommensbildungsprozessen, dar, noch ist sie
——————
73 Hirschman (1968), S.26.
74 Vgl. Prebisch (1961), S.4.
75 Vgl. Hirschman (1981), S.189.
68
Der strukturalistische Staat
Ausdruck einer generellen Abkehr vom Weltmarkt und selbstgewählter (wirtschaftlicher) Isolation, wie häufig fälschlicherweise behauptet wird.
Spätestens zu einem Zeitpunkt, wenn ein zunehmender Anteil der neu geschaffenen industriellen Basis im Binnenmarkt verankert ist und eine, gemessen
an der Auslandsnachfrage ausreichende Produktqualität bzw. –diversifikation
ihrer jeweiligen Fertigung garantieren kann, wird auch aus strukturalistischer
Perspektive die Überbewertung als ein Hindernis für eine weitere Expansion der
Produktion und Eroberung von internationalen Absatzmärkten reflektiert. »It
could therefore be suggested that, at a certain point, overvaluation of the currency turned from a stimulus to industrial progress into a drag on it.« 76 Eine Überwindung dieses Zustandes mittels einer Abwertung wird jedoch wegen ihres
fehlenden selektiven Charakters als ambivalent betrachtet, denn im Zuge einer
Abwertung verteuern sich ceteris paribus alle Importe, einschließlich der sogenannten Kapitalgüter, deren Import vor dem erfolgreichen Abschluß einer ISIStrategie als notwendig erachtet wird. Gleichzeitig verbilligen sich durch die
Abwertung der heimischen Währung alle Exportgüter, einschließlich traditioneller Exporte, obwohl gerade letzteres aus verteilungspolitischen Aspekten und der
Gefahr eines weiteren Verfalls der terms of trade unerwünscht ist, sollten die
Rohstoffproduzenten auf die in heimischer Währung erhöhten Exporterlöse mit
einer Angebotsausweitung reagieren. 77 »Devaluation is essential if internal costs
have climbed more than the international prices of commodities, but it should not
be applied to bring about changes in the structure of production and the
composition of imports unless other measures are adopted as well.«78 Eine Abwertung im strukturalistischen Kontext muß deshalb gleichzeitig von einer zur
Abwertung proportionalen Besteuerung der traditionellen Exporte sowie einer
entsprechenden Senkung der Einfuhrzölle für präferentielle Güter und/oder einer
Subventionierung der Importe begleitet werden.79 Im Extremfall wird »aus politischen und anderen Gründen« unter Verzicht auf eine Abwertung und damit
——————
76 Hirschman (1968), S.28.
77 Vgl. Prebisch, R. (1979), Las Teorías Neoclásicas del Liberalismo Económico, in: Revista
de la Cepal Nr. 7, S.171–192, S.182–184. Verteilungspolitisch benachteiligt werden neben
den bereits genannten, im Importsektor angesiedelten Unternehmen Arbeitnehmer, die Reallohnverluste hinnehmen müssen, wenn das Risiko einer Abwertungs–Inflations–Spirale
gering gehalten werden soll.
78 Prebisch (1961), S.20.
79 Vgl. Prebisch (1961), S.9.
Entwicklungsplanung und Regulierung
69
einer Aufrechterhaltung eines überbewerteten Wechselkurses eine Exportsubventionierung für Halb- und Fertigwaren empfohlen.80
Eine Alternative zur expliziten stellt die von seiner Wirkung her implizite
Besteuerung und staatliche Alimentierung der fraglichen Ein- und Ausfuhrströme im Rahmen eines Systems multipler Wechselkurse dar. 81 Dabei werden unterschiedlichen Warenkategorien je nach ihrer im Rahmen der ISI-Strategie vorgesehenen Relevanz unterschiedliche Wechselkurse zugeordnet, wobei einerseits
die als notwendig erachteten Importe für die Substitutionsgüterindustrie sowie
die traditionellen Exporte einen stark überbewerteten und andererseits die nichttraditionellen Exporte und sonstigen Importe einen tendenziell unterbewerteten
Wechselkurs in Anspruch nehmen können. Dabei können die jeweiligen An- und
Verkaufsraten einer Einheit ausländischer Währung je einzelner Warenkategorie
zusätzlich einen erheblichen Spanne aufweisen, wie das in den 40er Jahren unter
Raúl Prebisch in seiner Funktion als Präsident der argentinischen Zentralbank
eingeführte System veranschaulicht, in dem von vier der sechs existierenden
Wechselkurse die An- und Verkaufsraten eines US-Dollar bis zu 80 % divergierten.82
Somit stehen Strukturalisten prinzipiell vier verschiedene Möglichkeiten zur
Verfügung, mit deren Hilfe die gewünschte Höhe und Struktur der Ex- und Importströme anvisiert werden können. Der Einsatz tarifärer und nicht-tarifärer
Maßnahmen als die üblichen Mittel zur Gestaltung der Handelspolitik werden
für Entwicklungsländer, die sich noch in der Phase des Aufbaus einer Substitutionsgüterindustrie befinden, insofern ausgeschlossen, als diese Maßnahmen eine
direkte Besteuerung traditioneller Exportprodukte erfordert. »In the
industrializing societies of Latin America, for example, the interests tied to the
traditional export sectors were still in a highly influential position and it was out
of the question to tax them outright.«83 Erst wenn die Substitutionsgüterindustrie
über ihren steigenden Anteil an der nationalen Wertschöpfung und an den Ex-
——————
80 Vgl. Prebisch (1968a), S.275–276.
81 Vgl. Baer, W., Herve, E. (1962), Multiple Exchange Rates and the Attainment of Multiple
Objectives, in: Economica, S.174–184.
82 Vgl. Dornbusch, R. (1986), Multiple Exchange Rates for Commercial Transactions, in:
Edwards, S., Ahamed, L. (Hrsg.), Economic Adjustment and Exchange Rates in Developing Countries, Chicago: The University of Chicago Press, S.143–165, Tabelle 4.1, S.145.
Peru wies in der Anfangsphase des heterodoxen Wirtschaftsprogramms unter Alan García
Perez mehr als 12 unterschiedliche Wechselkurse auf; vgl. Rojas Albonico, N. (1990),
Wirtschaftsschock ja oder nein?, in: Lateinamerika Nachrichten Nr. 2, S.41–74, S.58.
83 Hirschman (1992), S.63.
70
Der strukturalistische Staat
porterlösen eine ausreichende (politische) Machtbasis auf Kosten traditioneller
Exporteure errungen hat, werden gegen letztere gerichtete diskriminierende
Maßnahmen politisch als durchsetzbar eingeschätzt. Aber exakt zu diesem Zeitpunkt sind solche Maßnahmen im großen Stil obsolet geworden, da mit der politischen auch die ökonomische Relevanz jener Gruppen stark abgenommen hat.
Sowohl eine Beibehaltung der Überbewertung als auch eine Abwertung der
heimischen Währung mit dem Ziel eines (einheitlichen) gleichgewichtigen
Wechselkurses als Alternative zur direkten Besteuerung ausgewählter Produkte
stellen jedoch eine erhebliche Belastung des staatlichen Budgets dar, da ersteres
eine Subventionierung nicht-traditioneller Exporte und letzteres eine staatliche
Alimentierung der als unverzichtbar klassifizierten Importe bedingt, ohne daß
diesen zusätzlichen Ausgaben proportionale Mehreinnahmen gegenüberstehen,
wenn von der Besteuerung traditioneller Exporte im Rahmen einer Abwertung
abgesehen wird.
Multiple Wechselkurse für Leistungsbilanztransaktionen als die letzte der
vier Möglichkeiten erfüllen dagegen aus strukturalistischer Sicht nicht nur den
Anspruch einer Selektivität, die mit den Zielen der ISI-Strategie konsistent ist,
sowie einer Flexibilität, die dem kontinuierlichen Aufbau der Substitutionsgüterindustrie Rechnung trägt, in dem sie Differenzierungen einzelner Branchen oder
gar Güter durch zeitlich ungebundene Herauf- und Herabstufungen in präferentielle bzw. diskriminierendere Wechselkurskategorien zuläßt, sondern sie gelten
darüber hinaus als kostenneutral. Idealtypisch wird die präferentielle Abgabe von
Devisen seitens der Zentralbank an die jeweiligen Importeure von unverzichtbaren Gütern durch die unter dem Gleichgewichtspreis liegende Vergütung von
Devisen finanziert, welche die Zentralbank Exporteuren traditioneller Güter
gewährt. Selektivität, Flexibilität und Kostenneutralität können sicherlich als die
wesentlichen Gründe angeführt werden, die für das häufige Verwenden von
multiplen Wechselkursen als Instrument zur Steuerung der Ex- und Importströme und damit als außenwirtschaftliche Absicherung der ISI-Strategie verantwortlich zeichnen.
Wenn jedoch die Ceteris-paribus-Klausel aufgehoben und dynamische Anpassungsprozesse seitens privater Akteure an die administrative Preisfestsetzung
zugelassen werden, so ist die Kosteneutralität nicht mehr gewährleistet. Die
Subventionierung eines beträchtlichen Anteils der Importe sowie von nichttraditionellen Exporten durch den Wechselkursmechanismus stellt einen erheblichen Anreiz zur Ausweitung der jeweiligen Im- und Exportvolumina und damit
der dafür in das staatliche Budget einzustellenden Ausgaben dar, während die sie
Entwicklungsplanung und Regulierung
71
finanzierenden Exporterlöse traditioneller Güter schrumpfen oder gar gänzlich
zusammenbrechen. »One of the clearest examples of the costs in terms of
distortions of excessive multiple rates occured in 1973. In that year the international price of wheat stood at a record level and so did the domestic price: the
world price stood at an all time high and the domestic price at an all time low. At
the same time, with the help of a whole battery of measures, exports of automobiles to Cuba were subsidized and were paid for by Cuba with promissory notes
that exporters discounted with the central bank. The result is the expected:
guided by the low domestic prices farmers did not produce much wheat and
Argentina missed the opportunity to export a competitive commodity at good
prices; instead we exported automobiles in exchange for which we received
notes that for many years (perhaps even now?) are part of the international reserves of our central bank.«84 Temporär können Exporteure traditioneller Güter
auf die verschlechterte Erlössituation auch mit einer Erhöhung ihrer Produktionsmenge reagieren, um zumindest das Umsatzniveau zu stabilisieren, was nach
dem nationalen Preisverfall dann den internationalen Preis ihres Gutes tendenziell senkt und somit die terms of trade des Landes verschlechtert. Dies kann einen
erneuten Eingriff des Staates in das Preisgefüge hervorrufen, da nach strukturalistischem Verständnis mit dem Sinken der terms of trade die Einkommensübertragungen an das Ausland bzw. der nationale Wohlfahrtsverlust stetig zunimmt.
Langfristig jedoch können diese Exporteure ihre ursprüngliche Gewinnmarge
nur durch eine Senkung ihrer Kosten, insbesondere im Bereich der Löhne und
einer weiteren Verschlechterung der im Bergbau und der Landwirtschaft ohnehin
unzureichenden Arbeitsbedingungen, wieder herstellen.
Aber die Funktionsfähigkeit eines multiplen Wechselkurssystems erfordert
nicht nur eine Entscheidung darüber, welche Güter bzw. Branchen mit welchem
spezifischem Preis für den An- und Verkauf von Devisen belegt werden sollen,
sondern es bedarf aufgrund der präferierten Devisenzuteilung bei prinzipiell
begrenzten Devisenreserven weiterhin einer Festlegung quantitativer Obergrenzen je Warenkategorie. Das gleichzeitige Auftreten einer bindenden Preis- und
Mengenkontrolle bedingt notwendigerweise ein System der Devisenbewirtschaftung, das sich einerseits in der Inkonvertibilität der heimischen Währung und
andererseits in dem mit multiplen Wechselkursen einhergehenden hohen administrativen Kontrollaufwand widerspiegelt. Darüber hinaus werden
Arbitragegeschäfte beispielsweise in Form der Über- und Unterfakturierung des
——————
84 Carta Económica (1983), in: El Cronista Comercial (Dezember), S.46, zitiert nach: Dorn-
busch (1986), S.161–162.
72
Der strukturalistische Staat
Im- bzw. Exportvolumens ausgelöst, die über die Entwicklung von Parallelmärkten das de jure negierte ›law of one price‹ für die Einheit einer Fremdwährung im
Rahmen eines ökonomischen Prozesses tendenziell durchsetzt. Je geringer das
Devisenangebot bei gegebenen Zahlungsverpflichtungen und je größer die Differenz zwischen den heimischen Preisen für je eine Einheit ausländischer Währung, um so höher ist der Anreiz für Haushalte und Unternehmen, die staatliche
Regulierung zu umgehen. Im Extremfall widmen sich Unternehmen mehrheitlich
dem Handel mit Devisen und der Vergabe von Fremdwährungskrediten und
nicht mehr der Erhöhung oder Verbesserung ihrer Produktion. Handelt es sich
hierbei um Unternehmen der Substitutionsgüterindustrie, so ergibt sich allein
aufgrund des langsamen oder gar gänzlich ausbleibenden Strukturwandels, der
mit der ISI-Strategie bewirkt werden sollte, ein zusätzlicher Handlungsbedarf
des strukturalistisch inspirierten Staates in Form von Steuererleichterungen,
Kredite von Entwicklungsbanken zu Vorzugskonditionen oder eine Abnahmegarantie für einen Anteil der Produktion. Bei einem Ausbleiben der erhofften Effekte kann auch ein öffentlich finanziertes Investitionsprogramm kombiniert mit
einer Verstaatlichung von Unternehmen einer ganzen Branche aufgelegt werden.
Während die bisherigen Einwände auch auf einen (vereinheitlichten) überbewerteten Wechselkurs zutreffen, können im Rahmen eines multiplen Wechselkurssystems neben dem erwünschten, aber nicht ausreichenden Strukturwandel
noch kontraproduktive Struktureffekte auftreten, die häufig fälschlicherweise als
eine unangenehme Begleiterscheinung der ISI-Strategie selbst bezeichnet werden. »Another reason for direct state intervention was that private industrialists
frequently preferred to continue to rely on foreign suppliers of semi-processed
and capital goods – this occasional resistance to backward linkage is yet another
characteristic of ISI.«85 Aufgrund sowohl der wechselkursbedingten Subventionierung dieser Importgüter als auch der nicht-traditionellen Exporte entstehen
Produktionsstätten, die sich durch eine hohe Import- und Reexportquote sowie
einen geringen Verarbeitungsgrad auszeichnen. Ein überbewerteter Wechselkurs
verursacht immer tendenziell eine preisliche Benachteiligung aller im Inland
produzierenden Unternehmen auf dem Binnen- und Weltmarkt, unabhängig
davon, in welcher Branche sie tätig sind bzw. welche Verarbeitungsstufen sie
integriert haben, und verhindert den Aufbau von heimischen Wertschöpfungsketten bzw. kann einen gesamtwirtschaftlichen Deindustrialisierungsprozeß auslösen. Ein multiples Wechselkurssystem für Leistungsbilanztransaktionen dagegen
resultiert in verlängerten Werkbänken mit einer marginalen Fertigungstiefe.
——————
85 Hirschman (1992), S.61.
Entwicklungsplanung und Regulierung
73
Unternehmen, die unter Bedingung eines überbewerteten, aber vereinheitlichten
Wechselkurses agieren, können ihre Wettbewerbfähigkeit nur durch entsprechend hohe Produktivitätsfortschritte ohne Lohnerhöhungen oder gar durch Nominallohnsenkungen aufrechterhalten. In einem multiplen Wechselkurssystem
gründen die Unternehmen, die per Definition Beschäftigungsverhältnisse offerieren, die deutlich im untersten Segment der Qualifikations- und Entlohnungsskala
angesiedelt sind, ihre ökonomische Existenzberechtigung fast ausschließlich auf
die staatlichen Zuwendungen. Entfallen diese staatlichen Zuwendungen etwa
durch die Schaffung eines vereinheitlichten Wechselkurses, entfällt auch ihre
raison d‹être und die Produktion wird verlagert.
Die zeitgenössische, diesmal allerdings liberale Variante von multiplen
Wechselkursen stellen die mittlerweile weit verbreiteten Export Processing
Zones (EPZ) dar, die nicht über das Wechselkursregime, sondern mit Hilfe der
traditionellen Handels-, aber auch der Fiskal- und Arbeitsmarktpolitik kreiiert
werden. Die Subventionierung gegenüber der heimischen Produktion außerhalb
der EPZs kann somit über eine Zoll-, Abgaben- und Steuerbefreiung sowie einer
regionalen Aufhebung der Arbeitsgesetze und Tarifregelungen erfolgen. Obwohl
die in EPZs angesiedelten Unternehmen keine direkten staatlichen Zuwendungen
erhalten, ist es m.E. gerechtfertigt auch in diesem Zusammenhang von Subventionen zu sprechen, da der Staat im Rahmen seiner Fiskalhoheit auf Zahlungen
dieser Unternehmen und damit auf Einnahmen verzichtet. Unter allokationstheoretischen Aspekten kann zwischen diesen beiden Varianten jedoch kein qualitativer Unterschied konstatiert werden. »A tax-subsidy scheme administered
through multiple exchange rates is just as efficient or inefficient as the equivalent
system of trade taxes or subsidies.«86
Unter vermögensmarkttheoretischen Aspekten jedoch sind Zentralbank und
Finanzministerium unter Bedingungen eines multiplen Wechselkurssystems mit
einer kontinuierlichen Privatisierung ihrer Devisenreserven konfrontiert, da der
staatliche An- und Verkauf von Devisen nicht dem law of one price entspricht.
Dies spiegelt sich in der Reduzierung des offiziellen, von den Exporteuren mit
der Zentralbank kontrahierten Devisenangebots und einer permanent steigenden
Devisennachfrage wider. Wird die Devisenknappheit in der Anfangsphase der
ISI-Strategieeinerseits noch als Ausdruck einer großen Spar- und Devisenlücke
und damit eines hohen Entwicklungsbedarfes und andererseits bereits als Zeichen eines dynamischen Aufholprozesses interpretiert, der mit Hilfe staatlicher
Nettokapitalimporte unterstützt wird, so erfolgt in einem zeitlich fortgeschritte-
——————
86 Dornbusch (1986), S.150.
74
Der strukturalistische Staat
nerem Stadium, wenn die staatlichen Währungsreserven aufgebraucht und die
maximale staatliche Verschuldungskapazität in Fremdwährung ausgeschöpft ist
und damit spätestens im Verlauf einer Zahlungsbilanzkrise, eine Anpassung auch
der Wechselkurspolitik durch Ad-hoc- oder institutionalisierte Abwertungen in
Form eines Crawling-Peg-Regimes.
Parallel zu den handels- und währungspolitischen Maßnahmen erfordert im
strukturalistischen Kontext das Aufbrechen der Angebotsrigiditäten und die
Erhöhung des durch monopolistische Tendenzen sowie externe Effekte geringen
gesamtwirtschaftlichen Angebots eine staatliche Investitionspolitik. »The
complementary effect of investment is therefore the essential mechanism by
which new energies are channeled toward the development process and through
which the vicious circle that seems to confine it can be broken. To give maximum play to this effect must therefore be a primary objective of development
policy.«87 Aufgrund ihrer zentralen Funktion als »path-setter for additional investment«88 liegt der wirtschaftspolitische Schwerpunkt der Strukturalisten auf
der Durchführung von Investitionen durch den Staat selbst, insbesondere in den
für die Entwicklung als strategisch eingestuften Bereichen (Infrastruktur, Kreditwesen oder Schwermetallindustrie).89 Auflagen (Mindestlöhne, Local-contentKlauseln, Gewinnverwendung) und Vergünstigungen (Steuer- und Abgabenbefreiung, garantierte Mindestpreise, Kreditsubventionierung), die auch für private
Unternehmen gelten können, werden lediglich als komplementär und aufgrund
der »economic inertia« (Shapiro/Taylor) allein als nicht ausreichend begriffen.
Unabhängig davon jedoch, ob es sich um staatliche oder private Investitionsvorhaben handelt, wird eine Supervision des Investitionsprozesses und eine Einbindung in einen gesamtwirtschaftlichen Entwicklungsplan als notwendig erachtet,
soll der eingeschlagenen Entwicklungspfad ohne Zahlungsbilanzkrisen verlaufen: »(O)n the macrolevel there is a definite necessity, in planning a country‹s
production structure, to keep some balance between the production of tradables
and nontradables. A country, especially a poor one, cannot afford to invest in
heavy infrastructural projects (which belong to the immobile sector) without at
——————
87 Hirschman (1958), S.43.
88 Hirschman spricht in diesem Zusammenhang auch von einem contagious effect der Investi-
tionen (1958, S.41), der einige Jahre später von Myrdal in Form seiner Ausbreitungseffekte
aufgegriffen wurde. Die heutige Verwendung des Begriffs contagion knüpft allerdings
stärker an den im Myrdalschen Konzept überwiegenden ›Kontereffekten‹ an. Eine späte,
wenn auch nur sprachliche Würdigung. Vgl. Myrdal (1974), Kapitel 3 und 5.
89 Vgl. Shapiro/Taylor (1990), S.862. Siehe auch Baer, W. (1994), Privatisation in Latin
America, in: The World Economy Nr. 4, S.509–528, S.509ff.
Entwicklungsplanung und Regulierung
75
the same time investing in the production of tradables. This makes a joint planning for both types of projects, already often complementary at the microlevel,
desirable.«90
Die bereits an anderer Stelle erwähnte kontrovers geführte Debatte über die
Notwendigkeit einer Wachstumsstrategie, die sich an der staatlichen Herbeiführung der vom Markt versagten Gleichgewichtsbedingungen orientiert, versus
einer Wachstumsstrategie, die auf den durch staatliche Aktivitäten hervorgerufenen sektoralen oder regionalen Ungleichgewichten basiert, wurde durch die Implementierung beider Konzepte in unterschiedlichen Ländern und den darauf
beruhenden Erfahrungen zugunsten eines unbalanced growth beendet. Denn
während letzteres sich auf Investitionen in einigen ausgesuchten Bereichen konzentriert, erfordert ein ›big push‹ gesamtwirtschaftliche Investitionsprogramme,
die den fiskal- und währungspolitischen Spielraum relativ schnell überfordern.
»A poor country cannot afford investment ›digging holes and filling them up
again‹, simply to break the deadlock of unemployment and set the multiplier to
work. Nor can it afford overall investment to generate ›balanced growth‹, because even though it would generate its own savings it would not generate its
own foreign exchange, nor would it in fact generate ›balanced growth‹, where
there are bottlenecks in supply.«91 Darüber hinaus mußte konstatiert werden, daß
weder ein balanced growth ausschließlich gleichgewichtig verläuft, noch ein
unbalanced growth nur Ungleichgewichte verursacht, sich beide auf dasselbe
Referenzsystem beziehen und der Gegensatz insofern relativ künstlich ist.
Projekt- und Sektorplanung im Rahmen eines Unbalanced-growth-Konzeptes
als Alternative zu gesamtwirtschaftlichen Investitionsprogrammen setzen jedoch
auch die Formulierung eines konkreten Entwicklungspfades voraus, aus dem der
für die Umsetzung notwendige (in- und externe) Finanzierungsbedarf abgeleitet
werden kann. Auf dieser Grundlage erfolgt dann erstens eine Identifikation derjenigen Branchen oder Regionen, welche die meisten linkages aufweisen, zweitens eine Selektion von einzelnen Wachstumspolen dieser Branchen bzw. Regionen, die mit dem zuvor ausgearbeiteten Entwicklungspfad und den vorgegebenen
——————
90 Tinbergen, J. (1972), Consequences of the Existence of AImmobile« Industries, in: Di
Marco, L.E. (Hrsg.), International Economics and Development: Essays in Honor of Raúl
Prebisch, New York, London: Academic Press, S.129–134, S.132.
91 Singer, H.W. (1987), What Keynes and Keynesianism can teach us about less developed
countries, in: Thirlwall, A.P. (Hrsg), abgedruckt in: Singer, H.W., Growth, Development
and Trade: Selected Essays of Hans W. Singer, Cheltenham, Northampton: Edward Elgar,
S.19–32, S.26. Für eine kritische Einschätzung seines Unbalanced–growth–Konzeptes siehe Hirschman (1992), S.26–33.
76
Der strukturalistische Staat
Budgetbeschränkungen konsistent sein müssen,92 und drittens eine zeitliche und
quantitative Festlegung der Anfangs- und Folgeinvestitionen.93 Ziel dieser
pronocierten Politik der Ungleichgewichte ist es, durch eine Abfolge von einer
staatlich generierten Überschußnachfrage einerseits und dem Aufbau von Überschußkapazitäten andererseits umfangreiche Multiplikatoreneffekte auszulösen,
die weitere, bestenfalls ausschließlich privat finanzierte Investitionen induzieren.
Der Staat hat hier die Funktion eines »binding agent« (Hirschman), der erst
durch die Bereitstellung der für die Entwicklung notwendigen Faktoren (Ersparnisse, moderne Technologien, unternehmerische Entscheidungskompetenz) einen
Lernprozeß für private Unternehmen initiieren kann, im Zuge dessen sie sich
aufgrund der Multiplikatoreneffekte nicht nur die Bereitschaft, sondern auch die
Fähigkeit, Investitionen zu tätigen, aneignen können.
Die Finanzierung dieser Industrialisierungsvorhaben erfolgt durch umfangreiche staatliche Kapitalimporte, budgetäre sowie außerbudgetäre Fonds und eine
administrative Kreditallokation. Kredite werden entweder von der Zentralbank
gegen die Ausgabe staatlicher Wertpapiere in ihr Portfolio direkt an die Regierung bzw. öffentliche Unternehmen oder indirekt über Geschäfts- und eigens zu
diesem Zweck gegründete Entwicklungsbanken vergeben. Die Geschäftsbanken
unterliegen der Auflage, daß sie einen bestimmten Anteil ihres Aktivgeschäftes
mit (staatlichen oder privaten) Schuldnern abzuwickeln haben, die präferierten
Sektoren entstammen. Weiterhin dient die Festlegung von Zinsobergrenzen dazu, die Kreditkosten so gering und damit den Anreiz für Investitionen so hoch
wie möglich zu gestalten. Dahinter verbirgt sich nicht nur die Annahme, daß die
vorherrschenden Preise nicht nur nicht korrekt, sondern anhand vorgegebener
Zielsetzungen exakt manipulierbar sind. »Die staatlichen Eingriffe in das Preissystem sind die entscheidenden, da sie im politischen Prozeß der Demokratie so
abgestimmt sind, daß sie die nichtstaatlichen Eingriffe in dem Sinne unterstützen
oder neutralisieren, so daß das Gesamtergebnis den Wertungen und Zielen entspricht, die aus dem demokratischen politischen Prozeß hervorgegangen sind.«94
Eine Zinssatzsubventionierung resultiert jedoch in einem Anstieg der Kreditnachfrage, insbesondere wenn das Realzinsniveau negativ ist.95 Zusätzlich sind
——————
92 Nicht alle linkages beinhalten entwicklungsfördernde Charakteristika vgl. Hirschman
(1981), S.65f.
93 Vgl. Hirschman (1958), S.98–119.
94 Myrdal (1974), S.57.
95 In 8 von 19 lateinamerikanischen Ländern waren die Aktivzinsen und in 14 von diesen 19
Ländern die Passivzinsen zeitweilig real negativ in zweistelliger Höhe, vgl. Galbis, V.
Entwicklungsplanung und Regulierung
77
nicht nur Beschränkungen der Kreditaufnahme für multinationale Unternehmen,
sondern ein generelles Verbot ihrer Investitionsfinanzierung auf dem heimischen
Kreditmarkt erforderlich: Ersteres da multinationale und heimische Unternehmen
in der strukturalistischen Welt um denselben, beschränkten Sparfonds konkurrieren, wodurch eine Kreditfinanzierung von Investitionen ausländischer Unternehmen in heimischer Währung die für heimische Unternehmen zur Verfügung
stehenden Finanzierungsmittel deutlich verringern würde und darüber hinaus
eine Fremdwährungsfinanzierung ausländischer Investitionsvorhaben in Form
von Direktinvestitionen die Devisenlücke verringerte; letzteres, da mit der Finanzierung von Investitionen multinationaler Unternehmen auf dem heimischen
Kreditmarkt das Risiko eines Wohlstandstransfers von Entwicklungs- zu Industrieländern verbunden ist. »On account of the low real cost of credit, giving
foreign firms access to internal credit under the terms described means accepting
a transfer of assets from the national community to foreigners. In fact, foreign
firms using such credit may derive a real profit from these borrowings, and nothing will prevent that profit from being eventually remitted to the original country.«96 Der Ausschluß multinationaler Unternehmen vom Zugang zu zinssubventionierten Krediten hindert heimische Unternehmen (sowie gegebenenfalls
Haushalte) jedoch nicht daran, den o.g. ›profit transfer‹ vom staatlichen in das
eigene Budget vorzunehmen.
Wird die Nachfrage nach Finanzierungsmitteln seitens des heimischen Unternehmenssektors durch Zentralregierung und -bank nicht völlig befriedigt, muß
eine Kreditrationierung auf dem offiziellen Markt erfolgen, von der nicht notwendigerweise angenommen werden kann, daß sie banküblichen Kriterien entspricht. Nur wenn die Bewertung der Bonität der Kreditnehmer, die Festlegung
der für den Kredit erforderlichen Sicherheiten und insbesondere die Bestimmung
eines real positiven Aktivzinssatzes in der Entscheidungskompetenz der Kreditinstitute verbleibt, kann von einem banküblichen Kreditvergabeprozeß gesprochen werden, dessen Funktionsweise ja gerade durch Zinsobergrenzen und insbesondere der Auflage, einen bestimmten Anteil des Aktivgeschäftes mit präferierten Sektoren abzuwickeln, eingeschränkt werden soll. Die Belastung des
Portfolios der in den staatlich motivierten Kreditallokationsprozeß involvierten
Geschäftsbanken mit einem steigenden Anteil notleidender oder gar uneinbring-
——————
(1979), Inflation and Interest Rate Policies in Latin America, 1967–76, in: IMF Staff Papers Nr. 2, S.334–366, Tabelle 4 und 5.
96 Ffrench–Davis/Arancibia (1972), S.381–382 (Hervorhebung im Original).
78
Der strukturalistische Staat
licher Forderungen ist ein Ergebnis dieser administrativen Kreditlenkung, woraus sich zusätzliche Ansprüche an das staatliche Budget ergeben.
Ein weiteres Resultat besteht in der Etablierung eines parallelen Kreditmarktes, bei dessen Anbieter es sich wiederum um Unternehmen handelt, die präferierten Zugang zum offiziellen Kreditmarkt haben. Aufgrund der großen Spanne
zwischen ihren eigenen (subventionierten) Zinskosten und den für duale Finanzsysteme charakteristisch hohen Realzinsen auf dem sogenannten informellen
Kreditmarkt sind die Gewinnerwartungen bezogen auf den Handel mit Krediten
tendenziell höher und das Risiko deutlich niedriger als bei einer vergleichbaren
Investition in Produktionskapazitäten. Der strukturalistische Staat sieht sich daher erneut mit der Notwendigkeit einer zusätzlichen Regulierung – sei es durch
verstärkte Kontrollen und Überwachung des Kreditvergabeprozesses, Unterdrückung des Parallelmarktes oder eine eigene Durchführung aller Investitionen –
konfrontiert, die eine zweckmäßigere Verwendung der bereitgestellten Kreditmittel garantieren soll. Der geringe Anreiz zur Geldvermögensbildung aufgrund
niedriger Passivzinsen, die noch unterhalb des Aktivzinsniveaus liegen müssen,
wurde erst mit zunehmender Dollarisierung und Kapitalflucht problematisiert, da
bis zu diesem Zeitpunkt davon ausgegangen wurde, daß Entwicklungsländer
keine nennenswerten Ersparnisse aufzuweisen hätten. Die mit dem Begriff financial repression bezeichnete staatliche Regulierung des Marktes für Geld und
Kredit führt nicht nur zu einer Kreditverknappung und somit einem Ergebnis,
das zu verhindern erklärtes Ziel der financial repression ist, sondern auch zu
einem Anstieg der öffentlichen In- und Auslandsverschuldung, einer Monetisierung der staatlichen inländischen Verschuldung und einem damit einhergehenden inflationären Prozeß sowie einer Reduzierung der Steuerungsfähigkeit der
Zentralbank durch das Eingehen mittel- bis langfristiger Kreditbeziehungen mit
der Regierung, Geschäfts- und Entwicklungsbanken.
»Find an economist with a keen interest in development planning and almost
certainly there will be an economywide model in the offing.«97 Tatsächlich werden allgemeine und partielle Gleichgewichtsanalysen bei der Erstellung eines
nationalen Entwicklungsplanes sowie der Diskussion von Auswirkungen staatlicher Investitionsprogramme auf die Produktionsstruktur, Einkommen, Konsum
——————
97 Bell, C., Srinivasan, T.N. (1984), On the Uses and Abuses of Economywide Models in
Development Policy Analysis, in: Syrquin, M., Taylor, L., Westphal, L.E. (Hrsg.), Economic Structure and Performance: Essays in Honor of Hollis B. Chenery, Orlando: Academic Press, S.451–476, S.451.
Entwicklungsplanung und Regulierung
79
oder etwa Verteilung verwendet.98 Darüber hinaus dienen Input-Output-Analysen dazu, die Verflechtungen einzelner Branchen miteinander transparent zu
machen und die potentiellen linkages herauszukristallisieren. 99 Die Bestimmung
von Volumen und Abfolge staatlicher Investitionen in ausgewählten Sektoren
erfolgt schließlich häufig auf der Grundlage des Konzepts der optimalen Überkapazität (optimal excess capacity) bzw. der optimalen Knappheit (optimal
shortage),100 die formaler Ausdruck von anzustrebenden Ungleichgewichtszuständen sind. Insgesamt beruhen viele Analysen auf sog. Two-gap-Modellen,
wobei sich die Restriktionen mehrheitlich auf die gesamtwirtschaftlich verfügbaren (nationalen) Ersparnisse sowie Fremdwährungsvolumina beziehen. 101
Auffällig an dem Rekurs auf ökonometrische Verfahren, die sich mit der
Weiterentwicklung der Informationstechnologien verstärkt einer nicht-linearen
Programmierung bedienen, ist ihr Bedeutungswandel vom analytischen Instrument zum Mittelpunkt der Analyse selbst. »Although planning models originated
as numerical procedures for solving specific problems of resource alloction, they
are increasingly being used as a means of theorizing about development
phenomena.«102 Die strukturalistische Theoriebildung ist zunehmend durch eine
quantitative Ausrichtung charakterisiert, wobei die Formalisierung immer stärker
die Funktion eines Substituts der theoretischen Fundierung der Wirtschaftspolitik
übernimmt. Diese Entwicklung, gekoppelt mit einem technokratischen Herange-
——————
98 Zur Einführung vgl. Kendrick, D., Taylor, L. (1971), Numerical Methods and Nonlinear
Models for Economic Planning, in: Chenery, H.B., Bowles, S., Falcon, W. u.a. (Hrsg.),
Studies in Development Planning, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, S.11–28.
99 Vgl. Hirschman (1981), S.63f. An dieser Stelle wird auch auf zahlreiche andere, vor allem
historische Studien verwiesen, die Input–Output–Relationen verwenden.
100 Chenery gilt als ein Pionier des Überkapazitätskonzeptes vgl. Chenery, H.B. (1952),
Overcapacity and the Acceleration Principle, in: Econometrica Nr. 20, S.1–28. Vgl.
darüber hinaus auch Westphal, L.E. (1971), An Intertemporal Planning Model Featuring
Economies of Scale, in: Chenery, H.B., Bowles, S., Falcon, W. u.a. (Hrsg.), Studies in Development Planning, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, S.60–88. Westphal
formuliert hier anhand eines koreanischen Investitionsprogrammes einen »optimal excess
capacity expansion path« für zwei der untersuchten 11 Sektoren.
101 Vgl. z.B. Bruno, M. (1971), Optimal Patterns of Trade and Development, in: Chenery,
H.B., Bowles, S., Falcon, W. u.a. (Hrsg.), Studies in Development Planning, Cambridge,
Mass.: Harvard University Press, S.173–186.
102 Chenery, H.B. (1971), General Introduction, in: Chenery, H.B., Bowles, S., Falcon, W. u.a.
(Hrsg.), Studies in Development Planning, Cambridge, Mass.: Harvard University Press,
S.1–3, S.2.
80
Der strukturalistische Staat
hen, erreicht in den 70er Jahren ihren Höhepunkt, symbolisiert aber gleichzeitig
den methodischen Niedergang des Strukturalismus.
Der Neostrukturalismus, der sich auf dem Hintergrund des Verschuldungskrisenmanagements der 80er Jahre herauszubilden begann, verschiebt die Akzente hin zu einer kritischeren Einschätzung der Wirkungsweise staatlicher Regulierungen. Obwohl die Kernelemente der strukturalistischen Analyse weiterhin als
gültig anerkannt und bestätigt werden, wird die mangelhafte analytische Aufarbeitung staatlicher Interventionen in den Marktprozeß als eines der Defizite des
Strukturalismus reflektiert. »An indepth consideration of the role of the State as
an economic agent and as an arena for social and political conflicts was
conspicuously absent from these industrialization proposals.«103 Die auch von
Neostrukturalisten konstatierte Unfähigkeit privater Akteure, allein eine erfolgreiche Industrialisierung einzuleiten, gilt nicht mehr automatisch als hinreichende Legitimation für die vollständige Übernahme dieser Funktion durch den Staat
selbst.104 Im Mittelpunkt der Kritik steht dabei die begrenzte staatliche
»managerial capacity« (Shapiro/Taylor), worunter die Fertigkeit der Regierung
verstanden wird, eine von ihr entworfene Entwicklungsstrategie umzusetzen.
Neostrukturalisten empfehlen nunmehr ein Konzept der selektiven Intervention,
das eine Konzentration der staatlichen Maßnahmen auf Schlüsselbereiche sowie
einen sukzessiven Aufbau von Institutionen bzw. eine Verbesserung deren administrativer Leistungsfähigkeit beinhaltet.105 Neben einem generellen Bekenntnis
zum crowding-in privater durch staatliche Investitionen findet sich ein wachsendes Einverständnis mit einem Teilrückzug des Staates aus seiner Funktion als
Produzent zugunsten einer Public-Private-Partnership.106 Damit hinterfragt der
Neostrukturalismus jedoch keineswegs die (preis-) theoretischen und methodi-
——————
103 Rosales (1988), S.26. Siehe auch S.33f.
104 Womit die Neostrukturalisten direkt an Hirschman (1958) anknüpfen. Vgl. exemplarisch
Shapiro/Taylor (1990), S.872.
105 Vgl. ECLAC (1990), S.124ff, Bitar (1988), S.47ff und S.52 sowie Ffrench–Davis, R.
(1988), An outline of a neo–structuralist approach, in: CEPAL–Review Nr. 34, S.37–44,
S.38f und S.44.
106 Vgl. Economic Commission for Latin America and the Caribbean (ECLAC) (1998),The
Fiscal Convenant: Strengths, Weaknesses, Challenges, Santiago, Chile: United Nations,
S.241–244. Siehe auch Amsden, A.H. (1997), Editorial: Bringing Production Back In –
Understanding Government‹s Economic Role in Late Industrialization, in: World Development Nr. 4, S.469–480, S.473f. Für eine kritische Einschätzung der Privatisierung staatlicher Unternehmen in Lateinamerika und der damit verbundenen Risiken vgl. Baer (1994),
S.520–526.
Entwicklungsplanung und Regulierung
81
schen Grundlagen der strukturalistischen Politikempfehlungen, sondern lediglich
das damit verbundene Ausmaß der staatlichen Aktivitäten, deren Scheitern auf
ein gemessen an der Aufgabe unzureichendes Know-how seitens der Regierung
zurückgeführt wird. Allein die Hinwendung zu einem »pragmatic approach»
(Sunkel/Zuletta) hebt somit das Strukturalisten auszeichnende Ziel-MittelDenken auch innerhalb des Neostrukturalismus nicht auf, der sich deshalb zeitweise in interpretationsbedürftigen bzw. Ad-hoc-Aussagen verlieren muß, da der
für die Beurteilung staatlicher Interventionen ehemals gültige Maßstab relativiert, aber nicht substituiert wurde. »However, it is equally clear that there are
extremely important direct functions of production or consumption and investment expenditure which the State and public enterprieses should continue to
perform in order, among other things, to carry out activities that are essential to
development and to ensure that external savings will complement domestic
savings rather than taking their place.«107
Ähnliche Argumentationsmuster finden sich in der neostrukturalistischen Position zur Importsubstituierenden Industrialisierung. Der bisher implementierten
ISI-Strategie wird durchaus eine Tendenz zum (kontraproduktiven) Protektionismus und dem Aufbau von ineffizienten, nicht-weltmarktfähigen nationalen
Monopolen bescheinigt.108 Darüber hinaus nimmt auch mittel- bis langfristig die
Devisenknappheit nicht ab, da lediglich die Struktur, aber nicht die absolute
Höhe der Importe Veränderungen unterworfen ist. 109 Der rohstoffexportierende
Sektor dient deshalb notgedrungen als »financer of last resort« (Rosales) hinsichtlich der für die Finanzierung der Investitionen erforderlichen Devisen und
erfährt dadurch einen Zuwachs und nicht wie prognostiziert eine Abnahme an
Bedeutung. Die auch aus neostrukturalistischer Sicht ambivalenten Ergebnisse
der ISI-Strategie werden jedoch entweder auf nationale bzw. internationale
Rahmenbedingungen oder auf die fehlende Bereitschaft und/oder mangelnde
Fähigkeiten der jeweiligen Regierungen, eine an der Aufrechterhaltung des Entwicklungsprozesses orientierten Wirtschaftspolitik umzusetzen, zurückgeführt.
»The purpose here is not to provide a blanket argument for any sort of state intervention, or to dismiss the fact that extensive state intervention in a number of
——————
107 González (1988), S.16.
108 Vgl. Seers (1983), S.116; siehe auch Rosales (1988), S.31–34.
109 Vgl. Singer, H.W., Alizadeh, P. (1986), Import substitution revisited in a darkening exter-
nal environment, in: Asian Journal of Economics and Social Studies Nr. 3, abgedruckt in:
Singer H.W., Growth, Development and Trade: Selected Essays of Hans W. Singer, Cheltenham, Northampton: Edward Elgar, 1998, S.120–139, S.138f.
82
Der strukturalistische Staat
instances has not been particularly successful in the development of a viable
industrial base. Nevertheless it is becoming increasingly clear that it is not the
extent and the duration of state intervention which determines the success or
failure of ISI or EOI [Export-Oriented Industrialisation, MM] but rather it is the
economic-political situation the state faces both internally and externally, its
political commitments, and its administrative capacity which matters.«110
Wenn von übermäßigen staatlichen Eingriffen in den Wirtschaftsprozeß abgesehen wird, entscheiden exogene und außerökonomische Faktoren über das
Sein oder Nicht-Sein einer Nationalökonomie. Als ›übermäßig‹ oder ›extensiv‹
wird eine staatliche Regulierung innerhalb des (neo-)strukturalistischen Paradigma dann definiert, wenn der Eingriff nicht das erwünschte Resultat zeitigt,
womit wiederum das mit dem Eingriff verbundene Ausmaß, nicht jedoch die mit
der Regulierung ausgelösten Marktprozesse problematisiert werden. Die mangelhafte Reflektion der preistheoretischen Grundlagen des Strukturalismus zeigt
sich insbesondere in den neostrukturalistischen Forderungen einerseits nach
einem verbesserten institution-building, das gemeinsam mit einer verbesserten
Bankengesetzgebung eine höhere Stabilität der Finanzmärkte gewährleisten soll,
und andererseits nach der Aufrechterhaltung einer administrierten Kreditallokation mit »moderate real interest rates« (Bitar) für diejenigen ökonomischen Akteure, die als relevante Träger der ›neuen‹ Strategie identifiziert werden: »Financial system regulated as to serve the purposes of productive development, with
regulated real interes rates and preferential access and interest rates for small and
infant producers. Central Bank subordinate to the Executive Branch, on a level
similiar to that of fiscal policy and productive development.«111
Die Fortführung einer Importsubstitution bei gleichzeitiger Eroberung von
Weltmarktanteilen wird von Neostrukturalisten nicht mehr prinzipiell ausgeschlossen.112 Im Gegensatz zu dem von Liberalen favorisierten export-ledgrowth propagieren Neostrukturalisten nun ein »export-adequate-growth« (Shapiro/Taylor). Eine solche Wachstumsstrategie soll im Vergleich zur Importsubstituierenden Industrialisierung einerseits Importrestriktionen und Exportanreize
——————
110 Singer/Alizadeh (1986), S.124.
111 Ffrench–Davis (1988), S.41. Zur Relevanz des institution–buildings vgl. Held, G. (1994),
Liberalization or Financial Development?, in: CEPAL Review Nr. 54, S.27–45. Zu einzelnen staatlichen Maßnahmen der KMU–Förderung siehe Sunkel/Zuletta (1990), S.44–45.
112 Vgl. Cardoso, E., Fishlow, A. (1989), Latin American Economic Development: 1950–
1980, Working Paper Nr. 3161, Cambridge, Mass.: National Bureau of Economic Research, S.10–12; Bitar (1988), S 47; González (1988), S.16f.
Entwicklungsplanung und Regulierung
83
stärker im Sinne der Unterstützung einer Weltmarktintegration einsetzen und andererseits den Aufbau internationaler Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Industrie als explizites Ziel berücksichtigen, während die Veränderung der Produktionsstruktur hin zur Ansiedlung höherwertiger Verarbeitungsstufen weiterhin als
vorrangige wirtschaftspolitische Aufgabe des Staates betrachtet wird. 113 »It is the
responsibility of the State to guide the structural adjustment towards greater
specialization and competitiveness within a long-term perspective: a form of
guidance that the market does not provide. This is the proper function of the
›leader‹ State.«114 Neben Maßnahmen zur Erhöhung der Qualifikation und verbesserter Diffundierung des technischen Fortschritts, die auch wesentlicher Bestandteil einer ISI-Strategie sind, soll »genuine« (ECLAC) oder »structural
competitiveness« (Sunkel/Zuletta) durch eine graduelle Öffnung des Binnenmarktes gegenüber dem Weltmarkt, eine Vereinheitlichung der Zölle, stabile und
hohe reale Wechselkurse sowie umfassende Existenzgründungsprogramme erworben werden.115 Letztlich läßt sich diese von alten und neuen Strukturalisten
als qualitativ verändert bezeichnete Strategie auf eine Empfehlung zum weitgehenden Verzicht quantitativer Regulierungen und ein verbales Bekenntnis zur
Steigerung der internationalen Konkurrenzfähigkeit, das vor allem durch geringer werdende fiskalische Verteilungsspielräume und ein rezessives oder gar
depressives weltwirtschaftliches Umfeld motiviert zu sein scheint, reduzieren.
In diesem Zusammenhang wird immer wieder die Forderung nach stabilen
realen Wechselkursen, die entweder Exporte begünstigen oder zumindest dem
Neutralitätskriterium genügen sollen, erhoben. Eine Abwertung des nominalen
zur Stabilisierung des realen Wechselkurses als alleinige Maßnahme wird jedoch
aufgrund der damit verbundenen kontraktiven und inflationären Effekte abgelehnt.116 Von der Besteuerung traditioneller Exporte abgesehen, empfehlen Neostrukturalisten entsprechend ihren Vorgängern den Einsatz des Wechselkurses
zur Erhöhung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit nur mit sinkender tarifärer Importprotektion.117 Entspricht die Zollsenkung der abwertungsbedingten
Erhöhung der Importpreise, so verbleiben die Importkosten in heimischer Wäh-
——————
113 Vgl. ECLAC (1990), S.81–88; Shapiro/Taylor (1990), S.870–873, Sunkel/Zuletta (1990),
S.43f und S.49. Singer/Alizadeh (1986) empfehlen eine Verschmelzung des Konzepts der
Importsubstitution und Exportorientierung zur »integrated industrialization«, S.125–128.
114 Bitar (1988), S.59.
115 ECLAC (1990), S.82–88 und S.103–123.
116 Vgl. Taylor (1988), S.42f. und González (1988), S.10f.
117 Vgl. ECLAC (1990), S.104f.
84
Der strukturalistische Staat
rung unverändert, so daß von der Abwertung kein Preisniveauschub und damit
keine Erhöhung der Produktionskosten ausgeht. Obgleich duale oder multiple
Wechselkurse in Einzelfällen auch explizit noch Akzeptanz finden, präferieren
Neostrukturalisten vereinheitlichte Wechselkurse im Rahmen eines CrawlingPeg-Regimes.118
Den Wechselkurs zur Verbesserung der Export- ohne Beeinträchtigung der
Importfähigkeit einzusetzen, erkennt die Schwächung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit von Exporten durch eine Überbewertung an, negiert jedoch den
Aspekt, daß auch Importe relativ teurer werden müssen, wenn die preisliche
Benachteiligung der binnenwirtschaftlichen Produktion abgebaut werden soll,
unabhängig davon, welches Marktsegment Abnehmer dieser Produktionsgüter
ist. Ein Crawling-Peg-Regime bei gleichzeitigem unilateralen Zollabbau zur
Steigerung der internationalen Konkurrenzfähigkeit zu etablieren, kann aber
auch als Versuch interpretiert werden, die unterstellten handelspolitischen Vorteile eines multiplen Wechselkurssystems ohne die mit solchen Regimen verbundenen nachteiligen Wirkungen in Form der Inkonvertibilität der heimischen
Währung und der Devisenbewirtschaftung zu realisieren. Da der Kern des neostrukturalistischen Arguments Handelsbilanzaktivitäten in den Mittelpunkt stellt
und wiederum weitestgehend von den mit häufigen Abwertungen verbundenen
Vermögensmarktimplikationen und Kapitalbilanztransaktionen abstrahiert wird,
bleibt die Kontinuität des strukturalistischen Arguments gewahrt und muß die
Neostrukturalisten somit die gleiche Kritik wie ihre Vorgänger treffen. Eine
Abwertung des nominalen Wechselkurses wertet in heimischer Währung denominiertes Vermögen ab und in Fremdwährung kontrahierte Verbindlichkeiten
auf, stranguliert einerseits somit in Fremdwährung verschuldete (private und
staatliche) Akteure durch eine Erhöhung der Finanzierungskosten ihrer Verbindlichkeiten und bewirkt andererseits durch die Verringerung der Vermögenssicherheit der Währung eine Portfolioumschichtung von Vermögenseigentümern
zugunsten von Fremdwährung. Ceteris paribus erhöht sich die Nachfrage nach
Fremdwährung, wodurch die heimische Währung erneut unter Abwertungsdruck
gerät. Darüber hinaus bietet ein Crawling-Peg-Regime kombiniert mit Zollsenkungen bei dauerhaft höherer Inflationsrate als im Währungsraum der Haupthandelspartner in Abhängigkeit der Höhe der Tarifprotektion in der Ausgangssituation lediglich eine kurz- bis maximal mittelfristige Perspektive, ein positives
Inflationsdifferential im Hinblick auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit
der Exportprodukte zu neutralisieren und birgt ansonsten die Gefahr einer Ab-
——————
118 Vgl. Taylor (1990), S.49 bzw. S.117; siehe auch Ffrench–Davis (1988), S.42.
Entwicklungsplanung und Regulierung
85
wertungs-Inflations-Spirale in sich. Dementsprechend ist auch der Wandel der
neostrukturalistischen Position ab Beginn der 90er Jahre zu interpretieren, einen
nominal stabilen Wechselkurs, jedoch diesmal als Instrument zur Desinflation zu
verwenden.
2.3.2 Arbeitsplätze und Indexierung
Die zeitweilige Verschärfung der Einkommens- und Vermögenskonzentration zu
Beginn des Wachstumsprozesses beinhaltet für die Ersparnisbildung und die
damit einhergehende Kapitalakkumulation aufgrund des Konsum- und vor allem
des hohen Importkoeffizienten der vermögenden Schichten nicht eine stimulierende, sondern eine retardierende Wirkung auf den Entwicklungsprozeß. Für
eine Beschleunigung des Wachstumsprozesses sind deshalb eine umfangreiche
Bereitstellung von Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten sowie ein
Eingriff in den Vermögensbestand erforderlich, die das Aufkommen einer wertmäßig relevanten kaufkräftigen Binnennachfrage erst ermöglichen und somit
eine Auslastung der im Rahmen der ISI-Strategie aufgebauten Produktionskapazitäten erlauben. »Distributional objectives are commonly sought through
policies aimed at promoting employment, which would raise the total wage bill
(and possibly wage share), thus benefiting lower-income groups. (...) Equally
important, in our view, are policies aimed at altering the pattern of concentration
of productive assets over time and reducing barriers to entry into more profitable
types of production.«119
Sowohl die Investitionsprogramme von vorwiegend staatlichen Unternehmen
als auch ein forcierter Ausbau der öffentlichen Administration stellen im strukturalistischen Kontext Kernelemente einer arbeitsmarktorientierten Wirtschaftspolitik dar, die von privaten Akteuren fehlenden oder als zu gering eingeschätzten
positiven Beschäftigungseffekte zu kompensieren versucht. »Because the dynamic insufficiency of the growth process made it difficult to provide productive
work for the entire urban labour force, in various countries the public sector
——————
119 Ahluwalia/Chenery (1976), S.44. Eine detailliertere Diskussion weiterer verteilungspoliti-
scher Maßnahmen siehe auch Ahluwalia, M.S. (1976b), The Scope for Policy Intervention,
in: Chenery/Ahluwalia/Bell et. al. (Hrsg.), S.73–90 sowie Bell, C.L.G. (1976), The Political Framework, in: Chenery/Ahluwalia/Bell et. al. (Hrsg.), S.52–72.
86
Der strukturalistische Staat
became the employer of last resort (...).«120 Ergänzt werden die Beschäftigungsprogramme um eine Lohnpolitik, die Mindestlöhne, Nominallohnerhöhungen
sowie eine Reallohnsicherung miteinander kombiniert. Während Nominallohnerhöhungen, die den Produktivitätsfortschritt überschreiten, auf eine Umverteilung der Einkommen zugunsten der abhängig Beschäftigten abzielen, dient die
Indexierung der Nominallöhne an die vergangene Preissteigerungs- oder Abwertungsraten als Instrument der Stabilisierung der Reallöhne und damit der Absicherung der Umverteilungspolitik. Darüber hinaus wird die Indexierung insbesondere in einem inflationären Umfeld zur Vermeidung von in zeitlich kurzen
Intervallen ausgetragenen Interessenskonflikten und der damit verbundenen sozialen Auseinandersetzungen bzw. wirtschaftlichen Folgekosten eingesetzt.»The
basic rationale [of indexation, MM] is to avoid the costs of a permanent
recontracting process between interested parties.«121
Selbst wenn die Lohnerhöhungen formal auf den Geltungsbereich des öffentlichen Dienstes beschränkt sind, muß aufgrund der Relevanz staatlicher Unternehmen für die betroffenen Ökonomien davon ausgegangen werden, daß Lohnabschlüsse des öffentlichen Dienstes als ›Schrittmacher‹ für andere Unternehmen
bzw. Tarifbereiche des modernen Sektors fungieren. In Kombination mit einem
überbewerteten Wechselkurs und bei gegebenem Preisniveau verursachen Nominallohnsteigerungen oberhalb des Produktivitätsfortschrittes bei Unternehmen
ein profit squeeze, der nur dann nicht in Produktionseinstellungen mündet, wenn
die betroffenen Betriebe ihr erwirtschaftetes Defizit auf das staatliche Budget
abwälzen können. Lediglich wenn es sich um öffentliche Unternehmen handelt,
ist eine Subventionierung ihrer Verluste automatisch gewährleistet, während alle
anderen Unternehmen sich um eine jährliche Zuteilung aus dem Budget bemühen müssen. Letzteres liefert einerseits eine weitere Erklärung für die hohe Verbreitung staatlicher bzw. halbstaatlicher Unternehmen, und stellt andererseits
eine ökonomische Grundlage für das häufig beobachtbare Rent-seeking-Verhalten von privaten Unternehmen sowie die von Strukturalisten als charakteristisches Merkmal von Entwicklungsländern hervorgehobenen Verteilungskonflikte
dar. Verteilungskonflikte zur Wahrung der einzelwirtschaftlichen Existenz müssen in einer solchen Konstellation geradezu ausbrechen, da eine Subventionierung von Unternehmen in einer nicht-planwirtschaftlich organisierten Ökonomie
——————
120 Rosales (1988), S.29.
121 Machinea, J.L., Fanelli, J.M. (1988), Stopping Hyperinflation: The Case of the Austral
Plan in Argentina, 1985–87, in: Bruno, M, Di Tella, G., Dornbusch, R., Fischer, S.(Hrsg.),
Inflation Stabilization, Cambridge, Mass.: MIT Press, S.111–152, S.122.
Entwicklungsplanung und Regulierung
87
niemals flächendeckend sein kann. Erfolgt eine weitreichende Finanzierung der
unternehmerischen Defizite seitens des Staates ohne kompensatorische
Einnahmensteigerungen bzw. Ausgabensenkungen, so bleibt ein dadurch gespeister Inflationsprozeß nicht aus, der durch die Indexierung der Nominallöhne
über die Höhe und Häufigkeit der Lohnanpassung selbst zusätzlich beschleunigt
wird.122 Die Überlagerung der Industriepolitik mit der für den städtischen Sektor
entworfenen Arbeitsmarkt- bzw. Umverteilungspolitik hat somit weitreichende
geld-, fiskal- und unternehmenspolitische Konsequenzen und beinhaltet ein hohes Instabilitätspotential für das heimische Finanzsystem.
Während mit den oben genannten Maßnahmen ein Abbau der offenen Arbeitslosigkeit vorwiegend im modernen Sektor angestrebt wird, konzentriert sich
die Agrarpolitik auf die Modernisierung der Landwirtschaft durch vor allem
großflächigen Anbau sowie auf eine staatliche Preisregulierung für die wichtigsten Nahrungsmittelpreise, wobei beides nur indirekt in einer Verringerung der
Unterbeschäftigung infolge einer Freisetzung von Arbeitskräften im traditionellen Sektor resultieren soll. Neben der Veränderung landwirtschaftlicher Produktionsmethoden besteht das mittelfristige Ziel einer Bewirtschaftung großer Anbauflächen durch eine entsprechend hoch maschinisierte und anfänglich importintensive Landwirtschaft in der vollständigen Versorgung der ansteigenden Gesamtbevölkerung bzw. eines schnell wachsenden modernen Sektors mit ausreichenden Nahrungsmitteln für den Eigenbedarf und eine damit korrespondierende
Verringerung der Devisenausgaben für Nahrungsmittelimporte. Darüber hinaus
wird eine Erhöhung der Devisenerlöse durch zukünftige Exporte nichttraditioneller cash crops und eine Reduzierung der für die landwirtschaftliche
Produktion notwendigen importierten Inputs durch den Aufbau der Substitutionsgüterindustrie erwartet. Die Förderung der (staatlich oder privat geführten)
Großbetriebe erfolgt mittels direkter Kontrollen (z.B. zentrale Saatgutverteilung
und Vermarktung) sowie über finanzielle Anreize (z.B. präferierte Devisen- und
Kreditzuteilung bzw. Subventionen). Um einen Kaufkraftverlust städtischer
Arbeitnehmer als Konsequenz einer Anhebung der Nahrungsmittelpreise z.B.
aufgrund ansteigender Produktionskosten und eine dadurch bedingte Preis-LohnPreis-Spirale auszuschließen, werden die sich im Warenkorb eines durchschnitt-
——————
122 Für Israel wurde dieser Prozeß nachgezeichnet von Bruno, M. (1993), Crisis, Stabilization,
and Economic Reform, Oxford: Clarendon Press, S.67–74. Bruno (S. 68) besteht allerdings
darauf, daß das Beharrungsvermögen der Inflation (bzw. der Inflationserwartungen seitens
der ökonomischen Akteure) mit immer kürzeren Anpassungsintervallen geringer wird:
»Monthly, weekly, and ultimately daily indexation would reduce inertia.«
88
Der strukturalistische Staat
lichen städtischen Haushaltes befindlichen Agrarerzeugnisse preislich fixiert. 123
Eine Landreform als direkter Eingriff in die Vermögensstruktur stattet Kleinbauern mit Flächen in einer kommerzialisierbaren Größe aus und beschleunigt somit
eine Veränderung von traditionellen zu modernen Produktionsmethoden, die
ebenfalls durch spezifische staatliche Programme komplementiert werden müssen.124 Mehr Anbauflächen, bessere Anbaumethoden, höhere landwirtschaftliche
Erzeugung und stabile Agrarpreise sind annahmegemäß die Resultate der strukturalistischen Modernisierungsstrategie für den Agrarsektor.
Eine zwangsläufiges Resultat dieser green revolution besteht jedoch in der
hohen finanziellen Belastung des staatlichen Budgets. Bei Verkaufspreisen, die
auf einem Niveau unter den Herstellungskosten fixiert werden, um den Industrialisierungsprozeß hinsichtlich der Lohnkosten von dieser Seite zu entlasten, ist die
landwirtschaftliche Produktion durchgängig auf umfangreiche Subventionen und
Vergünstigungen angewiesen. Werden diese gewährt, so können ähnliche Effekte hinsichtlich ihrer Verwendung bzw. Umgehung von staatlichen Auflagen auftreten wie bei der bereits diskutierten präferierten Kredit- und Devisenzuteilung
für Unternehmen des industriellen Sektors. Auf eine Landreform, die als wesentliches Instrument für die Transformation der traditionellen Landwirtschaft betrachtet wird, wurde häufig verzichtet, da die monetären Entschädigungen für die
Enteignungen des Grundeigentums den fiskalpolitischen Spielraum zu übersteigen drohten.125 Dadurch entfiel gleichzeitig die Alimentierung der von einer
Landreform betroffenen (traditionellen) Haushalte aus dem Budget, was sich in
einem entsprechenden Rückgang des für die Gesamtgesellschaft spezifischen
Nahrungsmittelangebotes und damit in einer Erhöhung der Nahrungsmittelimporte widerspiegelte. Letzteres könnte auch eine ökonomische Erklärung für den
von Strukturalisten oftmals beklagten Präferenzwechsel der Haushalte zugunsten
sogenannter westlicher Konsummuster liefern. Aber selbst unter Bedingungen
einer Landreform und vorwiegend privater, kleinbäuerlicher Bewirtschaftung
können hohe, staatlich garantierte Erzeugerpreise, die einen monetären Anreiz
für eine Angebotsausweitung darstellen sollen, und niedrigeren, weil subventio-
——————
123 Vgl. Felix, D. (1964), Monetarists, Structuralists, and Import–Substituting Industrializa-
tion: A Critical Appraisal, in: Baer, W., Kerstenetzky, I. (Hrsg.), Inflation and Growth in
Latin America, Homewood, Illinois: Richard D. Irwin, S.370–401, S.378ff. Siehe auch
Rosales (1988), S.26.
124 Vgl. Ahluwalia/Chenery (1976), S.45. Siehe auch Singer (1987), S.26–27.
125 Vgl. Bell/Duloy (1976), S.119–122, die die politischen und monetären Kosten einer Landreform für unterschiedliche Ökonomien in Afrika, Asien und Lateinamerika diskutieren.
Entwicklungsplanung und Regulierung
89
nierten Verkaufspreisen zur Realeinkommenstützung nicht-bäuerlicher Haushalte in einer Dekapitalisierung des staatlichen Marketingboards und einem drastischen Rückgang des heimischen Nahrungsmittelangebotes resultieren. Je größer
der spread zwischen Erzeuger- und Verkaufspreis ist, desto höher ist der Anreiz
für Kleinbauern, sich auf den Handel mit Nahrungsmitteln zu spezialisieren, in
dem auf dem offiziellen Markt relativ billig Nahrungsmittel ge- und entsprechend teuer an das Marketingboard oder auf dem Parallelmarkt verkauft werden.
Wenig überraschen kann deshalb die Desillusionierung des ehemaligen nicaraguanischen Landwirtschaftsministers Jaime Wheelook: »Alles in allem bereichert sich hier der Produzent zwar weniger, auch nicht in Dollars, aber setzt auch
nicht sein Eigentum aufs Spiel, wenn er produziert. Wenn seine Rentabilität
niedrig ist, bringen wir sie mit Hilfe von verschiedenen Mechanismen in Ordnung. Das ist ein Stabilitäts- und Sicherheitsfaktor für sie. Was uns mehr Sorgen
bereitet, ist das aufkommende Phänomen einer nicht zu unterschätzenden
Spekulantenschicht, die mehr als sonst jemand Profite macht und über Nacht ihr
Glück auf Kosten aller anderen macht.«126 Im Extremfall verbleibt das Marketingboard bei hohem finanziellen Umsatz mit ebenso hohen Verlusten bei
gleichzeitig quantitativ schrumpfendem landwirtschaftlichen Angebot.
Vorwiegend wurde als Ergebnis empirischer Studien in den 70er Jahren konstatiert, daß es sich bei den Haushalten, die einer sozialen Marginalisierung ausgesetzt sind, nicht primär um arbeitslose Wirtschaftssubjekte, sondern um Selbständige handele, die sich überwiegend aus dem ländlichen Raum und dem informellen urbanen Sektor rekrutieren.127 Dementsprechend wurde der bisherige
auf Wachstum und der Schaffung neuer (formaler) Beschäftigungsverhältnisse
ausgerichtete Ansatz zu einer Verbesserung der Einkommensverteilung zugunsten einer Grundbedürfnisstrategie abgelöst, da Wirtschaftswachstum bestenfalls
die gegebene Einkommensverteilung nur unverändert belasse, aber keineswegs
korrigiere. »And the real problem of long-term development, surely, is to equip
the present generation of children, feed them, clothe them, house them, educate
them, and train them in such a way that they become more efficient producers
than their forefathers have been. That, surely, is the process of economic devel-
——————
126 Arce, B., Ortega, H., Wheelook, J. (1987), Sandinistas: Interviews von Jesús Ceberio,
Gabriele Invernizzi und Francis Pisani, Frankfurt/M.: ISP–Verlag, S.80. Zur Agrarpreispolitik vgl. Medal, J.L. (1985), La Revolución Nicaragüense: Balance Económico y
Alternativas Futuras, Managua: Centro de Investigación y Asesoria Socio–Económica,
S.39f.
127 Vgl. Ahluwalia (1976a) sowie Singer (1984), S.101.
90
Der strukturalistische Staat
opment in a much more significant sense than the process of physical capital
formation.«128 Obwohl für die Umsetzung des Basic-needs-Ansatzes eine relativ
flächendeckende staatliche Finanzierung der ländlichen integrierten Entwicklung
und der sozialen Infrastruktur notwendig ist, um die eingeforderte Zielgruppenorientierung zu erreichen, werden die dafür notwendigen finanziellen Mittel
(noch) nicht als die wesentliche Restriktion betrachtet: »The required redesign of
the public services from urban to rural, from middle class to deprived groups,
from sophisticated to simple, with greater emphasis on the needs of women and
small children, is not constrained by money but by political inhibitions, administrative obstacles, and institutional barriers.«129
Innerhalb des Neostrukturalismus besteht ein Konsens darüber, daß eine
simple Fortführung der strukturalistischen Umverteilungspolitik entweder aus
fiskal- bzw. stabilitätspolitischen Gründen oder aufgrund von den mit den bisherigen Maßnahmen einhergehenden Effizienzverlusten nicht wünschenswert ist. 130
Während für einzelne Neostrukturalisten eine staatliche Umverteilungspolitik
überhaupt erst als Konsequenz eines zukünftigen hohen Wirtschaftswachstums
finanzierbar erscheint, plädiert die Mehrheit für eine sofortige Renaissance der
Umverteilungspolitik. »As we already noted, ECLAC rejects the ›trickle-down‹
theory because past experience shows that economic growth by itself does not
automatically lead to equity. (...) Instead, ECLAC advocates an integrated approach under which considerations of equity are incorporated into economic
policy, while social policy take due account of efficiency.« 131 Dabei stehen die
Verbesserung des Steuereinziehungsverfahrens verbunden mit einer Anhebung
——————
128 Singer, H.W. (1969), Keynesian Models of Economic Development and Their Limitations:
An Analysis in the Light of Gunnar Myrdal’s ›Asian Drama‹, UN Asian Institute for Economic and Development Planning Occasional Papers, abgedruckt in: Singer, H.W. (1998),
Growth, Development and Trade: Selected Essays of Hans W. Singer, Cheltenham,
Nothampton: Edward Elgar, S.53–69, S.60.
129 Streeten, P. (1980), Can Basic Human Needs Be Met by the Year 2000? in: Haq, K.
(Hrsg.), Dialogue for a New Order, New York, Oxford, Toronto u.a.: Pergamon Press,
S.219–231, S.226.
130 Vgl. z.B. Cardoso/Fishlow (1989), S.28–38.
131 Ramos, J. (1995), Can Growth and Equity Go Hand in Hand?, in: CEPAL–Review Nr. 56,
S.13–24. Vgl. auch ECLAC (1998), S.30–35 und ausführlicher Kapitel VI–VIII sowie
ECLAC (1990), S.77–81 bzw. Bitar (1988), S.57–58. Skeptischer hinsichtlich einer gleichzeitigen Realisierung von Wachstums– und Verteilungszielen zeigen sich dagegen
Sunkel/Zuletta (1990), S.42 bzw. S.46 wie auch Amsden (1997), S.474–476, die lediglich
eine Erhöhung des politischen, jedoch nicht budgetären Spielraums durch geringeres ›anti–
social behavior‹ als Folge einer egalitäreren Einkommensverteilung beobachtet.
Entwicklungsplanung und Regulierung
91
der direkten Steuersätze, eine Beschleunigung der Humankapitalbildung durch
eine quantitative und qualitative Ausweitung der schulischen, betrieblichen und
berufsbegleitenden Qualifikationsangebote sowie insgesamt eine Dezentralisierung aller öffentlichen sozialen Dienstleistungen durch ihre (Teil-)Privatisierung
bzw. Übertragung dieser Verantwortungsbereiche an regionale oder lokale Gebietskörperschaften als wichtigste Maßnahmen im Vordergrund. Während ersteres und letzteres eher auf eine direkte monetäre Entlastung des Bundesbudgets
abzielen, soll die verstärkte Förderung von formaler Ausbildung nicht nur einer
Umverteilungspolitik der selektiven Intervention via einer Repriorisierung der
öffentlichen Ausgaben genügen, sondern vor allem die Wachstumsrate der Ökonomie durch die Bereitstellung eines der Nachfrage adäquaten Arbeitskräftepools
deutlich erhöhen.132
Im Gegensatz zur Grundbedürfnisstrategie wird die Trennungslinie der sozialen Marginalisierung in den 90er Jahren wieder stärker zwischen Lohnempfängern und Arbeitslosen verortet, was dem verteilungspolitischen Konzept der
Neostrukturalisten, Armut durch formale, in der Privatwirtschaft verankerte Beschäftigungsverhältnisse zu verringern, eine argumentative Grundlage liefert.
Die Verteilungspolitik verbleibt mit dem Kunstgriff der Erweiterung des Kapitalbegriffs um Humankapital durchaus im Rahmen des Harrod-Domar-Modells,
wobei sich der neostrukturalistische Staat vorwiegend auf die Bereitstellung von
Rahmenbedingungen beschränken kann, von denen angenommen wird, daß sie
die Wirtschaftsakteure befähigen, am Wirtschaftsprozeß aktiv teilzunehmen. Insbesondere mit weitreichender Akzeptanz zur Privatisierung sozialer Dienstleistungen, einschließlich von Ausbildungskrediten, die durch individuelle Rentenbeiträge abgesichert werden sollen, sowie Löhnen, die bis zum Anteil von 25%
entsprechend der Gewinnentwicklung des Unternehmens, bei dem die jeweiligen
Arbeitnehmer beschäftigt sind, fluktuieren können,133 wird das ehemals strukturalistische Verständnis von einer gesamtgesellschaftlichen im neostrukturalistischen Kontext in eine individuelle Verantwortung der einzelnen Wirtschaftssubjekte für ihre Einkommenserzielung transformiert. «Finally, and – in terms of the
challenge of growth with equity – most importantly, the supply and use of social
services must be oriented towards the more productive development of the persons concerned in order to make them capable of playing a more dynamic role in
——————
132 Vgl. ECLAC (1990), S.78ff. und Ramos (1995), S.15f.
133 Vgl. exemplarisch Ramos (1995), S.20ff.
92
Der strukturalistische Staat
the economic system. This is the essence of a human resources development
policy whose goal is to combine greater equity with increased productivity.«134
Neben der Aufrechterhaltung von Stützungspreisen und der Einführung von
Termin- und Versicherungsmärkten für landwirtschaftliche Güter bzw. den
Agrarsektor,135 erteilen Neostrukturalisten der Fortführung einer industriellen
Entwicklung auf Kosten der Landwirtschaft eine klare Absage, ohne jedoch ein
qualitativ anderes Konzept dafür aufweisen zu können. »Agriculture must be
viewed not merely as a source of surpluses to support industrialization, but also
as a dynamic source of growth, employment, and better distribution of income.
Agricultural progress is essential to provide food for a growing nonagricultural
labor force, raw materials for industrial production, and savings and tax revenue
to support development of the rest of the economy; to earn more foreign exchange (or save foreign exchange when primary products are imported); and to
provide a growing market for domestic manufactures.«136
2.3.3 Heterodoxes Schockprogramm
und zentrale Einkommenspolitik
Der Strukturalismus negiert auf der analytischen Ebene weder die inflationären
Erscheinungen, durch die Ökonomien von Entwicklungsländern gekennzeichnet
sind, noch die damit verbundenen destabilisierenden Wirkungen wie von theoretischen Kontrahenten häufig mit dem Verweis auf eine oftmals praktizierte expansive Geld- und Fiskalpolitik unterstellt wird. Strukturalisten führen dagegen
das Wesen der Inflation auf Faktoren zurück, die mit einer restriktiven Geld- und
Fiskalpolitik nicht überwunden werden können. »There is inflation because the
economy is structurally vulnerable, because there are regressive income distribution factors, because there are not enough savings to expedite investment within
a given economic and social structure.«137 Dennoch weist jede einzelne der bislang dargestellten Maßnahmen zur Überwindung der die Inflation verursachende
——————
134 ECLAC (1990), S.81.
135 Vgl. Sunkel/Zuletta (1990), S.44.
136 Meier, G.M. (1989), Leading Issues in Economic Development, New York, Oxford: Ox-
ford University Press, S.325 (Hervorhebungen nicht im Original). Vgl. weiterhin Rosales
(1988), S.30–31 und ECLAC (1990), S.99.
137 Prebisch (1961), S.3; vgl. auch Hirschman (1981), S.181.
Entwicklungsplanung und Regulierung
93
strukturelle Heterogenität tendenziell inflationäre Elemente auf. Zusammengenommen birgt die bislang dargestellte strukturalistische Wirtschaftspolitik gar
die Gefahr eines sich beschleunigenden inflationären Prozesses in sich, der im
wesentlichen über das Budget des Finanzministers gesteuert und durch die Zentralbank alimentiert wird. Neben dem Inflationsprozeß selbst, der in Einzelfällen
den Verlust aller Geldfunktionen der heimischen Währung hervorruft und in eine
Hyperinflation umschlägt, ist die Binnenökonomie durch die administrierte Kreditrationierung und eine damit einhergehende Spaltung bzw. Vertiefung bereits
vorhandener dualer Strukturen, insbesondere auf dem Kreditmarkt, gefährdet,
was sich in einer weitreichenden Deintermediation des Finanzsektors ausdrücken
kann. Die Weltmarktintegration auf der Grundlage der ISI-Strategie bei einem
überbewertetem Wechselkurs bedingt eine Akkumulation vorwiegend staatlicher
Fremdwährungsverschuldung, die eine Devisenrationierung sowie eine Inkonvertibilität der heimischen Währung hervorrufen kann. Zahlungsbilanzkrisen und
damit verbundene Abwertungsschübe erfordern immer wieder eine Korrektur der
Wirtschaftspolitik, wobei die Steuerungsfähigkeit der Ökonomie durch die Geldund Fiskalpolitik proportional zu den binnen- und außenwirtschaftlichen Korrekturerfordernissen abnimmt.
Aus diesem Hintergrund mahnen Neostrukturalisten eine Reorientierung der
Wirtschaftspolitik an, die in einer Rückkehr und schließlich Aufrechterhaltung
der makroökonomischen (monetären) Gleichgewichte resultieren soll, wobei
hierunter keine grundsätzliche Abkehr von der bisherigen Regulierungspraxis
verstanden wird: »The neo-structuralists seek to regulate capital movements, the
exchange rate, trade policy and the interest rate, in order to build a stable
macroeconomic framework which, as a source of confidence in future economic
policy, promotes capital formation and the acquisition of comparative advantages as a means of taking advantage of and increasing investment and innovation opportunities.«138 Obgleich der Inflationsprozeß immer noch vorwiegend auf
strukturelle und verteilungspolitische Faktoren zurückgeführt wird, besteht ein
Konsens darüber, daß die betreffenden Strukturen weder mit einer strukturalistisch, aber auch nicht mit einer neostrukturalistisch inspirierten Wirtschaftspolitik in einem solch kurzen Zeitraum verändert werden können, der es dem Staat
erlauben würde, die der Ökonomie inhärenten inflationären und durch seine
Politik zusätzlich ausgelösten destabilisierenden Effekte unberücksichtigt zu
lassen.
——————
138 Sunkel/Zuletta (1990), S.45. Vgl. auch ECLAC (1998), S.9f., ECLAC (1990), S.45–47,
Cardoso/Fishlow (1989), S.26 Ffrench–Davis (1988), S.41f. und Rosales (1988), S.32–34.
94
Der strukturalistische Staat
Wirtschaftssubjekte entwickeln in Ökonomien mit einer langen Tradition hoher jährlicher Preissteigerungsraten darüber hinaus kontinuierlich Inflationserwartungen, die zunehmend einen weiteren strukturellen Faktor der Inflationsentstehung darstellen.139 Diese Inflationserwartungen fließen in die entsprechenden
Dispositionen der ökonomischen Akteure ein, indem sie sich in den von ihnen
abgeschlossenen Verträgen durch sog. Inflationsanpassungsklauseln vor einer
Entwertung ihrer pekuniären Forderungen zu schützen versuchen. Das sogenannte Inflationsgedächtnis oder auch die »inflation inertia« (Cardoso) wird nicht
automatisch nach Versiegen der geld- und fiskalpolitischen Quellen erlöschen,
so daß die freiwillige Indexierung von Forderungen an die Inflations- oder Abwertungsrate der heimischen Währung immer noch bestehen bleibt und somit ein
von der Geldangebots- und staatlichen Nachfragepolitik unabhängiges Antriebsmoment des Inflationsprozesses existiert. Eine Zurückführung der Inflationsrate
setzt deshalb im neostrukturalisten Kontext vor allem eine Reduzierung der Inflationserwartungen der Wirtschaftssubjekte voraus, wobei die Persistenz der Inflationserwartungen in einem hoch inflationären Umfeld nur durch ein
Schockprogramm durchbrochen werden kann. »In the interests of social efficiency, the adjustment should be gradual; in the case of high inflation, shock policies
are more appropriate and inevitable.«140
Der Kern eines heterodoxen Schockprogramms besteht neben einer ›Währungsreform‹ in einem Verbot der Indexierung zukünftiger Kontrakte sowie
einem Preis-Lohnstop. Diese ›Währungsreform‹ zeichnet sich durch eine symmetrische Streichung von Nullen auf Strom- und Bestandsgrößen und einem
neuen Namen für die heimische Währung aus, welches auf die Psychologie der
Wirtschaftssubjekte abzielt und damit ihren Erwartungsbildungsprozeß zu beeinflussen versucht. Damit wird offensichtlich, daß es sich hierbei zweifelsohne
nicht um eine Währungsreform, auf die in fast allen, mit dieser Thematik befaßten neostrukturalistischen Texten Bezug genommen wird, sondern vielmehr um
eine Währungsumstellung handelt, da eine Währungsreform auf einer überproportionalen Verringerung der nominalen Vermögens- und Schuldbestände gegenüber den Zahlungsströmen beruht. Die als institutionelle Faktoren verstandenen administrativen Regelungen sollen zeitlich befristet sowohl Verteilungskämpfe als auch die Projektion vergangener Inflationsraten in die Zukunft unterbinden, selbst wenn gegenwärtig beim Abschluß der Kontrakte noch Inflationserwartungen seitens einzelner Vertragspartner vorherrschen. »The main
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139 Vgl. Cardoso (1989), S.15.
140 Sunkel/Zuletta (1990), S.42.
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implication is that all it takes to deflate a ballon is to let the air out; hence high
inflation could be eliminated by a synchronized wage-price freeze. This admittedly requires some coordination, but would seem to be otherwise painless, since
no real budgetary or other cuts would be required.«141
Während eines (umfassenden) Preis-Lohnstops ist jedoch nicht nur eine Erhöhung des absoluten Preisniveaus ausgeschlossen, sondern es bleibt auch eine
Veränderung der relativen Preisstrukturen aus. Wenn nicht alle Kontrakte mindestens einmal pro Tag entsprechend der Inflationsrate angepaßt werden, ist es
aus neostrukturalistischer Sicht unabdingbar, daß vor dem eigentlichen price
freeze eine Freigabe der absoluten Preise und Deindexierung bestehender Verträge erfolgt, um zunächst eine gesamtwirtschaftliche, synchronisierte – und
nicht wie in einer preisregulierten Ökonomie sektorale, jeweils zeitliche versetzte
– Anpassung der relativen Preisstrukturen zu ermöglichen. Sonst ist die von
Neostrukturalisten angestrebte verteilungspolitische Neutralität des Preis-Lohnstops nicht gewährleistet, und zukünftige Verteilungskämpfe auf der Grundlage
der Fixierung des an einem beliebigen Tag gegebenen nominalen Status Quo
gefährden das Schockprogramm – wie bereits Strukturalisten konstatieren mußten: »It is impossible to stop the clock at the present moment, since the
stabilization of wages also implies the stabilization of the existing disparities in
income distribution. And an anti-inflationary programme which does not set
resolutely to work to correct these irregularities lacks economic efficiency and
social significance, while incurring a very serious risk of a relapse into inflation.«142
Gelingt es der Regierung, die Preisfixierung so lange aufrechtzuerhalten, bis
die zukünftigen Erwartungen der Wirtschaftssubjekte auf der Grundlage der seit
der Implementierung des heterodoxen Schockprogramms zu verzeichnenden
Preisniveauveränderungen im Idealfall von Null gebildet werden, dann ist das Inflationsgedächtnis nicht mehr in der Gegenwart wirksam und kann somit die
Aufhebung des Preis-Lohnstops erfolgen. Als Anker für die Erwartungsbildung
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141 Bruno (1993), S.82. Für eine kurze Darstellung des Plan Austral (Argentinien), des Plan
Cruzado (Brasilien) und des Plan Inti (Peru) vgl. Taylor (1988), S.121–133. Eine ausführlichere Diskussion findet sich in Machinea/Fanelli (1988) bzw. in Modiano, E.M. (1988),
The Cruzado First Attempt: The Brazilian Stabilization Program of February 1986, in:
Bruno, M., Di Tella, G., Dornbusch, R., Fischer, S.(Hrsg.), Inflation Stabilization, Cambridge, Mass.: MIT Press, S.215–258 sowie Thorpe, R. (1988), Is There Life in Heterodoxy
Yet? The Lessons from the Peruvian Experience, Development Studies Working Papers
Nr. 6, Oxford.
142 Prebisch (1961), S.24; vgl. auch Machinea/Fanelli (1988), S.124f.
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in der Übergangsphase dient dabei der Wechselkurs, der gegenüber einer wertstabileren Währung wie beispielsweise dem US Dollar ebenfalls fixiert wird.
Während der Strukturalismus mit seinen währungspolitischen Empfehlungen
langfristig auf eine Neutralisierung bzw. eine Überwindung der strukturellen
Heterogenität und nur darüber vermittelt auf eine Reduzierung der Inflationsrate
abzielt, erfolgt die Wahl des Wechselkursregimes kombiniert mit einer auf zentraler Ebene angesiedelten Einkommenspolitik im neostrukturalistischen Kontext
als direkte Maßnahme der kurzfristigen Inflationsbekämpfung. Beiden Ansätzen
gemeinsam ist dennoch, daß sie die Währungspolitik als integralen Bestandteil
der Wirtschafts- und Sozialpolitik verstehen, wobei die Einkommenspolitik einen zentralen Stellenwert einnimmt.143
Unabhängig davon, ob das die Inflation auslösende Moment in einer zu hohen gesamtwirtschaftlichen Nachfrage bei gegebenem binnenwirtschaftlichen
Güterangebot oder in einem zu hohen Geldangebot bei gegebener Nachfrage
nach heimischer Währung besteht und mithin unabhängig davon, ob die Inflation
als gütermarkt- oder vermögensmarktbedingt zu klassifizieren ist, entsteht kein
Inflationsprozeß ohne Nominallohnerhöhungen. »But the essence of inflation is a
rapid and continuous rise of money wages. Without rising money wages, inflation cannot occur, whatever starts a violent rise in money wages starts inflation.«144 Diesem Zusammenhang zollt der Neostrukturalismus durch die Integration der Einkommenspolitik in heterodoxe Stabilisierungsprogramme in Form
eines Preis-Lohnstops oder eines Sozialpaktes Anerkennung. Die Entstehung
bzw. Aufrechterhaltung eines kumulativen Inflationsprozesses soll durch die genannten institutionellen Regelungen unterbunden werden, in dem die Wirksamkeit seines Transmissionsriemens Nominallohnerhöhungen außer Kraft gesetzt
wird. Erschöpft sich jedoch eine Wirtschaftspolitik mit dem expliziten Ziel der
Inflationsreduktion auf die administrative Ausschaltung einer Preis-Lohn-Spirale, ohne gleichzeitig auf eine Veränderung der ökonomischen Bedingungen,
die diese Spirale hervorrufen, hinzuwirken, so ist die administrative Regelung
nicht dauerhaft gegenüber privaten Marktakteuren aufrechtzuerhalten und die
Anti-Inflationspolitik muß scheitern. 145 Dabei drückt sich das Scheitern, das sich
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143 Prebisch (1968a), S.129; siehe Prebisch (1961) S.20 sowie Ffrench–Davis (1988), S.43.
144 Robinson, J. (1938), The Economics of Inflation, in: The Economic Journal, September,
S.507–513, S.510–511.
145 Zu den 5 gescheiterten Stabilisierungsversuche Brasiliens seit der zweiten Hälfte der 80er
Jahren vgl. die Ausführungen von Macedo, R. (1996), Vom Cruzado zum Real: Die Stabi-
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bereits während des offiziell noch gültigen Preis-Lohnstops in anhaltender Kapitalflucht sowie in einer Warenknappheit und weitreichenden Versorgungsengpässen andeuten kann, die mit der Etablierung eines informellen Gütermarktes in
heimischer und/oder Fremdwährung einhergehen, spätestens nach der Aufhebung der Preisfixierung in einem raschen Wiederanstieg der Inflationsraten aus.
Ein neben den Nominallohnerhöhungen weiterhin unabdingbarer Faktor für
das Zustandekommen eines kumulativen Inflationsprozesses besteht in der Beschleunigung der Kreditvergabe und damit der Geldschöpfung. Wird die Ausweitung des heimischen Geldangebotes durch eine restriktive Geldpolitik verweigert, kann eine Preis-Lohn-Spirale nicht erfolgen, und gesamtwirtschaftliche
Nominallohnerhöhungen münden ceteris paribus demnach nicht in einem weiteren Preisniveauschub, sondern in Entlassungen von Arbeitnehmern und Konkursen von Unternehmen bei nahezu konstantem Preisniveau. Wenn nicht Friedmansche Hubschrauber in einer Art Out-of-area-Operation die Ökonomie mit
Zahlungsmitteln versorgen, müssen somit im Verlauf eines Inflationsprozesses
Schuldbestände seitens privater oder staatlicher Akteure akkumuliert werden, um
die Aufrechterhaltung eines Inflationsprozesses überhaupt gewährleisten zu können.
In einer Ökonomie können aber nur Schuldbestände bis zu dem Umfang aufgebaut werden, wie Gläubiger bereit sind, Forderungen in heimischer Währung
einzugehen. Während eines Inflationsprozesses weist die jeweilige Währung
jedoch einen sukzessiven Verlust von Geldfunktionen (Vermögensaufbewahrung-, Wertstandard-, sowie Zahlungsmittel- bzw. Güteraneignungsfunktion)
auf, der Vermögenseigentümer veranlaßt, ihre in heimischer Währung denominierten Forderungen zugunsten von Fremdwährungsforderungen oder Sachvermögen umzuschichten. Deshalb kann es sich bei den im gleichen Ausmaß wie
die Schuldbestände aufzubauenden Geldvermögensbeständen mehrheitlich nicht
um Forderungen von privaten Haushalten handeln, da diese bereits beim Verlust
der Vermögensaufbewahrungsfunktion Forderungen in heimischer Währung
nicht mehr freiwillig halten. Es müssen demnach Forderungen von Akteuren
sein, die zum Aufbau von heimischen Geldvermögensbeständen keine Alternative haben: die Zentralbank, der Staat oder das Geschäftsbankensystem. Erstere,
weil die Zentralbank in ihrer geldemitierenden Funktion in heimischer Währung
immer Gläubigerin ist und letzteres, da die Geschäftsbanken, solange Dollarkredite verboten sind, keine (offiziellen) Forderungen in Fremdwährung eingehen
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lisierungspläne seit der Redemokratisierung, in: Calcagnotto, G., Fritz, B. (Hrsg.), Inflation
und Stabilisierung in Brasilien, Frankfurt/M.: Vervuert, 1996, S.49–65.
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können und sie deshalb nur die Wahlmöglichkeit zwischen dem Aufbau von
Forderungen in heimischer Währung oder dem generellen Verzicht auf ein Aktivgeschäft haben. Die Geschäftsbanken weisen jedoch aufgrund ihres Passivgeschäftes mit der Zentralbank ein ausgeglichenes Portfolio auf, während der Staat
aufgrund seiner Steuerforderungen gegenüber den privaten Akteuren sowohl
Nettogläubiger als auch aufgrund seiner Ausgabenhöhe gegenüber der Zentralbank und dem Geschäftsbankensystem Nettoschuldner in einer solchen Ökonomie sein kann. Der Unternehmenssektor dagegen nimmt makroökonomisch gesehen tendenziell einen ansteigenden Schuldnerstatus ein, da ein kumulativer
Inflationsprozeß die Revolvierung des vorgeschossenen Kapitals in Form von
Krediten erleichtert und für den Unternehmenssektor einen Anreiz zur Ausweitung der nominalen Verschuldung bildet. Somit kann festgehalten werden, daß,
unabhängig von dem Zeitpunkt, an dem ein Inflationsprozeß durch geld-, fiskaloder einkommenspolitische Maßnahmen beendet werden soll, der vorherige
Aufbau von Schuldbeständen in heimischer Währung als Relikt des Inflationsprozesses durch die Wirtschaftspolitik berücksichtigt werden muß, wenn eine
Überschuldung der jeweiligen ökonomischen Akteure im Verlauf des Stabilisierungsprogramms verhindert werden soll.
Neostrukturalisten führen die baldige Rückkehr zur Inflation auf den fehlenden politischen Willen der Regierung oder auf die fehlende Verteilungsneutralität eines konkreten Stabilisierungskonzeptes zurück, wobei letzteres es der Regierung unmöglich macht, das Schockprogramm konsequent umzusetzen, selbst
wenn sie ausreichenden und guten Willens ist. Das Festhalten an der prinzipiellen Möglichkeit einer Verteilungsneutralität von Anti-Inflationsprogrammen
geht auf die Vorstellung zurück, daß das Phänomen der Inflation selbst keine
verteilungspolitischen Konsequenzen bzw. keine Implikationen auf die sogenannten realen Sphären, worunter der Güter- und Arbeitsmarkt verstanden wird,
beinhalte, wenn nur eine hundertprozentige, synchronisierte Indexierung aller
Kontrakte erfolgen könne.146 Da letzteres technisch nicht umsetzbar ist, besteht
aus neostrukturalistischer Sicht die Notwendigkeit einer Politik der Inflationsbekämpfung, von der angenommen wird, daß sie nicht nur theoretisch, sondern
auch hinsichtlich ihrer Durchführbarkeit dem Kriterium der Verteilungsneutrali-
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146 Zu der weitestgehend auch auf den Neostrukturalismus zutreffende Kritik an der
(neoklassich–monetaristischen) Vorstellung einer Trennung von realer und monetärer
Sphäre am Beispiel der Indexierung siehe Riese, H. (1986), Theorie der Inflation, Tübingen: Mohr, S.168–173.
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tät entsprechen kann und auch entsprechen muß, wenn nicht ein Erfolg dieser
Politik von Beginn an ausgeschlossen werden soll.
Aber ebensowenig wie ein Inflationsprozeß – selbst bei hundertprozentiger
Indexierung der Kontrakte – verteilungspolitisch neutral ist, kann eine Wirtschaftspolitik, die auf eine Reduzierung der Inflationsrate abzielt, verteilungspolitisch neutral sein. Im Rahmen eines Inflationsprozesses werden nicht nur Zahlungsströme angepaßt, sondern auch Vermögensbestände umbewertet. Dabei erfolgt die Umbewertung der Bestände nicht nur entsprechend der Inflationsrate
und damit dem Indexierungsmaßstab, sondern es findet eine darüber hinausgehende Umbewertung sowohl innerhalb der Gruppe der Vermögensbestände als
auch einzelner Beständekategorien gegenüber den Zahlungsströmen selbst, statt.
Beispielsweise wird in heimischer Währung denominiertes Geldvermögen gegenüber Geldvermögen in Fremdwährung sowie Sach- und Produktivvermögen
relativ abgewertet, wodurch sich die Relation Geldvermögensbestände in heimischer Währung zu den Zahlungsströmen versus alle anderen Vermögensbestände
zu den Zahlungsströmen deutlich verändert. Die jeweilige Umbewertung der Bestände sowohl untereinander als auch gegenüber den Zahlungsströmen entspricht
eben nicht nur dem Indexierungsmaßstab, was allein eine Proportionalität gewährleisten würde. Die Umbewertung der Bestände beinhaltet darüber hinaus
einen pekuniären Obulus für den Verlust bzw. der Übernahme von Geldfunktionen im Verlauf des Inflationsprozesses, was einer relativen Ab- bzw. Aufwertung gleichkommt. In einem Extremfall, in dem für die heimischen Wirtschaftsakteure ein Ausweichen auf Fremdwährung nicht oder nur sehr bedingt möglich
ist, kann die Vermögensaufbewahrungs- und Zahlungsmittelfunktion der heimischen Währung sogar selbst auf Waren übergehen, was während eines gültigen
price freeze in eine weitreichende Hortung dieser Güter mündet.
Die von Neostrukturalisten konstatierte fehlende Verteilungsneutralität eines
Inflationsprozesses ist somit nicht technischer oder politischer Natur, sondern
ökonomischer Ausdruck des Wesensmerkmals aller Inflationsprozesse, das
durch keine technokratischen Maßnahmen eliminiert werden kann. Während
demnach das neostrukturalistische Argument nicht den Inflationsprozeß selbst
erklären kann, offenbart es dennoch erneut, daß der Neostrukturalismus über
keine eigenständige Geld- und Vermögensmarkttheorie verfügt. Er ist der Vorstellung eines Geldschleiers verpflichtet, dessen Instabilitätspotential zumindest
theoretisch von den realen Spähren abzuschirmen ist, und er bleibt damit trotz
der in keinem neostrukturalistischen Dokument fehlenden verbalen Abgrenzung
gegenüber der Orthodoxie einem neoklassischen Denken verhaftet.
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Der strukturalistische Staat
Während eines Desinflationsprozesses erfolgt in Umkehrung der obigen Argumentation nicht nur eine relative Aufwertung der heimischen Geldvermögensbestände, sondern auch der im Verlauf des Inflationsprozesses akkumulierten
Verschuldungsbestände vor allem gegenüber der Höhe der Zahlungsströme, mit
denen die in heimischer Währung denominierten Verbindlichkeiten bedient werden müssen. Die durch einen Preis-Lohnstop herbeigeführte Fixierung der
Einkommenströme gegenüber den Schuldenbeständen kommt somit für heimische Schuldner in ihrer Wirkungsweise einer Deflation gleich und macht eine
Währungsreform notwendig.147 Diesem Problem kann aber nicht dadurch entgangen werden, daß der Staat mit Hilfe von sogenannten Konversionstabellen
(tablitas) versucht, die Bestände in Zahlungsströme zu transferieren und diese
nach Streichung der Nullen in die neue Währung zu konvertieren. Eine Währungsreform zielt auf eine überproportionale Reduzierung der vorhandenen nominalen Bestände gegenüber den Zahlungsströmen ab, um einerseits die durch
das heimische Geldvermögen gespeiste Nachfrage vorwiegend von privaten
Akteuren nach Fremdwährung zu limitieren und andererseits eine Überschuldung vor allem des Unternehmenssektors und gegebenenfalls des Staates als
Ausgangslage für eine Stabilisierung zu vermeiden, was sich beides zinssenkend
und damit auf die Gewinnerwartungen insgesamt positiv auswirkt. Während die
nominalen Geldvermögensbestände privater Haushalte tatsächlich nach einem
kumulativen Inflationsprozeß nur noch marginal oder überhaupt nicht mehr vorhanden sind, trifft dies auf die privaten und/oder staatlichen Schuldbestände
leider nicht zu. Bei einem Verzicht auf eine Währungsreform sehen sich deshalb
Regierungen, die ein heterodoxes (Schock-)Programm implementieren, häufig
gezwungen, eine staatlich verordnete Reduzierung der nominalen Kreditzinsen,
eine Subventionierung der Zinsverbindlichkeiten und/oder Vorzugskredite zu-
——————
147 Häufig werden eine Währungsreform und ein kumulativer Inflationsprozeß als alternative
Wege betrachtet, die jeweiligen Bestände zu reduzieren. Vgl. z. B. Tober, S.(1995), Die
Beendigung extremer monetärer Instabilität, in: Betz, K., Riese, H. (Hrsg.), Wirtschaftspolitik in einer Geldwirtschaft, Marburg: Metropolis, S.29–52, S.48–51. Während eine Währungsreform als Aeinmaliger administrativer Akt« (Tober) eine Entwertung vornimmt, soll
dies bereits durch den Inflationsprozeß erfolgt sein. Hierbei muß implizit davon ausgegangen werden, daß alle Bestände (Vermögen bzw. Verschuldung) bei allen Akteuren (privaten oder staatlichen) durch die Inflation entwertet sind, wodurch erst eine Währungsreform
obsolet werden würde. Dies ist jedoch nur dann gegeben, wenn der Inflationsprozeß hyperinflationäre Züge annimmt und selbst durch einen Rückgang der Geldnachfrage auf Null
zusammenbricht. In jeder Phase vor dem Zusammenbruch ist jedoch eine Währungsreform
unerläßlich.
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gunsten hochverschuldeter Unternehmen anzubieten.148 Die den Unternehmen
gewährte weiche Budgetrestriktion entlastet einerseits das Geschäftsbankensystem, aber verhindert andererseits, daß die Zentralbank ihr geldpolitisches Instrumentarium für die Stabilisierung der heimischen Währung und damit der Zurückgewinnung aller Geldfunktionen durch sie einsetzen und der Staat eine fiskalpolitische Konsolidierung einleiten kann.
Die Fiktion von einer theoretischen und administrativ umsetzbaren Verteilungsneutralität eines Desinflationsprozesses gerät in dem Moment an ihre wirtschaftspolitischen Grenzen, in dem die Geld- und Fiskalpolitik zur Verhinderung
einer Überschuldung diskretionär eingesetzt werden. Dabei wirkt nicht das
diskretionäre Eingreifen per se destabilisierend, wie häufig von orthodoxen
Ökonomen behauptet, sondern das Fehlen einer Währungsreform, das ein
diskretionäres Eingreifen zwingend erforderlich macht, wenn nicht mindestens
eine Kontraktion der Ökonomie und schlimmstenfalls ein Zusammenbruch des
Geschäftsbankensystems im Zuge des Preis-Lohnstops billigend in Kauf genommen werden soll. Zugleich ist die Verweigerung einer Währungsreform
gleichbedeutend mit der Verweigerung einer harten Budgetrestriktion für die
Ökonomie. Das heterodoxe Schockprogramm ist somit nicht in der Lage, einen
erfolgreichen Desinflationsprozeß einzuleiten, wobei der Erfolg daran gemessen
werden soll, ob die heimische Währung am Ende des Prozesses wieder alle Geldfunktionen ausfüllen kann, was sich in einer dauerhaften Zurückführung der
Inflationsrate ohne Unterdrückung des Einkommensbildungsprozesses widerspiegeln müßte. Nach Aufhebung des Preis-Lohnstops – in Einzelfällen wird die
Aufhebung durch die ökonomischen Akteure auch vorzeitig erzwungen – erfolgt
ein Wiederanstieg der Inflation, obgleich die inflation inertia während des price
freeze gebrochen schien. Basierend auf den Erfahrungen zahlreicher gescheiterter Stabilisierungsversuche erfolgt innerhalb des Neostrukturalismus zunehmend
eine Adaption sogenannter orthodoxer oder neoliberaler Maßnahmen, u.a. einer
entsprechend hohen Abwertung des Wechselkurses zur Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Exporte vor der Implementie-
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148 Vgl. für den Plan Austral Machinea/Fanelli (1988), S.127. Die Reduzierung der Zinssätze
wird damit begründet, Schuldner gegenüber Gläubigern bei sinkenden Inflationsraten und
steigenden realen Kreditzinsen nicht benachteiligen zu wollen. Sollte der Desinflationsprozeß wie theoretisch angenommen verteilungsneutral durchzuführen sein, erübrigte sich eine
solche Maßnahme, da das Verhältnis von Gläubigern und Schuldnern entsprechend der
symmetrischen Streichung der Nullen sowohl bei den Beständen als auch bei den Strömen
unverändert bliebe.
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Der strukturalistische Staat
rung des Schockprogramms und beginnend mit der Einleitung des Programms,
eine fiskalpolitische Konsolidierung basierend auf der Hoffnung höherer Staatseinnahmen aufgrund der Wirkungen des Oliveira-Tanzi-Effekts, aber vor allem
aufgrund von Ausgabenkürzungen. Als Ausweg aus diesem Stop-go-Zyklus wird
auch die Forderung nach einem Anstieg externer, in den 90er Jahren selbstverständlich privater Kapitalzuflüsse bzw. eine Reduzierung heimischer Kapitalexporte nicht nur als Ergebnis erfolgreicher Stabilisierungsbemühungen, sondern
vor allem als notwendige Voraussetzung für den Erfolg eines Stabilisierungsprogramms propagiert. Damit schließt sich denn auch der Kreis, wenn auch in einem zeitgenössischen Kontext, zu den alten Strukturalisten und ihrer These vom
›foreign exchange gap‹ als wesentliches Entwicklungshindernis schließt. Die
theoretische Unzulänglichkeit des Neostrukturalismus, die mit der Unfähigkeit
oder Unwilligkeit von Politikern, ein angeblich konsistentes Programm konsequent zu implementieren, verwechselt wird, erzwingt so, wenn Empfehlungen in
konkrete wirtschaftspolitische Maßnahmen gegossen werden, ein muddling
through des neostrukturalistisch inspirierten Staates und kann doch die Annäherung an den neoliberalen Staat nicht verhindern.
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