Jugendöffentlichkeit Qualitative Studie zu jugendlichen

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Jugendöffentlichkeit
Qualitative Studie zu jugendlichen Aneignungsprozessen in öffentlichen
Räumen der Stadt Basel.
Tanja, KLÖTI
University of Fribourg
Abstract
Die vorliegende Arbeit verfolgt die zentrale These, dass jugendliches Handeln
und die Strukturen öffentlicher Räume in einem Wechselverhältnis stehen:
Während die räumlichen Bedingungen jugendliches Handeln strukturieren,
können Jugendliche mit Hilfe ihrer alltäglichen Raumpraxis öffentliche Räume
ebenso verändern und gestalten. Anhand von systematischen Beobachtungen
und Gruppeninterviews wird versucht, unterschiedliche Formen jugendlicher
Aneignung öffentlicher Räume zu erheben. Dabei wird besonderer Fokus auf
die in öffentlichen Räumen verorteten Machtverhältnisse sowie auf jugendliche
Repräsentationsformen in der Öffentlichkeit gelegt. Die Ergebnisse zeigen auf,
wie sich die unterschiedlichen Aneignungsdimensionen (physisch, sozial,
symbolisch und normativ) aufeinander beziehen und inwiefern sie die
Jugendlichen dazu befähigen, ihre eigene Form der Öffentlichkeit, eine
Jugendöffentlichkeit, herzustellen.
Keywords: public
representation
space,
youth,
appropiation,
1
power
relations,
self
1
Einleitung
1.1 Fragestellung und Aufbau der Arbeit
Öffentliche Räume sind von zentraler Bedeutung für die Kommunikation und Interaktion
verschiedener Bevölkerungsgruppen und beeinflussen die soziale und wirtschaftliche
Entwicklung einer Stadt. Deshalb stellen sie ein aufschlussreiches Forschungsfeld für
gesellschaftliche Phänomene dar. Da Jugendliche in öffentlichen Räumen prominent vertreten
sind (vgl. Comte 2010), wird ihm für die räumliche Aneignung im Jugendalter eine besondere
Bedeutung zugemessen: Im Gegensatz zu anderen Aneignungsräumen (bspw. die Aneignung
einer abgelegenen Industriebrachfläche durch jugendliche Punks) eröffnen öffentliche Räume
den Jugendlichen die Möglichkeit, sich im Alltag sichtbar und hörbar zu machen – sei dies
nun über jugendkulturelle Ausdrucksformen oder nonkonformes Verhalten. Dadurch
thematisieren sie ihre jugendspezifische Lebenswelt öffentlich und partizipieren an der
Öffentlichkeit. Öffentliche Räume dienen als Plattform zur Selbstdarstellung und
Repräsentation, sind aber auch Reibungsfläche zwischen jugendlichen Bedürfnissen, den
Bedürfnissen anderer Nutzergruppen, den Aufgaben von Raumwärtern sowie den normativen
Ansprüchen ihrer Umwelt. Diese Auseinandersetzungen können als Aushandlungsprozesse
verstanden werden, wobei es sich dabei nicht nur um offene Konflikte oder einen direkten
Meinungsaustausch handeln muss. Die vorliegende Arbeit interessiert sich vor allem für die
alltäglichen und unauffälligen Praktiken, mit welchen Heranwachsende ihre eigene Form der
Öffentlichkeit in öffentlichen Räumen herstellen. Im Zentrum der angehenden Betrachtung
steht in Anlehnung an die Trialektik der Räumlichkeit (s. Kap. 4.1.) die Raumpraxis, die
subjektive Wahrnehmung sowie die normative Bedeutungszuschreibung von öffentlichen
Räumen durch die Gruppe der Jugendlichen:
1. Raumpraxis: Wie nutzen, gestalten und verändern Jugendliche die physischen,
sozialen, normativen und symbolischen Strukturen eines öffentlichen Raumes?
2. Subjektive Wahrnehmung: Wie nehmen Jugendliche öffentliche Räume subjektiv
wahr?
3. Normative Bedeutungszuschreibung: Welche subjektiven und normbehafteten
Bedeutungen schreiben sie öffentlichen Räumen zu?
Diese drei Fragen bezeichnen das zentrale Forschungsinteresse, dessen vertiefte
Bearbeitung darauf abzielt, die unterschiedlichen Aspekte des Herstellungsprozesses von
Jugendöffentlichkeit1 als gelebte und erlebte Umwelt zu erfassen und nachzuvollziehen.
Mit dem Begriff der Jugendöffentlichkeit (s. Kap. 4.2.) soll versucht werden, das Produkt
der drei interessierenden Prozesse theoretisch zu beschreiben. Es ist ein deklariertes Ziel der
Forschungsarbeit, dieses Konstrukt theoretisch und empirisch zu fassen und damit einen
Beitrag zur Konzeptionalisierung des Theoriekomplexes „Jugend-Raum-Öffentlichkeit1 Da es sich beim Begriff der Jugendöffentlichkeit in erster Linie um ein Konzept bzw. eine Konstruktion handelt
wird er ähnlich wie der Öffentlichkeitsbegriff im Singular verwendet. Sobald die beiden Begriffe jedoch
empirisch fassbare Phänomene beschreiben, sind sie ins Plural gesetzt.
2
Politik“, wie ihn Böhnisch und Krisch (2010b) in ihrem Aufsatz einführen, zu leisten. Weiter
soll die Arbeit die Komplexität und Vielfalt jugendlicher Lebenswelt erfassen und in diesem
Zusammenhang insbesondere den Aneignungsbegriff anwenden und ggf. weiterentwickeln.
Die vorliegende Arbeit verfolgt die zentrale These, dass jugendliches Handeln und die
Strukturen öffentlicher Räume in einem Wechselverhältnis stehen. Raum wird jedoch nicht
als die alles bestimmende Kategorie, jedoch als einen wesentlichen Erklärungsfaktor
verstanden, um menschliches Handeln zu erklären.
Die Masterarbeit folgt einem wissenschaftlichen Vorgehen und ist dementsprechend
aufgebaut. Nach der Einleitung, welche die theoretischen Grundlagen zur Jugendphase sowie
die Bedeutung öffentlicher Räume für Jugendliche behandelt, folgt der Forschungsstand,
welcher Studien zum Themenbereich in ihrer Relevanz für die Forschungsfrage erörtert. Das
Kapitel zum Forschungsstand wird mit der Benennung der Forschungslücke, welcher sich die
vorliegende Arbeit annimmt, abgeschlossen. Im Anschluss werden die theoretischen
Konzepte zum öffentlichen Raum, zur Öffentlichkeit sowie zur Aneignung aufgearbeitet und
zum Forschungsinteresse in Bezug gesetzt. Die Zusammenfassung der bearbeiteten Theorie
mündet in der Präsentation eines sensibilisierenden Konzeptes sowie der Formulierung von
konkreten Fragestellungen. Im Methodenteil wird auf das Forschungsdesign, die
Erhebungsmethoden sowie auf die Analysemethode eingegangen. Ausserdem wird der
Forschungsprozess entlang qualitativer Gütekriterien reflektiert. In Kapitel 5 werden die
Ergebnisse beschreibend dargestellt sowie analysiert und insbesondere auf mögliche Bezüge
zwischen den untersuchten Faktoren eingegangen. Der Diskussionsteil schliesslich legt offen,
inwiefern die konkreten Fragestellungen beantwortet wurden und was auf der Basis der
vorliegenden Ergebnisse für die Praxis und zukünftige Forschungsvorhaben ausgesagt werden
kann.
1.2 Die Lebensphase Jugend
Die Lebensphase Jugend lässt sich in erster Linie durch die Abgrenzung zur Kindheit und
zum Erwachsenenalter definieren, wobei sowohl psychologische als auch soziologische
Kriterien herbeigezogen werden können. Im Generellen gehen beide Disziplinen davon aus,
dass sich Heranwachsende in der Jugendphase mit spezifischen Entwicklungsaufgaben2 sowie
mit spezifischen Erwartungen und Anforderungen3 auseinandersetzen müssen. Die
Lebensphase Jugend ist von zwei zentralen Sozialisationsprozessen begleitet: Erstens bilden
sich im Rahmen der Individuation ein Selbstbewusstsein sowie die Persönlichkeit des
2 In der Psychologie werden folgende Entwicklungsaufgaben unterschieden: a) Entwicklung einer intellektuellen
und sozialen Kompetenz, b) Entwicklung der eigenen Geschlechtsrolle und des sozialen Bindungsverhaltens zu
Gleichaltrigen, c) Entwicklung eigener Handlungsmuster für die Nutzung des Konsumwarenmarktes und des
Freizeitmarktes, sowie d) Entwicklung eines Werte- und Normensystems und eines ethnischen und politischen
Bewusstseins (Hurrelmann 1994:32-34).
3 In der Soziologie handelt es sich um folgende jugendspezifische Anforderungen: a) neue Anforderungen an die
Leistung, insb. in der Schule, b) Familienablösung und Gleichaltrigenkontakte, c) Entwicklung einer
selbstständigen Konsum- und Freizeitorientierung, sowie d) (politische) Partizipation in der Form von
Mitbestimmung in den für Jugendliche relevanten Lebensbereichen (Hurrelmann 1994:39-41).
3
Jugendlichen heraus (Hurrelmann 1994:34-37). Zweitens sucht der Jugendliche4 mittels der
Auseinandersetzung mit den an ihn gestellten Anforderungen und Pflichten die eigene
Integration in den gesellschaftlichen Zusammenhang (Hurrelmann 1994:43). Individuationsund Integrationsprozesse sind miteinander verknüpft, denn die eigene Identität kann nur in
Bezug zur sozialen Umwelt entwickelt werden.
Ausgehend von diesen Annahmen wird deutlich, dass die Jugendphase zwar eine
eigenständige Lebensphase darstellt, jedoch durch ein Nebeneinander von Unselbständigkeit
und Selbstständigkeit in den wichtigsten Lebensbereichen gekennzeichnet ist (Hurrelmann
1994:46). Besonders widersprüchlich erscheint dabei die tendenziell stark ausgeprägte
soziokulturelle Selbstständigkeit (kulturelle und soziale Partizipation) bei einer relativ
schwach realisierten sozioökonomischen Selbstständigkeit (berufliche und politische
Integration) (Hurrelmann 1994:49).5
1.3 Sozialisationstheorien
Die Sozialisationsforschung als zentrales Gebiet der Kindheits- und Jugendforschung geht von
der zentralen These aus, dass Umweltbedingungen (wie Erziehung, Spielausstattung,
Lebensraum, etc.) sowie die subjektiven Erfahrungen eines Kindes in Wechselwirkung
zueinander stehen und im Zusammenspiel die Entwicklung eines Kindes stark beeinflussen
(Geulen 2010:87-88).
Sozialisation kann nach Hurrelmann (1990) als ein Prozess der produktiven Verarbeitung
der Umwelt durch das Subjekt verstanden werden und ist demnach als „Prozess der
Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der
gesellschaftlich vermittelten sozialen und dinglich-materiellen Umwelt“ (Hurrelmann
1990:65) zu definieren. Auch wenn gemäss des Modells der subjektiven Realitätsverarbeitung
jeder Mensch zu jeder Zeit Einfluss auf seinen eigenen Sozialisationsprozess hat, indem er die
vermittelten Erfahrungen der äusseren Realität und seiner Bezugspersonen selbstständig
verarbeitet und interpretiert, muss davon ausgegangen werden, dass die
Sozialisationsbedingungen wie Schichtzugehörigkeit oder kulturelle Zugehörigkeit ebenso
prägend sind (Hurrelmann 1994:77-78). Bronfenbrenner (vgl. Lüscher 1976) zeigt auf, dass
ausserdem auch die räumliche Umwelt als Sozialisationsbedingung miteinzubeziehen ist.
Gemäss seiner Theorie zur Ökologie der menschlichen Entwicklung ist unter Sozialisation das
Zusammenwirken von sozialen, symbolischen und räumlich-dinghaften Bedingungen6,
welche der oder die Heranwachsende aktiv verarbeitet, zu verstehen (Engelbert et al.
2010:106). Jugendliche sind in diesem Zusammenhang aktive Produzenten des Sozialraums
und auch Produzenten ihrer eigenen Entwicklung (Engelbert et al. 2010:115). Sozialräume wie
4 In der Arbeit werden abwechslungsweise die männliche und weibliche Form verwendet. Die Leserschaft wird
gebeten, sich die jeweilig andere Geschlechtsform dazu zu denken.
5 Hurrelmann (1994) schlägt vor, die pubertäre Phase der 13- bis und mit 18jährigen als die Jugend im engeren
Sinn zu betrachten (Hurrelmann 1994:50). Die vorliegende Studie stützt sich auf diese Altersspanne, wobei aus
forschungspragmatischen Gründen (s. Kap. 4.4.2.) in erster Linie Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren ins
Blickfeld genommen werden.
6 Diesbezüglich unterteilt Bronfenbrenner die Umwelt in vier sich überlappende Dimensionen: Mikrosystem,
Mesosystem, Exosystem und Makrosystem (vgl. Geulen 2010:99).
4
bspw. öffentliche Räume sind deshalb für die biografischen Übergänge und die Bewältigung
von Herausforderungen im Jugendalter von grosser Relevanz.
Für die weiteren Überlegungen stellen diese Grundannahmen zur Lebensphase Jugend
einen wichtigen Referenzpunkt dar, um die Bedeutung öffentlicher Räume für Jugendliche
nachzuvollziehen.
1.4 Bedeutung öffentlicher Räume für Jugendliche
In der Jugendforschung dominieren Familie, jugendspezifische Institutionen (Schule,
Jugendhaus, Jugendvereine, etc.) und auch neu die Medien einerseits als zu untersuchende
Kontexte jugendlicher Lebenswelt andererseits als zentrale Sozialisationsinstanzen. Die
Analyse nicht-institutionalisierter und -pädagogisierter Kontexte wie beispielsweise
öffentliche Räume – in der englischsprachigen Literatur auch als „The Fourth Environment“
bezeichnet – sowie deren Funktionen für die Entwicklung und Lebensqualität von Kindern
und Jugendlichen blieb bis in die 1970er Jahre als Forschungslücke bestehen (vgl. van Vliet
1983:578). Erst mit der Kritik an der Grosstadt als anregungsarme und gefährliche Umwelt,
welche die kindliche Bewegungsfreiheit und Gestaltungsmöglichkeiten im urbanen Kontext
massiv einschränkte, wurden öffentliche Räume als bedeutsamer Bereich der Lebenswelt von
Kindern und Jugendlichen wahrgenommen (Reutlinger 2009:288). Zahlreiche Autoren
kritisierten (und tun dies noch heute), dass sich die objektiven Aneignungsmöglichkeiten
öffentlicher Räume seit den 1960er Jahren verschlechtert haben7. Gleichsam scheint auch die
subjektive Bedeutung öffentlicher Räume aufgrund der Veränderungen der innerfamiliären
Lebensbedingungen (eigenes Zimmer, Verfügung über Unterhaltungsmedien, etc.) und der
Zunahme kinder- und jugendspezifischer Angebote abzunehmen (vgl. Blinkert 1996:8-26),
was die Erforschung der Rolle von öffentlichen Räumen in der jugendlichen Freizeitgestaltung
erneut in Frage stellt. Einzig als Ort des informellen Lernens konnten sich öffentliche Räume
als feste Bezugsgrösse in der pädagogischen Diskussion etablieren (Harring 2010b:21). Heute
anerkennen nicht nur progressive Pädagogen sondern ebenso Lehrerinnen, Eltern und
Jugendarbeitende öffentliche Räume als zentrale Bildungs- und Sozialisationsräume. Daneben
gelten öffentliche Räume auch als Erlebnisräume für Kinder und Jugendliche, weil die
Heranwachsenden dort die Möglichkeit zur autonomen (Fort-) Bewegung, Naturerfahrung
(Wetter, Tageszeiten), sozialer Begegnung, Befriedigung der Neugier sowie Selbstregulierung
erfahren (Zinnecker 1997:37-45).
Eine Minderheit der Autoren macht darauf aufmerksam, dass das Sozialisations- und
Erlebnispotential öffentlicher Räume aufgrund struktureller Ungleichheiten nur bedingt
ausgeschöpft werden kann. Sie argumentieren, dass aufgrund des Versagens der primären
Kontexte (Familie, Schule, Jugendarbeit) das Integrationsversprechen einzulösen, immer
mehr Jugendliche Orientierung in öffentlichen Räumen suchen, die jedoch selbst von sozialen
Ungleichheiten (z.B. Diskriminierung von und erschwerter Zugang für Minderheiten) geprägt
sind (vgl. Bingel 2008:101-104). So liege dann auch die einzige Bedeutung öffentlicher Räume
7 Siehe dazu exemplarisch Zeiher (1979). Zum allgemeinen Wandel öffentlicher Räume vgl. Häussermann,
Hartmut, Dieter Läpple und Walter Siebel (2008). Stadtpolitik. Kap. 16; sowie die Artikel von Walter Siebel
(S.110-120), Ulfert Herlyn (S. 121-126) und Herbert Schubert (S. 145-151) in Selle (2003).
5
für Jugendliche darin, dass die Heranwachsenden (insbesondere diejenigen der Unterschicht)
auf öffentliche Räume als einzige Alternative zum schulischen und familiären Kontext
angewiesen sind, um zumindest irgendwo autonome Lebenserfahrungen machen zu können
(Schnurr 2009:6-7). Böhnisch und Münchmeier (1993) schreiben öffentlichen Räumen
demnach die Funktion der jugendlichen Lebensbewältigung zu: „Die Jugendlichen sind (…)
gezwungen, sich stärker an sozialräumlichen Kontexten zu orientieren, in denen sie die
traditionalen institutionellen Orientierungsmuster für sich jeweils neu gewichten, verorten
und andere Orientierungsmuster auffinden und einbeziehen können, um so zu jener
personalen und sozialen Identität kommen zu können, welche die Sozialisationsinstitutionen
heute – Ablösungsprozess von der Familie, durch die Schülerrolle, durch die Arbeiterrolle –
nicht mehr herstellen können“ (Böhnisch et al. 2003:52). Schliesslich nimmt die Bedeutung
und Nutzung öffentlicher Räume durch Jugendliche ab, weil sie einerseits als potentielle Opfer
von Beeinträchtigung durch Dritte und andererseits als potentielle Störenfriede und Täter von
der Strasse ferngehalten werden (Matthews et al. 2000a:63).
Öffentliche Räume werden oft mit normativen Vorstellungen über deren Beitrag zur
kindlichen Entwicklung in Verbindung gebracht. Zinnecker (1979) beschreibt in seinem viel
zitierten Aufsatz zur Strassensozialisation ausführlich das Doppelgesicht der Strasse, einerseits
als Schreckensvision einer anti-pädagogischen Welt verteufelt und andererseits als Lernort
bürgerlicher Öffentlichkeit idealisiert (Zinnecker 1979:723-727). Dementsprechend wird die
Bedeutung öffentlicher Räume, sei es nun als Gefahrenraum oder Möglichkeitsraum, je nach
Perspektivennahme unterschiedlich beurteilt. Ebenso spielt der aktuelle öffentliche und vor
allem mediale Diskurs eine wichtige Rolle bei der Konnotation öffentlicher Räume. Dieses
Kapitel versucht deshalb, die unterschiedlichen Hinweise auf die Bedeutung öffentlicher
Räume für Jugendliche in der Form einer Auslegeordnung zu erörtert. Die folgenden
Ausführungen sind aufgrund der teilweise normativen Färbung mit Vorbehalt zu antizipieren
und kritisch zu beleuchten.
Öffentliche Räume als Orte alltäglicher Begegnung und Geselligkeit
In öffentlichen Räumen begegnen sich Bekannte sowie Fremde, diese treten miteinander in
Kontakt und kommunizieren. Öffentliche Räume bezeichnen demnach „a sphere or domain
where things happen, where there are people to see and where one can be seen by others. In
short, for many young people the street is an important site for social activity” (White
1994:109). Einerseits ermöglicht ein Aufenthalt in einem öffentlichen Raum, Unerwartetes zu
erleben, auf verschiedenste Menschen zu treffen und spontan neue Leute kennen zu lernen
(Oldenburg et al 1982:274-277). Andererseits schaffen öffentliche Räume Sozialität und
Zugehörigkeit und befriedigen damit das menschliche Bedürfnis nach sozialem Austausch.
Dementsprechend empfinden viele Menschen bei sozialen Kontakten in öffentlichen Räumen,
auch bei nur kurzen Interaktionen, ein Gefühl des Wohlbefindens (Morill et al. 2005:231).
Die Erforschung öffentlicher Räume zeigt auf, dass soziale Beziehungen zwischen
Fremden in öffentlichen Räumen oft aber auch distanziert und instabil sein können.
Jugendliche in öffentlichen Räumen treten selten in direkten Kontakt mit anderen
Anwesenden, sondern leben in der Öffentlichkeit ihre private Geselligkeit in der Form von
Peergroup-Aktivitäten (vgl. Wüstenrot Stiftung 2003:220-225). Harrings Studie zu den
6
unterschiedlichen
Freizeitwelten Jugendlicher (2010b) zeigt auf, dass diejenigen
Jugendlichen, die sich am häufigsten in öffentlichen Räumen aufhalten, auch diejenigen
Jugendlichen sind, bei denen die Peerbeziehungen im Zentrum der Freizeitgestaltung stehen.
99.3% dieser so genannten „peerorientierten Allrounder“ nannten als wichtigste
Freizeitbeschäftigung das Treffen von Freunden in nicht-institutionalisierten und nichtprivaten Räumen (Harring 2010b:42-54).
Die jugendliche Raumpraxis in öffentlichen Räumen muss deshalb als kollektive Tätigkeit
verstanden werden, als eine Tätigkeit, die sich notwendigerweise und in erster Linie in einer
Gruppe vollzieht. Diese Peergroup-Geselligkeit tritt zwar nicht nur in öffentlichen Räumen
auf, ist aber dort besonders bedeutsam: Die Auseinandersetzung mit Fremdheit und
Andersartigkeit findet innerhalb der Peergroup statt und ermöglicht „eine Verständigung
über Bedeutung und Sinn relevanter Erfahrungen unter Gleichaltrigen und damit eine
Vergewisserung darüber, dass andere die Wirklichkeit ebenso erleben und bewältigen wie
man selbst“ (Scherr 2010:77). Diese Form der öffentlichen Sozialität formt und erhält die
jugendliche Gemeinschaft.
Öffentliche Räume als Orte kulturellen Ausdrucks und Austauschs
In engem Zusammenhang zur sozialen Bedeutung öffentlicher Räume für Jugendliche stehen
die Möglichkeiten, sich als Gruppe in öffentlichen Räumen über (sub-)kulturelle Praktiken zu
repräsentieren, wobei Jugendliche in öffentlichen Räumen einen geringeren
Konformitätsdruck empfinden als in pädagogischen oder privaten Institutionen.
Kleidungsstil, Haarpracht, lautes und auffälliges Verhalten dienen den Jugendlichen dazu
„sich sichtbar zu machen und dabei Spuren zu hinterlassen, es geht darum, wahrgenommen
zu werden, um für die Gleichaltrigen Zuordnungen zu gestatten und in der
Erwachsenengesellschaft, auch im Sinn von pro-vocare, Reaktionen hervorzurufen, aber auch
darum, sich selbst wahrnehmen zu können. Grenzsetzung durch Äusseres und Kleidung dient
der Identitätsbildung und Ich-Akzentuierung, die Reaktionen der anderen helfen den
Jugendlichen bei der Strukturierung des Selbst- und Fremdwahrnehmung“ (Hexel 1988:561).
Die Abgrenzung von der Erwachsenenwelt sowie von anderen Jugendgruppen gelingt über
die Sichtbarmachung der eigenen Jugendkultur und Lebenseinstellung (Böhnisch et al.
2010a:2). Öffentliche Räume werden aus diesem Grunde auch häufig als Bühnen jugendlicher
Performance beschrieben, wo Kultur8 produziert und reproduziert wird aber auch kulturelle
Differenzen sichtbar werden (Malone 2002:164-167)9.
Öffentliche Räume als Lektüre der Gesellschaft
Urbane öffentliche Räume einer pluralisierten Gesellschaft sind meist durch Differenz und
Multikulturalität geprägt und machen somit die Gestalt der Gesellschaft erfahrbar. In
8 Kultur soll im Weiteren wie folgt definiert werden: „Die Kultur kann in ihrem weitesten Sinne als die
Gesamtheit der einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte angesehen werden,
die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen. Dies schließt nicht nur Kunst und Literatur ein,
sondern auch Lebensformen, die Grundrechte des Menschen, Wertesysteme, Traditionen und
Glaubensrichtungen“.
(UNESCO-Definition: http://www.bak.admin.ch/themen/kulturpolitik/00449/index.html?lang=de)
9 Vgl. dazu die Beispiele in Zinnecker (1979), S.7 und 12.
7
öffentlichen Räumen können Jugendliche Differenz erfahren und reflektieren, den Umgang
mit Andersartigem erlernen und sich in Toleranz gegenüber Fremdem üben (Frey 2004:228).
Diese Möglichkeit zur „Lektüre der Gesellschaft“ lässt sich in erster Linie in der Öffentlichkeit
realisieren (vgl. Chombart de Lauwe 1977). Zinnecker beschreibt diese Form der Erfahrung
und Reflexion von Gesellschaft folgendermassen: „Die Strasse ist der öffentliche Raum, wo
gesellschaftliche Zustände und Auseinandersetzung wie nirgends sonst studiert und beurteilt
werden können. Sie ist ein privilegierter Lernort für gesellschaftlichen
Anschauungsunterricht“ (Zinnecker 1979:230). Öffentliche Räume als Lektüre der
Gesellschaft sind schliesslich auch Orte der gesellschaftlichen Integration unterschiedlicher
Bevölkerungsgruppen (Böhnisch et al. 1993:24).
Öffentliche Räume als Orte zwischen Kindsein und Erwachsenwerden
Durch den Aufenthalt in öffentlichen Räumen können Jugendliche die Gesellschaft im
Allgemeinen erfahren, aber insbesondere die Erwachsenenwelt entdecken (Frey 2004:228).
Diese Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit der Welt der Erwachsenen stellt einen
wichtigen Aspekt der Entwicklung der Jugendlichen vom Kind zum Erwachsenen dar und
umfasst die Abgrenzung, die Erweiterung sowie die Inkorporation von herrschenden Kulturund Normensystemen. Öffentliche Räume fungieren in diesem Zusammenhang als ‚liminal
spaces’ (Matthews 2003:102) oder ‚third spaces’ (Matthews et al. 2000b:64), also als
Übergangsräume zwischen dem Kindsein und dem Erwachsenwerden, in welchen die
Identitätsprozesse der Jugendlichen stattfinden: „These are places where young people can
piece together their own identities, celebrate an emotional sense of togetherness and stand
apart, if only temporarily, from the adult world which surrounds them. ‘Streets’ are spaces
betwixt and between cultures, neither entirely ‘owned’ by young people nor fixed as adult
domains (…). As such, they comprise ‘contradictory cultural landscapes’ (…) from which
signs of autonomy and separateness are both created and inevitably blurred” (Matthews et al.
2000b:72). Der Prozess der Identitätsbildung ist von Ambivalenzen und Spannungen geprägt
und öffentliche Räume sind diejenigen Orte, wo Jugendliche sowohl Zugehörigkeits- wie auch
Abgrenzungsgefühlen Ausdruck verleihen können (Matthews 2003:103).
Jugendliche befinden sich in einer Übergangsphase zwischen Kindsein und
Erwachsenwerden, die Jugendphase ist sowohl von den Kindheitserinnerungen als auch der
Zukunftsperspektive geprägt (Skelton 2000:82). In öffentlichen Räumen können Jugendliche
deshalb ihr Kindsein abstreifen (bspw. durch Konsum oder Teilnahme an öffentlichen
Veranstaltungen), fühlen sich aber dennoch nicht den Normen und Konventionen der
Erwachsenenwelt verpflichtet (Matthews et al. 2000b:69). So werden öffentliche Räume auch
zu Orten der Grenzüberschreitung, wo Jugendliche sich austoben und alles ausprobieren
können (Hexel 1988:563).
Öffentliche Räume als Protesträume
Die Auseinandersetzung Jugendlicher mit der Erwachsenenwelt ist oft von Irritationen und
Konflikten geprägt, weil Jugendliche die Welt der Erwachsenen oft auch in Frage stellen oder
gar ablehnen: „By crossing the borders of identity, literally by hanging out in these adult
spaces, young people challange both its and their definition“ (Matthews 2003:114). Dieses
8
Konfliktpotential liegt aber nicht nur in unterschiedlichen normativen oder kulturellen
Vorstellungen, sondern wird ebenso von den in den Räumen eingelagerten
Machtverhältnissen geschürt. Öffentliche Räume sind also deshalb auch Konflikt- und
Protesträume, weil sich jugendliche Bedürfnisse an den Interessen anderer Nutzergruppen
reiben. Dabei kann die Aneignung öffentlicher Räume in Abweichung der vorgesehenen
Nutzung auch als Widerstand gegen die Macht der Erwachsenen gedeutet werden, anhand
derer die Jugendlichen ihr Recht auf Selbstkontrolle und Autonomie einfordern (Valentine:
2004:84-85).
Öffentliche Räume als Lernorte
Die bisherigen Ausführungen machen deutlich, dass in öffentlichen Räumen grosses
Lernpotential für Jugendliche verborgen liegt: In öffentlichen Räumen lernen Jugendliche
Herausforderungen zu meistern und Gefahren zu bewältigen, sich gegenüber Gleichaltrigen
und Erwachsenen zu behaupten und Selbstständigkeit zu entwickeln, Neues zu erleben,
Fremdes zu verstehen und die Gesellschaft zu erkunden (Zinnecker 1979:136). Jugendliche
entwickeln dadurch bedeutende Kompetenzen und erweitern damit ihren
Handlungsspielraum in der Gegenwart und der Zukunft (Oehme 2011:2). Heute sind sich
Pädagogen einig: Ein Grossteil der Bildungsprozesse, die Kinder und Jugendliche
durchlaufen, findet im ausserschulischen Bereich der formellen Bildung statt. Neben den
nonformalen
Bildungsinstitutionen
(Jugendeinrichtungen,
Vorschulkrippen,
Freizeiteinrichtungen, Vereine, etc.) sind insbesondere informelle Bildungsorte, also in erster
Linie Orte der Freizeitbeschäftigung, von Bedeutung (Harring 2010b:21-23). Dabei handelt es
sich um situative, d.h. nicht institutionalisierte und unstrukturierte, sowie soziale
Lernprozesse in der Gleichaltrigengruppe, die unter anderem auch in öffentlichen Räumen
stattfinden. Die Peergroupbezogene Freizeitbeschäftigung fördert dabei generell den Erwerb
sowohl von sozialen als auch Sach- und Fachkompetenzen (Harring et al. 2010a:9-15). Weiter
kann auch die Identitätsbildung und Persönlichkeitsentwicklung von Jugendlichen zur
informellen Bildung gezählt werden: In der Abstimmung und Aushandlung von Normen und
Überzeugungen des Einzelnen mit der Peergroup bilden Jugendliche ein eigenes Selbst- und
Wertverständnis und emanzipieren sich damit von ihrer Abhängigkeit von Eltern und
Pädagoginnen. Gerade öffentliche Räume sind Orte jugendspezifischer Erfahrung, geprägt
von Eigenständigkeit und fernab von pädagogischer Einflussnahme (Scherr 2010:81-82).
Generell aber ist die Sozialisation in informellen Settings im Spannungsfeld zwischen
Selbstbestimmung und Anpassung zu verstehen (Zinnecker 1979:18).
Schliesslich entfaltet die Sozialisation in öffentlichen Räumen auch ein politisches
Potential, weil sie Möglichkeiten und Chancen zur gesellschaftlichen Partizipation eröffnen
bzw. verschliessen, indem beispielsweise eher autoritäre oder egalitäre Vorstellungen des
Zusammenlebens inkorporiert werden (vgl. Nissen 2000:13 und 22).
Öffentliche Räume als Bewältigungsräume und Rückzugsorte
Wie bereits einführend erwähnt, stellen einige Autoren die Integrationsleistung informeller
Lernorte in Frage. Weder die Sozialisation in institutionalisierten Kontexten noch die
ausserschulischen Bildungsprozesse in öffentlichen Räumen sind ihrer Meinung nach fähig,
9
benachteiligte Jugendliche in die Gesellschaft zu integrieren; vielmehr erleben diese aufgrund
der zunehmenden strukturellen Ungleichheit und einer akzentuierten Diskrepanz zwischen
gesellschaftlich vorgegebenen Zielen und individuellen Möglichkeiten in allen Bereichen ihres
Lebens durchgehend Ausschluss und Misserfolg (Böhnisch et al. 2010a:3; Reutlinger
2003:119). In öffentlichen Räumen zeigt sich diese Reproduktion von Ungleichheit in der
Kriminalisierung jugendlichen Aneignungsverhaltens (Musik, Drogenkonsum, Skaten, etc.),
was im Gegenzug zu einer weiteren Verstärkung der Zweiteilung der Jugend zwischen den
Integrierten und Desintegrierten führt: „Vielmehr spaltet die Jugendphase die Jugendlichen in
solche, die den Freiraum biografisch produktiv verwandeln können und solche, die auf der
Strecke bleiben und für die das Hineinwachsen in die Gesellschaft bis zur Chancenlosigkeit
prekär verläuft. Für diese Jugendliche droht der Zweck des Freiraums verloren zu gehen“
(Bingel 2008:109). Somit handelt es sich bei der jugendlichen Raumpraxis in öffentlichen
Räumen der Stadt um einen Teufelskreis: Jugendliche, die in benachteiligten Stadtteilen
aufwachsen und sich deshalb mit einer unzureichenden Infrastruktur und Stigmatisierung
konfrontiert sehen, sind verstärkt auf öffentliche Räume als Orte autonomer Selbsterfahrung
angewiesen. Weil diese Orte aber aufgrund ihrer zunehmenden Verregelung (Polizei,
Videoüberwachung, etc.) und Funktionalisierung (Verkehr, Konsum, Arbeit, etc.) beinahe
nur auffallendes, abweichendes oder gar kriminelles Jugendverhalten hervorruft, wiederholt
sich die Ausschlusserfahrung dieser Jugendlicher auch hier (Bingel 2008:107-108).
Öffentliche Räume werden dadurch für die Jugendlichen zu Orten der Lebensbewältigung, die
jedoch in den wenigsten Fällen gelingt.
Christian Reutlinger (2003, 2005, 2009) hat in seinen Arbeiten zur Sozialgeografie des
Jugendalters die Lebensbewältigung benachteiligter Jugendlicher in informellen Kontexten
untersucht und mit dem Begriff der ‚unsichtbaren Bewältigungskarten’ umschrieben. Er
verweist damit auf den Umstand, dass Jugendkultur sowie jugendliche Bedürfnisse und
Probleme vermehrt aus dem gesellschaftlichen Blickfeld verdrängt und unsichtbar gemacht
werden; gerade benachteiligte Jugendliche ziehen sich deshalb aus der Öffentlichkeit in
unsichtbare Lebensräume zurück. Dadurch gehen die Sozialisationsleistungen öffentlicher
Räume, die ja gerade auf der Sichtbarkeit von Jugendlichen und ihrer Auseinandersetzung mit
der Umwelt basieren, weitestgehend verloren (vgl. Reutlinger 2003:105-144).
Für unsichtbare Jugendliche fungieren öffentliche Räume deshalb oft auch als Rückzugsund Zufluchtsort vor häuslicher und institutioneller Kontrolle und Sanktionierung. Er wird
somit zum Ort der vielfältigen Reisen nach innen, „dem Bauen von Luftschlössern, den
Tagträumen und Phantasien, dem Sich-aus-dem-Alltag-Entfernen“ (Hexel 1988:564), da die
Realisierung wirklicher Reisen und Fortschritte nicht möglich ist.
Zwischenfazit I
Die vielfältigen Bezugspunkte zwischen Jugendlichen und öffentlichen Räumen können
abschliessend folgendermassen zusammengefasst werden: Aus optimistischer Perspektive
bilden öffentliche Räume die Folie zur Kompetenzentwicklung und Identitätsbildung von
Jugendlichen. Die konstruktive Auseinandersetzung mit der Erwachsenenwelt erzeugt
demnach auch die Integration der Jugendlichen in das gesellschaftliche Normen- und
Symbolsystem. Ein kritischer Blick auf das Bildungs- und Sozialisationspotential öffentlicher
10
Räume macht hingegen deutlich, dass diese positiven Eigenschaften informeller Lernorte nur
gewissen Jugendlichen offen stehen und insbesondere strukturell benachteiligte
Heranwachsende in öffentlichen Räumen vermehrt Ausschluss und Misserfolg erleben.
Ausserdem trägt der fortlaufende Wandel öffentlicher Räume immer mehr dazu bei, die in
öffentlichen Räumen eingelagerten Entwicklungspotentiale wortwörtlich zu verbauen10.
10 Für eine vertiefte Auseinandersetzung zum Wandel öffentlicher Räume und sich daraus ergebende
Konsequenzen für Kinder und Jugendliche siehe Zeiher (1979), Reutlinger (2003) Kapitel 1.3. sowie Karsten
(2005).
11
2
Forschungsstand
2.1 Jugend und öffentliche Räume – ein interdisziplinäres Forschungsthema
In verschiedenen Publikationen zum Forschungsthema wird bemängelt, dass in den
Sozialwissenschaften eine Wissenslücke zum Verhältnis von Jugend und öffentlichen Räumen
existiere (Wüstenrot Stiftung 2003:13). Dennoch bieten die Kindheits- und Jugendforschung
sowie Analysen zum Sozialraum Anknüpfungspunkte, um die Beziehung zwischen
Jugendlichen und öffentlichen Räumen zu untersuchen.
2.1.1 Sozialökologie und raumbezogene Kindheits- und Jugendforschung
Sozialökologische Studien (vgl. Baacke 1983, Hurrelmann 1985) interessieren sich für die
Lebensführung von Kindern in ihren städtischen Wohnumwelten, weil sie davon ausgehen,
dass der Lebensraum eine wichtige Sozialisationsinstanz darstellt11. Im Rahmen dieser
Untersuchungen wurde in Anlehnung an Muchow (1998) und Bronfenbrenner (vgl. Lüscher
1976) das ökologische Zonenmodell entwickelt (Baacke 1980), das vier expandierende
sozialökologische Zonen beinhaltet. Gemäss Baacke entspricht das Wachstum dieser
ökologischen Zonen vom Zentrum in räumlich immer weiter entferntere und offenere
Soziotope der allmählichen Zunahme jugendlicher Selbstständigkeit (Baacke 1993:144).
Berechtigte Kritik an der kontinuierlichen und konzentrischen Ausdehnung des
Handlungsraumes von Heranwachsenden entsprechend Baackes Zonenmodell veranlasste
Helga Zeiher in den 1980er Jahren zur Erarbeitung des Inselmodells, welches bis heute für das
sozialökologische Verständnis von grosser Bedeutung ist (s. Abb. 1). Nach Zeiher veränderten
sich die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen seit den 1960er Jahren
dahingehend, dass die für Heranwachsende relevanten Räume als Teilräume von einander
getrennt und verstreut liegen. Ein solches Modell des verinselten Lebensraums beschreibt
nicht ein „Segment der realen räumlichen Welt, sondern besteht aus einzelnen separaten
Stücken, die wie Inseln verstreut in einem grösser gewordenen Gesamtraum liegen, der als
Ganzer unbekannt oder zumindest teilweise bedeutungslos ist“ (Zeiher 1998:187).
Wiederum in Anlehnung an Zeihers Inselmodell führte Jürgen Zinnecker im selben
Zeitraum das Konzept der Verhäuslichung ein: Im Gegensatz zum Strassenkind um die
vorletzte Jahrhundertwende bewegt sich das verhäuslichte Kind der postindustriellen
Konsum- und Dienstleistungsgesellschaft (ungefähr seit 1960) meist nur noch in
spezialisierten und separierten Teilräumen (Wohnung, Schule, Freizeitstätte, Warenhaus, etc.)
und ist damit auch stärker der Planungs- und Kontrollmacht von Erwachsenen unterworfen
(Zinnecker 2001:28-41). Als Kritik an den damaligen Bedingungen verwies Zinnecker bereits
im frühen Stadium seiner Arbeiten immer wieder auf die Strassensozialisation als einen
unterschätzten, aber wichtigen Bildungsraum für Kinder und Jugendliche (Zinnecker
11 Wichtige Vertreter des sozialökologischen Ansatzes sind die Chicago School of Sociology, Martha Muchow
(1998), Roger Barker (1968/Ecological Psychology), Rudolf Moos (1976/Social Ecology) und Harold Proshansky
(1970/Environmental Psychology).
12
1979:727). Er plädierte dafür, statt Schreckensvisionen einer anti-pädagogischen Welt
heraufzubeschwören, die Strasse als Lernort bürgerlicher Öffentlichkeit anzuerkennen
(Zinnecker 1979:728-732): „Über den Strassenraum vermittelt sich die lokale,
quartierbezogene Öffentlichkeit von Kindern und Jugendlichen. (…) Dort entwickeln sie
eigenständige Spiel- und Umgangsformen miteinander, den Grundstock zu einer
strassenbezogenen Kinder- und Jugendkultur“ (Zinnecker 1979:738). Kinder und Jugendliche
lösen auf der Strasse auch Identitätsprobleme: „Identität muss und wird in vielfältig
wechselnden Situationen hergestellt, problematisiert, erkämpft, neu zur Darstellung gebracht“
(Zinnecker 1979:742).
Abbildung 1: Schematische Darstellung der verinselten Lebenswelten
Quelle: Deinet 2009:9
In der raumbezogene Kindheits- und Jugendforschung sind vor allem subkulturelle
Ansätze von Bedeutung, deren Erforschung nach Antworten auf die Frage sucht, wie
Jugendliche in der Form von Peergroups den sozialen Raum in ihrem Alltag erfahren und
gestalten. Diese Forschungstradition wurde massgeblich vom ‚Centre for Contemporary
Cultural Studies’ in Birmingham geprägt. Die zahlreichen ethnografischen Studien
erforschten Jugendsubkulturen in städtischen Lebensräumen und die Art und Weise, wie
diese sozialen Gruppen räumliche Bedingungen zu ihren Gunsten veränderten (Gough et al.
2005:150). Ein einflussreiches Beispiel für die Arbeiten der Forschungsgruppe stellt das Buch
‚Jugendkulturen als Widerstand’ von John Clarke (1. Aufl. 1979) dar, in welchem mehrfach
auf die Verschränkung von Jugendkultur und Jugendraum hingewiesen wird: Subkulturen
„sind geeignet, den Jugendlichen Raum zu verschaffen: kulturellen Raum in der
Nachbarschaft und in den Institutionen, wirklich freie Zeit und Erholung, tatsächlichen Raum
auf der Strasse, an der Strassenecke. Sie sind behilflich bei der Markierung und Aneignung
von ‚Territorien’ in der gegebenen Umwelt“ (Clarke et al. 1981:93-94).12
12 Zur Kritik am Centre for Contemporary Cultural Studies’ vgl. Langevang (2008) sowie Baacke (2007).
13
Aktuelle Jugendforschung mit Raumbezug konzentriert sich in erster Linie auf alters- und
geschlechtsspezifische Nutzungsformen von Raum und auf die Aneignung von gebauter und
sozialer Umwelt durch Kinder und Jugendliche (vgl. Wüstenrot Stiftung 2003 und 2009, Muri
et al. 2009).
2.1.2 Sozialgeografie der Kindheit und des Jugendalters
Raumforschung mit einem Bezug zur Kindheit und Jugendphase wird vor allem von der
angelsächsischen Sozialgeografie betrieben in der Form von „life course studies in geography“
(Del Casino 2009:185). Während im Allgemeinen die Untersuchung alterspezifischer
Wahrnehmung, Nutzung und Konstruktion von Räumen lange Zeit vernachlässigt wurde,
begann diese Disziplin in den 1960er und 70er Jahren sozialräumliche Prozesse für
unterschiedliche Altersgruppen zu erforschen. Dabei nahm und nimmt die Sozialgeografie
noch heute eine machttheoretische Perspektive ein, wenn sie einerseits nach der Regulierung
von Räumen durch Erwachsene und andererseits nach Widerstand gegen und
Transformation von regulierten Räumen durch Kinder und Jugendliche fragt (Del Casino
2005:186). Für sozialgeografische Untersuchungen müssen deshalb neben den
Wahrnehmungen, Konstruktionen und Transformationen von Räumen durch Kinder ebenso
die kulturellen Ausschlusspraktiken von Erwachsenen im Alltag berücksichtig werden
(Matthews et al. 1999:82). Mit Forschungsarbeiten zur räumlichen Marginalisierung von
Kindern durch Erwachsene in den 60er und 70er Jahren wurde erstmals das Plädoyer für eine
Geografie der Kindheit und des Jugendalters laut: Sozialgeografen wie beispielsweise William
Bunge (1975) oder Hugh Matthews und Melanie Limb (1998) forderten die radikale Aufgabe
einer Erwachsenenzentrierten Geografie und damit den konsequenten Miteinbezug des
kindlichen und jugendlichen Raumerlebens in die geografische Forschung.
Auch im deutschsprachigen Raum wird eine Sozialgeografie der Kindheit betrieben,
dessen wichtigster Begründer der Schweizer Benno Werlen darstellt. Werlen vertritt dabei
eine Hinwendung der Sozialgeografie zu den menschlichen Tätigkeiten und sozialen
Prozessen und damit eine „Wende von der Raum- zur Sozialforschung“ (Werlen 2007:34).
Eine Sozialgeografie der Kindheit muss sich gemäss Werlens Ausführungen (Werlen 2007:36)
demnach mit den sozialräumlich verankerten Handlungsweisen auseinandersetzen und dabei
die subjektiven Wahrnehmungen und Konstruktionen von Kindern in den Mittelpunkt
stellen. Reutlinger (2003) weist darauf hin, dass insbesondere jugendliches Geografie-Machen
in der Sozialgeografie ein unerforschtes Feld darstellt (Reutlinger 2003:109).13
Zwischenfazit II
13 Weitere wichtige thematische Schwerpunkte der Sozialgeografie des Jugendalters sind: a) die Folgen des
sozialen Wandels für das Geographie-Machen von Heranwachsenden in westlichen Gesellschaften (vgl. Katz
1991, Reutlinger 2003), b) die Handlungsweisen von Jugendlichen in stark machtstrukturierten und regulierten
Räumen und die Bedeutung normativer Herrschaftsdiskurse (bspw. über Sexualität, Ethnie oder Geschlecht) für
konformes und nonkonformes Verhalten (vgl. Del Casino 2009:203-208), c) den Diskurs zur ‚teenphobia/culture
of fear’ sowie zur Kriminalisierung von Jugendlichen im öffentlichen Raum (vgl. Del Casino 2009:203-208), d)
Raumqualitäten und Mobilitätsmuster von Kindern und Jugendlichen in der Stadt (vgl. Limbourg et al. 2000,
Scholl et al. 2002, Hunecke et al. 2002) und e) die psychologischen Komponenten kindlicher Raumerfahrung und
Raumkompetenzen (vgl. Matthews 1992, Spencer et al. 1989).
14
Beiden Forschungstraditionen ist zu eigen, dass sie für einen Perspektivenwechsel in der
Raumforschung zugunsten der Heranwachsenden in unserer Gesellschaft plädieren. Mit der
Untersuchung von Nutzung und Erfahrung der räumlichen Strukturen in urbaner Umgebung
durch Kinder und Jugendliche (Sozialökologie und raumbezogene Kindheits- und
Jugendforschung) sowie mit der Thematisierung von Restriktionen und Marginalisierung von
Minderjährigen in einer von Erwachsenen gebauten und dominierten Umwelt
(Sozialgeografie) machen beide Forschungstraditionen deutlich, dass Kinder und Jugendliche
ihre Umwelt mit den entsprechenden räumlichen Bezügen in anderer Weise als Erwachsene
wahrnehmen und dementsprechend auch andere Bedürfnisse im Bezug auf die physische
Ausgestaltung von Räumen haben. Dieses emanzipatorische Moment wird auch in der
vorliegenden Arbeit wieder aufgenommen: Im Fokus steht die spezifische Nutzung, Erfahrung
und Bedeutung öffentlicher Räume für Jugendliche und insbesondere mit der explorativen
Ausrichtung der Untersuchung sollen statt herkömmliche (Erwachsenen-) Deutungen von
öffentlichen Räumen und Öffentlichkeiten vielmehr neue und vernachlässigte Lesarten der
Thematik erforscht werden.
2.2 Forschungsüberblick zum Themenfeld ‚Jugend-Raum-Öffentlichkeit’
Im Folgenden wird bereits vorhandenes empirisches Wissen zum Forschungsthema in zwei
Abschnitten vorgestellt, erstens zu ‚Jugend in öffentlichen Räumen’ und zweitens zu ‚Jugend
und Öffentlichkeit’. Diese Zweiteilung wird deutlich machen, dass sich eine mögliche
Forschungslücke in der Verknüpfung beider Forschungsfelder befindet, wie im Kapitel 2.3.
dargestellt wird. Im Generellen werden Untersuchungen sowohl aus dem angelsächsischen als
auch aus dem deutschen Sprachraum berücksichtigt, wobei die deutschsprachige Forschung
zu gewissen Themen weniger weit fortgeschritten scheint und dementsprechend bis anhin
weniger Erkenntnisse hervorgebracht hat.
2.2.1 Forschungsfeld 1: Jugend in öffentlichen Räumen
Dieses Forschungsfeld ist sehr breit angelegt und die grosse Vielfalt der bisherigen
Forschungserkenntnisse lässt Rückschlüsse auf sehr unterschiedliche Perspektiven der
Beziehung zwischen Jugendlichen und öffentlichen Räumen zu. Es lässt sich in fünf
Teilbereiche gliedern, die Fragen zu a) Macht und Ungleichheit in öffentlichen Räumen, zu b)
nonkonformes Verhalten und subkulturelle Praktiken in öffentlichen Räumen, zu c)
jugendliche Partizipation bei der Planung öffentlicher Räume, zu d) sozialräumliche
Aneignung in öffentlichen Räumen sowie zu e) kollektive Identitätsfindung in öffentlichen
Räumen nachgehen. In der Darstellung der fünf Teilbereiche wird lediglich eine Auswahl der
wichtigsten Studien behandelt, um eine gewisse Bandbreite von Themen abdecken zu können.
Aus diesem Grund werden die zahlreichen Studien zum Forschungsfeld einzeln nach
Teilbereich zusammengefasst. Allein auf Forschungsarbeiten zum Teilbereich
‚sozialräumliche Aneignung in öffentlichen Räumen’ wird näher eingegangen.
Macht und Ungleichheit in öffentlichen Räumen
15
Dieser Teilbereich befasst sich einerseits mit dem ungleichen Zugang zu öffentlichen Räumen
von verschiedenen Anspruchsgruppen. Dabei werden Differenzierungen nach Geschlecht,
ethnischer Zugehörigkeit und sozioökonomischer Position identifiziert und es wird
beschrieben, wie sich Ausschlussmechanismen entlang dieser Differenzierungslinien auf die
Raumnutzung, -wahrnehmung und –deutung einzelner Gruppen von Jugendlichen
auswirken:
 Während Mädchen in früheren Studien als stark benachteiligt bezüglich des Zugangs
zu und der Nutzungsmöglichkeiten von öffentlichen Räumen bezeichnet wurden (vgl.
Zinnecker 1979), haben neuere Studien festgestellt, dass Mädchen ebenso wie Jungen
öffentliche Räume zu ihren Gunsten nutzen können (vgl. Bütow 2000,
Forschungswerkstatt Sozialraum 2006, Schön 1999, Wüstenrotstiftung 2003 & 2009).
Zwar gibt es teilweise beachtliche Unterschiede in der Art der Nutzung zwischen den
Geschlechtern, sowohl Jungen als auch Mädchen entwickeln aber die ihnen
angemessenen Strategien im Umgang mit diesen Ungleichheiten.14
 Generell unterscheiden sich Wahrnehmung und Nutzung öffentlicher Räumen durch
Jugendliche mit unterschiedlichem sozioökonomischem Status signifikant.
Benachteiligte Jugendliche nutzen öffentliche Räume tendenziell häufiger als
Jugendliche aus der Mittel- und Oberschicht (Gough et al. 2005, Zinnecker 1979).
Einerseits ermöglicht er ihnen die Teilhabe an der Gesellschaft sowie die Stärkung von
Zugehörigkeit und Selbstwertgefühl (z.B. Territorialverhalten), die ihnen in anderen
Kontexten verwehrt sind (vgl. Kintrea et al. 2008). Andererseits erleben sie aber gerade
in öffentlichen Räumen zusätzliche Diskriminierungen (Kontrolle, Ablehnung,
Kriminalisierung, etc.). Gerade im Wohnumfeld verfügen Jugendliche aus
benachteiligten Quartieren über eine schlechtere Infrastruktur an öffentlich nutzbaren
Räumen (vgl. de Besten 2010, Reutlinger 2003).
 Aufgrund des fehlenden Wissens über konforme Verhaltensweisen in öffentlichen
Räumen
erleben
ausländische
Jugendliche
Diskriminierungen
und
Nutzungseinschränkungen in öffentlichen Räumen (vgl. Emmenegger 1995,
Rauschenbach et al. 1989). Generell können sich somit ethnische oder religiöse
Konflikte in öffentliche Räume verlagern (Bandengewalt, rassistisch motivierte
Angriffe, etc.). Involvierte Konfliktparteien bedienen sich dabei der Strategie des
Territorialverhaltens, indem sie bestimmte Gebiete des Sozialraums für sich
beanspruchen und auch verteidigen (vgl. Leonard 2006, Watt et al. 1989).
Geschlechtliche, sozioökonomische und ethnisch-kulturelle Differenzierungslinien
können sich in öffentlichen Räumen überlagern und somit zu einer mehrfachen
Diskriminierung einzelner Gruppen von Jugendlichen führen. Wie Vanderbeck (2004)
bemerkt, erleben Jugendliche neben offensichtlichen Diskriminierungen und Segregation
ebenso oft subtile Ausschlusserfahrungen durch informelle normative Settings in öffentlichen
14 Für einen ausführlichen Forschungsüberblick zum Thema „Mädchen im öffentlichen Raum“ vgl. Madlener,
Nadja (2004). We can do. Geschlechtsspezifische Raumaneignung am Beispiel von Graffiti von Mädchen und
jungen Frauen in Berlin. Stuttgart: ibidem-Verlag. S.69-88. Oder Bütow, Birgit (2000). Mädchen zwischen
privaten und öffentlichen Räumen. In: Mädchen in sozialen Brennpunkten. Berlin: Sozialpädagogisches Institut
Berlin. S.33-35.
16
Räumen. Als Reaktion darauf kann beobachtet werden, wie Jugendliche solche
sozialräumliche Narrative sozialer Differenzierung herausfordern und verändern und sich
selber bedeutungsvolle Mikro-Territorien der Öffentlichkeit schaffen (Vanderbeck et al.
2004:182).
Als Zweites lassen sich Studien zur Diskriminierung von Jugendlichen in öffentlichen
Räumen unter diesem Teilbereich zusammenfassen. Ausgangspunkt dieser Untersuchungen
ist die Vorstellung, dass öffentliche Räume durch formelle und soziale Strategien als Teil der
Erwachsenenwelt konstruiert sind, in welchen Jugendliche benachteiligt werden (vgl. Malone
et al. 1998, Malone 2002). Folglich kommt es ausdrücklich an solchen Orten, wo das Interesse
zur Aufrechterhalten der Erwachsenenordnung besonders gross ist (d.h. öffentliche Räume
mit spezifischen Funktionen für Verkehr, Wirtschaft und Konsum), regelmässig zu
Konflikten zwischen Erwachsenen und Jugendlichen (vgl. Lees 2003, Matthews et al. 2000,
Stratford 2002). Es handelt sich dabei meist um Auseinandersetzung zwischen den
Bedürfnissen der Jugendlichen nach Freiraum und Autonomie und den ökonomischen wie
moralischen Interessen von Stadtbewohnern, Behörden und Gewerbe. Gerade in den USA
sowie Grossbritannien reagieren die Behörden darauf mit Ausgangssperren und Repression
(vgl. Collins et al. 2010); ähnliches Vorgehen kann aber auch in Schweizer Ortschaften
beobachtet werden15. Diese Ausschlussmechanismen werden häufig mit einem im öffentlichen
Diskurs
aufgebauten
negativen
Jugendbild
(Kriminalität,
Littering,
Gewalt,
Drogenmissbrauch, etc.) legitimiert. Jugendliche reagieren auf diese Diskriminierungen
entweder mit Rückzug, offenem Protest oder Ausweichstrategien (vgl. Kato 2006, 2007 &
2009).
Nonkonformes Verhalten und subkulturelle Praktiken in öffentlichen Räumen
Die subkulturellen Ausdrucksformen von Jugendgruppen in öffentlichen Räumen stellen
einen zentralen Teilaspekt des Forschungsfeldes ‚Jugend in öffentlichen Räumen’ dar. Solche
Untersuchungen verknüpfen Jugendkultur dabei meist mit Fragen nach jugendlichem
Protestverhalten in öffentlichen Räumen. Aus den entsprechenden Studien geht
zusammenfassend hervor, dass jugendliche Subkulturen oder Milieus den Raum auf ihre je
eigene Art und Weise nutzen und verändern, mit dem Ziel, sowohl kulturelle als auch
normative Ansprüche geltend zu machen (vgl. Becker et al. 1984a/b, Borden 1998, Clarke
1981, MacDonald 2001, Northoff 2001, Volland 2009).
Jugendliche können im öffentlichen Raum aber auch diejenigen sein, welche die
Raumqualitäten für andere Anspruchsgruppen beeinträchtigen. Aufgrund methodischer
Schwierigkeiten (insb. Reaktivität und soziale Erwünschtheit) befassen sich aber nur wenige
Studien mit nonkonformen Verhalten von Jugendlichen in öffentlichen Räumen und die
Auswirkungen auf das soziale Leben an diesen Orten. Mögliche Erklärungsfaktoren von
nonkonformen Verhalten in öffentlichen Räumen liegen erstens im Bedürfnis, die eigene
Randständigkeit öffentlich zu thematisieren (vgl. Breyvogel 1997), zweitens in der Strategie,
15 Siehe bspw. die Ausgangssperre in Liechtenstein, Polizeikontrolle und Ausgehverbote in Bad Zurzach, Polizeiund Armeeeinsatz bei dem Harrasenlauf in Basel-Land, Polizeistunden und Videoüberwachung in Altstetten,
etc.
17
den negativen Jugenddiskurs als Spielfläche für performative Handlungen zu nutzen (vgl.
Fleetwood 2004), und drittens in der Möglichkeit, über die Durchsetzung eines bestimmten
Verhaltenskodex öffentliche Räume zu kontrollieren (vgl. Andersons 1998). In allen drei
Fällen wird deutlich, dass nonkonformes Verhalten in öffentlichen Räumen die Möglichkeit
bietet, über negatives Verhalten Identitäten und Zugehörigkeiten zu konstruieren.
Jugendliche Bedürfnisse und Partizipation bei der Planung öffentlicher Räume
Die wenigen Studien, welche die Mitwirkung von Jugendlichen bei der Planung öffentlicher
Räume berücksichtigen, zeigen auf, wie komplex und sensibel solche Partizipationsprozesse
sind (vgl. Elsley 2004, Freeman et al. 2005, Gearin et al. 2006, Varney 2007). Es herrscht dabei
Uneinigkeit darüber, wie prominent die jugendspezifischen Bedürfnisse aufgenommen,
bearbeitet und umgesetzt werden sollen. Mitwirkungsprojekte, die vor allem auf die
Realisierung jugendlicher Interessen setzen, stellen die Jugendlichen in den Mittelpunkt (vgl.
Weszkalinys 2008); Projekte hingegen, die in erster Linie einen Mehrwert für alle Betroffenen
des Sozialraumes erzielen möchten und dabei auf die Aufhebung der marginalisierten Rolle
der Jugendlichen zielen, relativieren die jugendlichen Interessen (vgl. Gohde-Ahrens 2008).
Jugendliche Partizipation bei der Planung öffentlicher Räume stellt sich in jedem Fall als
wirksames Mittel dar, um Jugendliche auch in die politische Öffentlichkeit zu integrieren:
Durch den Kontakt mit lokalen Akteuren und der Lokalbevölkerung erhalten Jugendliche die
Möglichkeit sich auch in anderen Bereichen als der Raumplanung Gehör zu verschaffen (vgl.
Gohde-Ahrens 2008).
Sozialräumliche Aneignung in öffentlichen Räumen
Studien aus diesem Teilbereich befassen sich mit der Nutzung, Wahrnehmung und Deutung
von öffentlichen Räumen durch Jugendliche in ihrer alltäglichen Erfahrungswelt. In der
Tabelle 1 werden Details zu den genannten Untersuchungen aufgelistet.
 Die schwedische Studie von Liebert (1995) zeigte auf, dass Jugendliche sowohl Räume
des Rückzugs als auch Räume der Interaktion benötigen, um das Spannungsverhältnis
zur Erwachsenenwelt bewältigen zu können: „Places of retreat and places of
interaction meet different needs and interests that are linked closely to the personal
developments that take place during the teen years“ (Lieberg 1995:740). Weiter
unterteilte Lieberg die Raumnutzung der Jugendlichen in drei zentrale Aktivitäten:
Erstens nutzen Jugendliche die ungeplanten und offenen sozialen Kontakte in
öffentlichen Räumen, um soziale Kompetenzen und Wissen zu erwerben sowie zur
Identitätsbildung. Zweitens fungieren öffentliche Räume als Bühne, einerseits um sie
als Plattform zum jugendlichen Austausch zu nutzen und andererseits um sich in der
Öffentlichkeit zu präsentieren. Drittens versuchen Jugendliche die Normensysteme
öffentlicher Räume zu ihren Gunsten zu transformieren, beispielsweise indem sie
gewisse Raumausschnitte besetzen oder ihn sich symbolisch aneignen (Lieberg
1995:729-737).
 Eine weitere Studie aus dem Jahre 1999 aus einem Quartier in Berlin Mitte zeigte auf,
dass sich die Raumnutzung und –wahrnehmung von Jugendlichen und Kindern stark
unterscheidet: Während die 8-12jährigen den Strassenraum vor allem naturbezogen
18


und sinnlich, sowie geschlechtsneutral und gruppenübergreifend wahrnahmen,
charakterisierten die 13-18jährigen ihre Räume als symbolisch konnotiert und
entsinnlicht sowie geschlechtsrollenspezifisch und sozial getrennt. Diese
Untersuchung bringt eindrücklich zum Vorschein, wie sich die Raumnutzung und –
wahrnehmung in der Jugendphase von anderen Altersgruppen abhebt. Im
Heranwachsen passen sich die Jugendlichen dabei immer früher dem dominanten
Raum der Erwachsenenwelt (funktionaler Raum) an (Schmals 1999:73-79).
Die Wüstenrot Stiftung aus Ludwigsburg in Deutschland hat unter ihrem Arbeits- und
Forschungsschwerpunkt „Jugend und gebaute Umwelt“ mehrere Studien durchgeführt
und veröffentlicht, um die Forschungslücke zur Funktion und Bedeutung von
öffentlichen Räumen für Jugendliche in deutschen Städten zu schliessen. Die erste
Publikation zum genannten Forschungsschwerpunkt mit dem Titel „Jugendliche in
öffentlichen Räumen der Stadt“ (2003) richtete sich „auf die in öffentlichen Räumen
wirksam werdenden und durch die baulichen Strukturen mitbestimmten Chancen
und Restriktionen für Jugendliche in Städten“ (Wüstenrot Stiftung 2003:11),
namentlich in Hannover. Mit einem Mix aus qualitativer Methoden (nichtteilnehmende Beobachtung, Experiment) untersuchten sie sechs unterschiedliche
Typen öffentlicher Räume sowie das Verhalten Jugendlicher und verknüpften diese
Datensätze mit Informationen aus einer Online-Schüler-Befragung. Für die
vorliegende Forschungsarbeit sind vor allem die Befunde zu den in den
unterschiedlichen öffentlichen Räumen dominanten Verhaltensqualitäten relevant:
Die Studie zeigte, dass sich bei der überwiegenden Anzahl der Jugendlichen „eher leise
und auf engen Raum begrenzte Verhaltensweisen“ (Wüstenrot Stiftung 2003:222)
beobachten liessen und dass ihr Verhalten sowohl bei Abwesenheit als auch bei
Anwesenheit von mehreren Erwachsenen stärker nach aussen gerichtet war, wobei
direkte Interaktionen zwischen Jugendlichen und Erwachsenen oder Kindern selten
registriert wurden. Im Gegensatz dazu waren ein Grossteil der beobachteten
Handlungen in den Untersuchungsräumen von der direkten Kommunikation und
Interaktion zwischen den Gleichaltrigen geprägt. Nach Ansicht der Autoren bestätigte
sich die These, nach welcher öffentliche Räume als Bühne zur Selbstdarstellung, als
Integration in die Erwachsenengesellschaft sowie als Ort der Interaktion fungieren,
obschon sich dies vor allem unter den Jugendlichen und teilweise auch von Anderen
unbeobachtet abspielt. Gleichzeitig konstatierten sie eine mangelnde Wertschätzung
der Jugendlichen als Nutzergruppe in öffentlichen Räumen und einschneidende
Restriktionen ihrer sozialräumlichen Aneignung, was von den Jugendlichen selbst
jedoch nur geringfügig thematisiert wurde (Wüstenrot Stiftung 2003:218-232).
Die daran anschliessende Studie der Wüstenrot Stiftung „Stadtsurfer, Quartierfans &
Co.“ (2009) konzentrierte sich auf „Muster und Verständnisse alltäglichen
Raumgeschehens und Raumentwurfes von Jugendlichen“ (Wüstenrot Stiftung 2009:9).
Mit einer Kombination von unterschiedlichsten Methoden (Kartenabfragen,
Tagesprotokolle, Modellbau, teilnehmende Beobachtung, Befragung…) erforschten sie
die Raumpraxis, die Raumvorstellung und Raumbedeutungen von Jugendlichen in der
Stadt Hannover. Das Ergebnis der Studie mündete in einer Kategorisierung der
19


Jugendlichen in fünf unterschiedliche Raumnutzungs- und Stadtkonstruktionstypen
(vgl. Tab.1).
Für die Schweiz ist das Nationalfondsprojekt mit dem Titel „Bühnen der
Öffentlichkeit: Kinder und Jugendliche setzen sich in Szene“ (2003-2006) zu
erwähnen, welches sich mit der Aneignung von öffentlichen Stadträumen durch
Kinder und Jugendliche befasste. Im Neubaugebiet „Neu-Oerlikon“ in der Stadt
Zürich
wurden
mittels
Methoden
der
qualitativen
Sozialforschung
(Leitfadeninterviews, teilnehmende Beobachtung) sowie ethnografischen Erhebungen
(Fotografien, Filme) jugendkulturelle Raumaneignung anhand von exemplarisch
ausgewählten Schnittstellen mit der Erwachsenenwelt untersucht. Im Fokus des
Projektes stand demnach die Frage nach Möglichkeiten und Bedingungen zur
konstruktiven Auseinandersetzung der Jugendlichen mit der Erwachsenengesellschaft
und –kultur im betreffenden Stadtgebiet, welche als zentrale Teilfunktion von
sozialräumlicher Aneignung verstanden wurde. Dabei versuchten die Autoren auch
aufzuzeigen, wie Jugendliche von erwachsenen Fachpersonen geplante und gebaute
Räume eigengestalterisch nutzen und zurückerobern (Muri et al. 2009: 107-108/128131). Die für die vorliegende Arbeit relevanten Ergebnisse beziehen sich vor allem auf
Merkmale der intergenerationellen Wahrnehmung in den untersuchten öffentlichen
Räumen: Die Interaktion zwischen den Generationen beruhte vor allem auf
nonverbalen Ausdrucksformen, welche bei den Jugendlichen zwischen Provokation
und Abgrenzung pendelten. Gemäss den Autoren wurde in den beobachteten
Interaktionsmustern die Ambivalenz der Jugendlichen zur Erwachsenenöffentlichkeit
deutlich. Weiter stellten die Forscher fest, dass die „Erwachsenen zwar massgeblich an
der Gestaltung der städtischen Öffentlichkeit beteiligt sind, dass sie sich jedoch einer
intergenerational wirksamen öffentlichen Alltagspraxis weitgehend entziehen“ (Muri
et al. 2009: 146) und damit den Jugendlichen den Bezug zur Erwachsenenwelt
verunmöglichen. Jugendliche hingegen suchten gemäss der Untersuchung explizit
öffentliche Räume auf, die in Beziehung zur Erwachsenenwelt (bspw. Nähe zu einem
wichtigen Verkehrsknotenpunkt wie der Bahnhof) stehen16.
Auch in Basel wurden einzelne Studien zu Aneignungspraktiken von Kindern und
Jugendlichen durchgeführt, die u.a. mit Hilfe von Tagesprotokollen, Kartenabfragen,
Sozialraumbegehungen und Mental Maps die für die Heranwachsenden bedeutsamen
Räumen, Situationen und Aktionen in der Stadt identifizierten. Die Ergebnisse der von
Emmenegger (1995) herausgegebene sozialgeografische Untersuchung zu
neuzugezogenen fremdsprachigen Jugendlichen in der Stadt Basel weisen darauf hin,
dass Raumqualitäten subjektiv gedeutet werden. Dies zeigt sich beispielsweise an der
Tatsache, dass aus objektiver Sicht die Räume im Heimatland naturnaher, weitläufiger
und zugänglicher waren als das neue städtische Wohnquartier in Basel, die befragten
Jugendlichen selber diese minderen Raumqualitäten jedoch nicht als solche
benannten. Auch dieser Autor macht deutlich, dass die Raumansprüche von
Jugendlichen meist eher bescheiden als fordernd sind (Emmenegger 1995:97-100). Die
16 Weitere Informationen zum SNF-Projekt unter
http://www.nfp52.ch/d_dieprojekte.cfm?Projects.Command=details&get=24.
20
Basler Studie „JO! St. Johann – Quartierentwicklung mit Kindern“ zeigt hingegen auf,
dass von Untersuchungen kindlicher Raumnutzung und –deutung gleichwohl
Raumqualitäten abgeleitet werden können, die dann als Leitlinien für die Stadt- und
Quartierplanung dienen. Die in der Studie befragten Kinder lieferten sehr
differenzierte Antworten zu Themen wie Sauberkeit und Sicherheit, Orientierung und
Identifikation im Quartier oder Rückzugsbedürfnisse (Shenton-Bärlocher et al.
2007:2-5). Eine Diplomarbeit zu drei Basler Quartieren ermittelte anhand von 9
qualitativen Interviews, dass öffentlichen Räumen für Jugendliche zwischen 14 und 15
Jahren die grösste Bedeutung für die Freizeitbeschäftigung zukommt (Knill et al. 2005:
77ff).
Diese Untersuchungen zur sozialräumlichen Aneignung öffentlicher Räume durch
Jugendliche zeigen auf, dass die Nutzung, Wahrnehmung und Deutung von öffentlichen
Räumen durch Jugendliche in erster Linie subjektiver Natur sind. Jugendliche nutzen
öffentliche Räume für verschiedenste Aktivitäten und schreiben ihnen je nach Funktion
(Rückzug oder Interaktion) unterschiedliche Bedeutung zu, wobei sie meist relativ
bescheidene Ansprüche an die Raumqualitäten erheben. Jugendliche grenzen sich in ihrer
Raumnutzung und- wahrnehmung dabei deutlich von den Jüngeren ab, sodass es berechtigt
erscheint, Jugend als eigene Lebensphase ins Zentrum der Forschung zu rücken.
Jugendliche in öffentlichen Räumen sehen sich mit zahlreichen Ambivalenzen und
Spannungsfeldern konfrontiert: Ihre Aktivitäten pendeln zwischen Verändern und Anpassen,
zwischen Rückzug und Interaktion, zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Der Austausch
mit anderen Nutzergruppen wird dabei meist über symbolische und kulturelle Praktiken
vermittelt.
Die Raumpraxis von Jugendlichen kann in Anbetracht der vielschichtigen
Regulierungsmechanismen in öffentlichen Räumen (vgl. Teilbereich a)) als fragil und
anpassungsfähig zugleich bezeichnet werden, weil sie einem ständigen Wechselverhältnis von
Einschränkungen und Möglichkeiten unterworfen ist. Je nach Kontext gelingt es den
Jugendlichen, eigene Räume und Öffentlichkeiten für sich zu behaupten und in aktive
Auseinandersetzung mit der Erwachsenenwelt zu treten. In anderen Fällen schränkt die
Regulierung durch formale Institutionen sowie informelle normative Kontrollen die
Aneignungsmöglichkeiten der Jugendlichen so stark ein, dass ihnen die positiven Folgen
gelungener sozialräumlicher Aneignung verwehrt bleiben. Ein drittes Szenario beschreibt
Baumgartner mit dem Begriff des moralischen Minimalismus (1988). Dieser tritt in solchen
Gemeinschaften auf, die sich statt an Konfrontation und Konfliktbewältigung viel eher an
Konfliktvermeidung und sozialer Harmonie orientieren, also ein Bild eines friedlichen und
toleranten Kollektivs abgeben. Baumgartner erklärt einen solchen moralischen Minimalismus
mit sozialer Fragmentierung, Individualisierung und sozialer Fluidität in den gegenseitigen
Beziehungen (Baumgartner 1988:129) und weist auch darauf hin, dass Menschen mit geringen
sozialen Bindungen zueinander sich auch seltener gegenseitige Hilfe anbieten.
Gewaltlosigkeit, Vermeidung von Konfrontationen und Toleranz auch gegenüber
fehlgeleitetem Verhalten kann nach Baumgartner infolgedessen als Ausdruck einer
desintegrierten Gesellschaft gedeutet werden. Dass sich Jugendliche entgegen den gängigen
21
Stereotypen eher unauffällig in öffentlichen Räumen verhalten und eine genügsame Haltung
gegenüber den Möglichkeitsräumen einnehmen (vgl. Emmenegger 1995, Wüstenrot Stiftung
2003), kann auch auf eine fehlende Integration der Jugendlichen und einen mangelnden
Zusammenhalt in der Stadt- und Quartiersgemeinschaft zurückgeführt werden.
Folgende Forschungsleitende Thesen können aus dem Teilbereich zur sozialräumlichen
Aneignung abgeleitet werden und sollen die weitere Untersuchung begleiten:
1. Öffentliche Räume bieten die Plattform für jugendliche Lernprozesse insbesondere für
die Identitätsentwicklung.
2. Jugendliche konstruieren ihre Identitäten mittels sozialräumlicher Grenzziehungen;
eigene Territorien werden vor allem symbolisch markiert.
3. Öffentliche Räume sind Plattform für den Aufbau und die Pflege sozialer Beziehungen
in der Peergroup. Jugendliche nutzen öffentliche Räume vor allem für kommunikative
Zwecke.
4. Öffentliche Räume bieten die Plattform für jugendliche Selbstinszenierung und der
damit verbundenen gesellschaftlichen Verständigung mit anderen Nutzergruppen.
5. Die Interaktion mit anderen Nutzergruppen verläuft meist über nonverbale und
symbolische Kommunikationsmittel.
Nutzergruppen sind eher die Ausnahme.
Direkte
Interaktionen
mit
anderen
6. Öffentliche Räume sind stark regulierte Räume. Jugendliche entwickeln deshalb
Strategien, mit den vorhandenen sozialen Normen umzugehen.
7. Einschränkung jugendlicher Nutzung öffentlicher Räume werde von Jugendlichen
selten explizit genannt. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass sie meist auf
subtilen Ausschlussmechanismen auf der Basis sozialer Differenzen (Geschlecht,
sozioökonomischer Status, ethnische Zugehörigkeit) beruhen.
22
Tabelle 1: Studien zur jugendlichen Aneignung in öffentlichen Räumen
Quelle
Mats Lieberg (1995)
“Teenagers and Public Space”
Methode
Qualitative Methoden: teilnehmende
Beobachtung und Befragung
Stichprobe
20 Jugendliche zwischen 13 und 15
Jahren
Wohnquartiere und Innenstadt Lund
(SWE)
Fragestellungen
Welche öffentliche Räume nutzen Jugendliche und welche
Aktivitäten vollziehen sich dort?
Welche symbolische Bedeutung haben öffentliche Räume für
Jugendliche?
Klaus Schmals (1999)
„Raumbezüge der Jugend – Jugend in
der Raumsoziologie“
Qualitative Methode:
Gestaltungswettbewerb
Raum Fischerkiez, Berlin Mitte (D)
(keine Angaben zum Sample)
Wie würden Kinder und Jugendliche das Quartier
Fischerkiez gestalten?
Wüstenrot Stiftung (2003)
„Jugendliche in öffentlichen Räumen
der Stadt“
Qualitative Methoden: nichtteilnehmende Beobachtung,
Interviews, Experiment
65 Jugendliche zwischen 11 und 18
Jahren
6 unterschiedliche öffentliche Räume
Hannover (D)
Welche Chancen und Restriktionen erleben Jugendliche bei
der Nutzung öffentlicher Räume?
Wie unterscheidet sich das Verhalten Jugendlicher je nach
Typ des öffentlichen Raumes?
1. Methodenset: 3 Schulklassen (7., 9.
und 12. Jahr, d.h. 13 bis 18 Jahre)
2. Methodenset: 10 SchülerInnen aus
den Schulklassen
Welche unterschiedlichen Muster und Verständnisse
alltäglichen Raumgeschehens und Raumentwürfe von
Jugendlichen können unterschieden werden? Welche
Lösungsvorschläge für das Raumangebot, die Raumgestalt
und Raumgestaltung können gemacht werden?
Quantitative Methode: OnlineSchüler-Befragung
Wüstenrot Stiftung (2009)
„Stadtsurfer, Quartierfans & Co.“
SNF (2003-2006).
„Bühnen der Öffentlichkeit: Kinder
und Jugendliche setzen sich in Szene“
(In: Muri et al. 2009)
Stefan Emmenegger (1995)
„Neuzugezogene
fremdsprachige Jugendliche.
Situationen – Orte – Aktionen. Eine
sozialgeographische Studie in BaselStadt.“
Franziska Shenton-Bärlocher und
Stefan Schnurr (2007)
„JO! St. Johann –
Quartierentwicklung mit Kindern“
Verena Knill und Bernhard Vogel
(2005)
„…Meine Strasse… …mein
Quartier… …meine Stadt…“
Qualitative Methoden:
1. Methodenset: Kartenabfragen,
Tagesprotokolle, Modellbau
2. Methodenset: teilnehmende
Beobachtung, Interview
3. Methodenset: Experiment
Qualitative Methoden:
1. Methodenset: Experteninterviews,
Fotografien, teilnehmende Beobachtung,
Film
2. Methodenset: Leitfadeninterviews,
mental Maps, schriftliche Befragung
Qualitative Methoden:
Tiefeninterviews
Tages-/Freizeitprotokolle
Streifraumkarten
Sozialraumbegehungen
Quantitative Methoden:
Schriftliche Befragung
Qualitative Methoden:
Streifzugprotokolle, Fotografien,
Mental Maps
Qualitative Methode:
Leitfadeninterview
Nadelmethode
Sozialraumbegehung
Hannover (D)
Gesamtstichprobe:
20 Kinder zwischen 5 und 12 J.
40 Jugendlichen von 13-20 J.
40 Erwachsene (Experten aus
Stadtplanung, Quartierarbeit,
Anwohner, Angestellte)
Neu-Oerlikon, Zürich (CH)
Qualitative Erhebung: SchülerInnen
einer Fremd-sprachenklasse (13-14
Jahre)
Wie verhält sich die jugendkulturelle Raumaneignung in der
Auseinandersetzung mit der Erwachsenenwelt? Welche
Möglichkeiten und Bedingungen fördern eine konstruktive
Auseinandersetzung der Jugendlichen mit der
Erwachsenengesellschaft und –kultur?
Ergebnisse
Jugendliche nutzen öffentliche Räume sowohl als
Rückzugsräume als auch Räume der Interaktion. Die
zentralsten Funktionen öffentlicher Räume für Jugendliche
sind: von der Stadt lernen, sich in öffentlichen Räumen
inszenieren und öffentliche Normensysteme transformieren.
Während Kinder ihre Räume noch sinnlich und kreativ
wahrnehmen, weisen Jugendliche eine entsinnlichte und
funktionalisierte Raumwahrnehmung auf.
Jugendliche verhalten sich in öffentlichen Räumen leise und
auf engen Raum begrenzt; direkte Interaktionen
beschränken sich auf die Kommunikation unter
Gleichaltrigen; Jugendliche nutzen öffentliche Räume als
Bühne zur Selbstdarstellung, Integration in die
Erwachsenengesellschaft und sozialer Interaktionen; die
vorhandenen Restriktionen (Regulierung, bauliche Mängel,
etc.) wurden von den Jugendlichen relativiert.
Jugendliche können in fünf unterschiedliche Typen
unterteilt werden: Häusliche Quartierfans, pragmatische
Quartierflitzer, spontane Stadtsurfer, mobile Stadtfahrer,
kommunikative Stadthopper. Die fünf Typen unterscheiden
sich nach der Raumnutzung und der Stadtkonstruktionen
der Jugendlichen.
Jugendliche suchen explizit Räume auf, die in Beziehung zur
Erwachsenenwelt stehen. Die Interaktion zwischen den
Generationen beruhte auf nonverbalen Ausdrucksformen zwischen
Provokation und Abgrenzung. Erwachsene hingegen entziehen
sich im Alltag dem intergenerationalen Austausch.
Wie werden öffentliche Räume von neuzugezogenen
fremdsprachigen Jugendlichen wahrgenommen und bewertet?
Schriftliche Befragung: 112
fremdsprachige SchülerInnen / 74
einheimische SchülerInnen
Basel (CH)
27 Kinder
St. Johann-Quartier, Basel (CH)
Die Raumansprüche der befragten Jugendlichen sind
bescheiden. Die objektiv minderen Qualitäten der
öffentlichen Räume in Basel im Gegensatz zu den
Sozialräumen des Heimatlandes werden von den
Jugendlichen nicht thematisiert.
Wie werden die öffentliche Räume des St. Johann-Quartiers in
Basel von Kindern genutzt und gedeutet?
Kinder nehmen Raumqualitäten differenziert wahr und
identifizieren sich mit den Räumen im Quartier.
5 Jugendliche
Stadtteil Kleinbasel, Basel (CH)
Wie erleben Jugendliche öffentliche Freiräume in ihrem
Wohnumfeld der Stadt?
Öffentliche Räume sind für Jugendliche zwischen 14 und 15
Jahren von grosser Bedeutung als Ort des Freiraums.
23
Kollektive Identitätsfindung in öffentlichen Räumen
Einige Untersuchungen zu Jugendlichen in öffentlichen Räumen zeigen auf, dass Identitäten von
Jugendlichen einen Bezug zu ihrer sozialräumlichen Umgebung aufweisen. Sozialräumliche
Grenzziehungen und die Definition von Zugehörigkeiten sind dabei zentral bei der
jugendspezifischen Identitätskonstruktion (vgl. Robinson 2000, Wridt 2004). Ebenso stellt die
Auseinandersetzung mit in öffentlichen Räumen eingelagerten Normen und Machtverhältnissen
ein produktives Feld jugendlicher Identitätsentwicklung dar (vgl. Cahill 2000, Wridt 2004, Thomas
2008, Langevang 2008). Während diese sozialräumlichen Aushandlungsprozesse den Jugendlichen
ermöglich, auch oppositionelle Identitäten zu generieren, wirken institutionalisierte Jugendräume
eher integrierend und die gesellschaftliche Ordnung stabilisierend (vgl. Hall et al. 1999).
2.2.2 Forschungsfeld 2: Jugend und Öffentlichkeit
Das Forschungsfeld 2 fokussiert auf Studien, welche Jugendliche in der Öffentlichkeit untersuchen.
Diesbezüglich sind folgende drei Themenfelder voneinander abzugrenzen: f) Jugend in der Politik,
g) Jugend und zivilgesellschaftliches Engagement sowie h) Jugendkultur und Jugendprotest. Da die
Inhalte dieses Forschungsfeldes von geringer Bedeutung für den vorliegenden
Untersuchungsgegenstand sind, werden sie nicht weiter ausgeführt. Dennoch machen sie deutlich,
wo sich eine mögliche Forschungslücke identifizieren lässt.
2.3 Eingrenzung des Forschungsfeldes und Forschungslücke
Die Grundannahme der vorliegenden Arbeit geht von einem für die Sozialwissenschaften
relevanten Zusammenhang zwischen Jugendlichen, Öffentlichkeit und öffentlichen Räumen aus.
Begründen lässt sich dieses Forschungsinteresse erstens durch die Tatsache, dass Jugendliche
aufgrund ihrer Minderjährigkeit grösstenteils von der öffentlichen Meinungsbildung
ausgeschlossen sind und deshalb andere Formen der Beteiligung an der Öffentlichkeit suchen, und
zweitens durch den Umstand, dass Jugendliche häufiger als andere Altersgruppen öffentliche
Räume nutzen und diese somit von zentraler Bedeutung für die Teilhabe am öffentlichen Leben
sind. In Anlehnung an den erarbeiteten Forschungsstand lässt sich die vorliegende Arbeit durch
eine fehlende Verbindung von Jugend, öffentlicher Raum und Öffentlichkeit in einer Untersuchung
begründen. Abbildung 2, welche die erörterten Forschungsteilbereiche zu strukturieren versucht,
zeigt auf, dass in wissenschaftlichen Untersuchungen nur selten eine Verknüpfung der beiden
vorgestellten Forschungsfelder vorgenommen wird.
Zwar gibt der Überblick zu ‚Jugend und Öffentlichkeit’ Einblick in die verschiedensten Formen
der Öffentlichkeitsbeteiligung von Jugendlichen, die behandelten Studien verorten diese
Jugendöffentlichkeit aber meist in institutionellen Arrangements wie Jugendorganisationen,
Jugendpolitik oder Freiwilligenorganisationen und vernachlässigen deshalb die Bedeutung
öffentlicher Räume für jugendliche Partizipation. Einzig Studien zu jugendlichen Protestformen
zeigen das Potential sowie die Problematik auf, mit denen sich Jugendliche konfrontiert sehen,
versuchen sie über ihre kulturellen Ausdrucksweisen an der Gesellschaft teilzuhaben. Weil sich
diese Untersuchungen aber vor allem auf benachteiligte oder ausgeschlossene Jugendliche beziehen
24
und nur Sonderformen jugendlichen Verhaltens in den Blick nehmen, können sie allgemeine oder
grundlegende Aspekte von Jugendöffentlichkeit nur schwer erfassen.
Das Forschungsfeld zu ‚Jugend in öffentlichen Räumen’ stellt zwar den Raumbezug
jugendlichen Handelns ins Zentrum, die behandelten Studien lassen jedoch oft aufgrund des
informellen Charakters solcher Verhaltensweisen den für öffentliche Räume typischen aber nur
schwer fassbaren Öffentlichkeitscharakter ausser Acht. Ausserdem zielen diese Untersuchungen
meist - ähnliche wie Forschungen zur Jugendkultur oder zu Jugendprotest – auf die Erklärung und
das Verständnis jugendlichen Handelns als etwas Besonderes, Aussergewöhnliches und
insbesondere als ein soziales Phänomen, das sich stark von der Erwachsenenwelt unterscheidet. Die
Teilhabe an einer gemeinsamen Öffentlichkeit, welche in öffentlichen Räumen existiert, spielt dabei
eine sekundäre Rolle; vielmehr werden nonkonforme oder jugendtypische Verhaltensweisen
fokussiert. Schliesslich werden jugendkulturelle Milieus meist in den ausschliesslich für sie
typischen und von ihnen genutzten Orten untersucht und weniger in Bezug auf ihre
Auseinandersetzung mit der Öffentlichkeit. Der Aspekt einer möglichen Verständigung der
Gesellschaftsmitglieder wird dabei vernachlässigt.
Aus diesen Gründen ist von einer Forschungslücke zu sprechen, deren Bearbeitung im Rahmen
dieser Arbeit versuchen möchte, die beiden behandelten Forschungsfelder miteinander zu
verknüpfen.
Weiter ermöglicht diese Darstellung auch eine Kategorisierung von Forschungsfeldern auf der
Achse von Teilhabe und Ausschluss. Diese Dimension der Macht spielt eine entscheidende Rolle
beim Verständnis von Jugendöffentlichkeit in öffentlichen Räumen. Deshalb fragt die vorliegende
Forschungsarbeit sowohl nach Teilhabechancen als auch Ausschlussrisiken in öffentlichen Räumen.
Schliesslich versucht die vorliegende Arbeit die unterschiedlichen Facetten von
Jugendöffentlichkeit (z.B. Aneignung, Regulierung, Ausschluss, jugendkulturelle Selbstdarstellung,
etc.) in einem Forschungsprojekt zu vereinen und zu verknüpfen. Dabei sollen vor allem
unterschiedliche Dimensionen von Raumpraktiken und somit verschiedene Muster von
Jugendöffentlichkeiten in den Blick genommen werden und wie die unterschiedlichen
Raumstrukturen diese Unterschiede mitbestimmen (Lussault et al. 2010:11).
25
Abbildung 2: Forschungsfelder
Quelle: Eigene Darstellung
26
3
Theoretische Ansätze und Konzepte
Die theoretische Herleitung der Forschungsthematik gelingt in einem dreiteiligen Schritt:
Erstens wird der theoretische Rahmen erörtert, in welchen sich die grundlegende
Fragestellung nach der Herstellung von Jugendöffentlichkeit einbetten lässt. Zu den beiden
Begrifflichkeiten Raum und Öffentlichkeit werden die zentralen Konzepte mit Bezug zu
öffentlichen Räumen dargestellt, mit welchen sich dann die Forschungsfrage zur
Jugendöffentlichkeit theoretisch herleiten lässt. Dabei soll auch ersichtlich werden, wie diese
Themenblöcke zusammenhängen und weshalb sie alle gleichermassen für das Verständnis
von Jugendöffentlichkeit von Relevanz sind.
Zweitens wird die jugendspezifische Perspektive auf den Forschungsgegenstand
hergestellt: Der Forschungsleitende Begriff der Jugendöffentlichkeit wird anhand des
Konzepts der Kinderöffentlichkeit von Negt (1983) erörtert und thesenhaft umschrieben
werden.
Im dritten Teil dieses Kapitels wird diskutiert, wie Jugendöffentlichkeit durch konkretes
Handeln von Jugendlichen hergestellt werden kann. Dabei stehen vier Dimensionen von
Aneignungsprozessen im Vordergrund: die Raumpraxis von Jugendlichen in öffentlichen
Räumen verbunden mit ihrem sozialen Aneignungsverhalten, das jugendliche
Repräsentationsverhalten in öffentlichen Räumen sowie die Antizipation und Transformation
des normativen Settings eines öffentlichen Raumes. Auf der Basis der vorangegangenen
theoretischen Ausführungen wird verdeutlicht, weshalb gerade diese vier Dimensionen
sozialen Handelns für die Herstellung von Jugendöffentlichkeit von Bedeutung sind. Aus
diesen abschliessenden Ausführungen ergeben sich die konkreten Fragestellungen zur
Untersuchung des Gegenstandes sowie konkrete Angaben zur Operationalisierung von
Jugendöffentlichkeit (sensibilisierendes Konzept).
Ziel des Theoriekapitels ist es, von einer abstrakten Beschreibung des theoretischen
Rahmens über die Definition des Untersuchungsgegenstandes zu einem Instrumentarium von
Begriffen zu gelangen, mit welchen die Fragestellungen empirisch untersucht werden können.
3.1 Der theoretische Rahmen „Raum-Öffentlichkeit-öffentlicher Raum“
3.1.1 Raum und sozialwissenschaftliche Raumvorstellungen
Um zu verstehen, wie sich öffentliche Räume konstituieren und in welcher Beziehung sie zu
Aneignungsprozessen stehen, soll einführend Raum als sozialwissenschaftliche Kategorie
definiert werden.
In der Theoriegeschichte lassen sich zwei unterschiedliche Raumvorstellungen
rekonstruieren, die von Martina Löw (2001) folgendermassen zusammengefasst werden: Der
absolutistische Standpunkt nimmt einen Dualismus zwischen Raum und Materie bzw. Körper
an. Aus dieser Perspektive erscheint der Raum als Behälter oder Container, welcher scheinbar
unabhängig von seinen gesellschaftlichen und sozialen Inhalten existiert (Löw 2001:269).
Sowohl die Naturwissenschaften, aber auch gewisse Sozialwissenschaftler vertreten die
27
Auffassung, „der ‚Raum’ sei ‚etwas wirklich Gegenständliches’ beziehungsweise eine
‚physikalische Grösse’“ (Läpple 1991:36). Eine solche Raumkonzeption eignet sich zwar dazu,
Raumgliederungen, Positionen, Entfernungen und Bewegungen im Raum zu messen, sagt
aber wenig über das soziale Verhalten und die sozialräumlichen Strukturen eines Raumes aus.
Im Bezug zur absolutistischen Raumkonzeption bemerkt Schubert deshalb kritisch: „Das
physikalische Raumbild blendet den funktionalen Kontext der gesellschaftlich-sozialen
Inhalte des Raumes vollständig aus, als ob beispielsweise der öffentliche Raum unabhängig
von den Menschen, die ihn organisieren und darin leben, eine eigenständige Kategorie sei“
(Schubert 2000:11). Insbesondere für den Forschungsgegenstand des öffentlichen Raumes
scheint es unangepasst, den besonderen Charakter und die Funktionen öffentlicher Räume als
vom Handeln der Menschen in der Öffentlichkeit unabhängig zu definieren, auch weil ein
solches Raumverständnis sich nicht mit den alltäglichen sinnlichen Raumerfahrungen der
Menschen in Einklang bringen lässt (Läpple 1991:36).
Aus sozialwissenschaftlicher Warte eignet sich deshalb ein relationales Raumverständnis
zur Untersuchung öffentlicher Räume: Gemäss relativistischer Auffassung, wie sie
beispielsweise Albert Einstein bereits zu seiner Zeit in die Naturwissenschaften einführte,
bildet sich Raum erst durch die relationale Lage von Objekten. Raum ist erst durch das
Beziehungsgeflecht von Menschen und Gütern existent und somit als ein Produkt von
sozialem Handeln und gesellschaftlicher Strukturen zu definieren (Löw 2001:264). In diesem
Sinne können öffentliche Räume analytisch nur über die Beziehungen der Menschen und
Güter, welche sich in ihnen befinden, erfasst werden. Löw (2001) leitet daraus für die
Sozialwissenschaften ein prozessuales Verständnis von Raum ab: „Die Erwartung an einen
soziologischen Grundbegriff ‚Raum’ muss demnach sein, dass er den Prozess der Konstitution
erfasst und nicht dessen Ergebnis, z.B. Behälter zu sein, schon voraussetzt“ (Löw 2001:270).
Henri Lefèbvre, der als Pionier der modernen Raumsoziologie gilt (Löw 2008:52), hat
massgeblich den relationalen Raumbegriff mitgeprägt. Die Hauptthese seines Buches
‚Production de l’espace’ von 1974 besagt, dass Raum als sozial produziert zu begreifen ist und
seine Formen, Funktionen und Bedeutungen nur über die sozialen Beziehungen und
Interaktionen der Menschen entstehen (Schubert 2000:12). In seiner Theorie des
differentiellen Raums bezieht er sich auf die öffentlichen Räume einer Stadt und stellt
diesbezüglich fest, dass die Unterschiede zwischen den Stadträumen „nicht aus dem Raum als
solchen hervorgehen, sondern aus dem, was sich dort niederlässt, festsetzt und im Kontrast
zueinander steht (…). Druck und Anstoss, die von sozialen Gruppen ausgehen, formen den
Raum in unterschiedlicher Weise; aus ihren Interaktionen, Strategien, Erfolgen und
Niederlagen entstehen die Qualitäten und Eigenschaften des urbanen öffentlichen Raumes“
(Schubert 2000:13). Als Vertreter einer marxistischen Raumsoziologie liegt es nahe, dass
Lefèbvre städtische Räume vor allem als strukturell bedingt, d.h. von den kapitalistischen
Machtstrukturen der Gesellschaft produziert beschreibt.
Im Gegensatz zu Lefèbvre, welcher die strukturelle Prägung des Handelns und damit der
öffentlichen Räume in den Vordergrund rückt, fragen handlungstheoretische
Raumkonzeptionen nach der (Re)Produktion von Strukturen, seien dies nun räumliche oder
gesamtgesellschaftliche, durch das menschliche Handeln (Löw 2008:59). In diesem
28
Zusammenhang ist die Strukturationstheorie von Anthony Giddens bedeutsam zum
Verständnis des Verhältnisses von Handlung, Raum und gesellschaftlicher Strukturen.
Giddens versteht Strukturen als „Medium und Ergebnis, als ermöglichendes Mittel und als
begrenzender Zwang des Handelns“ (Werlen 2007:165). Die Handlungen selbst bringen
einerseits neue oder veränderte gesellschaftliche Strukturen hervor, sind andererseits aber
auch selbst durch strukturelle Zwänge und Möglichkeiten, die bereits existieren, begrenzt
(Werlen 2007:166). In diesem Sinne lehnt Giddens einen deterministischen Ansatz ab:
Gesellschaftliche Strukturen „konstituieren nicht, was wir tun, wohl aber begrenzen und
ermöglichen sie das, was wir tun können“ (Werlen 2007:166). Folglich existieren Strukturen
auch nicht ausserhalb des Handelns, sondern nur als Fähigkeiten und Möglichkeiten der
Akteure, auf denen dann wiederum ihre soziale Praxis beruht. Giddens folgert daraus, dass
sich die gesellschaftlichen Strukturen in der Form von Wissen um Regeln und dem Verfügen
über Ressourcen manifestieren; dass also Macht eine zentrale Dimension des Handelns
darstellt (Werlen 2007:168). Der räumliche Kontext einer Handlung übernimmt nun eine
ähnliche Funktion wie die gesellschaftlichen Strukturen, weil sich gesellschaftliche
Gegebenheiten in räumlichen Bedingungen niederschlagen: Jeder räumliche Ausschnitt ist
„Ausdruck der strukturellen Verhältnisse (…) und im gleichen Sinne wie Regeln und
Ressourcen auf menschliches Handeln strukturierend wirken, [ist er] als Kontext
handlungskonstitutiv“ (Werlen 2007:91). Diese räumliche Struktur wird von den erwähnten
Autoren unterschiedlich benannt und definiert: Giddens verwendet in seiner
Strukturationstheorie den Begriff ‚locale’ (von Werlen als ‚Schauplatz’ übersetzt) und meint
damit „ein bestimmter Raumausschnitt (…), der bereits ein bestimmtes Anordnungsmuster
von materiellen Gegebenheiten und Personen aufweist (Werlen 2007:93). Deshalb spricht
Giddens auch von einem Setting als die „vorfindliche Konstellation für Handeln und
Interaktion“ (Werlen 2007:93). Obschon Giddens davon ausgeht, dass ein solcher Schauplatz
nur über die soziale Praxis definiert werden kann, verweist seine Begrifflichkeit eher einseitig
auf den das Handeln prägenden Charakter von räumlichen Strukturen. Werlen sieht sich
stärker der handlungstheoretischen Perspektive verpflichtet und will mit dem Begriff der
‚Region’ die räumlichen Strukturen deshalb eher als Kontext oder Situation des Handelns
verstanden haben. Im Gegensatz zu Giddens nimmt er vor allem Bezug auf die Handlungen
und stellt deshalb anstelle der ‚Region’ den Prozess der ‚Regionalisierung’, in welchem der
räumliche Kontext durch das handelnde Subjekt sozial konstituiert wird, in den Vordergrund
(Werlen 2007:178): „Mit ‚Regionalisierung’ sind hier alle Formen gemeint, in denen die
Subjekte über ihr alltägliches Handeln die Welt einerseits auf sich beziehen, und andererseits
erdoberflächlich in materieller und symbolischer Hinsicht über ihr Geographie-Machen
‚gestalten’“ (Werlen 2007:194). Zusammenfassend zielt Werlens Forschungsprogramm auf die
Analyse des Geografie-Machens, also die alltägliche Bezugnahme auf sowie die Gestaltung von
räumlichen Strukturen durch handelnde Subjekte, anstatt auf die Analyse von räumlichen
Strukturen; er fordert keine Erforschung von Regionen sondern die Erforschung sozialer
Praktiken der Regionalisierung (Werlen 2007:121-122)17.
17 Lussault & Stock folgern aus denselben Argumenten, dass anstelle von „doing in space“ viel eher von „doing
with space“ gesprochen werden sollte (Lussault et al. 2010). Während die Vorstellung vom Handeln im Raum
davon ausgeht, dass das Handeln in einem bestimmten Setting stattfindet, interessiert die Autoren was
29
Martina Löw versucht in ihren Arbeiten die strukturalistische und die
handlungstheoretische Perspektive in einer raumsoziologische Konzeption zu verbinden:
„Wir begreifen Räume als relationale (An)Ordnungen von Lebewesen und sozialen Gütern an
Orten. Mit dem Begriff der (An)Ordnung wird betont, dass Räume erstens auf der Praxis des
Anordnens (…) basieren, Räume aber zweitens auch eine gesellschaftliche Ordnung vorgeben.
Diese Ordnung im Sinne von gesellschaftlichen Strukturen ist sowohl dem Handeln vorgängig
als auch Folge des Handelns“ (Löw 2008:63). Mit der Vorstellung einer Dualität von Raum
beschreibt sie, wie „räumliche Strukturen eine Form von Handeln hervorbringen können,
welches im Prozess der Konstitution von Räumen eben jene räumlichen Strukturen
reproduziert“ (Löw 2008:63). Raum kann also in dem Sinne als sozial produziert definiert
werden, als dass er sich im dialektischen Verhältnis zwischen sozialem Handeln und
sozialräumlichen Strukturen konstituiert. Daraus ist wiederum abzuleiten, dass Räume von
den Menschen subjektiv gedeutet werden und immer auch ein mentales Konstrukt darstellen.
Die Dualität von Raum kann deshalb auch in dem Sinne verstanden werden, als dass Räume
dann bedeutsam werden, wenn sich das physische Phänomen mit gedanklichen Vorstellungen
verbindet (Cresswell 1996:13). So kann beispielsweise derselbe Raum für verschiedene
Menschen eine unterschiedliche Bedeutung haben (Braun 2004:24-25) und es existieren
gänzlich unterschiedliche Arten von räumlicher Praxis von jeweils verschiedenen Akteuren
(Lussault et al. 2010:11).
Zwischenfazit III
An folgenden fünf Raum-Prämissen eines sozialwissenschaftlichen Raumverständnisses hat
sich raumbezogene Forschung zu orientieren:
1. Raum ist sozial produziert, das heisst er ist keine Naturgegebenheit sondern ist ein
Produkt aktiven menschlichen Handelns und gesellschaftlicher Strukturen. Ebenso
können räumliche Strukturen das Handeln der Menschen prägen.
2. Raum ist mental konstruiert, das heisst er ist kein rein materielles Phänomen,
sondern ebenso ein mentales Konstrukt, wobei beide Aspekte sich gegenseitig
bedingen.
3. Raum ist relational, das heisst seine Merkmale lassen sich in erster Linie über die
sozialen Beziehung und Interaktionen zwischen Menschen (und Gütern) erkennen.
4. Die Konstitution von Raum ist als Prozess zu verstehen, das heisst die räumlichen
Strukturen verändernd sich mit dem Wandel sozialer Praktiken und gesellschaftlicher
Deutungssysteme.
5. Raum ist ein Plural, das heisst es existiert nicht nur ein Raum als objektive Variable
sondern nur subjektive Vorstellungen von Räumen.
Menschen mit dem Raum machen: „Therefore ‚doing with space’ permits a more adequate approach of the
spatial dimensions of events, where space is not longer conceptualised as an absolute or relative structure, but as
an ephemeral element co-constructed by practice“ (Lussault et al. 2010:14).
30
3.1.2 Begriffsbestimmung „Öffentlicher Raum“
Wie bereits die Ausführungen zur theoretischen Raumkategorie und die daraus gefolgerten
Raum-Prämissen aufgezeigt haben, kann sich auch die Begriffsbestimmung des öffentlichen
Raumes nicht auf eindeutige Konzeptionen stützen. Der Forschenden eröffnet sich das
Dilemma zwischen einer rein objektiven Definition und einer auf subjektive Wahrnehmung
gestützte Beschreibung öffentlicher Räume hin und her zu pendeln: „Wer sich in den
Treibsand begrifflicher Abstraktion begibt, gerät in Gefahr. Missverständnisse drohen,
Unklarheiten und in der Folge ein unentwirrbares Knäuel von Gemeintem und Gesagten,
Bezeichnungen und Bezeichnetem etc. Die Diskussion über den öffentlichen Raum ist voll
davon“ (Selle 2003:24). Nichtsdestotrotz kann die vorliegende Arbeit nicht auf eine
Annäherung an den Begriff des öffentlichen Raumes verzichten.
31
Begriffsannäherung ‚Öffentlicher Raum’
Der öffentliche Raum als Gegenstand theoretischer Diskussionen wird je nach disziplinärem
Hintergrund aus unterschiedlicher Perspektive betrachtet und bewertet. Grundsätzlich
können drei Perspektiven auf öffentliche Räume eingenommen werden (vgl. Cresswell
1996:156): Erstens können öffentliche Räume als geografische Orte untersucht werden, als
Standorte im urbanen Kontext mit spezifischen Beziehungen zu anderen geografischen
Punkten. Aus diesem Blickwinkel stehen vor allem stadtplanerische Überlegungen zur Lage,
Ausgestaltung und Funktion öffentlicher Räume im Mittelpunkt. Zweitens lassen sich
öffentliche Räume anhand der sozialen Beziehungen, die in einem Bezug zum betreffenden
öffentlichen Raum stehen, charakterisieren. Während politisch-ökonomische Sichtweise die
sozialen Strukturen, insbesondere die Machtstrukturen, öffentlicher Räume behandeln, setzen
soziokulturelle Definitionskriterien öffentlicher Räume an den Handlungen der Subjekte und
ihren direkten Beziehungen untereinander an. Schliesslich ist davon das zu unterscheiden,
was im englischsprachigen oft mit ‚a sense o place’ umschrieben wird, also wie Menschen
öffentliche Räume wahrnehmen und ihnen Bedeutung zu Teil werden. Diese dritte
Perspektive durchdringt die deskriptiven Definitionskriterien öffentlicher Räume und macht
deutlich, dass sich (öffentlicher) Raum nur über die subjektiv bedeutsamen Praktiken,
Wahrnehmung und Bewertung der Nutzenden erschliessen lässt.
Diese Definitionskriterien zur Beschreibung öffentlicher Räume lassen zwei weitere
Raum-Prämissen folgern, welche zur Untersuchung öffentlicher Räume berücksichtigt
werden müssen:
1. Öffentliche Räume können nicht eindeutig bestimmt werden. In der Realität
übersteigen Zwischenräume und Übergangsräume bei weitem die Anzahl von
klassischen öffentlichen Räumen (vgl. Selle 2003). Viele privatisierte Räume weisen
einen öffentlichen Sozialcharakter auf und umgekehrt beherbergen öffentliche Räume
meist auch private Elemente. Diese Unschärfe des Untersuchungsgegenstands ist auf
die Komplexität und Prozesshaftigkeit gesellschaftlicher Beziehungen zurückzuführen:
„Da gesellschaftliche Beziehungen (…) in hohem Masse ausdifferenziert sind, folgt
daraus, dass sie sich dementsprechend auch in einer Vielzahl von gesellschaftlichen
‚Teilräumen’ darstellen“ (Läpple 1991:44).
2. Die Ausführungen machen deutlich, dass der öffentliche Raum im Singular nicht
existiert. Vielmehr muss die Rede von öffentlichen Räume in der Mehrzahl sein, um
der Vielschichtigkeit und Komplexität der unterschiedlichen Typen öffentlicher
Räume gerecht werden zu können: „Der öffentliche Raum ist kein einheitlicher Typus
aussenräumlicher Gesellschaftsintegration; die Vielfalt semiotisch entsprechend
abgrenzbarer Stadträume impliziert eine Pluralisierung öffentlicher Räume“ (Schubert
2000:58). Gleichzeitig impliziert die soziale Konstruiertheit von Raum, dass ein
bestimmter öffentlicher Raum für verschiedene Personen unterschiedliche
Bedeutungen haben kann.
Entsprechend der sieben Prämissen rücken bei der Begriffsbestimmung von öffentlichen
Räumen neben objektiver Merkmale in erster Linie gesellschaftliche Phänomene in das
32
Blickfeld des Forschungsinteresses. Läpple (1991) entwirft dazu ein gesellschaftszentriertes
Raumkonzept, welches sich auch auf öffentliche Räume übertragen lässt. Sein Konzept fasst
gesellschaftliche Räume als ein Mehrebenenmodell auf, das aus folgenden Elementen besteht:
 Das materiell-physische Substrat beschreibt neben der materiellen Qualität auch die
in den physischen Gegebenheiten sich widerspiegelnden gesellschaftlichen
Verhältnisse. Dieses Substrat besteht „aus menschlichen, vielfach standortgebundenen
Artefakten, den materiellen Nutzungsstrukturen (…) sowie den Menschen in ihrer
körperlich-räumlichen Leiblichkeit“ (Läpple 1991:42). Beispiele dafür sind am
öffentlichen Raum angesiedelte Arbeitsstätten, Behausungen oder Verkehrswege sowie
die Körper der anwesenden Menschen. Dieses materiell-physische Substrat eines
öffentlichen Raumes bestimmt die jeweilige Gestalt und damit die Wahrnehmung
derselben durch die Menschen.
 Das gesellschaftliche Interaktions- und Handlungsstrukturen meint die soziale
Praxis der Akteure in einem öffentlichen Raum. Neben individuellen Handlungen
stehen
dabei
vor
allem
kollektive
Aktivitäten
wie
beispielsweise
Freizeitveranstaltungen oder Rituale im Vordergrund. Ebenso werden darunter aber
auch Kommunikationsprinzipien und Handlungsmechanismen verstanden, welche
die Interaktionen der Menschen strukturieren bzw. hervorbringen (z.B.
Ausschlusspraktiken,
Kommunikationssysteme
oder
Formen
des
Interessenausgleichs). Die gesellschaftlichen Interaktions- und Handlungsstrukturen
materialisieren sich einerseits in den konkreten Aneignungsformen und sozialen
Praktiken der Nutzenden, andererseits reflektieren sie auch die vorherrschende
gesellschaftliche Ordnung.
 Ein institutionalisiertes und normatives Regulationssystem18 vermittelt zwischen
dem materiell-physischen Substrat gesellschaftlicher Verhältnisse und der
gesellschaftlichen Raumpraxis. „Dieses Regulationssystem, das aus Eigentumsformen,
Macht- und Kontrollbeziehungen, rechtlichen Regelungen, (…) sozialen und
ästhetischen Normen besteht, kodifiziert und regelt im wesentlichen den Umgang mit
den raumstrukturierenden Artefakten“ (Läpple 1991:42-43).
 Das räumliche Zeichen-, Symbol- und Repräsentationssystem eines öffentlichen
Raumes widerspiegelt sich in der funktionalen und ästhetischen Gestaltung der
Artefakte und dient zur Orientierung und Identifikation der anwesenden Akteure.
Werbeplakate, Beschriftungen oder auch Objekte des kollektiven Gedächtnisses sind
„kristallisierte, vergegenständlichte Formen gesellschaftlichen Handelns (…), die das
räumliche Verhalten der Menschen vorstrukturieren“ (Läpple 1991:43). Es handelt
sich dabei ein um „symbolisch kodiertes System kultureller Bedeutungen“ (Wildner
2003:62) – einige Autoren verwenden auch den Begriff des metaphorischen Raums
(Wildner 2003:62). Symbole und Repräsentationen in öffentlichen Räumen sind
jedoch nicht nur in Objekten materialisiert, sondern sind ebenso Ausdruck kultureller
Praktiken der Nutzenden: Von der Kleidung über das alltägliche Verhalten bis zu
spezifischen Kulturveranstaltungen – Menschen in öffentlichen Räumen rekurrieren
18 Während Läpple den Begriff der Regulation verwendet, wird in der vorliegenden Arbeit den Begriff der
Regulierung bevorzugt, um sich von der Regulationstheorie abzugrenzen.
33
auf und repräsentieren nach aussen ihren eigenen Lebensstil. Olwig und Hastrup
(1997) sprechen in diesem Zusammenhang auch von siting culture (engl. site. = place
or position occupied by something, aus dem Lateinischen situs = Ort, Position) und
beschreiben damit den mentalen Prozess der Verortung von Kultur in Räumen (Olwig
1997b:34). Cultural sites sind gemäss ihrer Argumentation jedoch nicht kulturelle
Einheiten, die man an einem bestimmten Ort vorfindet, sondern Produkt kultureller
Praktiken und vor allem reflexive Konstrukte der eigenen Identität: Menschen
verbinden mit Räumen bestimmten Vorstellungen ihrer eigenen Kultur und Identität,
indem sie in ihrem Alltag aber auch in ihrer Gedankenwelt immer wieder darauf
Bezug nehmen (Olwig et al. 1997a:9-12). Öffentliche Räume sind demnach „cultural
sites as focal points of identification for people who, in their daily lives, are involved in
a complex of relations of global as well as local dimension” (Olwig et al. 1997a:11).19
Zwischenfazit IV
Eine Differenzierung öffentlicher Räume anhand deskriptiver Kriterien gestaltet sich im
Generellen als schwierig, weil die subjektive Wahrnehmung und die individuellen
Handlungen der Nutzenden keine eindeutigen Zuordnungen zulassen. Vielmehr können an
ein und demselben Ort unterschiedliche Typen von öffentlichen Räumen auftreten. Deshalb
schlägt Selle (2003) vor, die Alltagswahrnehmung der Bevölkerung zum Ausgangspunkt für
die Begriffsbestimmung des öffentlichen Raumes zu nehmen. Indem er die potentielle
öffentliche Nutzbarkeit als einziges Kriterium für die Bestimmung öffentlicher Räume
heranzieht, öffnet er den Blick auf alle erdenklichen Zwischenräume. Aus dieser Perspektive
soll uns als Forscher in erster Linie interessieren, ob und wie ein Raum öffentlich oder privat
nutzbar ist bzw. wie die räumlichen, sozialen, regulativen, symbolischen und historischen
Strukturen öffentlicher Räume deren Nutzbarkeit ermöglichen oder einschränken.
Will man dennoch öffentliche Räume beschreiben, müssen sie als ein multidimensionales
Phänomen verstanden werden, das sich in der Empirie in einer Vielzahl von Mischformen
öffentlich-privater Räume wieder finden lässt. Schliesslich muss ebenso berücksichtigt
werden, dass öffentliche Räume sowohl historisch als auch kulturell (im Sinne von
Kulturkreis) bedingt sind.
Zusammenfassend lassen sich öffentliche Räume nach ihren funktionalen
Voraussetzungen (stadtplanerisches Kriterium), nach ihrem Grad der Regulierung und
Zugänglichkeit (politisch-ökonomische Kriterien) sowie ihren Nutzungs- und
Interaktionsmöglichkeiten (soziokulturelle Kriterien) unterscheiden. Diese drei Dimensionen
öffentlicher Räume sind im Verlauf der Arbeit insbesondere für die Auswahl und
Charakterisierung der Untersuchungsgebiete von Relevanz (s. Kap. 4.4.1.). Um die subjektive
Wahrnehmung und Bedeutungszuschreibung öffentlicher Räume durch Jugendliche zu
erfassen, rückt hingegen das Mehrebenenmodell öffentlicher Räume von Läpple (1991) ins
Zentrum: Dieses wird dabei helfen zu verstehen, welche Rolle die normativen
19 Ergänzend kann hier noch eine historische Ebene öffentlicher Räume miteinbezogen werden: Öffentliche
Räume sind Gedächtnisorte, in denen sich sowohl die offizielle Geschichtsschreibung in der Form einer
Historisierung des Raumes widerspiegeln als auch die kollektiven und individuellen Geschichten der Nutzenden,
die in der Form eines historischen Narrativs eingeschrieben sind (Wildner 2003:60).
34
Regulierungsmechanismen und Symbolsysteme neben den physischen Strukturen eines
öffentlichen Raumes für die Aneignungspraxis von Jugendlichen spielen, welche
bedeutungsvollen Narrative und kulturelle Identitäten sie ausbilden und auf welche
Handlungs- und Interaktionssysteme sie stossen.
3.1.3 Öffentliche Räume als Orte der Macht
Öffentliche Räume sind weder frei von Macht noch von Ungleichheiten und ihre Nutzung
wird kontrolliert und reguliert. Wie im Forschungstand angedeutet, erleben gerade
Jugendliche zahlreiche Einschränkungen in ihrer Nutzung öffentlicher Räume, sei es von
Seiten offizieller Behörden, von Eltern oder anderen Erwachsenen oder durch gegenseitige
Ausschlusspraktiken. In diesem Kapitel soll deshalb ein gesonderter Blick auf die Macht- und
Ungleichheitsverhältnisse in öffentlichen Räumen sowie auf deren Konsequenzen für die
jugendspezifische Nutzung geworfen werden. Dabei ist von der Grundthese auszugehen, dass
sich soziale Ungleichheiten und Machtverhältnisse in öffentlichen Räumen wieder finden
lassen, sozusagen als Niederschlag der sozialen Ordnung im Raum. Dazu wird Bourdieus
Kapitaltheorie und seine Anwendung auf den Raum diskutiert. Im Anschluss wird dargelegt,
dass sich Macht und Ungleichheit in erster Linie über Grenzziehungen zwischen Räumen und
sozialen Gruppen manifestiert, die dann ihrerseits zum Ausschluss gewisser sozialer Gruppen
in öffentlichen Räumen führen können. In einem weiteren Schritt soll geklärt werden, mit
welchen Mitteln dominante Gruppierungen diese Grenzen ziehen und aufrechterhalten.
Schliesslich soll darauf eingegangen werden, welche Möglichkeiten bestehen, als ausgegrenzte
soziale Gruppe die sozialräumlichen Grenzen zu überwinden.
Pierre Bourdieu: Soziale Ordnung als Niederschlag im Raum
Obschon sich der französische Soziologe Pierre Bourdieu nur selten mit dem Raum als
physisches Phänomen befasste, geben seine Erörterungen zum sozialen Raum der Klassen
Anregung dazu, wie sich soziale Ungleichheiten und Machtverhältnissen in urbanen Räumen
äussern. Wenngleich Bourdieu den Begriff des sozialen Raums als Metapher und
Repräsentationsform für die soziale Welt verwendet, geht er von einem Zusammenhang des
sozialen Raums mit dem physischen Raum aus. Nach seiner Vorstellung schlägt sich die
soziale Ordnung der Gesellschaft im physisch-geografischen Raum nieder (Schroer 2006: 87),
der soziale Raum wird durch den physischen Raum symbolisch repräsentiert: „Gebauter
Raum ist als Teil der sozialen Welt keinesfalls als etwas der Gesellschaft äusserliches zu
verstehen, sondern als durch das gesellschaftliche Machtgefüge konstituiert“ (Manderscheid
2008:169). Gemäss Bourdieu ist es das ökonomische, soziale und kulturelle Kapital, welches
darüber entscheidet, ob man sich Raumprofite erschliessen kann oder nicht: Ein
Kapitalüberschuss verspricht Zugang und unbegrenzte Mobilität, hingegen ein „Mangel an
Kapital verstärkt die Erfahrung der Begrenztheit: er kettet an einen Ort“ (Bourdieu 1997:121).
Gemäss Bourdieu handelt es sich beim Raum also um einen zentralen Faktor, der die
ungleichen Verhältnisse der Gesellschaft reproduziert: Einerseits lassen sich die sozialen
Strukturen nur schwer verändern, weil sie sich durch ihre Einlagerung in räumliche
Strukturen verfestigen. Andererseits ruft die Verortung des sozialen Raums in die physische
Welt eine Naturalisierung des sozialen Raums hervor, sodass die sozialen Unterschiede als
35
natürliche Unterschiede wahrgenommen werden. Bourdieu spricht von einer Verschleierung
der sozialen Ungleichheiten, da sich die räumlichen Strukturen als Ausdruck gesellschaftlicher
Strukturen in der Form von Prädispositionen im Habitus des Menschen niederschlagen
(Bourdieu 1997:119).
Bourdieus Raumverständnis gleicht dem Container-Raum-Denken (vgl. Kap. 3.1.1.): Er
sieht die Beherrschung des Raumes vor allem in der Überwindung von räumlichen Distanzen
und im Zugang zu Räumen verwirklicht. Für ihn widerspiegeln sich die sozialen
Ungleichheiten in der räumlichen Ungleichverteilung von Gelegenheitsstrukturen und
Gütern. Im Gegensatz dazu muss man auch in Betracht ziehen, dass räumliche Strukturen
selbst soziale Ungleichheiten produzieren. Dies wird beispielsweise deutlich, wenn man davon
ausgeht, dass die Aneignung öffentlicher Räume Lernchancen bietet, die dann aufgrund von
fehlender Zugänglichkeit nicht genutzt werden können, oder dass der Zugang zu Räumen mit
der Möglichkeit zum Ausbau des sozialen Netzwerkes verbunden ist. Somit ist von einer
gegenseitigen Verstärkung von räumlicher Macht und Kapitalbesitz auszugehen: „Die
Verfügungsgewalt über den geografischen Raum hat Auswirkungen auf die eingenommene
Position im sozialen Raum, und die jeweilige Stellung im sozialen Raum steuert die
Verfügungsgewalt über den geografischen Raum“ (Schroer 2006:90). In diesem
Zusammenhang kann das Spektrum der Kapitalsorten auch um das räumliche Kapital
erweitert werden, deren Vorteile sich vor allem darin äussern, dass man sich dorthin bewegen
kann, wohin man will.20
Die Anwendung von Bourdieus Theorie auf die Erforschung von Macht und
Ungleichheiten im Sozialraum nimmt die Ein- und Ausschlussmechanismen in den Blick.
Diese werden in erster Linie über den so genannten Habitus des Ortes vermittelt, der vorgibt,
wer wo sein sollte und wie man sich dort zu verhalten habe. Neben expliziten
Zugangsbeschränkungen äussert sich dieser Habitus des Ortes vor allem über bestimmte
Erwartungen an das Verhalten, den Lebensstil sowie das Aussehen derjenigen, die ihn sich
aneignen wollen. Kann man dem Habitus des Ortes nicht entsprechen, fühlt man sich
deplatziert. Deshalb zieht man der Konfrontation mit einem statusfremden Habitus im
Allgemeinen eine vorauseilende Selbstexklusion vor: Man meidet Orte, welche dem eigenen
Habitus nicht entsprechen. Menschen von unterschiedlichem Status gehen sich somit
unvermeidlich aus dem Weg, es braucht keine gewaltsame Trennung: „Die Stabilität der
sozialen Welt ergibt sich also aus dem Wissen der Akteure um ihren Platz in der Gesellschaft
und dessen Grenzen, der durch räumliche Arrangements gewissermassen zugewiesen ist“
(Schroer 2006:98). Der Habitus des Ortes ist also einerseits etwas, dass von allen Menschen
akzeptiert und somit nicht in Frage gestellt wird. Die soziale Ordnung wird durch die
räumliche Trennung der unterschiedlichen sozialen Gruppen aufrechterhalten. Im physischgeografischen Raum wirken die gebauten Anordnungen strukturierend auf die Praktiken der
sozialen Gruppen, indem unterschiedlich gebaute Räume als eigene oder fremde Räume
wahrgenommen werden. (Manderscheid 2008:163). Solange der Habitus des Ortes der
sozialräumlichen Ordnung entspricht und die räumliche Trennung der sozialen Gruppen
weiter besteht, bleiben die in den Raum eingelagerten sozialen Strukturen unsichtbar. Wenn
20 Vgl. dazu den Eintrag zu ‚Capital spatial’ im Dictionnaire de Géographie et de l’Espace des Sociétés von
Jacques Lévy und Michel Lussault (2003).
36
im physisch-geografischen Raum aber Menschen mit unterschiedlichem Habitus aufeinander
treffen und ein Habitus des Ortes gegen den Willen anderer durchgesetzt wird, kommt es zu
Auseinandersetzungen um das erwartete und mögliche Handeln in Räumen. Erst dann
werden die gesellschaftliche Strukturierung von Räumen und somit die generellen Machtund Ungleichheitsverhältnisse in der Gesellschaft offensichtlich – Raumkämpfe sind demnach
immer Sozialkämpfe (Manderscheid 2008:164).
Soziale Ungleichheiten und räumliche Grenzen
Wie es Bourdieu bereits andeutet, ist das Ziehen von räumlichen Grenzen – sei es nun im
wörtlichen oder auch symbolischen Sinn – ein geeignetes Mittel, die Machtbeziehungen
zwischen den unterschiedlichen sozialen Gruppen aufrecht zu erhalten. Dementsprechend ist
in der Sozialgeografie von ‚geographies of power’ die Rede: Über räumliche Grenzziehungen
wird Macht ausgeübt, werden Ungleichheiten erzeugt und verfestigt (Malone 2002:158).
Durch Raumgrenzen wird ein Gesamtraum, beispielsweise eine Stadt, in unterschiedliche
Territorien eingeteilt. Diese Territorien sind weder physisch noch politisch gegeben, sondern
basieren auf der Vorstellung, dass gewisse Räume gewissen Personen gehören und anderen
nicht. Aufgrund dieser Vorstellungen entwickeln Menschen das Bedürfnis, die eigenen
Räume gegen andere zu verteidigen, also gewisse soziale Gruppen aus dem eigenen
Territorium auszugrenzen. Während Grenzziehungen also für die einen Sicherheit und
Zugehörigkeit vermitteln, bedeuten sie für andere Ausschluss von der Teilhabe am Sozialraum
(Holloway et al. 2001:97-107).
Ausgangspunkt von Grenzen sind Differenzen und Kontraste. Es bestehen grundsätzlich
zwei Möglichkeiten Grenzen zwischen Sozialräumen aufzubauen: Erstens über negative
Gefühle und zweitens über Vorurteile, wobei beide eng miteinander verknüpft sind. In David
Sibleys ‚Geographies of Exlusion’ (1995) wird ausführlich dargelegt, dass Gefühle, die wir
gegenüber anderen Menschen hegen, Stereotypen formen, die wiederum für räumliche
Grenzziehungen grundlegend sind (Sibley 1995:3-14). Indem wir Stereotypen von sozialen
Gruppen und Räumen verbinden, errichten wir eine Vorstellung davon, in welchen Räumen
welche Menschen und welches Verhalten angemessen ist (Sibley 1995:19). Sibleys
Ausführungen machen deutlich, dass es sich bei räumlichen Territorialisierungen auch um
moralische Grenzziehungen handelt: Sie zielen ja in erster Linie darauf ab, das dominante
Wertesystem und den Verhaltenskodex der Mehrheit aufrechtzuerhalten, indem Personen,
die der moralischen Ordnung (oder eben dem Habitus) des Ortes nicht entsprechen,
ausgewiesen und ausgeschlossen werden. In Sinne der ‚moral geographies’ kann also davon
ausgegangen werden, dass räumliche Grenzziehungen auf der Vorstellung der dominanten
Gruppe über angemessenes Verhalten in bestimmten Räumen beruhen. Räume sind demnach
‚moral regions’, in denen gewisse Verhaltensformen als angemessen gelten und andere nicht.
Die Basis für solche Bewertungen bilden meistens gesellschaftliche Moralvorstellungen sowie
öffentliche Diskurse (Holloway et al. 2001:200).21
21 In der englischsprachigen Literatur ist dabei oft von so genannten ‚moral panics’ die Rede, durch welche
gewisse soziale Gruppen im öffentlichen Diskurs als moralische Bedrohung für das herrschende Normensystem
stigmatisiert werden (Sibley 1995:41). Moral panics werden von der Öffentlichkeit zur Begründung der
räumlichen Ausschlusspraktiken herangezogen (Sibley 1995:43). Es ist offensichtlich, dass die modernen Medien
37
Weil die Moral in die Territorien eingeschrieben ist und über die alltäglichen Praktiken
vermittelt wird, erscheinen sie uns als natürlich und selbstverständlich. In Wirklichkeit sind
sie jedoch Ausdruck von sozialen Machtbeziehungen, weil keine Gleichberechtigung
unterschiedlicher Vorstellungen herrscht, sondern nur die moralischen Vorstellungen der
dominierenden Gruppen als Massstab gelten, woran sich alle anderen zu messen haben
(Holloway et al. 2001:97 und 206). Gleichzeitig verstärken räumliche Grenzziehungen die
sozialen Ungleichheiten: „Boundaries and boundary-maintaining systems constitute the most
basic forms of social organization and social structure“ (Low 2000:155). Dabei sind Klasse,
Gender, ethnische Herkunft und Alter die wichtigsten Differenzierungsmerkmale, welche die
Gesellschaft durchziehen.
Räumliche Macht vermittelt über Normen
Die moralischen Vorstellungen können sich als an bestimmte Räume geknüpfte Normen
präsentieren, die auf das menschliche Verhalten regulierend wirken (Klamt 2007:20). Wie
Klamt in seiner Arbeit zu Normen in öffentlichen Räumen erörtert, sind Normen per se
ortsgebunden: „Normen haben (…) ihren Ort. Umgekehrt haben Orte und bestimmte Typen
öffentlichen Raums ihre spezifischen Normen. (…) Ändern sich die Norm oder der Raum
oder beide, so ändern sich auch der Charakter, der Anspruch, die Erscheinungs- und
Nutzungsform des Raumes insgesamt“ (Klamt 2007:84-85). In der Geografie wird deshalb
auch von so genannten ‚normative landscapes’ (Cresswell 1996:8).
Soziale Normen sind als Richtlinien für das Verhalten zu definieren, sie werden durch
negative wie positive Sanktionen aufrechterhalten und garantieren dadurch Konformität.
Somit kann man das räumliche Normensystem in erster Linie über raumtypische
Verhaltensweisen erkennen (z.B. Verhalten an einer Schule, Verhalten im Flugzeug, Verhalten
im öffentlichen Raum, etc.) (Klamt 2007:88-89).22 Im Allgemeinen kann davon ausgegangen
werden, dass sich viele Normen in der Form von sozialer Kontrolle äussern und deshalb
befolgt werden, um sich einen persönlichen Vorteil zu verschaffen (z.B. um Zugang zu einem
Raum erhalten oder negative Sanktionierungen zu vermeiden) (Klamt 2007:91-93)23.
Andererseits sind die im Raum inhärenten Normen meist Teil eines allgemeinen
Selbstverständnisses und werden so weit internalisiert, dass sie den Anwesenden als
Selbstverständlichkeit vorkommen, obwohl sie Ausdruck sozialer Beziehungen sind
bei der Etablierung von moralischen Paniken eine bedeutsame Rolle spielen. Moralische Diffamierung von
sozialen Gruppen und ihre räumliche Ausgrenzung können dazu führen, dass so genannte ‚landscapes of fear’
entstehen oder eine Topophobie, eine Angst vor einem Raum (Holloway et al. 2001:107). Bestimmte Räume
werden dann nur aufgrund einer diffusen und meist nicht begründeten Angst gemieden.
22 Vgl. dazu unterschiedliche Konzepte zur Verortung von Normen in Räumen und deren
Verhaltensstrukturierende Wirkung: Barker (1968) oder Weichhart (2004).
23 In Anlehnung an Foucaults Ausführungen zu totalitären Institutionen und dem Panopticum lässt sich als
weitere Disziplinierungsmassnahme die Überwachung nennen (vgl. Foucault, Michel (1977). Discipline and
Punish.). Diese Form der Machtausübung ist insbesondere der USA und Grossbritanniens durch die zum Teil
flächendeckende Videoüberwachung öffentlicher Räume zu finden. Sie spielt aber für die vorliegende
Untersuchung eine untergeordnete Rolle, weil keine der ausgewählten Untersuchungsgebiete unter
Videoüberwachung steht.
38
(Cresswell 1996:18-19). Dementsprechend scheint ein meist unbewusstes Wissen über die in
den Räumen eingelagerten Normen vorhanden zu sein.24
Normen sind somit potente Mittel, über das Verhalten in bestimmten Räumen Menschen
ohne ihre bewusste Zustimmung zu strukturieren: “What results is a cycle of meanings,
actions, and places influencing, constituting, and structuring each other” (Cresswell
1996:150). Raumspezifische Normen sind somit immer, wenn auch subtiler, Ausdruck von
Machtverhältnissen und Hierarchien im jeweiligen Raum (Klamt 2007:86). Es ist deshalb auch
nicht verwunderlich, dass die in der Öffentlichkeit existierenden Normen nur selten in Frage
gestellt werden, sondern man eben nur die Normbrecher verurteilt (Klamt 2007:101).
Räumliche Macht vermittelt über Symbole
Sozialräumliche Grenzziehungen können ebenso symbolisch hergestellt werden, indem
typische Symbole oder Zeichen einer sozialen Gruppe in die Räume eingelagert werden.
Beispiele dafür sind architektonische Mittel wie Denkmäler oder repräsentative Gebäude,
Aushängeschilder von Lokalen und Kulturzentren sowie kulturelle Formen der
Symbolisierung wie Festivals oder Kunstobjekte25. Symbolische Territorialisierung, also die
Markierung von Räumen mit Hilfe von Symbolen, kann aber ebenso über die Repräsentation
des eigenen Status oder Lebensstils erfolgen, beispielsweise über die Kleidung oder das
Verhalten. Solch repräsentatives Verhalten ermöglicht Distinktionen zwischen Personen
unterschiedlichen Status und mündet in einer sozialen Hierarchie im Raum zwischen
denjenigen mit hohem Status und „gutem Geschmack“ und denjenigen mit niedrigem Status
und „schlechtem Geschmack“. (Holloway et al. 2001: 191-193).
Symbole und deren Repräsentation können disziplinierend und Verhaltensregulierend
eingesetzt werden, zum Beispiel dann, wenn bestimmte Dresskodes existieren oder
geschmackloses Verhalten öffentlich herabgesetzt wird26. Ebenso wie Normen sind räumliche
Symbolsysteme Ausdruck von Herrschaftsverhältnissen: Dominante Gruppierungen haben
einerseits über die Teilhabe an Planungs- und Gestaltungsprozessen von Räumen und
andererseits mittels der Definitionsmacht über guten und schlechten Geschmack zahlreiche
Mittel zur Hand, die Symbolik von Räumen zu bestimmen.
Veränderung von Machtbeziehungen im Raum
Verstehen wir Macht im Raum als hegemoniale Vorstellungen vom richtigen Verhalten und
Aussehen, dann findet Macht ihren Ausdruck in unserem alltäglichen Verhalten und unserem
körperlichem Ausdruck. Deshalb ist es auch möglich, durch alltägliche Handlungen und
körperliche Repräsentationen die moralischen Vorstellungen zu destabilisieren und damit
Machtbeziehungen zu hinterfragen. Macht im öffentlichen Raum darf deshalb nicht als
statisch, sondern nur als Aushandlungsprozess verstanden werden (Holloway et al. 2001:20824 Caitlin Cahill (2000) entwickelte dazu das Konzept der ‚Street Literacy’ als eine solche Form von Wissen über
die im öffentlichen Raum einzuhaltenden Regeln.
25 Dies macht deutlich, dass Herrschaftsbeziehungen auch über die Planung und Architektur von Räumen
vermittelt wird. Das dieser Aspekt aber für die vorliegende Arbeit sekundär ist, wird auf Low (2000) verwiesen.
26 Bourdieu unterscheidet in diesem Zusammenhang den Klub-Effekt, also eine symbolische Erhöhung von
Personen und Räumen, vom Ghetto-Effekt, die symbolische Degradierung von Personen und Räumen
(Holloway et al. 2001:99).
39
209). Öffentliche Räume dienen demnach nicht nur zur Reproduktion sozialer
Ungleichheiten, sondern auch zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse.
Wie bereits erwähnt, ergeben sich Raumkonflikte dann, wenn Menschen
unterschiedlichen sozialen Status einen Raum gemeinsam nutzen und gleichzeitig auf die
Anwendung ihrer je eigenen Verhaltensmassstäbe und Symbolisierungen bestehen. Konflikte
oder Auseinandersetzungen um Räume sind deshalb einer der ersten Beweise dafür, dass
Macht in Räumen zumindest in Frage gestellt werden kann. Insbesondere in den
Auseinandersetzungen zwischen Erwachsenen und Kindern bzw. Jugendlichen in öffentlichen
Räumen wird deutlich, dass die Heranwachsenden dennoch Möglichkeiten haben, sich der
Kontrolle und Disziplinierung durch die Erwachsenen zu widersetzen: Das prominenteste
Beispiel dafür sind die Skateboarder, die sich aufgrund ihrer Mobilität und
Anpassungsfähigkeit der erwachsenen Regulierung entziehen können.27 Solche Formen von
Grenzüberschreitungen sind eine direkte Reaktion auf die ‚moral order’ eines Raumes: “What
is often regarded as ‚normal’ and proper behaviour in place is struggled over by different
groups and individuals who are all seeking to mark off a specific place (…) as being available
for their type of people to use“ (Holloway et al. 2001:217). Ein probates Mittel zur
Grenzüberschreitung stellen auch Protestformen und Karnevals in öffentlichen Räumen dar.
Mit solchen Aktivitäten wird die räumliche Hierarchie vorübergehend aufgehoben:
Einkaufende Familien, fahrende Autos und Kaffeetrinkende Damen werden von der Strasse
vertrieben und diejenigen, die normalerweise am Rande des öffentlichen Raumes stehen,
können Verhalten und Symbole im öffentlichen Raum neu bestimmen (Malone 2002:160).
Ebenso können symbolische Markierungen (z.B. Graffiti) dazu dienen sich gegen die
Herrschaftskultur und die Regulierung zu wehren und sich gegen andere soziale Gruppen
abzugrenzen (Holloway et al. 2001:97). Widerstand gegen die moralische Ordnung eines
Raumes kann aber auch im einfachsten Verhalten wie im Gehen und mit Hilfe von
alltäglichen Taktiken praktiziert werden: Auffällige Kleidung, ein komischer Gehstil oder auch
lautes Auflachen sind die einfachsten Mittel, sich der moralischen Ordnung eines Raumes zu
widersetzen (z.B. Subkulturen) (Holloway et al. 2001:221-224).
Im Gegensatz zu diesen teils subtilen teils offensichtlichen Angriffen auf soziale
Hierarchien in Räumen kommt es auch immer wieder zu Grenzüberschreitungen, die nicht
mit einem bewussten Widerstand gegenüber der moralischen und symbolischen Ordnung
eines Raumes in Verbindung stehen. Sie ergeben sich vielmehr dadurch, dass Menschen
beispielsweise nicht wissen, wie sie sich zu verhalten haben (z.B. Neuzugezogene in einem
westlichen Supermarkt) oder auch keine Möglichkeiten haben, sich dem Habitus des Ortes
anzupassen (z.B. Obdachlose in einer Bahnhofshalle). Auch viele Verhaltensweise von
Jugendlichen werden von den Erwachsenen als Angriff auf die ‚moral order’ gewertet,
obschon die Jugendlichen nicht diese Absicht haben, beispielsweise wenn sich Frauen von
Jungengruppen bedroht fühlen oder wenn sich Erwachsene an herumstehenden und
quatschenden Jugendlichen stören. Dass Jugendliche mit ihrer blossen Präsenz und im
Grunde unauffälligen Verhalten als nonkonform betrachtet werden, erklärt Sibley (1995) mit
27 Für weitere Beispiele siehe im Kapitel 2.2.1. zum Forschungsstand die Ausführungen zu nonkonformen
Verhalten und subkulturellen Praktiken in öffentlichen Räumen.
40
der Tatsache, dass sich Jugendliche in einer Übergangsphase befinden: Während sowohl
Kinder als auch Erwachsene die ihnen je zugedachten Orte und Räume entsprechend den
implizierten Normierungen nutzen, haben Jugendliche keine eigenen Räume und wirken
deshalb sowohl auf Kinderspielplätzen als auch in Erholungsräumen deplatziert. Jugendliche
als soziale Gruppe bringen demnach die soziale Ordnung und die sozialräumlichen
Grenzziehungen, die von der dominanten Gruppe der Erwachsenen vorgenommen wurden,
aus dem Gleichgewicht (Sibley 1995:33-35). Entscheidend dafür, welches Verhalten von
Jugendlichen als deviant bezeichnet wird, hängt von der Gruppe mit der grössten
Definitionsmacht ab: „The ability to define what constitutes appropriate behavior in a
particular place is one fundamental form if this power“ (Cresswell 1996:25).
Zwischenfazit V
Sibley fasst die Bedeutung von Machtbeziehungen in Räumen folgendermassen zusammen:
„We can envision the built environment as an integral element in the production of social life,
conditioning activities and creating opportunities according to the distribution of power in
the socio-spatial system” (Sibley 1995:76). Über Nomen und Symbole vermittelt wird in
Räumen eine soziale Hierarchie geschaffen, die bestimmt, wo sich Menschen wie zu verhalten
und zu kleiden haben. Sie dienen demnach dazu, die ungleichen Beziehungen innerhalb der
Gesellschaft zu stabilisieren und zu reproduzieren, stellen aber gleichzeitig auch variable
Sphären da, die einem steten Aushandlungs- und Definitionsprozess unterliegen (Wöhler
2000:51).
So scheinen Jugendliche auf der einen Seite wenig Einfluss auf das normative Setting28
eines öffentlichen Raumes nehmen zu können, da sie weder in der Planung beteiligt sind noch
in der sozialen Position sind, Normen- und Symbolsystem in öffentlichen Räumen
durchzusetzen. Der negative Diskurs über Jugendliche begrenzt ihre Möglichkeiten, sich am
Aushandlungsprozess zu beteiligen, zusätzlich.
Andererseits sind Jugendliche als Nutzergruppe in öffentlichen Räumen stark vertreten
und formen deshalb über ihre Verhalten das normative Setting mit. Es stellt sich demnach die
Frage, inwiefern Jugendliche über Verhaltenspraktiken und Symbolisierungen auf die
räumlichen Regulierungsmechanismen Einfluss nehmen können. Während man gemäss
Cahills Studie zur ‚street literacy’ (2000) eher davon ausgehen kann, dass sich Jugendliche
Wissen und Kompetenzen aneignen, um sich mit der bereits bestehenden sozialen Ordnung
zu arrangieren, wäre es ebenso vorstellbar, dass Jugendliche direkt an der Ausgestaltung des
normativen Settings öffentlicher Räume beteiligt sein können: „Rules are learned but also
created“ (Cahill 2000:263). Eine typisch jugendliche Verhaltensart zur Transformation
vorhandener sozialen und räumlichen Bedingungen stellt dabei die sozialräumliche
Aneignung dar, wie sie in Kapitel 3.3. erörtert wird.
28 Aufgrund der einseitigen Konnotation des Begriffs ‚moral order’ wird im Weiteren der Ausdruck ‚normatives
Setting’ verwendet, um die in öffentlichen Räumen eingelagerten Regulationsmechanismen und
Verhaltensnormen zu beschreiben.
41
3.1.4 Öffentlichkeit
Begriffsdefinition
Eine eindeutige begriffliche Bestimmung von Öffentlichkeit kann in der Wissenschaft nicht
geleistet werden. Dies hängt einerseits mit der Mehrdimensionalität von Öffentlichkeit und
andererseits mit der zwar verhältnismässig kurzen aber komplexen Entstehungsgeschichte des
Begriffes zusammen (vgl. Herczog et al. 1995; Hohendahl et al. 2000; Kleinsteuber 2000;
Settekorn 2000; Schiewe 2004). Sowohl die historischen Erscheinungsformen als auch die
mentalen Konstrukte von Öffentlichkeit entspringen nicht einer einzigen Vorstellung von
Öffentlichkeit, sondern bezeichnen vielmehr eine Kumulation von Einzelöffentlichkeiten
(Fischer 2000:64). Öffentlichkeit ist deshalb im Plural zu denken, im Sinne von
Öffentlichkeiten als „qualitative und (…) kategoriell unterschiedliche Sachverhalte“
(Settekorn 2000:17).
Schliesslich erschwert die Rekursivität von Öffentlichkeit eine definitive begriffliche
Bestimmung von Öffentlichkeiten, also der Umstand, „dass die Öffentlichkeit mitdefiniert,
was als Öffentlichkeit gilt“ (Herczog et al. 1995:1) und dass der Öffentlichkeitsbegriff selbst die
soziale Wirklichkeit mitgestaltet, die er bezeichnet (Schiewe 2004:29). Gerade die vorliegende
Arbeit verdeutlicht diese Rekursivität von Öffentlichkeit, weil sie die negative
Berichterstattung der Medienöffentlichkeit über Jugendliche im öffentlichen Raum zum
Anlass nimmt, die jugendspezifische Sichtweise für die Öffentlichkeit zu erforschen und somit
der vorherrschenden öffentlichen Meinung, es handle sich dabei um ein gesellschaftliches
(öffentliches) Problem, etwas entgegen zu halten. Aufgrund solcher Rekursivitäten sollten
Öffentlichkeiten nur mit Bezug zu ihrem jeweiligen Kontext erörtert werden (Herczog et al.
1995:1).
Klassische Öffentlichkeitstheorien
Es lassen sich vier unterschiedliche Konzeptionen von Öffentlichkeiten unterscheiden:
a) Politische Öffentlichkeit: Die Begriffs- und Entstehungsgeschichte29 von Öffentlichkeit
weist darauf hin, dass Öffentlichkeit stets auch ein Kampfbegriff war und sowohl
alltagssprachlich als auch in der Wissenschaft vorherrschend mit politischen
Forderungen bzw. politischen Kommunikationsräumen in Verbindung gebracht
wurde (Hohendahl et al. 2000:2). Auch Konzepte der Gegenwart schreiben der
Öffentlichkeit eine politische Funktion zu und können deshalb ähnlich wie die
vergangenen Vorstellungen nicht auf eine normative Deutung von Öffentlichkeit
verzichten (vgl. Arendt 1981; Huning 2006; Wimmer 2007).
b) Soziologische Öffentlichkeit: Aus soziologischer Warte hingegen steht das
Spannungsfeld zwischen Öffentlichkeit und Privatheit in den Mittelpunkt und es wird
die Frage nach dem Zugang zum öffentlichen Austausch gestellt. Dem normativen
Öffentlichkeitsprinzip der allgemeinen Zugänglichkeit zu einer gemeinsamen
Öffentlichkeiten stehen aus soziologischer Perspektive die in der Realität vorfindbaren
Schliessungsprozesse gegenüber (vgl. Fraser 1994; Hanisch 1969).
29 Für eine ausführliche Darstellung der Geschichte von Öffentlichkeit siehe Hohendahl et al. 2000 sowie
Schiewe 2004:19-59 & 165-277.
42
c) Diskursive Öffentlichkeit: Als Idealvorstellung gilt weiterhin die diskursive
Öffentlichkeit, über welche sich über einen egalitären und rationalen Diskurs
öffentliche Meinung und gemeinwohlorientierte Lösung formieren können (vgl.
Habermas 1962; Habermas 1992; Ritter 2008).
d) Mediale Öffentlichkeit: Mit dem Aufkommen der Massenmedien und insbesondere
mit der Verbreitung virtueller Medien gewinnt hingegen die Vorstellung an
Bedeutung, dass es sich bei der Öffentlichkeit nicht um eine direkte Interaktion
handelt, sondern sie sich vor allem medial vermittelt konstituiert, was von gewissen
Autoren kritisch (Habermas 1969; Herzcog et al. 1995) von anderen als Chance
(Gerhards et al. 1991) wahrgenommen wird.
Aus zweierlei Gründen sind diese Öffentlichkeitskonzepte für die vorliegende Arbeit nicht
geeignet: Erstens rekurrieren sie alle implizit oder explizit auf eine normative Vorstellung
liberaler bzw. bürgerlicher Öffentlichkeit, egal ob sie sich nun in der Form von politischen
Debatten, sozialen Bewegungen, diskursiver Arenen oder virtuellen Netzwerken manifestiert.
Eine wissenschaftliche Arbeit hingegen, deren Ziel es ist, die subjektive Wahrnehmung und
Bedeutungszuschreibung von Jugendöffentlichkeiten zu erforschen, sollte sich nicht im
Vorneherein auf eine allgemeine Norm festlegen, die allenfalls den offenen Blick versperren
würde. Zweitens beziehen sich die erörterten Konzepte in erster Linie auf die politische
Funktion von Öffentlichkeiten. Öffentliche Räume haben jedoch wenig mit der Vorstellung
eines Ortes zu tun, wo sich Menschen treffen, zu bestimmten Themen diskutieren und einen
politischen Konsens bilden, mit welchem sie sich schliesslich an die Regierung wenden.
Öffentliche Räume sind nicht dazu geeignet, öffentliche Meinung zu konstituieren, wie dies
der Ansatz von Gerhards und Neidhardt (1991) aufzeigt: Gemäss den Autoren lassen sich drei
unterschiedliche Ebenen von Öffentlichkeit unterscheiden: a) die Encounter-Öffentlichkeit, b)
öffentliche Veranstaltungen und c) die Massenmedienkommunikation. Während sich die
Konzeption von Öffentlichkeit als eine öffentliche Veranstaltung in erster Linie an die
Vorstellung einer politischen und soziologischen wie auch diskursiven Öffentlichkeit in der
Form eines Forums oder einer Arena anlehnt, rekurriert die mediale Öffentlichkeit auf einen
Kommunikationsraum der sich von der direkten Interaktion losgelöst hat und sich in der
Form eines kommunikativen Netzwerks heutzutage meist global erstreckt und virtuell
konstituiert. Der vorliegende Untersuchungsgegenstand, nämlich Jugendöffentlichkeit im
öffentlichen Raum, ist hingegen der Encounter-Öffentlichkeit zuzurechnen: In öffentlichen
Räumen treffen Jugendliche auf andere Menschen, interagieren und thematisieren für sie
bedeutsame Lebensinhalte auf einer ganz alltäglichen Ebene. Diese Sphäre der Öffentlichkeit
kann zwar in der Form von unkontrollierbaren Gegenöffentlichkeiten tatsächlich noch
politische Kraft entfalten (bspw. in der Form von jugendlichen Subkulturen), die geringe
Strukturiertheit sowie die fehlende Kontinuität der Interaktionen erschweren aber eine
Synthetisierung vorhandener Ansichten und die Bildung einer öffentlichen Meinung.
Vielmehr bezieht sich diese Form der Öffentlichkeit auf soziokulturelle Aspekte des
Austausches ohne direkte politische Forderungen.
Soziokulturelle Öffentlichkeit
43
Während Gerhards und Neidhardt (1991) die zunehmende Bedeutung der
Massenmedienkommunikation konstatieren und jegliche Form von Öffentlichkeit als medial
vermittelt verstehen, betont Elisabeth Klaus, dass an der Herstellung von Öffentlichkeit
immer „Alltagsmenschen“ beteiligt sind (Klaus 1998:131). Dabei bezieht sie sich auf den
Beitrag der Frauen- und Geschlechterforschung zur theoretischen Öffentlichkeitsdebatte und
erweitert Carol Hanischs (1969) Slogan „Das Private ist politisch“ zu „Das Private ist
öffentlich“ (Klaus 1998:131) und meint damit, dass Öffentlichkeit auch im Privaten
konstituiert und verwirklicht wird. Auch Martina Ritter (2008) verknüpft die öffentliche
Sphäre mit dem Privatleben der Einzelnen: Erst wenn Individuen aus der Privatsphäre auf das
Öffentliche blicken und Privates ins Öffentliche tragen (und umgekehrt), wenn also eine
kontinuierliche Bezugnahme des Individuums mit seiner Umwelt stattfindet, können
Menschen ihre eigenen Erfahrungen und Deutungen reflektieren. Alltägliche Interaktionen
spielen dabei die vermittelnde Rolle zwischen der Subjektivität einer Person und der für sie
bedeutsame Lebenswelt, sie erst ermöglichen Selbstvergewisserung und Selbstfindung (Ritter
2008:44, 126).
Aus dieser Perspektive gewinnen die „unmittelbaren Kommunikationsforen und
alltäglichen Interaktionsräume“ (Klaus 1998:131) – nach Gerhards und Neidhardt (1991) die
Encounter-Öffentlichkeiten und gemäss Klaus (1998) Terminologie die „einfachen“
Öffentlichkeiten – wieder an Bedeutung für die Herstellung von Öffentlichkeit in der heutigen
Gesellschaft. Solche Öffentlichkeiten entstehen dort, wo sich im Alltag spontan und zufällig
eine Kommunikation entwickelt, nicht über Medien sondern über direkte Ausdrucksformen
verbaler und nonverbaler Art vermittelt. Auch hier gelten die Prinzipien des offenen Zugangs
sowie der Gleichberechtigung der Akteure – eine Differenzierung der Rollen hingegen findet
nicht statt, sondern alle Beteiligten sind sowohl Sendende als auch Empfangende von
Botschaften (Klaus 1998:137).
Diese Form der einfachen Öffentlichkeiten ist zwar nicht immer im Bewusstsein der
Beteiligten als solche verankert, hat jedoch eine wesentliche gesellschaftliche Funktion: Im
Alltag – beim Einkaufen, auf dem Schulweg oder beim Plaudern an der Strassenecke – werden
implizit Gesellschaftsvorstellungen und Identitäten reproduziert, in Frage gestellt oder
modifiziert. Regeln und Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens werden verhandelt,
Wirklichkeiten konstruiert, kulturelle Ziele überprüft, Handlungsentwürfe verworfen – kurz:
Die Auseinandersetzung mit alltäglichen Gesellschaftsentwürfen, bspw. die (Re-)Produktion
von Geschlechterrollen, Generationenverhältnissen oder Umgangsformen sowie die
Thematisierung und Bewertung von alltäglichen Erfahrungen, können als
„Verständigungsprozess der Gesellschaft über sich selbst“ (Klaus 1998:136) definiert werden.
Der kommunikative Austausch in öffentlichen Räumen leistet somit einen Beitrag zur
Integration der Gesellschaft sowie zur Identitätsbildung der Individuen (Klaus 1998:134136).30
30 Auch andere Autoren rekurrieren auf das Identitätsstiftende Moment und die integrierende Funktion von
Encounter-Öffentlichkeiten: Wöhler (2000) beispielsweise versteht unter Öffentlichkeit eine Form der
kulturellen Kommunikation zwischen Einzelnen oder Kollektiven, die sich ins Verhältnis zu anderen Menschen
setzen und versuchen, ein gemeinsames Verständnis von Lebensformen und Problemlagen zu entwickeln.
44
Öffentlichkeit als soziokultureller Selbstvergewisserungsprozess erfordert von den
Individuen demnach eine Reflexionsleistung, eine Vergewisserung des Selbst im Kontext der
anderen. Meist verläuft diese Form der öffentlichen Kommunikation einerseits über die
reflexive Selbstthematisierung in der Rolle der Kommunikatorin und andererseits über die
reflexive Beobachtung in der Rolle des Rezipienten (Faulstich et al. 2000:53-54). Indem „man
sich durch die Beobachtung anderer selbst beobachtet“ (Faulstich et al 2000:53) werden
innerhalb von Encounter-Öffentlichkeiten prozesshaft Zustimmung und Abgrenzung von
Gesellschafts- und Lebensentwürfen verhandelt. Im Zentrum des Austausches steht dabei die
Ablehnung oder Anerkennung von individuellen sowie kollektiven Lebensentwürfen (Ritter
2008:39, 60). Weiter kann der soziokulturellen Öffentlichkeit eine sozialintegrative Wirkung
zugesprochen werden: Aufgrund der vergleichsweise heterogenen Zusammensetzung der
verschiedenen Nutzergruppen in öffentlichen Räumen findet eine Verständigung über die
sozialen Grenzen hinweg statt (Zinnecker 1976:4 und 13)31.
Klaus (1998) Ansatz macht nur implizit deutlich, dass auch das Konzept einer
soziokulturellen Öffentlichkeit ebenso wie dasjenige einer politischen Öffentlichkeit normativ
geladen ist: Ihr werden in erster Linie integrierende Funktionen zugeschrieben, während
Konflikte und Schliessungsprozesse aufgrund kultureller Zugehörigkeiten im öffentlichen
Raum verdrängt werden. Es ist deshalb davon auszugehen, dass gerade die Machtdimension,
die sich vor allem in der Form von sozialen Normen materialisiert, quer zur kulturellen
Kommunikation steht und sie durchdringt. Soziokulturelle Öffentlichkeit sollte deshalb nicht
nur als Instanz kultureller Selbstvergewisserungsprozesse bei Individuum und Gesellschaft
verstanden, sondern ebenso als ein verhaltens- und handlungsregulierendes System definiert
werden (Winter 1993:45). Welche Rollen die sich im Austausch befindenden Nutzergruppen
öffentlicher Räume einnehmen können, soll mit Erving Goffmans Forschungsarbeiten weiter
erörtert werden.
Öffentlichkeit als Theaterbühne – Erving Goffman
Goffmans Forschungsinteresse galt in all seinen Werken den Strukturen sozialer Beziehungen
auf einer alltäglichen Interaktionsebene. In seinem Werk „The Presentation of Self in
Everyday Life“ aus dem Jahre 1959 wendet er darauf die Theatermetapher an und beschreibt
wie Menschen sich im Alltag insbesondere gegenüber Fremden darstellen. Kurz
zusammengefasst geht Goffman davon aus, dass Individuen oder Gruppen bemüht sind,
innerhalb einer sozialen Interaktion einen bestimmten Eindruck zu erzeugen und dadurch das
Verhalten des Gegenübers zu kontrollieren, mit dem Ziel die Deutung der gemeinsamen
Situation zu beeinflussen: „So hat der Einzelne im allgemeinen allen Grund, sich anderen
„Öffentlichkeit dient folglich der sozialen Verständigung und Verortung“ (Wöhler 2000:52) und schafft im
Prozess der Auseinandersetzung Identitäten (Wöhler 2000:52-53). Ebenso definieren Herczog und Hubeli (1995)
Öffentlichkeit als „den Ort (und die Sphäre), wo die Gesellschaft in direkter oder indirekter Kommunikation sich
ihr Selbstverständnis erwirbt und vermittelt“ (Herczog et al. 1995:2). Ähnliches wie für die Funktion der Medien
gilt auch für die Encounter-Öffentlichkeit: Die alltäglichen Interaktionen vermitteln den Menschen einen
Einblick in andere Lebenswelten, eröffnen ihnen die Möglichkeit, das eigene Erleben zu reflektieren, und machen
ihnen deutlich, dass sich die Welt stetig verändert, aber auch verändern lässt (Schiewe 2004: 160-161).
31 Zur Kritik am Konzept soziokultureller Öffentlichkeiten siehe Kosselleck (1959) oder Luhmann (1990).
45
gegenüber so zu verhalten, dass er bei ihnen den Eindruck hervorruft, den er hervorrufen
will“ (Goffman 1998:8). Dabei ist es das gemeinsame Ziel aller an der Interaktion Beteiligten,
Peinlichkeiten (z.B. wenn der Eindruck, der ein Einzelner von sich etabliert hat, gestört wird)
und Konflikte zu vermeiden und somit das gemeinsam aufgebaute Sozialsystem der
Interaktion aufrechtzuerhalten (Goffman 1998:13-17). Nun geht Goffman davon aus, dass
jeder Mensch innerhalb von sozialen Beziehungen eine bestimmte Rolle einnimmt, die er mal
aufrichtig und aus voller Überzeugung spielt, mal aber auch nur für einen bestimmten Zweck
aufrechterhält und deshalb die anderen damit täuscht (Goffman 1998:99-22). Das
Gesamtverhalten eines Einzelnen in Gegenwart einer Gruppe von Zuschauern versteht
Goffman als Darstellung bestehend sowohl aus verbalen wie nonverbalen Äusserungen als
auch aus der Ausstrahlung und dem Verhalten eines Menschen (Goffman 1998:6-10). Um bei
der Theatermetapher zu bleiben beschreibt er dieses standardisierte Ausdrucksrepertoire
einer solchen Darstellung oder Rolle auch als Fassade, deren Elemente einerseits das
Bühnenbild (vorhandene „Requisiten“ und deren räumliche Anordnung), andererseits die
persönliche Fassade vermittelt über das Verhalten sowie die äusserliche Erscheinung sind; alle
informieren sie über den sozialen Status des Darstellenden und unterstützen ihn dabei, den
gewünschten Eindruck zu erwecken (Goffman 1998:23-26). Goffman betont, dass der
Darstellende stets darum bemüht ist, die einzelnen Elemente seiner Darstellung (Bühnenbild,
Kommunikation, persönliche Fassade und Verhalten) möglichst kohärent aufeinander zu
beziehen und dass ebenso die Zuschauenden in den wenigsten Fällen die Übereinstimmung
der gebotenen Darstellung in Frage stellen (Goffman 1998:11-13; 26-30). Ein Beispiel für eine
solche kohärente Darstellung ist beispielsweise der Lehrer in seinem Schulzimmer, in
welchem er mit der Hilfe von seriöser Kleidung, hartem Durchgreifen, elaborierter Sprache,
fachlicher Kompetenz und auch mit der Zentrierung der Tische und Bänke nach vorne
versucht, sich in der sozialen Beziehung zu seinen Schülern als Autoritätsperson zu etablieren
und damit die soziale Situation im Klassenzimmer zu kontrollieren. Nicht nur im
Klassenzimmer, sondern überall dort, wo der Lehrer vermutet, von seinen Schülerinnen
beobachtet zu werden, ist er darum bemüht, die Kohärenz seiner Darstellung nicht durch eine
unflätige Äusserung oder unangepasstes Verhalten zu gefährden. Dabei ist er darauf
angewiesen, dass sich seine Arbeitskolleginnen ebenfalls der Lehrerinnen-Rolle konform
verhalten, um die im Allgemeinen anerkannte Beziehung zwischen Lehrerinnen und Schülern
nicht in Verruf zu bringen. Es ist deshalb gemäss Goffman davon auszugehen, dass die
Darstellenden meist innerhalb eines Ensembles auftreten, als eine Form der dramaturgischen
Kooperation, um gemeinsam eine Rolle aufzubauen und einen Eindruck dieser Rolle, der alle
des Ensembles gleichermassen betrifft, bei den anderen aufrechtzuerhalten. Das Ensemble ist
sich untereinander zu Loyalität und gegenseitiger Unterstützung verpflichtet, auch wenn nicht
alle Mitglieder derselben Meinung oder genau dieselben Ziele verfolgen (Goffman 1998:7384).
Im Gegensatz zu einem Klassenzimmer scheinen in der städtischen Öffentlichkeit die
Ensemblerollen weniger stark ausdifferenziert und dementsprechend die Grenzziehungen
zwischen den Ensembles auch variabler und fluider. Als wichtigste Unterscheidungsmerkmale
dienen demnach Geschlecht, Alter und sozialer Status, um zwischen den auftretenden
Ensembles zu unterscheiden. Dies zeigt sich beispielsweise gerade an dem in der Einleitung
erwähnten Umstand, dass das vereinzelte nonkonforme Verhalten von Jugendlichen in
46
öffentlichen Räumen im Sinne einer Darstellung den Eindruck bei den Zuschauenden
erweckt, alle Jugendlichen seien unangepasst und ihr Verhalten sei stets fehlgeleitet.
Andererseits kann aber auch davon ausgegangen werden, dass aufgrund der Pluralisierung
der Lebensstile gerade im städtischen Umfeld zahlreiche Differenzierungen innerhalb und
quer zu diesen Ensemble-Gruppen existieren und dass jedes einzelne Ensemble darauf
bedacht ist, sich durch ihre spezifische Darstellung von anderen zu unterscheiden. Ihre Rolle
wird dabei vor allem durch selbstdarstellendes Verhalten sowie der bewussten Inszenierung
der äusseren Erscheinung charakterisiert, mit dem Ziel den eigenen Lebensstil mittels
kohärent aufeinander bezogener Kommunikation und Verhalten sowie ausgewähltem
Bühnenbild und persönlicher Fassade Ausdruck zu verleihen, wie dies Klaus (1998)
beschrieben hat.
Ebenso findet bei Goffman das Theaterspiel der Öffentlichkeit in einem
Kommunikationsraum statt, den er passend zu seiner Metaphorik als Bühne bezeichnet.
Dabei unterscheidet der Autor zwischen einer Vorder- und Hinterbühne, was gerade für die
Frage nach Öffentlichkeit in öffentlichen Räumen einen zentralen Aspekt darstellt. Während
sich auf der Vorderbühne die Darstellung des Ensembles abspielt, wird auf der Hinterbühne
die Rolle vorbereitet, geprobt, besprochen und zur Entspannung auch mal abgestreift
(Goffman 1998:104). Auf der Vorder- und Hinterbühne werden unterschiedliche Sprachen
gesprochen, entweder die Sprache unter Darstellenden oder die Sprache unter Vertrauten
(Goffman 1998:117). Die Hinterbühne ist dabei von der Vorderbühne räumlich getrennt und
der Zugang von der Vorder- zur Hinterbühne sowie die Einsicht in die Hinterbühne sind dem
Publikum verschlossen (Goffman 1998:104-114). Die Kontrolle über die Zu- und Übergänge
zwischen diesen beiden Ebenen ist von grosser Bedeutung für das Ensemble: Nur durch die
Trennung zwischen Vorder- und Hinterbühne kann der Eindruck gegenüber dem Publikum
gewahrt und die Darstellung glaubhaft rübergebracht werden. Ebenso wichtig ist es aber auch,
dass keine Aussenstehenden die Bühne betreten: Da jeder Mensch in verschiedenen
Ensembles auf unterschiedlichen Bühnen spielt, muss jeder und jede aufs Äusserste darauf
bedacht sein, die Bühnen und die entsprechenden Zuschauer so voneinander zu trennen, dass
„diejenigen, die ihn [oder sie] in der einen Rolle sehen, nicht die gleichen sind, wie die, die ihn
[oder sie] in einer seiner anderen sehen“ (Goffman 1998:126). Gerade in öffentlichen Räumen
gestaltet es sich aufgrund der freien Zugänglichkeit sowie der Vielzahl von sich in der Nähe
aufhaltenden Ensembles als überaus schwierig, diese Kontrolle über die Vorderbühne zu
halten (Goffman 1998:126).
Die Öffentlichkeit öffentlicher Räume
Öffentlichkeit kann als grundlegend raumbezogen verstanden werden, handelt es sich doch
um einen meist direkten Kommunikationsprozess, der eine Ko-Präsenz der
Kommunikationspartner voraussetzt. Nun ist aber die gleichzeitige Anwesenheit von
Kommunikatorinnen und Rezipienten nur bei der Encounter-Öffentlichkeit bzw. bei
öffentlichen Veranstaltungen eine Bedingungen; indes die Massenmedienkommunikation ist
räumlich entgrenzt. Öffentliche Räume können also nur auf der Ebene einfacher und mittlerer
Öffentlichkeiten von Bedeutung sein: Sie ermöglichen die unmittelbare Kommunikation und
direkte Erfahrung, die insbesondere für die kulturelle Funktion von Öffentlichkeit zur
47
Selbstvergewisserung von Individuum und Gesellschaft zentral ist. Räume können demnach
als öffentlich bezeichnet werden, wenn sie tatsächlich auch ein offenes Publikum bilden
(Feldtkeller 2003:253).
Umgekehrt sind öffentliche Räume nicht per se Orte der Öffentlichkeit, sondern sie stellen
lediglich Gelegenheitsstrukturen dar. Das Potential öffentlicher Räume, auch als Orte
soziokultureller Öffentlichkeiten wahrgenommen und gewertet zu werden, hängt unter
anderem auch von den sozialräumlichen Beschaffenheiten ab: Je nach funktionalen
Voraussetzungen, Nutzungs- und Interaktionsmöglichkeiten, Regulierungsgrad sowie
eingeschriebenen Symbolen (s. Kap. 3.1.2.1.) strukturieren sie die soziale Verständigung der
anwesenden Personen.
Aus handlungstheoretischer Perspektive ist aber vielmehr davon auszugehen, dass erst die
kulturellen Praktiken und Interaktionen der Nutzergruppen öffentliche Räume zu
Öffentlichkeitsräumen kultureller Prägekraft machen: Indem sie öffentlichen Räumen Sinn
geben, an sie Erinnerungen knüpfen, sie zum Schauplatz der eigenen Lebensgeschichte
machen sowie Normen und Werte, Gesellschaftsentwürfe und Lebensstile verhandeln,
entsteht das spezifisch Öffentliche an öffentlichen Räumen.
Zwischenfazit VI
Die Ausführungen zur Begriffsdefinition sowie zur Funktion von Öffentlichkeit orientieren
sich an folgenden Öffentlichkeits-Prämissen, die auch für die weitere Arbeit gültig sind:
1. Die Erforschung von Öffentlichkeit orientiert sich an Öffentlichkeiten als konkreten
Sachverhalt und nicht an normativen Vorstellungen. Zwar können
Öffentlichkeitsideale dazu dienen, die Qualität von empirisch fassbaren
Öffentlichkeiten zu bewerten, sie sind jedoch zur Beschreibung von Öffentlichkeiten
nicht geeignet.
2. Gemäss dem Prinzip der Rekursivität handelt es sich bei der Herstellung von
Öffentlichkeiten um einen dynamischen Prozess, der in erster Linie durch die
Kommunikations- und Interpretationsleistung der Anwesenden vonstatten geht.
Dabei sind alle Beteiligten – sei es in der Rolle des Kommunikators oder der der
Rezipientin – als aktiv handelnde Subjekte zu begreifen, die als öffentliche Akteure
Öffentlichkeiten formen.
3. Während in den theoretischen Überlegungen Öffentlichkeit als eine abstrakte Idee
existiert, kann man in der Empirie nur von Öffentlichkeiten im Plural sprechen. Die
Vielfältigkeit von Öffentlichkeiten ergibt sich unter anderem aus der
Mehrdimensionalität des Herstellungsprozesses, der subjektiven Wahrnehmung und
Deutungen der Beteiligten, aus der spezifischen Lebenslage und den kollektiven
Zugehörigkeiten der Akteure und nicht zuletzt auch aus der räumlichen Verortung des
Kommunikationsprozesses.
Es erscheint deshalb angebracht, bei der Untersuchung von konkreten
Öffentlichkeitsphänomenen von Teilöffentlichkeiten zu sprechen, die ihre je eigenen
Interpretationen und Diskurse besitzen: „Teilöffentlichkeiten konstituieren sich auf der Basis
gemeinsamer sozialer Erfahrungen und Handlungsräume oder geteilter Interessen, das heisst
sie sind unter anderem schicht-, generationen-, geschlechts-, und kulturspezifisch“ (Klaus
48
1998:136). Jugendöffentlichkeit kann als Teilöffentlichkeit bezeichnet werden, die sich durch
die spezifische Lebenswelt und jugendtypische Sprache, das altersbezogene Verhältnis der
Jugendlichen zu anderen Generationen und der Gesellschaft sowie den für Jugendliche
charakteristische Umgang mit dem anderen Geschlecht auszeichnet.
Bevor im folgenden Kapitel auf eine mögliche Definition von Jugendöffentlichkeit
eingegangen werden soll, kann aufgrund der Erörterungen in diesem Kapitel folgendes für die
weitere Analyse festgehalten werden: Bei Jugendöffentlichkeiten in öffentlichen Räumen
handelt es sich um so genannte Encounter- (Gerhards et al. 1991) oder einfache
Öffentlichkeiten (Klaus 1998), in denen Jugendliche in spontaner und ungezwungener
Kommunikation mit anderen Anwesenden in Kontakt treten. Diese Ebene von
Öffentlichkeiten ist in erster Linie nicht politisch geprägt, sondern ist der Rahmen für eine
soziokulturelle Verständigung zwischen sozialen Gruppen. Aus subjektbezogener
Perspektive32 stehen dabei Prozesse der Selbstvergewisserung der Beteiligten im Zentrum der
Analyse, die sich über reflexive Selbstthematisierung und reflexive Beobachtung formiert. Die
Wirksamkeit soziokultureller Öffentlichkeiten entfaltet sich in erster Linie im Kollektiv: Erst
das Thematisieren der Gruppenerfahrung in der Öffentlichkeit sowie die gemeinsame
Beobachtung anderer ermöglicht den Jugendlichen Selbstvergewisserung und Orientierung in
der kulturellen Pluralität der Stadt. Ein zentrales Verständigungsmittel ist dabei die
Repräsentation:
Über
Symbole
und
Verhaltensweisen
werden
bestimmte
Persönlichkeitsausschnitte nach aussen getragen, einerseits um Individualität zu vermitteln
und andererseits um Anerkennung zu erhalten. In diesem Sinne sind öffentliche Räume
Bühnen „für das öffentliche Verhalten, für die Rollen der Individuen und sozialen Gruppen.
In ihm werden gesellschaftliche Erfahrungen gesammelt und vermittelt“ (Wentz 2002:192).
Das Verhalten auf dieser Bühne unterscheidet sich je nach Wahrnehmung des öffentlichen
Raumes als Vorder- oder Hinterbühne: Während auf der Vorderbühne soziale Verständigung
stattfindet, dient die Hinterbühne der Reflexion und Selbstvergewisserung.
Die beschriebene theoretische Annäherung an den Untersuchungsgegenstand macht eines
deutlich: Im Gegensatz zu politischen Öffentlichkeiten handelt es sich bei soziokulturellen
Öffentlichkeiten nicht um direkte Kommunikation zwischen Fremden. Demnach ist das
Sozialverhalten in öffentlichen Räumen nicht darauf angelegt, Gemeinschaften und sozialen
Zusammenhalt zu stärken und ebenso wenig öffentliche Meinung zu bilden, wie dies das
politische Öffentlichkeitsverständnis annimmt. Die Fremdheit und Beliebigkeit der
auftretenden Kontakte verunmöglicht dies (Spiegel 2003:177). Das Spezifische soziokultureller
Öffentlichkeiten ist deshalb nicht die Gemeinsamkeit, sondern vielmehr der Umstand, dass
sich ganz unterschiedliche Menschen gleichzeitig in ein und demselben öffentlichen Raum
aufhalten und demnach eine Ambivalenz zwischen physischer Nähe und sozialer Distanz
erleben. Spiegel (2003) fasst zusammen: „Es ist also weniger, sogar weit weniger eine erhöhte
32 Während sich die meisten Öffentlichkeitstheoretiker für die Funktionsleistung, die Strukturierung oder die
Dynamik von Öffentlichkeiten interessieren, konzentriert sich Klaus (1998) auf die individuelle Ebene der
Beteiligten und ihre Handlungen. Diese subjektbezogene Perspektive scheint sich für die Untersuchung der
Mikro-Öffentlichkeit von Jugendlichen in öffentlichen Räumen besser zu eignen und lässt sich ausserdem in den
handlungszentrierten Ansatz integrieren.
49
Chance zu direkter sprachlicher Kommunikation, die öffentliche Plätze auszeichnet, es ist weit
mehr die Vielzahl und Vielfalt, die Dichte und Überlagerung unterschiedlicher, sprachlicher
wie nichtsprachlicher Kommunikationsinhalte und –wege, die Tatsache, dass jeder, der am
Geschehen auf dem Platz teilhat, dabei Akteur, Statist und Zuschauer zugleich ist“ (Spiegel
2003:178).
3.2 Jugendöffentlichkeit in öffentlichen Räumen
Im Schnittpunkt von öffentlichen Räumen, soziokulturellen Öffentlichkeiten und normativem
Setting lässt sich das Konzept der Jugendöffentlichkeit ansiedeln. Er leitet sich begrifflich von
Oskar Negts Arbeiten zur Kinderöffentlichkeit ab. Ähnlich der proletarischen Öffentlichkeit,
die sich als Widerstand gegen die von den Kapitalbesitzern beherrschte Öffentlichkeit
herausbildet (vgl. Negt et al. 1972), soll auch die Kinderöffentlichkeit die Erwachsenenwelt in
Frage stellen. Ausgehend von der Kritik an der räumlichen und moralischen Disziplinierung
der Kinder durch die Erwachsenen entwirft Negt (1983) die Kinderöffentlichkeit als
Gegenmacht zu derjenigen der Erwachsenen. Für ihn beginnt „Kinder-Öffentlichkeit (…) mit
der Freisetzung der körperlichen Bewegung und der Überwindung der gesellschaftlich
festgeschriebenen Raumeinteilung“ (Negt 1983:41) und mündet in einem Produktionsprozess
kindlicher Erfahrungen (Negt 1983:43).
Dies gelingt in erster Linie über die
Selbstregulierung, welche die „Erweiterung der Erfahrungsfähigkeiten des Kindes und dessen
individuellen Selbstständigkeit zum Ziele hat“ (Negt 1983:48) und mit der Absenz von
Kontrolle und Disziplinierung einhergeht. Die Notwendigkeit, Kinderöffentlichkeit zu
fordern, liegt in den herrschenden Machtverhältnissen zwischen Kindern und Erwachsenen
begründet; deshalb ist sie auch als spezifischen Protest dagegen zu werten (Negt 1983:55). Mit
dem Gebrauch der eigenen Ausdrucksmittel – „Körper, Raum, Zeit, Bewegung, Sehe, Tasten,
Sprechen, Schreien“ (Negt 1983:41) – machen Kinder ihre spezifischen Bedürfnisse öffentlich.
Kinderöffentlichkeit kann ebenso als Prozess verstanden werden, „in dem Meinungen,
Verhaltensweisen, Freundschaften und Feindschaften entstehen“ (Zeiher et al. 1998:24).
Negts Vorstellung von Kinderöffentlichkeit lehnt sich direkt an die Konzeption einer
politischen Öffentlichkeit an (s. Kap. 3.1.3.2.). Er definiert Kinderöffentlichkeit als Protest und
Gegenpol zu Erwachsenenwelt sowie als Emanzipation von der Erwachsenenkontrolle. Der
öffentliche Raum dient dazu, den Kinderprotest, also die Bedürfnisse, Interessen und
Wünsche der Kinder, in der Form von Bewegungs- und Kommunikationsbetonten
Ausdrucksmitteln sichtbar zu machen. Übertragen auf die Jugendlichen treten hierbei vor
allem jugendliche Protestbewegungen (z.B. 68er-Bewegung) oder provokatives und
nonkonformes Verhalten von Jugendlichen in öffentlichen Räumen in den Blick. Reutlinger
(2004) beispielsweise beschreibt, wie die unterschiedlichen Formen jugendlichen „SichSichtbar-Machens“ das herrschende System angreifen und auch erneuern: „Die
konkurrierenden Lebenskonzepte von Erwachsenen und Jugendlichen (…) wurden über die
Sichtbarkeit manifest. (…), durch den Aneignungs- und Auflehnungskampf und durch das
Aushandeln von eigenen und nicht-kapitalisierten Bereichen, wurden Jugendliche sichtbar“
(Reutlinger 2004:290). Das politische „Sich-Sichtbar-Machen“ hat demnach eine doppelte
Wirkung: Einerseits ermöglicht der öffentliche Raum den Jugendlichen, die eigene Lebenswelt
50
zu thematisieren, andererseits können sie über diese Form der räumlichen Sichtbarkeit auch
ihre politischen Forderungen und Interessen sichtbar machen.
Wie nun aber bereits im vorhergehenden Kapitel dargelegt, kann und soll es sich bei der in
öffentlichen Räumen existierenden Öffentlichkeiten nicht nur um eine politische sondern vor
allem um eine soziokulturelle handeln, die weniger auf die Sichtbarmachung von politischen
Problemen sondern auf die Sichtbarmachung kultureller Diversität zielt: „Das politische
Gemeinwesen [braucht] dauerhafte öffentliche Räume (…), an denen es sich als solches
erfährt – und zwar nicht nur im Protest und zur Demonstration von Forderungen und
Machtansprüchen, sondern auch zur Kommunikation und als symbolischer Ort“ (Huning
2006:14). Aus dieser Perspektive spielen demnach die symbolischen und sozialen Praktiken
der Jugendlichen in öffentlichen Räumen eine weit wichtigere Rolle als jugendliches
Protestverhalten. Öffentliche Räume sind als Bühnen der Sichtbarkeit zu verstehen, als Orte
der Identifikation mit dem Anderen und der Bewusstmachung von Differenzen (Herczog et
al. 1995:23). Jugendöffentlichkeiten können in diesem Zusammenhang als die Möglichkeit
einerseits zur Repräsentation und Selbstdarstellung und andererseits zur Kommunikation und
zum Austausch verstanden werden; öffentliche Räume und ihre strukturellen Gegebenheiten
spielen dahingehend eine ermöglichende oder einschränkende Rolle.
Das Konzept der Kinder- bzw. Jugendöffentlichkeit lässt uns demnach im Unklaren
darüber, ob sie sich von der herrschenden Erwachsenenöffentlichkeit abwendet oder sich in
sie integrieren lässt. Einerseits legt die Ableitung der Kinderöffentlichkeit von der
proletarischen Öffentlichkeit nahe, Kinderöffentlichkeit als eine Form der Gegenöffentlichkeit
zu verstehen. Dies macht insbesondere dann Sinn, wenn man die normativen und
moralischen Restriktionen in öffentlichen Räumen bedenkt, welche die Möglichkeiten der
Jugendlichen einschränken. Ebenso werden Jugendliche aus Fragen zur Gestaltung der
räumlichen Umwelt ausgeklammert, ihre Bedürfnisse bleiben auf der Ebene der Behörden
und Stadtplanung unsichtbar. Andererseits suchen Negt & Kluge (1972) stets nach einer
idealen Öffentlichkeit, welche die Menschen miteinander verbindet, ohne einzelne Menschen
oder Gruppen aus der Herstellung von Öffentlichkeit auszuklammern. Kinder- oder
Jugendöffentlichkeit soll demnach verschiedene divergierende Narrative von Kindern,
Jugendlichen und Erwachsenen miteinander vereinen (Hohendahl 2000:109). Der Fokus auf
die Verständigungsfunktion von Jugendöffentlichkeit öffnet den Blick für die Chancen, die
Jugendliche in den öffentlichen Räumen erfahren. Insbesondere die Möglichkeit, den
öffentlichen Raum als Bühne zur Selbstthematisierung und -vergewisserung nutzen zu
können, lässt darauf schliessen, dass sich Jugendlichöffentlichkeit nicht unabhängig von der
Erwachsenenwelt zu entwickeln scheint, sondern in der Auseinandersetzung mit ihr entsteht.
Zwischenfazit VII
Jugendöffentlichkeit beschreibt einen Zustand der Sichtbarkeit jugendlicher Lebensinhalte.
Für Jugendliche in öffentlichen Räumen meint Sichtbarkeit wie oben beschrieben kollektive
Repräsentation und Selbstdarstellung, aber auch Widerstand und Protest. Nimmt man Bezug
auf das in Kapitel 3.1.3.3. entwickelte Öffentlichkeitsverständnis und wendet es auf Negts
51
Ausführungen zur Kinderöffentlichkeit an, lassen sich Jugendöffentlichkeiten mit folgenden
Thesen charakterisieren:
1. Sind öffentlich Räume für Jugendliche zugänglich und nutzbar, das heisst nach Negt
frei von Kontrolle und offen zur Selbstregulierung, sind sie Orte der jugendkulturellen
Selbsterfahrung.
2. Jugendliche machen ihre eigenen Bedürfnisse, Interessen und Erfahrungen über ihre
jugendspezifischen Ausdrucksmittel in der Öffentlichkeit sichtbar.
3. Die „jugendtypische Spannung zwischen der Suche nach jugendkultureller
Eigenständigkeit und der verdeckten Sehnsucht nach dem Erwachsenwerden“
(Böhnisch et al. 2010) artikuliert sich in Jugendöffentlichkeiten. Diese ermöglichen
sowohl jugendkulturelle Aneignung als auch Anerkennung in öffentlichen Räumen.
4. Jugendöffentlichkeiten stellen ein wichtiges Protestmittel insbesondere von
ausgegrenzten Jugendlichen dar, um die Machtverhältnisse in der Gesellschaft zu
thematisieren. Öffentliche Räume sind dabei oft der Austragungsort dieser Konflikte.
3.3 Jugendliche Aneignungsprozesse in öffentlichen Räumen
Wie durch die vorangegangen theoretischen Erörterungen klar wurde, befinden sich
Jugendlichen in öffentlichen Räumen in einem komplexen Verhältnis zu ihrer Umwelt.
Einerseits finden sie in den Räumen eingelagerte Normen- und Symbolsysteme in der Form
eines normativen Settings vor, das entweder einschränkend oder ermöglichend auf sie
einwirkt. Andererseits stellt die Auseinandersetzung der Jugendlichen mit einer pluralen
sozialen Umwelt zahlreiche Möglichkeiten dar, sich selber zu reflektieren und sich in Bezug
zur Gesellschaft zu setzen.
Sowohl die Vorgaben einer handlungszentrierten Sozialgeografie des Jugendalters und das
in Kapitel 3.1.1. vorgestellte sozialwissenschaftliche Raumverständnis, als auch das
mehrdimensionale Konzept von öffentlichen Räumen und das auf Verständigung fokussierte
Öffentlichkeitsverständnis lassen nur einen Schluss zu: Die Herstellung von
Jugendöffentlichkeiten in öffentlichen Räumen geschieht über das Handeln von Jugendlichen
sowie über die Reflexion und Bedeutungszuschreibung des Wahrgenommenen und Erlebten.
Diese drei Prozesse lassen sich mit dem Begriff der Aneignung zusammenfassen. Wie die
folgenden Ausführungen zeigen werden, meint Aneignung also mehr als nur die Nutzung
öffentlicher Räumen, sondern vor allem eine individuelle und subjektive Veränderung
räumlicher Bedingungen (Harms et al. 1985:59-62).
Aneignung nach Marx und Leontjew
Der Begriff „Aneignung betont eine für Kinder und Jugendliche typische
Entwicklungsdimension: ihr gut zu beobachtendes und besonders ausgeprägtes Verlangen,
sich ihre Lebenswelten zu erschliessen, deren Bedeutungen zu verstehen, sich Räume
anzueignen, eigene Sozial-Räume zu definieren, ihren Handlungsraum zu erweitern und
damit immer wieder neu in erweiterten und sich verändernden sozial-räumlichen Bezügen zu
agieren“ (Deinet et al. 2005:295). So fassen die beiden Autoren Deinet und Reutlinger ihr
Verständnis der sozialräumlichen Aneignung zusammen und machen damit – wenn auch nur
52
implizit – deutlich, dass der Begriff Klärung und definitorische Abgrenzung bedarf. Der
Aneignungsbegriff wurde von Karl Marx und Alexejew Leontjew entwickelt, die beide die
Entfremdung des Menschen von seiner Arbeit, der Natur und von seinen Mitmenschen als
das Grundproblem moderner Gesellschaften betrachten. Für die kindliche Entwicklung
bedeutet dies, dass die Welt, in welchen ein Kind hineingeboren wird, aufwächst und sich
entwickelt, eine bereits durch den Menschen geschaffene und veränderte Welt ist (Leontjew
1973:451). Deshalb kann das Kind keinen direkten Bezug zu den es umgebenden
Gegenständen herstellen und muss sich die in der Umwelt vergegenständlichten Bedeutungen
aktiv aneignen: Im „Prozess der Aneignung für das Kind oder den Jugendlichen [geht es nun
darum] ‚einen Gegenstand aus seiner Gewordenheit’ zu begreifen und sich die in den
Gegenständen verkörperten menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten anzueignen“
(Deinet et al. 2005:298). Dieser Vorstellung liegt ein Handlungsbegriff zu Grunde, welcher das
Heranwachsen von Kindern und Jugendlichen weniger als „biologische Adaption an
Umweltanforderungen“ (Harms et al. 1985:9-10) bzw. Resultat einer Prägung von aussen
betrachtet, sondern die psychische und soziale Entwicklung über die tätige
Auseinandersetzung mit der Umwelt befördert wird. Die kindliche und jugendliche
Entwicklung ist also weit mehr als nur biologische Veränderung oder passive Rezeption von
Aussenreizen, sondern beinhaltet in erster Linie die Entdeckung und Verarbeitung
gesellschaftlicher Verhältnisse sowie menschlicher Kultur und Symbole mittels der aktiven
Auseinandersetzung mit der Umwelt (vgl. Rolff et al. 1990:57, Reutlinger 2003:43). Aneignung
ist deshalb keine rein individuelle Angelegenheit, sondern spielt sich meist in sozialen
Interaktionen ab.
Sozialräumliche Aneignung
Sowie Marx als auch Leontjew setzen mit ihren Überlegungen zu einer entfremdeten Welt
und ihrer Aneignung in erster Linie bei der Arbeit als zentraler Lebensbereich an. Beide
konzentrieren sich auf die Frage, wie sich der Mensch mit der von ihm geschaffenen Umwelt
und Artefakten in Beziehung setzen kann. Aus dieser Perspektive ist der Raumbezug von
Aneignung, also beispielsweise die Aneignung von privaten oder öffentlichen Räumen,
zweitrangig. Obschon der Bezug zur die Kinder und Jugendliche umgebende Lebenswelt
insbesondere in Leontjews Arbeiten angelegt ist, klammert er in seinen Ausführungen die
Beziehung zwischen Aneignung und gesellschaftlicher Umwelt aus.
Wie sozialökologische Studien allerdings deutlich machen, findet insbesondere in der
Kindheit und im Jugendalter eine gegenseitige Beeinflussung von Sozialraum und Mensch
statt (vgl. Kap. 2.1.1.). Dementsprechend lautet die sozialräumliche These, „dass sich die
konkreten Verhältnisse der Gesellschaft, so wie sie Kinder und Jugendliche erleben, die nicht
am Produktionsprozess teilnehmen, vor allem räumlich vermitteln. (…) Der
Aneignungsprozess ist für Kinder und jüngere Jugendliche quasi eingebettet in den ‚Raum’
unserer Gesellschaft, in die konkreten durch die Strukturen der Gesellschaft geschaffenen,
räumlichen Gegebenheiten“ (Deinet 2009:4). Aus dieser Perspektive beziehen sich
Vergegenständlichung und Aneignung nicht nur auf gegenständliche Produkte menschlicher
Arbeit, sondern erweitern den Gegenstand der Aneignung auf die gesamte Lebenswelt der
Menschen: Soziale Beziehungen, gesellschaftliche Strukturen und historisch eingebettete
53
Kultur in ihrem materiellen Niederschlag in städtischen Räumen. So kann sozialräumliche
Aneignung auch als Entschlüsselung der in den Räumen eingelagerten gesellschaftlichen
Bedeutungen definiert werden (Deinet et al. 2005:296). Der sozialräumlichen Ausarbeitung
des Aneignungskonzept liegt folglich ein mehrdimensionales Verständnis von Raum zu
Grunde (s. Läpple in Kap. 3.1.2.1.): Neben der materiellen Dimension besteht der Raum auch
aus einer sozialen, normativen und symbolischen Dimension. Aus diesem Grunde ist auch die
Aneignung von Räumen immer sowohl physischer als auch sozialer, normativer wie
symbolischer Art (Braun 2004:24).
Ulrich Deinet hat in seinen zahlreichen Arbeiten zur sozialräumlichen Aneignung die
theoretische Grundlage des Begriffs geschaffen und fasst diese wie folgt zusammen:
„Gegenstandsbedeutungen finden ihre konkreten Zuweisungen in der Einbettung
in Räume; die Kategorie des Raumes spiegelt mit seinen Elementen auch die
Strukturen der Gesellschaft wieder. Gegenstandsbedeutung und Raumbezug
haben gerade für Kinder und Jugendliche direkten Verweisungscharakter. Weil
Räume, vor allem städtische Räume, nicht naturbelassen, sondern ganz und gar
vom Menschen bearbeitet, gestaltet, verändert und strukturiert sind, müssen sich
die Kinder und Jugendlichen diese Räume und die in ihnen enthaltenen
Bedeutungen genauso aneignen wie Gegenstände und Werkzeuge der
unmittelbaren Umgebung“ (Deinet 2009:3).
Die von Marx aufgestellte und von Leontjew auf die psychische Entwicklung von
Heranwachsenden angewandte Entfremdungsthese kann aber auch aus sozialräumlicher
Perspektive wieder aufgegriffen werden: „Der Entfremdungsthese entsprechend schafft der
Mensch auch Städte, Strassen und Parks, eine räumliche Welt ohne Seele, die entfremdet ist.
(…) die zunehmende Funktionalisierung der sozialen und räumlichen Bedingungen der Stadt
[bringt] die Entfremdung des Menschen von dieser ‚produzierten’ Welt mit sich“ (Reutlinger
2003:39). Die in der Einleitung ausgeführten Bedeutungen öffentlicher Räume für Jugendliche
können sich demnach erst über die Aneignung der entfremdeten Stadt verwirklichen.
Implizit wird mit der Entfremdungsthese auch das absolutistische Raumverständnis von
Stadt- und Raumplanern kritisiert (s. Kap. 3.1.2.1.), welche die Stadt als Behälter verstehen,
um sie mit funktionalen Bauten anzufüllen. Im Gegenzug dazu kritisiert Martina Löw, dass
auch die Rezipienten des Aneignungskonzeptes nicht auf die modernen Raumvorstellungen
eines sozial konstituierten und relationalen Raums Bezug nehmen: „Die Rede von der
Aneignung (…) arbeitet bezogen auf Raum mit der Vorstellung des jenseits menschlichen
Handelns existierenden Raums, der aktiv angeeignet werden kann. Raum wird also weder
prozesshaft noch als zu konstituierend gedacht, sondern vorausgesetzt“ (Löw 2001, 249). Löw
geht vielmehr davon aus, dass Marxs und Leontjews Grundgedanke der Entfremdung eine
Trennung zwischen dem Individuum und den ihn umgebenden Objekten inne wohnt und
dass bei der Übertragung des Aneignungskonzeptes auf sozialräumliche Fragen die Gefahr
gross ist, diese Gegenüberstellung in der Loslösung des Subjektes von seiner Umwelt zu
reproduzieren. Für die Aktualisierung des Konzeptes muss deshalb angenommen werden,
dass der Gegenstand sozialräumlicher Aneignung Sozialräume sind. Nach der Definition von
54
Becker et al. (1984a) konstituiert sich der Sozialraum durch konkrete Handlungen, durch
welche die vorhandenen sozialen Beziehungen und die vorgefundenen Raumstrukturen
miteinander verkoppelt werden. Sozialraum wird von handelnden Subjekten hervorgebracht,
ihre Interessen und Bedürfnisse formen in spezifischen Situationen und Kontexten immer
wieder Sozialräume unterschiedlicher Ausprägungen und Qualitäten. Deinets These ist es
nun, „dass der Aneignungsbegriff insofern aktualisiert werden kann, als er nach wie vor die
tätige Auseinandersetzung des Individuums mit seiner Umwelt meint und bezogen auf die
heutigen Raumveränderungen der Begriff dafür sein kann, wie Kinder und Jugendliche
eigentätig Räume schaffen (Spacing) und die (…) Räume ihrer Lebenswelt verbinden (…) und
sich nicht nur vorhandene gegenständlich [aneignen]“ (Deinet 2009:15-16). Für
Aneignungsprozesse in öffentlichen Räumen kann dies heissen, dass Jugendliche diese Räume
auch bewegen und für sich gestalten können, dass sie beispielsweise auch an den Zugängen zu
öffentlichen Plätzen oszillieren, also sich auf der Grenze zwischen dem draussen und drinnen
oder dem Privaten und Öffentlichen aufhalten (Deinet 2004:183-184). In diesem
Zusammenhang ist oft auch die Rede von einer temporären Aneignung öffentlicher Räume.
Frey beschreibt diese Form der Aneignung als ‚konkreter Urbanismus’ und versteht darunter
eine „Strategie, die darauf beruht die Aneignungsbarrieren in den öffentlichen Räumen zu
umgehen. (…) Es geht dabei nicht um Verhandlung oder Kommunikation mit sozialen
Akteuren, (…) sondern um eine meist temporäre Aneignung öffentlicher Räume, an denen
symbolisch eine Umwertung der Nutzungsmöglichkeiten stattfindet“ (Frey 2004:229). Solche
‚Provisorien’ öffentlicher Räume ermöglichen ein „Raumbesetzen und Raumergreifen“ (Frey
2004:230).
Auch Löws Erörterungen zu so genannten ‚gegenkulturellen Räumen’ können als eine
Erweiterung des Aneignungskonzepts verstanden werden: Damit sich Kinder und Jugendliche
ihre Handlungsfähigkeit erhalten können, muss es ihnen möglich sein, sich normativ geprägte
Räume so anzueignen, dass sie dessen Anpassungsdruck widerstehen und deren Begrenztheit
überwinden können (Deinet 2004:185). Halb-öffentliche Räume wie beispielsweise
Einkaufszentren oder öffentliche Schwimmbäder sind zwar für alle zugänglich, gleichzeitig
aber auch funktionalisiert und normiert. Jugendliche können solche Vorgaben durch
Bewegung und Kommunikation verändern, die Räume umfunktionalisieren und damit die
vorgesehene Funktion in Frage stellen. Hier knüpft Löw an die in Kapitel 3.1.2.2. erläuterten
Machtstrukturen im Raum an, wenn sie schreibt: „Dies zeigt, dass Räume sich widersprechen
und für Menschen unterschiedliche Geltung haben können, und zwar an denselben Orten,
oder noch zugespitzter: Es können auch im Spacing unterschiedliche Orte auf demselben
Grund und Boden entstehen. Über diese Differenz der Raumkonstruktionen werden
Machtverhältnisse ausgehandelt, gesellschaftliche Strukturen reproduziert oder verändert,
machtrelevante Ressourcen und symbolische Zuweisungen festgelegt“ (Löw 2001:245).
Der sozialräumliche Aneignungsbegriff unterscheidet sich in zwei weiteren Punkten vom
klassischen Aneignungskonzept: Erstens meint Aneignung sozialräumlicher Bezüge nicht
einfach das Imitieren und Erlernen menschlicher Fähigkeiten, wie dies Leontjew am Beispiel
der adäquaten Benutzung einer Tasse erläutert, sondern eine aktive Auseinandersetzung mit
der Umwelt, in welcher Kinder und Jugendliche auch gestalten und verändern können
(Harms et al. 1985:13). Zweitens kann demnach Aneignung im Raum nicht als
widerspruchsfrei definiert werden: Einerseits in der gestalterischen Kraft von
55
Aneignungsprozessen begründet, andererseits aufgrund der in den räumlichen Strukturen
immanenten gesellschaftlichen Machtverhältnissen meint Aneignung auch immer
„Auseinandersetzung zwischen verschiedenen und z.T. sich gegenseitig ausschliessenden
Interessen“ (Harms et al. 1985:23) sowie „immer auch Auseinandersetzung um Nutzung von
Raum“ (Harms et al. 1985:26). Weiter werden die städtischen Räume durch die kapitalistische
Warenproduktion und Distribution dominiert und durch ein kodifiziertes Normensystem
sowie Eigentumsverhältnisse stark verregelt, welche zusätzlich von Aufsichtspersonen, so
genannten ‚Raumwärtern’ (vgl. Becker et al 1984:90ff), durchgesetzt werden. Zur
Beschreibung dieser Umstände führt Reutlinger die Verregelungsthese ein: „Jedoch schreitet
die Kapitalisierung der Städte und damit zusammenhängend die Ausdehnung der Macht
einzelner Personen über Raumausschnitte fort, so dass die Städte bis ins Innerste hinein
institutionalisiert und verregelt sind. Von der Durchfunktionalisierung, Institutionalisierung
und Verregelung sind neben den sozialen auch die räumlichen Bedingungen, unter welchen
Kinder und Jugendliche aufwachsen, betroffen“ (Reutlinger 2003:69). Daraus schliesst
Reutlinger, dass Jugendliche neben angeeigneten Räumen auch Angstregionen oder
gemiedene Orte kennen, die sie zwar nicht aneignen können, aber dennoch in einem
emotionalen Bezug zu ihnen stehen33. Unter den geschilderten Umständen der Regulierung
gestaltet sich die Raumaneignung für Kinder und Jugendliche äusserst widersprüchlich, sie
pendelt zwischen Möglichkeit und Restriktion und ist deshalb stark von den vorgefundenen
Bedingungen abhängig: „Aneignungsprozesse als schöpferische Leistung, als Eigentätigkeit,
werden durch die realen Anforderungs- und Möglichkeitsstrukturen bestimmt und gerichtet.
Inwieweit Aneignung als Eigentätigkeit stattfinden kann, hängt wesentlich von den äußeren
Bedingungen und Anregungen ab“ (Deinet 2009:3).
Zwischenfazit VIII
Ganz allgemein gesprochen ist unter Aneignung das „Erschliessen, ‚Begreifen’, Verändern,
Umfunktionieren und Umwandeln der räumlichen und sozialen Umwelt“ (Deinet et al.
2005:195) zu verstehen. Folgt man den Prämissen der Raumsoziologie handelt es sich bei
Aneignung also immer um 1. eine aktive Handlung und konkrete Auseinandersetzung mit der
räumlichen Umgebung, die 2. selbst von den räumlichen Strukturen geprägt auch neue
Räume schafft und 3. als zeitlicher Prozess verstanden werden muss (vgl. Muri et al. 2009:79).
Die Empirie zeigt hingegen, dass die Sozialräume stark verregelt und durchfunktionalisiert
sind, was die Gestaltungskraft des Aneignungsprozesses auch Grenzen setzt. Ebenso ist die
Aneignung
öffentlicher
Räume
von
den
individuellen
Ressourcen
und
gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen abhängig (z.B. zunehmende Funktionalisierung der
öffentlichen Räume) (Becker et al. 1984a:3).
Dass viele Aneignungsforscher sich am Einzelsubjekt und Aneignung individualistisch
konzipieren, ist nach Sting ein Fehlschluss. Vielmehr stellen „gesellige Praktiken und
Gruppenbildungsprozesse (…) ein wesentliches Moment der entwicklungsbezogenen
Aneignung sozialer Realität dar“ (Sting 2004:141). Sting stellt die These auf, dass Aneignung
nicht nur in soziale Interaktionen, sondern vor allem auch in die gesellige Praxis eingebunden
ist. Damit mach Sting einen kleinen, aber feinen Unterschied zwischen dem sozialen und dem
33 Reutlinger knüpft dabei an die Vorstellung einer Verinselung jugendlicher Lebenswelten an (s. Kap. 2.1.1.).
56
kollektiven Element von Aneignung: Wie das relationale Raumverständnis vorgibt, kann
sozialräumliche Aneignung nur in der sozialen Interaktion mit andere Menschen vonstatten
gehen. Dass sich dieser Prozess zwischen Einzelpersonen abspielt, ist nach Sting jedoch eher
undenkbar; viel wahrscheinlicher ist es, dass Aneignung vor allem in der Auseinandersetzung
zwischen Gruppen stattfindet (Sting 2004:139-141). Harms et al. (1985) verweisen deshalb auf
die „Notwendigkeit, nicht nur das Verhältnis zwischen Kinder/Jugendlichen und städtischem
Raum zu untersuchen, sondern zugleich darzustellen, wie sich in diesem Verhältnis die
sozialen Verhältnisse der Kinder und Jugendlichen untereinander darstellen“ (Harms et al.
1985:28).
Vier für die Aneignung bedeutsame Gesichtspunkte sollen noch einmal betont werden:
Erstens meint Aneignung öffentlicher Räume mehr als nur deren Nutzung, sondern bezieht
sich ebenso auf die Wahrnehmung- und Bedeutungsprozesse von Jugendlichen. Diese drei
Aspekte der Aneignung durchdringen sich gegenseitig und formen ein subjektives und
individuelles Bild des Raumes. Zweitens heisst Aneignung auch immer die Umorganisation
und Veränderung der räumlichen Bedingungen. Dies impliziert, dass jugendliche Aneignung
öffentlicher Räume oft auch eine konfliktgeladene Angelegenheit darstellt (Zinnecker
1976:15). Drittens ist die jugendliche Aneignung durch die individuellen wie kollektiven
Bedürfnisse, Interessen und Orientierungen der Jugendlichen geprägt. Wie sich in der
alltäglichen Praxis öffentliche Räume aneignen lassen, hängt deshalb stark von den
Jugendlichen selbst ab (Weinert 2000:14). Schliesslich resultiert die Aneignung darin, dass
Jugendliche ein Verhältnis der Vertrautheit zum öffentlichen Raum herstellen und sich
handlungsfähig wahrnehmen (Becker et al. 1984a:3).
Vier Dimensionen von Aneignungsprozessen in öffentlichen Räumen
Zur weiteren Differenzierung von Aneignungsprozessen sollen vier Dimensionen
unterschieden werden, die sich zueinander in ganz unterschiedlichen Verhältnissen
präsentieren können.
Die physische Aneignung bezieht sich auf die Nutzung, Wahrnehmung und
Bedeutungszuschreibung von materiell-physischen Strukturen in öffentlichen Räumen. Sie
kann als die grundlegendste Form von Aneignung verstanden werden und hat vor allem für
jüngere Kinder eine zentrale Bedeutung. Bei der physischen Aneignung stehen vor allem die
sinnliche Wahrnehmung der eigenen Körperlichkeit und physischen Fähigkeiten im
Vordergrund sowie die Ausdehnung und das „Besitz-Ergreifen“ von Raum.
Während im Jugendalter die physische Aneignung eher zurücktritt gewinnt die soziale
Aneignung an Bedeutung. Hierunter ist die Nutzung, Wahrnehmung und
Bedeutungszuschreibung öffentlicher Räume in Bezug zur Kommunikation mit sowie
Zugehörigkeit zu anderen Menschen zu verstehen. Soziale Aneignung umfasst Handlungen
und Interaktionen in der Gruppe wie auch der Austausch mit der sozialen Umwelt.
Die symbolische Aneignung ist ebenso eine bedeutsame Dimension für Jugendliche in
öffentlichen Räumen: Sie handelt von der kreativen Gestaltung von Räumen, indem Spuren
oder Zeichen hinterlassen werden und die eigene Symbolik sichtbar gemacht wird. Da
Jugendliche aus der Gestaltung öffentliche Räume ausgeschlossen sind und es ihnen somit
nicht möglich ist, ihr Lebensstil beispielsweise in die räumlichen Strukturen eines öffentlichen
57
Raumes einzuschreiben (eine Ausnahme stellt das Graffiti-Sprayen dar), greifen sie auf
soziokulturelle Praktiken zurück, um öffentliche Räume mit ihren eigenen Bedeutungen zu
versehen. Dieser Vorstellung geht die Annahme voraus, dass die sich in öffentlichen Räumen
aufhaltenden Menschen Symbole in alltäglicher Form und Praxis hinterlassen, wie
beispielsweise über die Kleidung oder auffälliges Verhalten. Symbolische Aneignung ist in
erster Linie als Kommunikation (Symbole als Kommunikationsmittel) zu definieren, mit dem
Ziel, die eigene Lebenswelt zu thematisieren, eigene Individualitäten und Differenzen
auszudrücken sowie Anerkennung (wie Ablehnung) zu erfahren.
Die normative Aneignung schliesslich bezieht sich auf das normative Setting in der Form
von sozialen Normen und Regulierungsmechanismen in öffentlichen Räumen: Hier geht es
um den Umgang mit und die Transformation der in den öffentlichen Räumen eingelagerten
Normensystemen, die Entwicklung von Strategien, den Raum trotz Einschränkungen für sich
nutzbar zu machen oder dem Aushandeln über die Zugänglichkeit zu öffentlichen Räumen
(Werlen 2004:341-343).
3.4 Zusammenfassung und konkrete Fragestellungen
Bei der Herstellung von Jugendöffentlichkeiten handelt sich um eine Auseinandersetzung von
Jugendlichen mit ihrer Umwelt, konkret mit ihren Mitmenschen, und sie lässt sich in erster
Linie über die Kommunikation und Interaktion von Jugendlichen mit anderen sich im
öffentlichen Raum aufhaltenden Personen erfassen. Öffentliche Räume als EncounterÖffentlichkeiten (Gerhards et al. 1991) sind nicht politisch geprägt, sondern bilden den
Rahmen für eine soziokulturelle Verständigung (Klaus 1998) über repräsentatives Verhalten.
Öffentliche Räume ermöglichen einerseits Verständigung unter den Gesellschaftsmitgliedern
sowie Selbstvergewisserung des Individuums. Als Publikum (Goffman 1998) beobachten,
strukturieren und bewerten Jugendliche ihre Mitmenschen in der Öffentlichkeit, um dadurch
ihr eigenes Denken und Verhalten zu reflektieren. Hier handelt es sich um einen
Reflexionsprozess, bei welchen sich der oder die Jugendliche abgrenzt oder zustimmt und sich
somit in der gesellschaftlichen Struktur verortet. Ebenso können Jugendliche sich als
Schauspielende zu ihrer Umwelt in Bezug setzen, indem sie ihre eigene Lebenswelt
thematisieren, sich repräsentieren und dadurch am öffentlichen Geschehen partizipieren
Diese Kommunikationsprozesse können verschiedene Formen annehmen und lassen sich auf
einem Kontinuum zwischen gegenseitiger Anerkennung von Interessen, Bedürfnissen und
Erfahrungen auf der einen Seite und jugendlichem Protest und Konflikt über gegensätzliche
Interessen, Bedürfnisse und Erfahrungen auf der anderen Seite ansiedeln.
Jugendöffentlichkeiten müssen ebenso im Spiegel der in öffentlichen Räumen verorteten
Machtbeziehungen betrachtet werden. Jugendliche werden in öffentlichen Räumen mit
Normen und Symbolen konfrontiert und ihr Verhalten wird durch formelle und/oder soziale
Regulierungsmechanismen kontrolliert (vgl. Bourdieu 1997, Cresswell 1996, Klamt 2007,
Malone 2002, Sibley 1995). Einerseits sind Jugendliche dieser normativen Ordnung
öffentlicher Räume unterworfen, andererseits aber haben sie als aktive Nutzergruppe in
öffentlichen Räumen auch die Möglichkeit, darauf Einfluss zu nehmen (Holloway et al. 2001).
Es ist demnach davon auszugehen, dass die normativen Bedingungen eines öffentlichen
58
Raumes auf der einen Seite die ungleichen Beziehungen zwischen Jugendlichen und
Erwachsenen reproduzieren und auf der anderen einem steten Aushandlungs- und
Definitionsprozess, an welchem sich Jugendliche beteiligen können, unterliegen. Die
Raumpraxis Jugendlicher und damit auch der Herstellungsprozess von Jugendöffentlichkeiten
sind in Abhängigkeit der Machtverhältnisse in öffentlichen Räumen zu betrachten. Diese
eröffnen sich einerseits über Chancen und Restriktionen der Aneignung, andererseits
erfahren Jugendliche in öffentlichen Räumen Anerkennung und Ablehnung. Chancen und
Restriktionen, Anerkennung und Ablehnung werden über das normative Setting eines
öffentlichen Raumes vermittelt. Je nach Ausgestaltung dieser Ordnung konstituieren sich
Jugendöffentlichkeiten als anerkannte oder abgelehnte Öffentlichkeit.
Die theoretische Einbettung der Analysefrage bezieht sich einerseits auf ein
gesellschaftszentriertes Raumkonzept (Läpple 1991) und andererseits auf die sozialräumliche
Aneignung Jugendlicher (Deinet 2004; Deinet et al. 2005; Deinet 2009). Öffentliche Räume
stellen für die jugendlichen Aneignungsprozesse ein besonderes Setting dar: Einerseits weisen
sie bereits bestehende physische und materielle Bedingungen auf, die objektiv vorhanden sind,
subjektiven Sinn jedoch erst durch die räumliche Praxis erhalten. Andererseits verfügen
öffentliche Räume über in sie eingeschriebene Verhaltensmuster und Alltagspraktiken,
Erinnerungen, Erfahrungen und Lebensentwürfe sowie Kontroll- und Machtmechanismen,
welche sowohl die soziokulturellen Bedingungen für als auch das Aushandlungs- und
Transformationsprodukt von jugendlicher Raumpraxis darstellen (Läpple 1991). Unter
Aneignung öffentlicher Räume ist demnach die Nutzung, Gestaltung und Veränderung dieser
räumlichen Strukturen zu verstehen, bei welchem sich unterschiedliche Dimensionen von
Aneignung (physisch, sozial, symbolisch und normativ) überlappen und sich gegenseitig
ergänzen. Folglich besteht ein dialektisches Verhältnis zwischen dem Handeln von
Jugendlichen und den mit den öffentlichen Räumen verknüpften Dispositionen (vgl. Werlen
2004; Werlen 2007). Die Erforschung von Aneignung in öffentlichen Räumen erfordert
deshalb sowohl eine Fokussierung der einzelnen Aneignungsformen als auch eine
Verknüpfung derselben.
Dieses theoretische Vorwissen lässt sich in einem sensibilisierenden Konzept
zusammenfassen (siehe Abb. 3), an welches wiederum die folgenden Fragestellungen
ansetzen.
Fragestellung 1: Die Aneignungsfrage
Wie lassen sich die physische, soziale, normative und symbolische Aneignungspraxis von
Jugendlichen in öffentlichen Räumen beschreiben?
Welche Bezüge bestehen zwischen den unterschiedlichen Aneignungsdimensionen?
Fragestellung 2: Die Öffentlichkeitsfrage
Wie erfahren und reflektieren Jugendliche ihre Rolle als Schauspieler und Publikum in
öffentlichen Räumen?
Auf welche Art und Weise machen Jugendliche ihre Lebenswelt über ihre jugendspezifischen
Ausdrucksmittel in der Öffentlichkeit sichtbar?
59
Fragestellung 3: Die Machtfrage
Welche Aneignungschancen und -restriktionen erfahren Jugendliche in öffentlichen Räumen?
Welchen Umgang pflegen Jugendlichen mit den jeweiligen Regulierungsmechanismen und
wie erfahren und bewerten sie die in öffentlichen Räumen eingelagerten Normen?
Welche Formen von Anerkennung und Ablehnung erleben Jugendliche in öffentlichen
Räumen?
Im Gegensatz zu einer stadtplanerischen oder ökonomischen Perspektive, die öffentliche
Räume aus der ex-ante Sichtweise von Architekten Stadt- und Raumplanern betrachtet, will
die vorliegende Untersuchung die tatsächlich empirisch feststellbare Alltagsrealität
öffentlicher Räume erforschen und nähert sich dem Untersuchungsgegenstand deshalb aus
der ex-post Perspektive (Klamt 2007:71). Das dialektische Verhältnis von räumlicher
Strukturen und jugendlicher Raumpraxis wird somit aus einer handlungszentrierte
Perspektive erfasst, wie sie beispielsweise Werlen (2008) oder Lussault (2010) vorschlagen,
und deshalb steht die Raumpraxis von Jugendlichen in öffentlichen Räumen und deren
subjektive Wahrnehmung und Deutung im Zentrum der Untersuchung.
60
© (Jahr) Newsletter Lehrstuhl Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit Bd(Nr): S-S
Abbildung 3: Sensibilisierendes Konzept
Eigene Darstellung, in Anlehnung an Werlen (2008)
61
62
4
TANJA KLÖTI
Methodisches Vorgehen
4.1 Forschungsparadigma
Wie bereits mehrmalig erwähnt (vgl. Kap. 2.1.2. und 3.1.1.) verpflichtet sich die vorliegende
Forschungsarbeit einem handlungstheoretischen Ansatz, in dessen Mittelpunkt im Gegensatz
zu systemtheoretischen oder behavioristischen Theorien das Handeln und die
Handlungsmöglichkeiten von Individuen stehen. In Anlehnung an Michel de Certeaus (2002)
Verständnis von Sozialforschung interessiert in dieser Arbeit die Praxis des alltäglichen
Lebens, also was Menschen tun und wie sie es tun, und weniger die Gründe und
Konsequenzen ihres Handelns (de Certeau 2002:12). Die Methoden zur Untersuchung
jugendlicher Aneignungsprozesse in öffentlichen Räumen sollen deshalb so konzipiert sein,
dass sie die alltäglichen Routinen der Jugendlichen erfassen können.
Die vorliegende Arbeit orientiert sich weiter am interpretativen Paradigma der
Sozialforschung: Jugendliche sind kein auf ihre Umwelt reagierender, sondern ein
„handelnder und erkennender Organismus“ (Rosenthal 2005:15), der in der Interaktion mit
anderen die soziale Wirklichkeit erzeugt und interpretiert. Das soziale Phänomen der
Jugendöffentlichkeiten ist nicht durch kausale Gesetze bestimmt, sondern ergibt sich dadurch,
dass Jugendliche öffentlichen Räumen subjektive Bedeutung geben.
Das Ziel dieser Arbeit ist es, die Raumpraxis von Jugendlichen sowie ihre subjektive
Wahrnehmung und Bedeutungszuschreibung von öffentlichen Räumen zu untersuchen. Die
Herstellung von Jugendöffentlichkeiten setzt neben der Raumpraxis auch einen Prozess der
normbehafteten Bedeutungs- und Regelzuschreibung durch Jugendliche voraus: Jugendliche
nehmen öffentliche Räume auf subjektive Weise wahr und verarbeiten diese vor dem
Hintergrund ihrer biografischen und sozialen Erfahrungen. Auf der Basis dieser subjektiven
Wahrnehmung entwickeln die Jugendlichen individuelle und kollektive Vorstellungen über
die Bedeutung öffentlicher Räume für ihre ganz spezifische und alltägliche Lebenswelt.
Jugendliche Raumpraxis, subjektive Wahrnehmung und Bedeutungszuschreibung bilden drei
unterschiedliche Aspekte räumlichen Erlebens, wie es zahlreiche Raumtheoretiker
beschrieben haben. Soja (1998) beispielsweise bezieht sich auf Lefèbvres (1974) Arbeiten und
entwirft eine Trialektik der Räumlichkeit, welche sich auch in der Raumsoziologie von Löw
(2001) trotz begrifflicher Unterschiede wieder finden lässt. Löw unterschiedet zwischen a) der
Raumpraxis, also sich im Raum bewegen, ihn mit allen Sinnen wahrnehmen und aktiv
gestalten, b) der mentalen Synthese, sprich die Zusammenfassung von einzelnen materiellen,
sozialen und symbolischen Raumeindrücken zu einer abstrakten Konstruktion von Raum34
und c) der normbehafteten Bedeutungs- und Regelzuschreibung von Räumen, beispielsweise
wenn bestimmte Räume für Jugendliche einen sozialen Zweck erfüllen (Stiftung Wüstenrot
2009:12-13).
Wie das interpretative Paradigma geht auch die Trialektik der Räumlichkeit davon aus,
dass Menschen über bedeutsame Handlungen einen sinnhaften Bezug zu ihrer sozialen
34 Siehe Lynch (2008) sowie Weinert (2002).
62
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
Wirklichkeit herstellen und daraus ein Bedeutungssystem erarbeiten. Hier ist ein direkter
Bezug zu den aufgestellten Raumprämissen herzustellen: Wenn davon auszugehen ist, dass
öffentliche Räume nicht einfach nur geografische oder materielle Dinge, sondern sozial
produziert und mental konstruiert sind, ist es für das Verständnis von Jugendöffentlichkeiten
in öffentlichen Räumen unabdingbar, sowohl Handlungen als auch Bedeutungssysteme zu
untersuchen. Insbesondere die Bedeutungszuschreibung zu öffentlichen Räumen lassen sich
nur daraus ableiten, wie Jugendliche ihre Umwelt interpretieren: “The meaning of a place is
not inherent in its ‘objective’ or physical attributes but rather arises from interpretative
processes that occur in the interplay between person-to-place and person-to-person
interactions” (Morill et al. 2005:232). Innerhalb dieses interpretativen Prozesses setzen die
Jugendlichen ihre Umgebung, ihre sozialen Beziehungen, Normen und Symbole zu ihrer
eigenen Persönlichkeit in Bezug.
Um die subjektive Wahrnehmung und Bedeutungszuschreibung öffentlicher Räume von
Jugendlichen zu erfassen, bedarf es einen Herangehensweise, welche die Perspektive des
handelnden und denkenden Subjekts ins Zentrum rückt. Die vorliegende Arbeit orientiert
sich deshalb an den Prinzipien der qualitativen Sozialforschung, dessen Ziel die
„Rekonstruktion der Bedeutung sozialer Phänomene (…) und das Verstehen des Sinns von
Handlungen, Situationen, Symbolen und Kontexten“ (Weyers 2007:4) ist. Da die qualitative
Sozialforschung ein breites Spektrum von Forschungsmethoden und theoretischer
Hintergründe aufweist, lassen sich nur allgemeine Kennzeichen benennen, die für die meisten
qualitativen Arbeiten gelten (Steinke 1999:17-40):
 Um den subjektiven Sinn von Handlungen zu erforschen, orientiert sich die
qualitative Forschung am Alltagshandeln und –wissen der Untersuchten und sucht
deshalb die Nähe zur Lebenswelt der Subjekte.
 Für die qualitative Forschung gilt das Prinzip der Offenheit, das sich sowohl auf die
theoretische Vorarbeit als auch auf das methodische Vorgehen bezieht.
 Anstatt repräsentativer Stichproben untersuchen qualitative Studien eher Einzelfälle
oder geringe Fallzahlen.
 Der zu untersuchende Forschungsgegenstand ist ausschlaggebend dafür, welche
Methoden gewählt werden.
 Ausgangspunkt der Analyse sind Einzelfälle, von welchen aus auf allgemeine Aspekte
eines sozialen Phänomens geschlossen werden können. Diese Verallgemeinerung
(oder auch Theoriebildung) bedient sich entweder induktiver oder abduktiver
Verfahren.
 Die qualitative Forschung berücksichtigt den sozialen, kulturellen, situativen und
historischen Kontext sozialer Phänomene.
 Qualitative Forschung ist gekennzeichnet durch einen zirkulären Forschungsprozess,
in welchem Erhebung, Beschreibung, Analyse und Theoriebildung parallel zueinander
verlaufen.
 Die Reflexion des Forschungsprozesses nimmt einen wichtigen Stellenwert in der
Arbeit ein (vgl. Kapitel 4.6.).
63
64
TANJA KLÖTI
4.2 Forschungsdesign
Wie in der Zusammenfassung beschrieben stehen die unterschiedlichen Dimensionen des
Aneignungsprozesses in öffentlichen Räumen sowie die Erfahrungen der Jugendlichen im
öffentlichen Austausch im Vordergrund. Wie im Forschungsstand erörtert ist vor allem über
die Verknüpfung von unterschiedlichen Aneignungsdimensionen und ihren
Öffentlichkeitscharakter nur wenig bekannt. Deshalb eignet sich hier ein exploratives
Vorgehen, in welchem möglichst unterschiedliche Ausprägungen von Jugendöffentlichkeiten
erfasst werden können. Gerade das dialektische Verhältnis von räumlichen Strukturen und
der Raumpraxis Jugendlicher legt nahe, dass je nach Konstellation – und insbesondere je nach
Möglichkeiten und Restriktionen – eine Vielfalt von Aneignungsformen in der Realität
existiert.
Die Hauptdimensionen der Arbeit sind auf der einen Seite drei unterschiedliche
öffentliche Räume mit ihren spezifischen Charakteristiken und auf der anderen Seite die
unterschiedlichen Ausprägungen und Verknüpfungen von Aneignungsdimensionen.
Abbildung 4: Vergleichdimensionen
Quelle: Eigene Darstellung
Im Vordergrund der Arbeit steht die Erforschung der Raumpraxis von Jugendlichen in
unterschiedlichen öffentlichen Räumen (s. Kap. 5). Aufgrund theoretischer Überlegungen
und der lückenhaften Datenlage zu personenbezogenen Faktoren wird auf eine Analyse der
klassischen soziologischen Dimensionen Geschlecht, Alter und sozioökonomische Herkunft
verzichten.
64
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
Die vorliegende Forschungsarbeit ist sowohl dem interpretativen Paradigma auf der einen
Seite als auch einer handlungstheoretische Perspektive auf der anderen Seite verpflichtet.
Deshalb sollen sowohl die Handlungen als auch die Wahrnehmungsprozesse und
Bedeutungssysteme von Jugendlichen untersucht werden. Aus diesem Grund verbindet die
Datenerhebung zwei unterschiedliche Erhebungsmethoden miteinander und gliedert sich
somit in zwei Phasen:
 Phase I: Systematische Beobachtung von jugendlicher Raumpraxis in drei
ausgesuchten öffentlichen Räumen in Basel.
 Phase II: Gruppeninterview mit Jugendlichen zu den drei Fragestellungen Aneignung,
Öffentlichkeit und Macht.
4.3 Datenerhebung
4.3.1 Erhebungsphase 1: Systematische Beobachtung
Ethnomethodologie und Alltagshandeln
Dem generellen Forschungsinteresse dieser Arbeit liegt ein emanzipatives Verständnis von
Jugendlichen als autonom handelnde Subjekte zu Grunde. Zwar wird mit Löws (2001)
Konzeption des Raumes als Dualität darauf verwiesen, dass räumliche Strukturen auf das
Handeln von Jugendlichen einwirken können. Dennoch steht die Herstellung von
Jugendöffentlichkeiten durch die Jugendlichen im öffentlichen Raum im Vordergrund. Eine
solche Perspektive kann mit einem ethnomethodologischen Ansatz begründet werden.
Edward Garfinkel (2008), auf welchen die Ethnomethodologie zurückgeht, versteht „die
objektive Wirklichkeit sozialer Tatsachen als eine fortwährende Hervorbringung und Leistung
der gemeinsamen Tätigkeiten des Alltagslebens“ (Flick 2003:121) und stellt damit das
alltäglich praktische Handeln der Menschen ins Zentrum, durch welches soziale Wirklichkeit
„in jedem Moment und jeder Situation – ‚lokal’ – hervorgebracht wird“ (Flick 2002:122). Eine
zentrale These der Ethnomethodologie lautet demnach, „dass Akteure im Vollzug von
Handlungen zahlreiche Techniken und Verfahren einsetzen, um ebendiese Handlungen
darstellbar und erklärbar (…) zu machen, und dass sie auf diese Weise den
Wirklichkeitscharakter sozialer Tatsachen hervorbringen“ (Flick 2002:131). Dieses Theorem
kann folgendermassen für den Forschungsgegenstand gedeutet werden: Jugendliche
Handlungen in öffentlichen Räumen sind Darstellungen ihrer sozialer Wirklichkeit und
insbesondere ihr Aneignungsverhalten sagt etwas darüber aus, wie Jugendliche öffentliche
Räume für sich und andere deuten.
Erhebungsmethode: Systematische Beobachtung in öffentlichen Räumen
Aus ethnomethodologischer Perspektive erscheint es deshalb sinnvoll, das methodische
Vorgehen mit einer systematischen Beobachtung zu beginnen. Im Gegensatz zur
teilnehmenden Beobachtung weist diese Form der Beobachtungen den Vorteil der Reliabilität
auf, d.h. aufgrund der systematischen Planung und Durchführung sind die
65
66
TANJA KLÖTI
Beobachtungssituationen reproduzier- und damit auch vergleichbar. Dies ist insofern für die
vorliegende Arbeit von Bedeutung, als dass sich die Verhaltensweisen von Jugendlichen in
unterschiedlichen öffentlichen Räumen besser mit einer systematischen Beobachtung als mit
einer teilnehmenden Beobachtung vergleichen lassen.
Beer (2003) weist die systematische Beobachtung dem Fundus ethnologischer
Erhebungsmethoden zu und definiert sie folgendermassen: „Systematische Beobachtung ist
die an einer konkreten Fragestellung orientierte, vorher geplante und sorgfältig
dokumentierte Wahrnehmung mit allen Sinnen“ (Beer 2003:119). In diesem Verfahren hält
die Beobachterin Distanz zum beobachteten Geschehen, um eine Reaktivität der Beobachteten
möglichst zu vermeiden. Ein nicht-teilnehmendes Beobachten ist aber nur unter bestimmten
Voraussetzungen ethisch vertretbar; die Beobachtung in öffentlichen Räumen beschreibt
einen solchen Grenzfall, weil es erstens unmöglich wäre, die Zustimmung aller Anwesenden
einzuholen, und zweitens die sich in der Öffentlichkeit aufhaltenden Personen davon
ausgehen können, dass ihre Verhalten von andere beobachtet wird. Aus folgenden Gründen
ist eine nicht-teilnehmende Beobachtung im öffentlichen Raum sinnvoll (Beer 2003:126f):
 Weil zu erwarten ist, dass die Anwesenheit einer teilnehmenden Beobachterin die
Situation sowie das Verhalten der Jugendlichen stark beeinflussen würde.
 Weil insbesondere nonkonformes Verhalten eher über nicht-teilnehmende
Beobachtung erfassbar wird.
 Weil das Aneignungsverhalten sowie die Interaktionsformen explizit Gegenstand der
Untersuchung sind.
 Weil sich die Methode dazu eignet, der Forscherin zu Beginn der Erhebung einen
Gesamtüberblick über das Verhalten Jugendlicher in öffentlichen Räumen in Basel zu
verschaffen.
Ausgangspunkt einer systematischen Beobachtung sind die Festlegung von a)
Beobachtungseinheiten und b) Beobachtungskategorien (vgl. Beer 2003:133-135):
Bei den Beobachtungseinheiten handelt es sich um die Eingrenzung des räumlichen und
zeitlichen Ausschnitts sowie der zu beobachtenden Personen. Dabei soll sich die
Stichprobenauswahl (also wann und wie lange wer in welchem öffentlichen Raum beobachtet
werden soll) einerseits an einem Zufallsverfahren, andererseits aber auch an vorhandenen
Informationen über das Aufsuchen von öffentlichen Räumen durch Jugendliche orientieren
(s. Kap. 4.4.2.).
Die Beobachtungskategorien beschreiben zentrale Merkmale des zu beobachtenden
Verhaltens, die aufgrund der Forschungsfrage interessieren. Dabei können sowohl
quantitative als auch qualitative Daten aufgenommen werden. Für die Erhebung wurden die
unterschiedlichen Aneignungsdimensionen als Kategorien bestimmt.
Nach der Auswahl der Beobachtungseinheiten und der Festlegung der
Beobachtungskategorien soll zuerst beschreibend, anschliessend fokussiert und schliesslich
selektiv beobachtet werden (Flick 2002:202), bis eine theoretische Sättigung auftritt (s. Kap.
4.4.2.). Einen Überblick über die erste Erhebungsphase und ihre Inhalte ist in der Tabelle 2
ersichtlich.
66
© (Jahr) Newsletter Lehrstuhl Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit Bd(Nr): S-S
Tabelle 2: Systematische Beobachtung in öffentlichen Räumen
Gartenbad Bachgraben
Barfüsserplatz
Räumliche Ausschnitte:
Räumliche Ausschnitte:
Treppe vor der Barfüsserkirche
Eingang und Kiosk
Tramhaltestelle, inkl. Trottoir vor McDonalds
Im Schwimmbecken
Etc.
Etc.
Zeitliche Ausschnitte:
unter der Woche
Wochenende, (wo nötig, Unterscheidung zwischen Samstag und Sonntag)
nachmittags, abends
Beobachtungssequenzen dauern durchschnittlich 1 Stunde
Pro Raumausschnitt werden insgesamt mindestens 5 und maximal 10 Beobachtungen durchgeführt
Stichprobenauswahl
anwesende Jugendliche (nur Gruppen)
andere Nutzergruppen nur, wenn in Interaktion mit Jugendlichen involviert
Beobachtungskategorien
Beschreibende Beobachtung
Nach innen gerichtete Tätigkeiten der Jugendlichen
beschreiben (z.B. Nutzung von Raumelementen).
Nach aussen gerichtete Tätigkeiten der Jugendlichen
beschreiben (z.B. Interaktionen mit anderen Anwesenden).
Atmosphäre eines öffentlichen Raumes beschreiben.
Anzahl und Zusammensetzung der anwesenden
Jugendlichen und ihre Tätigkeiten beschreiben.
Beschreibung des physisch-materiellen Substrats,, des
Fokussierte Beobachtung
Tätigkeiten fokussieren, die auf eine Aneignung von
Raumelementen abzielen.
Tätigkeiten fokussieren, die auf eine Veränderung der
Regulierungsmechanismen abzielen (normative
Aneignung).
Verhalten fokussieren, welches jugendliche
Selbstdarstellung und Repräsentation beschreibt
(symbolische Aneignung)
Umgangsformen innerhalb der Gruppe fokussieren.
Atmosphärische Elemente fokussieren, die für Jugendliche
von Relevanz sind.
Elemente der räumlichen Strukturen fokussieren, die für
Jugendliche von Relevanz sind.
67
Dreirosenanlage
Räumliche Ausschnitte
Abschnitt mit Spielgeräten
Treppe vor dem Jugendtreffpunkt
Etc.
Selektive Beobachtung
Bspw. bestimmte Situationen, bestimmte räumliche oder
zeitliche Ausschnitte, bestimmte Tätigkeiten, etc.
Bspw. bestimmte räumliche Elemente, spezifische regulative
Mechanismen, etc.
68
TANJA KLÖTI
Handlungs- und Interaktionssystems, der
Regulierungsmechanismen sowie von Symbolsystemen
Regulierungsmechanismen fokussieren, die für Jugendliche
von Relevanz sind.
Symbole und Zeichen fokussieren, die für Jugendliche von
Relevanz sind.
68
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
4.3.2 Erhebungsphase 2: Gruppeninterview
Konstruktivismus und Erzählung
Die oben erörterten Ausführungen zu Raumverständnis und Öffentlichkeit legen eine
konstruktivistische Methodologie nahe. Vertreter des Konstruktivismus gehen davon aus,
dass die äussere Realität nicht unmittelbar, sondern nur über aktive Wahrnehmungen und
Begriffe zugänglich ist (Flick 2003:152f). Mit der raumsoziologischen Konzeption von Raum
als relational, dual und sozial produziert wird genau auf dieses konstruktivistische Moment
sozialer Wirklichkeit verwiesen. Öffentliche Räume sind aus dieser Perspektive keine
objektiven Realitäten, sondern Konstruktionen, „das heisst einen Verband von Abstraktionen,
Generalisierungen, Formalisierungen und Idealisierungen“ (Schütz 1971:5). Derartige
Konstruktionen werden gemäss dem sozialen Konstruktivismus in interaktiven Prozessen
hervorgebracht, in erster Linie über die Kommunikation in sozialen Beziehungen. Der
Zugang zur Erfahrungswelt von Jugendlichen in öffentlichen Räumen kann über ihre
Konstruktionen vom öffentlichen Raum und Öffentlichkeit mittels Interviews sowie über die
Interpretation dieser Konstruktionen mittels qualitativer Analyse erfolgen (Flick 2003:154f).
Der sozialwissenschaftliche Zugang zu sozialen Konstruktionen verläuft über die
Erzählung. Sie umfasst eine „Darstellung von Erfahrungen, die (…) zu diesem Zweck – im
Interview – in Form einer Erzählung konstruiert werden“ (Flick 2003:162). Auf der anderen
Seite stellt die Erzählung einen Rahmen dar, „in dem die Erfahrungen eingeordnet, dargestellt,
bewertet etc. – kurz: in dem sie erlebt werden“ (Flick 2003:162).
Erhebungsmethode: Episodisches Interview mit themenzentriertem Leitfaden
Die zweite Erhebungsphase besteht aus der Durchführung von teilstandardisierten Interviews
mit offenen Fragen zu bestimmten Themen. Dieses Vorgehen, welches zwischen einem
offenen und standardisierten Verfahren anzusiedeln ist, begründet sich durch die relativ
konkreten Fragestellungen auf der einen Seite und durch das auf Exploration ausgerichtete
Forschungsinteresse auf der anderen. Es wird in der Form eines Gruppeninterviews
durchgeführt.
Gruppendiskussion
Die Begründung für die Wahl eines Gruppen- statt eines EInzelverfahrens liegt in den
besonderen Merkmalen des Diskutierens begründet: „Diskutieren wird methodologisch als
valide Handlung erachtet, bei der durch den argumentativen Austausch von Begründungen
und Bewertungen die Klärung eines Sachverhalts angestrebt wird, d.h. Diskutieren ist exklusiv
das Verfahren zur Erweiterung und Klärung von individuellen Sinnperspektiven in der
Auffassung von Realität“ (Flick et al. 1995:187). Weil die Beteiligten allesamt von einem
‚Problem’ betroffen sind, im vorliegenden Fall also vor der Aufgabe stehen,
Jugendöffentlichkeiten in öffentlichen Räumen herzustellen, teilen die Beteiligten auch einen
vergleichbaren Erfahrungshintergrund und gemeinsame Bedürfnisse. Gegenstand der
Forschung durch ein Gruppenverfahren ist demnach die Erfassung der jugendspezifischen
Wirklichkeit.
69
Episodisches Interview
Eine mögliche Methode zur Erhebung der Forschungsfragen stellt das episodische Interview
dar. Diese Interviewform kombiniert einerseits Erzählungen zu bestimmten Themen
(episodisches Wissen) mit verallgemeinerten Annahmen und Zusammenhängen zu denselben
Themen (semantisches Wissen). „Das episodische Interview gibt Raum für kontextbezogene
Darstellungen in Form von Erzählungen, da diese einerseits (…) Erfahrungen und ihren
Entstehungskontext unmittelbar enthalten [und andererseits] die Prozesse der
Wirklichkeitskonstruktion bei den Befragten“ (Flick 2002:159) verdeutlichen. Um zu erheben,
wie sich Jugendliche öffentliche Räume aneignen und wie sie den öffentlichen Austausch
erfahren, sollen sie im Interview immer wieder dazu aufgefordert werden, für sie bedeutsame
Situationen im öffentlichen Raum zu erzählen, und nach ihren subjektiven Definitionen und
abstrakten Zusammenhängen zum Thema Jugendöffentlichkeit befragt werden (Flick
2002:160f).35
Themenzentrierter Leitfaden
Die Durchführung narrativer Verfahren in Gruppen, wie es das episodische Interview
darstellt, kann jedoch schwierig werden: Es scheint eher unwahrscheinlich, dass jedes einzelne
Gruppenmitglied der Geschichte der anderen bis zum Ende lauschen will, vielmehr ist zu
erwarten, dass die Jugendlichen sich gegenseitig unterbrechen, ergänzen oder widersprechen.
Schnell ähnelt eine solche Form der Befragung dann einem Gruppendiskussionsverfahren, das
seine
Berechtigung
eben
gerade
aus
der
gegenseitigen
Ergänzung
der
Diskussionsteilnehmenden nimmt (Flick et al. 1995:187). Um den Gesprächsverlauf entlang
von bestimmten Themen leiten zu können, bietet es sich an, die Gruppendiskussion in der
Form eines themenzentrierten Interviews zu konzipieren. Im Zentrum dieser
Interviewgattung steht der Fokus auf einen vorab bestimmten Gesprächsgegenstand und
seinen Unterthemen. In diesem Fall knüpfen alle Fragen an den in der Befragung relevanten
öffentlichen Raum an und konzentrieren sich nur auf diejenigen Vorstellungen, Meinungen
und Erlebnisse, die sich konkret auf diesen beziehen.
Leitfadenkonstruktion
Am Anfang des Interviews steht eine sehr offene Einstiegsfrage, die unabhängig von
konkreten Aneignungsdimensionen und –erfahrungen gestellt wird und darauf abzielt, die
Bedeutung des öffentlichen Raumes für die spezifische Lebenswelt der Jugendlichen zu
erfassen. Dieser offene Einstieg ermöglicht einerseits das Aufdecken der wichtigsten Themen,
die mit dem öffentlichen Raum in Beziehung stehen, sowie einen ersten gegenseitigen
Abgleich in der Gruppe zur Bedeutsamkeit des Gesprächsgegenstand.
Der Leitfaden ist im Anschluss in drei Teile gegliedert, die sich auf die wichtigsten
Aneignungsdimensionen beziehen und jeweils mit einer interaktiven Aufgabe verbunden
sind:
35 Für weitere Ausführungen zum episodischen Interview vgl. Flick 2008:28ff.
70
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
Der erste Teil widmet sich der physischen und sozialen Dimension von Aneignung. Bei
der Aufgabe handelt es sich um eine abgeänderte Form der Nadelmethode (Deinet et al.
2009), bei welcher die Jugendlichen zuerst positive und negative Orte auf einem Plan des
öffentlichen Raumes markieren und im Anschluss typische Tätigkeiten mit Hilfe
unterschiedlich farbiger Kleber darauf eintragen (siehe Daten-CD). Diese Aufgabe wird in
jedem Gruppeninterview durchgeführt, weil sie einen breiten Einstieg ins Thema ermöglicht
und sich gut mit narrativen Elementen verknüpfen lässt. Beispielsweise wird im Anschluss an
die Aufgabe nach dem schönsten bzw. schlimmsten Erlebnis gefragt, das die Jugendlichen mit
dem bestreffenden öffentlichen Raum in Verbindung bringen.
Der zweite Teil des Gruppeninterviews konzentriert sich auf die Wahrnehmung und das
Erleben von institutionalisierten und normativen Regelungen im öffentlichen Raum. In
mehreren Schritten werden die Jugendlichen zu existierenden Regeln und Verhaltensnormen,
zur Bewertung und zum Umgang mit diesen Regulierungen sowie zu Möglichkeiten ihrer
Transformationen befragt. In diesem Teil können Formen normativer Aneignung, aber auch
Chancen und Restriktionen für alle anderen Aneignungsdimensionen erfasst werden.
In einem dritten Teil steht die Repräsentation der Jugendlichen im öffentlichen Raum im
Vordergrund. Hier werden die Jugendlichen gebeten, mit einer Digitalkamera selbst Fotos zu
machen, die erzählen, in welcher Beziehung sie zum öffentlichen Raum stehen. „Die Auswahl
dessen, was tatsächlich fotografiert wird, trifft dabei nicht der Forscher, sondern das Subjekt,
wobei sich aus dem, was darauf ausgewählt und aufgenommen wird, bereits Aussagen über
die Sicht der Untersuchten auf ihren eigenen Alltag ableiten lassen“ (Flick 2002:224). Mit
dieser Aufgabe wird vor allem auf die symbolische Aneignung, aber auch auf Erfahrungen von
Anerkennung und Ablehnung im öffentlichen Raum fokussiert.
Die Aufgaben orientieren sich an folgenden Kriterien:
 Jede Aufgabe ist in sich abgeschlossen und ermöglicht so, das Gruppeninterview falls
nötig und zu gegebener Zeit zu unterbrechen. Dies ist aufgrund der spontanen
Ansprache der Jugendlichen und ihrem unvorhersehbarem Zeitbudget wichtig.
 Die Aufgaben sind als Gruppenaufgaben konzipiert und regen Diskussionen und
Zusammenarbeit unter den Jugendlichen an. Dies ist ein zentrales Element des
Gruppeninterviews.
 In den einzelnen Aufgaben sind narrative Fragestellungen enthalten, die von den
Jugendlichen verlangen, eine zum Thema passende Geschichte zu erzählen.
Gleichzeitig sollen während der Gruppendiskussion Hinweise auf mögliche
Erzählungen aufgegriffen und wenn möglich vertieft werden. Erzählungen müssen
nicht zwingend von herausragenden Ereignissen handeln, Beschreibungen von
alltäglichen Situationen gelten ebenso als wertvolle Einblicke in die subjektiven
Erfahrungen der Jugendlichen.
Die Aufgabenstellungen sollen offen und einfach formuliert werden. Der Lösungsprozess
wird bestenfalls nicht von der Interviewerin beeinflusst, damit das Ergebnis das subjektive
Verständnis so authentisch wie möglich wiedergibt. Die Interviewerin greift jedoch lenkend in
71
den Prozess ein, wenn Unsicherheiten oder Missverständnisse bzgl. der Aufgabenstellung
auftreten oder die Gruppe Schwierigkeiten hat, selbstständig die Aufgabe zu lösen.
In jedem der drei Interviewteile werden zusätzliche Fragen gestellt, die einerseits im Bezug
zur Aufgabenlösung stehen und andererseits aber auch über die Aufgabe hinaus auf weitere
themenrelevante Aspekte verweisen. Dabei wird Bohnsacks Prinzip des immanenten
Nachfragens angewandt, die darauf abzielt, im ersten Moment unbewusste Inhalte durch
gezieltes Nachfragen aufzudecken (Bohnsack 2008:210). Gemäss dem Prinzip der Offenheit
und Flexibilität können diese zusätzlichen Fragen in jeglicher Reihenfolge in das
Gruppeninterview eingeführt werden. Es ist anzustreben, den Gesprächsfluss der
Jugendlichen nicht zu unterbrechen und den Diskussionsverlauf zurückhaltend zu lenken.
Ziel ist es aber, dass alle zusätzlichen Fragen einer Aufgabe beantwortet werden können.
Am Ende des Interviews werden die Jugendlichen gebeten, einige persönliche Angaben
(Geschlecht, Alter, Wohnquartier, Angaben zu Schule/Ausbildung/Lehre, Angaben zu den
Eltern) in ein Formular einzutragen. Diese Daten ermöglichen zumindest teilweise einen
Einblick in ihren sozialen Hintergrund. Die Jugendlichen erhalten ausserdem ein
Begleitschreiben der Forscherin, welches Informationen und Kontaktdaten für die
Erziehungsberechtigten enthält.
4.4 Stichprobenverfahren
4.4.1 Auswahl der Untersuchungsgebiete
Die Auswahl der Untersuchungsgebiete basiert auf der nicht veröffentlichten Studie zu
Erarbeitung einer Nutzungstypologie öffentlicher Räume in der Stadt Basel (HSLU:2010). In
dieser von der Hochschule Luzern für Soziale Arbeit durchgeführten Untersuchung wurden
über 100 öffentliche Plätze und Strassen in der Stadt zum Teil bis zu 24 Stunden beobachtet
und darauf basierend katalogisiert. Ziel dieser Studie war es, die wichtigsten Nutzungen und
Nutzergruppen der städtischen Räume im Tagesverlauf zu erfassen und damit die Grundlage
für „die Diskussion über eine Nutzungstypologie des öffentlichen Raums“ (HSLU 2010:5) zu
schaffen. Es handelt sich bei der Untersuchung um eine Annäherung an eine Totalerhebung
aller öffentlicher Räume in der Stadt; in die Untersuchung nicht eingeschlossen sind jedoch
öffentlich zugängliche Räume in Privateigentum (zum Beispiel Innenräume von
Einkaufszentren), reine Verkehrsflächen sowie Räume, die voraussichtlich starken
Veränderungen unterworfen sein werden (HSLU 2010:5).36
Für die vorliegende Forschungsarbeit sind entsprechend dem Kapitel 3.1.2.1. für die
Auswahl und Beschreibung der Untersuchungsgebiete die Kriterien Funktion, Nutzung,
Interaktion und Regulierungsgrad eines öffentlichen Raums von Bedeutung. Diese
36 Gemäss der Allmendverwaltung ist die Studie insbesondere aufgrund des nicht standardisierten
Auswahlverfahren (selektive Stichprobe, Erhebungen nur im Sommer, etc.) einigen Einschränkungen
unterworfen. Dementsprechend ist eine direkte Übertragung der Ergebnisse auf die Realität nur begrenzt
möglich.
72
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
Unterscheidungsmerkmale finden sich in ähnlicher Form auch in der zuvor erwähnten Studie
zur Nutzungstypologie öffentlicher Räume der Stadt Basel wieder:
 Nutzungsdichte: Die Studie unterscheidet öffentliche Räume, welche rege genutzt
werden und sich deren Zusammensetzung von Nutzenden und Nutzungsformen im
Tagesverlauf verändern (Kat. A), von solchen öffentlichen Räumen, die eher
einheitlich und weniger dicht genutzt werden (Kat. B / Kat. C). Für die vorliegende
Arbeit interessieren dementsprechend nur öffentliche Räume der Kategorie A, weil in
dicht genutzten Räumen Begegnungen zwischen Nutzenden häufiger auftreten und
damit auch der Öffentlichkeitscharakter stärker vorhanden ist.
 Funktionale Raumkategorien: Aufbauend auf der Beobachtung verschiedener
Nutzungsformen (z.B. Sport/Spiel, Treffpunkt oder öffentliche Verpflegung) wird in
der Studie auf der Basis einer Clusterbildung eine funktionale Kategorisierung der
öffentliche Räume vorgenommen, die elf Funktionen öffentlicher Räume beschreiben.
Dabei können einem öffentlichen Raum bis zu drei Funktionen zugeordnet werden.
Weil in der vorliegenden Forschungsarbeit eher multifunktionale Räume von Interesse
sind, werden im weiteren Auswahlverfahren nur diejenigen Räume berücksichtigt, die
mindestens zwei verschiedene Funktionen erfüllen. Multifunktionale Räume bieten im
Gegensatz zu monofunktionalen Räumen die grössere Chance, dass sich verschiedene
Personen zu unterschiedlichen Zwecken gleichzeitig dort aufhalten. Multifunktionale
Räume sind dementsprechend von grösserer Diversität geprägt, was für die
Auseinandersetzung von Jugendlichen mit der Erwachsenenwelt eine zentrale
Voraussetzung ist.
 Nutzerkategorien: In der Untersuchung werden die Nutzenden nach ihrem Alter
differenziert und es werden fünf Altersgruppen gebildet: Kinder (0-12), Jugendliche
(13-18), junge Erwachsene (19-29), Erwachsene (30-64) und Seniorinnen und
Senioren (ab 65). Bei den Beobachtungen wurde erhoben, wie sich die Nutzenden auf
die entsprechenden Alterskategorien verteilen und so kann auch abgelesen werden, an
welchen öffentlichen Räumen sich welche Altergruppen wie stark vermischen. Aus
dem bereits reduzierten Sample (Kat. A, multifunktionale Räume) werden für die
vorliegende Arbeit nur öffentliche Räume berücksichtigt, in denen sich erstens
überhaupt Jugendliche in namhafter Anzahl aufhalten, zweitens mindestens drei
Altersgruppen zum beobachteten Tagesabschnitt aufeinander treffen und drittens
diese Altersgruppen ungefähr gleich stark vertreten sind. Diese Auswahl widerspiegelt
öffentliche Räume, die eine tendenziell starke Durchmischung der Altersgruppen
aufweisen, was eine Grundbedingung für Öffentlichkeit in öffentlichen Räumen
darstellt.
Durch das beschriebene Verfahren konnte die Grundgesamtheit aller öffentlichen Räume
der Stadt Basel auf eine Stichprobe von zwölf städtischen Räumen reduziert werden, die
folgende Merkmale aufweisen:
 dichte Nutzung, die sich im Tagesverlauf verändert
 multifunktionale Ausrichtung
 Nutzung von Jugendlichen existent
73

Nutzung durch mindestens drei Altersgruppen sowie ungefähre Gleichverteilung
derselben
Diese Stichprobe widerspiegelt demnach öffentliche Räume, welche durch ihre baulichen
und sozialen Strukturen verschiedene Nutzungsmöglichkeiten zulassen, in welchen viele
Menschen unterschiedlichen Alters aufeinander treffen, ohne dass eine der Altersgruppen
dominant auftritt, und welche demnach einen starken Öffentlichkeitscharakter aufweisen.
Die engere Auswahl aus der Stichprobe unterliegt in erster Linie forschungspragmatischen
Überlegungen: Aufgrund begrenzter Ressourcen können nicht alle zwölf öffentliche Räume
untersucht werden, für die vorliegende Arbeit werden drei unterschiedliche Räume für die
Untersuchung ausgewählt. Bei diesen drei Untersuchungsgebieten soll es sich um drei
möglichst unterschiedliche Räume handeln, was sich aufgrund der explorativen Ausrichtung
der Forschungsarbeit anbietet. Aus diesen Gründen werden folgende drei öffentliche Räume
zur Untersuchung der Forschungsfrage ausgewählt:
 Barfüsserplatz (Grossbasel, Innenstadt)
 Dreirosenanlage (Kleinbasel, quartierbezogen)
 Schwimmbad Bachgraben (Grossbasel, Peripherie)37
Während es sich beim Barfüsserplatz um einen öffentlichen Raum von gesamtstädtischer
Bedeutung handelt, sind die beiden anderen Räume auf der Stadtteilebene anzusiedeln.
Öffentliche Räume auf gesamtstädtischer Ebene zeichnen sich durch eine zentrale Lage und
gesamtstädtische Bedeutung aus und werden vor allem von Personen genutzt, die entweder in
den anliegenden Gebäuden arbeiten (oder zur Schule gehen), bestimmte dem öffentlichen
Raum angrenzende Angebote nutzen (z.B. Museum) oder die Symbolkraft und Vielfalt des
öffentlichen Raumes für eigene Ziele verwerten (z.B. politische Kundgebungen) (Spiegel
2003:179). Demgegenüber werden öffentliche Räume auf Quartiersebene in erster Linie von
Personen aus dem Einzugsbereich des Stadtteiles genutzt und sind sowohl von
Wohngebäuden als auch von Einrichtungen des mittelfristigen Bedarfs (z.B. Einkaufen)
eingegrenzt (Spiegel 2003:180).
Im Folgenden werden die objektiven räumlichen Strukturen der drei öffentlichen Räume38
in Tabelle 3 beschrieben.
Tabelle 3: Beschreibung der räumlichen Strukturen der Untersuchungsgebiete
Barfüsserplatz
Physisch-materielles Substrat: Der Barfüsserplatz
befindet sich nahe der Grossbasler Altstadt und ist
zentral gelegen. Seine physische Erscheinung ist
einerseits durch zwei Tramhaltestellen geprägt (eine in
Institutionalisierte Regulierungsmechanismen: Die
stärkste Regulierung auf dem Barfüsserplatz geht von
der Verkehrsordnung (bzw. –verhalten) aus. Auch
wenn der Barfüsserplatz einer Fussgängerzone gleicht,
37 Schwimmbäder sind keine öffentlichen Räume im klassischen Sinne und wurden auch nicht in die Studie zur
Nutzungstypologie öffentlicher Räume der Stadt Basel miteinbezogen. Für die Forschungsfrage sind sie hingegen
interessant, weil sie einer stärkeren Regulation unterworfen sind und damit das normative Setting öffentlicher
Räume prägnanter zum Ausdruck bringen.
38 Hier handelt es sich nicht um Daten einer systematischen Erhebung im engeren Sinne, sondern vielmehr um
eine Kurzbeschreibung des öffentlichen Raumes. Dabei orientiert sich die Autorin an den Objektblättern der
unveröffentlichten Studie „Nutzungstypologie öffentlicher Raum Basel“ der HSLU für den Barfüsserplatz
(2010b) und die Dreirosenanlage (2010c) sowie an den eigenen Beobachtungen.
74
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
der Mitte des Platzes, eine am südwestlichen Rand).
Die zentrale Tramhaltestelle ist als grosse Traminsel
konzipiert und von Strassen umgeben, an die
wiederum Bauten angrenzen. Andererseits stellt der
gepflasterte Hauptplatz im Nordosten des Geländes
gemeinsam mit der Barfüsserkirche ein markantes
Charakteristikum des Barfüsser-platzes dar. Dieser
grenzt sich durch mehrere Treppenabschnitte sowohl
unten von der Strasse als auch oben von der Kirche ab.
Gesellschaftliche Interaktions- und
Handlungsstrukturen: Gemäss der HSLU-Studie
(2010b) wird der Barfüsserplatz von allen
Altersgruppen (Jugendliche, junge Erwachsene,
Erwachsene und Senioren/innen) ausser Kindern
regelmässig und zu fast allen Wochentagen sowie
Tageszeiten genutzt. Die alltäglichen Nutzungen sind
in erster Linie die Benutzung des Barfüsserplatzes als
Transitort, sowie zum Einkauf bzw. zur Verpflegung;
weiter wird er auch zum Verweilen und Flanieren
aufgesucht. Je nach Zeitpunkt wird der Barfüsserplatz
auch für den Besuch kultureller Veranstaltungen
(Fasnacht, Musikfestivals, Herbstmesse, Märkte, etc.)
und als Treffpunkt frequentiert (HSLU 2010b).
hat das Tram in allen Situationen das Vortrittsrecht.
Daneben ist der rollende Verkehr auf den Strassen
stark eingeschränkt; gerade während Veranstaltungen
aber auch im Alltag wird besondere Rücksicht auf
Fussgänger genommen. Ein weiterer
Regulierungsmechanismus geht von der städtischen
Polizei aus, die regelmässig auf dem Barfüsserplatz
Kontrollfahrten vornimmt.
Räumliche Zeichen-, Symbol- und
Repräsentationssystem: Der Barfüsserplatz ist zu über
50% von Verkaufs- und Gastrogewerbe umgeben; 30%
der Randbebauung kann zusätzlich als
Aussenwirtschaft (Gastro) bezeichnet werden (HSLU
2010b). Dementsprechend ist das Konsumleben
prägend für die Atmosphäre des Barfüsserplatzes, was
sich auch in der relativ hohen Dichte an
Werbeplakaten ausdrückt. Mehrere Bauten zur
kulturellen Nutzung (Historisches Museum in der
Barfüsserkirche, Puppenhausmuseum, Stadtcasino,
etc.) sowie die zahlreichen soziokulturellen
Veranstaltungen zeichnen den Barfüsserplatz des
Weiteren als kulturellen Hotspot aus.
Gartenbad Bachgraben
Physisch-materielles Substrat: Das Gartenbad ähnelt
einem gewöhnlichen Gartenbad wie es sie auch in
anderen Städten der Schweiz gibt, obschon es sich
durch seine enorme Grösse von 51’431m2 von anderen
Freibädern abhebt: Die Infrastruktur des Bades besteht
aus einem 50m Schwimmerbecken mit einer
Sprungbrettanlage (1 und 3 Meter), einem
Nichtschwimmerbecken mit einer Flächenrutschbahn
sowie einem Kinder- und Babybecken. Weiter verfügt
das Bad über mehrere Grünflächen mit grossen
Bäumen, einem Beachvolleyballfeld sowie einem
Spielplatz (http://www.badiinfo.ch/bs/bachgraben.html).
Institutionalisierte Regulierungsmechanismen: Die
Regulierungsmechanismen beruhen auf der kantonalen
Verordnung für öffentliche Bäder vom 13.12.1994,
welches den Zugang zu sowie das Verhalten im Freibad
regelt (sie ist im Eingangsbereich ausgehängt). Diese
Verordnung verbietet beispielsweise das Betreten des
Freibades in betrunkenem oder betäubtem Zustand
sowie bei mangelnder Körperpflege. Weiter ist die
Benutzung von Musikinstrumenten, Lautsprechern
und lärmigen Instrumenten sowie das Ballspielen in
den nicht dafür vorgesehenen Zonen verboten. Die
Verordnung sieht vor, dass Besucher, die sich nicht an
die Regelung halten, aus dem Bad verwiesen werden
können. Abgesehen von der kantonalen Verordnung
ist das Shisha-Rauchen in der Anstalt untersagt, ein
entsprechender Hinweis ist gross im Eingangsbereich
angeschlagen. Schliesslich befinden sich innerhalb des
Geländes mehrere Hinweisschilder, die beispielsweise
einen bestimmten Liegebereich als expliziten
Ruhebereich ausweisen oder den Badegästen das
Springen ins Wasser verbietet. An einem
Beobachtungstag wurden die Besucher per
Lautsprecherdurchsage darauf hingewiesen, sich vor
dem Baden zu duschen. Im Generellen sind die
anwesenden ein bis zwei Bademeister für die
Durchsetzung insbesondere der Sicherheitsregeln
zuständig. Während Hauptfrequenzzeiten werden sie
75
Gesellschaftliche Interaktions- und
Handlungsstrukturen: Gemäss den eigenen
Beobachtungen wird das Gartenbad von allen
Altersklassen genutzt und für zahlreiche
unterschiedliche Betätigungen: Sport, Spass,
Entspannung, Unterhaltung, Familiennachmittag, etc.
Es ist demnach davon auszugehen, dass ein gewisses
Konfliktpotential zwar vorhanden ist, welches aber
durch die grosse Fläche des Bades abgefedert werden
kann. Das Gartenbad wird ebenso zu allen Tageszeiten
besucht, wobei die Spitzenbesuchszeiten nach eigenen
Beobachtungen an den Nachmittagen (sowohl unter
der Woche als am Wochenende) liegen, sofern es gutes
Wetter ist39. Es ist auch derjenige Zeitraum, bei
welchem sich die meisten Jugendlichen im Bad
aufhalten. Neben den mehreren Becken und Liege- wie
Spielflächen befinden sich auch ein zweistöckiges
Restaurant sowie ein Kiosk auf dem Gelände.
Dreirosenanlage
Physisch-materielles Substrat: Die Dreirosenanlage
liegt im Matthäusquartier auf der Kleinbasler-Seite
und wird im Westen von der Rheinuferpromenade, im
Osten von der Dreirosenbrücke sowie von südlich von
der Anlage gelegenen Quartierwohnungen und dem
Schulhaus Dreirosen umgeben. Die Anlage besteht aus
einer grossen, lang gezogenen Wiesenfläche, die in der
Mitte von einem Hartplatz und einem Spielbereich
unterbrochen wird. In Richtung der Rheinpromenade
öffnet sich die Anlage über eine breite Treppenanlage.
Während auf der einen Längsseite ein Fussgängerweg
mit Sitzbänken und Hecken verläuft, durchzieht auf
der anderen Längsseite ein schmales in Beton gefasstes
Flüsschen das Gelände. Im Brückenkopf befinden sich
der Jugendtreffpunkt sowie eine Indoor-Freizeithalle;
von zwei Securitas-Beamten unterstützt, die vor allem
für die Einhaltung der Umgangsregeln auf den
Liegeflächen zuständig sind (vgl. Interview mit dem
Bademeister vom 2.9.2011). Während der Grossteil der
Regeln formalisiert und dementsprechend von aussen
einsehbar ist, werden in der Badeanstalt noch weitere
durchgesetzt, die vor allem Kinder und Jugendliche
betreffen. Hier handelt es sich um eine pädagogische
Aufsichtspflicht, die den Kindern und Jugendlichen das
Rauchen von Zigaretten unter 18 Jahren verbietet.
Diese Regelung besteht zwar nur informell, wird aber
von den Bademeistern wie Securitas als offizielle Regel
durchgesetzt und als solche wird sie auch von den
Jugendlichen anerkannt (s.u.).
Räumliche Zeichen-, Symbol- und
Repräsentationssystem: Das prägendste Symbolsystem
im Gartenbad Bachgraben besteht aus den zuvor
geschilderten Regulierungsmechanismen in der Form
von Hinweis- und Verbotsschildern sowie der Präsenz
von Aufsichtspersonal (z.B. Bademeister auf dem
Hochsitz). Weiter gibt es einige wenige Werbeplakate
beim Eingangsbereich zu Themen wie Sport oder
Gesundheit (z.B. Werbung der Krebsliga, Werbung für
den Sportverein, etc.). Schliesslich können auch die
beiden Verpflegungseinrichtungen zum Symbolsystem
gezählt werden. Implizit ist ebenso die Badekultur
(insb. der Körperkult) als Teil des räumlichen
Repräsentationssystems zu verstehen, obschon sich
dieses nur aus der subjektiven Perspektive erfassen
lässt.
Institutionalisierte Regulierungsmechanismen: Auf der
Dreirosenanlage sind nur wenige regulative
Mechanismen vorhanden: Abgesehen vom Fahrverbot
auf dem geteerten Durchgangsweg sind keine
besonderen Regeln oder Verbote aufgestellt. Während
den zahlreichen Beobachtungen wurden ebenso keine
Kontrollorgane (Polizei, Securitas) gesichtet. Hingegen
kann vermutet werden, dass das Personal der geleiteten
Einrichtungen und insbesondere die im Treffpunkt
arbeitenden Jugendpädagoginnen als eine Form von
Aufsichtspersonen fungieren bzw. in ihrer
Anwesenheit soziale Kontrolle ausüben.
39 Die Öffnungszeiten des Bades sind: Montag bis Sonntag 09.00 bis 20.00 Uhr. Die Badesaison dauerte von 30.
April bis 11. September 2011 (http://www.badi-info.ch/bs/bachgraben.html).
76
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
im Anschluss daran befindet sich eine öffentliche
Skateranlage, die von der Dreirosenbrücke überdacht
ist.
Gesellschaftliche Interaktions- und
Handlungsstrukturen: Die Dreirosenanlage wird
gemäss der HSLU-Studie (2010c) vor allem von
Kindern genutzt. Daneben treten alle anderen
Altersgruppen je nach Tages- und Wochenzeit ebenso
als prominente Nutzergruppen auf (mit Ausnahme der
Senioren/innen), wobei Jugendliche vor allem
sonntags sowie an den Nachmittagen und Abenden die
Dreirosenanlage mitnutzen. Die zur Dreirosenanlage
gehörenden Einrichtungen (Jugendtreffpunkt,
Riibistro mit Verpflegungsmöglichkeiten,
Freizeithalle)40 sind zwar für das öffentliche Leben auf
der Anlage prägend, die meisten Nutzenden vertreiben
sich die Zeit jedoch vor allem draussen mit Sport und
Spiel, Verweilen, Flanieren oder sich Verpflegen.
Weiter wird die Dreirosenanlage von Mittags bis in
den späten Abend als Treffpunkt genutzt. Schliesslich
ist die Rolle der Anlage als Transitort zwischen
Rheinpromenade und Quartier nicht zu unterschätzen
(HSLU 2010c).
Räumliche Zeichen-, Symbol- und
Repräsentationssystem: Das Repräsentationssystem der
Dreirosenanlage ist in erster Linie durch das
eingerichtete Mobiliar (Spielwiese, Spielplatz,
Hartplatz, etc.) gekennzeichnet, das die Anlage in erster
Linie als Spiel- und Erholungsraum kennzeichnet und
somit explizit auf eine Freizeitnutzung hinweist. Diese
Symbolik wird durch die genannten Einrichtungen
noch unterstützt, wobei vor allem Kinder und
Jugendliche als Zielgruppe angesprochen werden.
Einzelne wenige Graffiti verweisen zudem auf ein
jugendkulturelles Zeichensystem, es beschränkt sich
jedoch auf einen kleinen, relativ verdeckten Abschnitt
unterhalb der Dreirosenbrücke. Schliesslich fallen zwei
blaue Abfallcontainer der Basler Stadtreinigung als
einzige Repräsentation der öffentlichen Verwaltung
auf; sie befinden sich ebenfalls unter der
Dreirosenbrücke, nahe der beschriebenen GraffitiMalereien.
4.4.2 Stichprobe
Das Stichprobenverfahren orientiert sich in erster Linie am Forschungsinteresse: Die
Erforschung der Raumpraxis, sowie der subjektiven Wahrnehmung und Bedeutungen
öffentlicher Räume für Jugendliche bedingt eine Orientierung an einem bestimmten Ort, weil
sich nur im konkreten öffentlichen Raum Handlungen beobachten und Vorstellungen und
Erfahrungen anknüpfen lassen. Selbstverständlich hätten die Jugendlichen auch Zuhause oder
in einem Jugendtreffpunkt interviewt werden können; der Vorteil der Befragung direkt im
öffentlichen Raum ist es aber, dass die Jugendlichen ihre Gedanken stärker fokussieren und
die Bezüge zwischen den verschiedenen Aneignungsdimensionen assoziativ und
wirklichkeitsnah herstellen können. So können beispielsweise bestimmte Erlebnisse direkt
verortet oder typische Umgangsformen mit einem konkreten Erlebnis im öffentlichen Raum
verknüpft werden.
Als oberstes Gebot für die Stichprobenauswahl stand das Prinzip der Varianz: Aufgrund
des explorativen Ansatzes lag es nahe, möglichst unterschiedliche Fälle aufzunehmen und ein
möglichst breites Bild von Jugendöffentlichkeiten wiederzugeben. Deshalb wurde eine
selektive Stichprobe gezogen (Merkens 2003:295-297), für deren Auswahl folgende Kriterien
angewandt worden sind:
 Zeitpunkt: Der Zeitpunkt der Erhebung (Beobachtung und Interviews) wurde so
gewählt, um eine möglichst grosse Varianz zu erhalten. Dabei wurde insbesondere bei
40 Das Riibistro sowie die Freizeithalle sind tagsüber von 10.00h bis 17.00h geöffnet, am Sonntag von 13.00h bis
18.00h. Der Jugendtreffpunkt ist jeweils Montag bis Freitag von 16.30h bis 19.30h bzw. freitags bis 20.30h
geöffnet und am Wochenende geschlossen. Weitere Informationen auf www.dreirosen.ch.
77




den Interviews auf die Erfahrungen aus den Beobachtungen rekurriert mit dem Ziel
einer möglichst hohen Erfolgswahrscheinlichkeit.
Alter: Ein weiteres wichtiges Kriterium war das Alter der zu beobachtenden bzw.
befragenden Jugendlichen. Vorab wurde zwar eine Altersspanne zwischen 14 und 18
Jahren festgelegt, diese konnte aber auch – insbesondere bei erschwertem Zugang –
nach unten oder nach oben angepasst werden. Ziel der Stichprobenauswahl war es,
Gruppen von möglichst unterschiedlichem Alter zu untersuchen, da gerade im
ausgewählten Jugendalter grosse Entwicklungsschritte zu erwarten sind.
Geschlecht: Weiter wurde darauf geachtet, dass gleich viele Mädchen(gruppen) wie
Jungen(gruppen) beobachtet bzw. befragt wurden. Dieses Kriterium ist deshalb von
zentraler Bedeutung, weil sich gemäss der bisherigen Forschung das
Aneignungsverhalten von Mädchen und Jungen unterscheiden.
Gruppengrösse: Weiter wurde angenommen, dass sich das Verhalten der Jugendlichen
je nach Gruppengrösse (und –zusammensetzung) unterscheidet. Deshalb wurde bei
der Beobachtung darauf geachtet, möglichst unterschiedliche Gruppengrössen zu
berücksichtigen. Hingegen bei den Interviews ging es vor allem darum, die
dynamischen Vorteile eines Gruppenverfahrens mittels einer angemessenen
Gruppengrösse auszuschöpfen. Insbesondere bei der Durchführung der Fotoaufgabe
war es zentral, dass mindestens drei Jugendliche teilnahmen. Ebenfalls wurde versucht
der Durchführbarkeit und Übersichtlichkeit willen eine zu hohe Gruppengrösse zu
vermeiden.
Bezug zum öffentlichen Raum: Schliesslich wurden nur Jugendliche befragt, die einen
Bezug zum betreffenden öffentlichen Raum haben. Dabei wurde aber keine bestimmte
Nutzungshäufigkeit vorausgesetzt, sondern lediglich danach gefragt, ob die
Jugendlichen sich von Zeit zu Zeit in ihrer Freizeit im betreffenden öffentlichen Raum
aufhalten.
Die Grundgesamtheit besteht aus allen Jugendlichen in Basel Stadt41. Bei der vorliegenden
Stichprobe handelt es sich also um eine Zufallsstichprobe, die jedoch nach bestimmten
Auswahlkriterien getroffen wurde. Ausserdem handelt es sich in abgeschwächter Form auch
um ein theoretisches Sampling, weil im Verlaufe der Erhebungsphase die Entscheidung für
die erneute Auswahl einer Gruppe vom bereits vorhandenen Wissen aus vorangehend
durchgeführten Erhebungseinheit abhängig gemacht wurde. Insbesondere bei der
systematischen Beobachtung wurde nach dem Auftreten einer theoretischen Sättigung (keine
neue Ausprägungen von Aneignung beobachtbar) während der beschreibenden Beobachtung
relativ rasch auf eine fokussierte/selektive Beobachtung umgestiegen, um noch konkretere
Daten zu erhalten. Dabei wurden als zusätzliche Auswahlkriterien spezifische
Raumausschnitte oder Handlungen hinzugezogen, um unterschiedliche Perspektiven auf den
Untersuchungsgegenstandes einzunehmen. Hingegen bei den Interviews konnte aufgrund der
hohen Vielseitigkeit der Daten und der begrenzten Forschungszeit keine solche theoretische
41 2010 lebten 15’671 Jugendliche zwischen 10 und 19 Jahren in Basel von insgesamt 191'946 in Basel
wohnhaften Personen
(Statistisches Amt Basel-Stadt 2010a/2010b).
78
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
Sättigung erreicht werden; hier wurde lediglich darauf geachtet, dass die vorab festgelegten
konkret-inhaltlichen Kriterien erfüllt werden konnten (vgl. Flick 2002:102-106).
Für die Datenanalyse wurde aus den zahlreichen Beobachtungssituationen eine Auswahl
getroffen, die sich ebenfalls an den inhaltlichen Kriterien orientierte, aber vor allem dazu
diente, den zu analysierenden Textkorpus auf ein bewältigbares Ausmass zu reduzieren. In
der folgenden Tabelle 4 sind alle Beobachtungen und Interviews aufgelistet, die in der Analyse
verwendet wurden.
Im Rahmen dieser Forschungsarbeit wurden gesamthaft 122 Jugendliche aus den drei
Untersuchungsgebieten (Barfüsserplatz, Dreirosenanlage, Gartenbad Bachgraben) in die
Erhebung miteinbezogen. Davon wurden insgesamt 39 Jugendliche in Gruppen befragt, je 14
Jugendliche im Gartenbad Bachgraben und auf der Dreirosenanlage, 11 Jugendliche auf dem
Barfüsserplatz. Die untersuchten Jugendlichen waren im Alter von 12 bis 19 Jahren und es
handelte sich sowohl um reine Mädchen- oder Jungen- als auch um gemischte Gruppen. 9 der
befragten Jugendlichen absolvieren eine Lehre, 2 das 10. Brückenschuljahr, 11 der Befragten
sind an der Weiterbildungsschule (8. bis 9. Schuljahr), 8 sind am Gymnasium (8. bis 12.
Schuljahr), 3 an der Wirtschaftsmittelschule (8. bis 12. Schuljahr), 3 an der
Orientierungsschule (5. bis 7. Schuljahr). Zwei der interviewten Jugendlichen absolvieren eine
Lehre im Rahmen einer geschützten Anstellung, ein Junge geht im Ausland in die Schule. Die
Mehrheit der befragten hat einen Migrationshintergrund (mindestens ein Elternteil
ursprünglich nicht Schweizerischer Identität), 9 Interviewpartner geben an, dass beide ihrer
Eltern ursprünglich Schweizer sind. Die detaillierten Angaben zum Wohnort sowie zu
Nationalität und Beruf der Eltern sind auf der Daten-CD beigelegt.
Tabelle 4: Sample
Öffentlicher Raum / Nr.
Beo_Bach1
Beo_Bach2
Beo_Bach3
Beo_Bach4
Beo_Bach_Repräsentation
Beo_Bach_Atmosphäre
Beo_Bach_Regulierung
Bach1
Bach2
Bach3
Bach4
Beo_Drei1
Beo_Drei2
Beo_Drei3
Gruppengrösse
3
5
9
4
-43
3
3
4
4
14
8
8
Alter42
18
16
12-14
17
16-17
15-17
14-15
14-16
11-16
17-18
18-19
Geschlecht
masc.
gemischt
gemischt
masc.
gemischt
masc.
fem.
fem.
gemischt
masc.
masc.
42 Bei den Beobachtungssituationen handelt es sich selbstverständlich nur um das geschätzte Alter.
43 Die fehlenden Angaben sind darin begründet, dass es sich bei diesen Beobachtungen um fokussierte/selektive
Beobachtungen handelte, bei welchen nicht nur eine sondern mehrere Jugendgruppen unterschiedlichen Alters
und Geschlechts hinsichtlich eines bestimmten Fokus und deshalb nur über kurze Zeit untersucht wurden.
79
Beo_Drei4
Beo_Drei5
Beo_Drei_Transit
Drei1
Drei2
Drei3
Beo_Barf1
Beo_Barf2
Beo_Barf2
Beo_Barf3
Beo_Barf4
Beo_Barf_Transit
Beo_Barf_Übergangsräume
Barf1
Barf2
Barf3
Barf4
4
4
6
5
3
4
6
2
7
5
3
2
3
3
17
17
14-18
12-16
14-16
18-19
14-18
17
16
18
16-17
18-19
14-15
16-17
gemischt
fem.
masc
fem.
fem.
masc.
masc.
fem.
fem.
gemischt
gemischt
masc.
fem.
gemischt
4.5 Datenanalyse
Ausgangspunkt für die Analyse der erhobenen Daten bildet das Forschungsinteresse, also die
Erfassung der Raumpraxis, subjektiven Wahrnehmung und Bedeutung von öffentlichen
Räumen für Jugendliche. Die Autorin interessiert, wie sich Jugendliche in öffentlichen
Räumen verhalten, wie sie diese aus ihrer Sicht beschreiben und bewerten. Konkret sollen
Aussagen zum Handlungshintergrund der beobachteten sowie zum emotionalen und
kognitiven Hintergrund der interviewten Jugendlichen gemacht werden (vgl. Mayring
2008:50-53).
Die Analyse der Daten orientiert sich am allgemeinen Ablauf einer qualitativen
Inhaltsanalyse, wie sie Mayring vorschlägt, und verfolgt die qualitative Technik der
inhaltlichen Strukturierung (Mayring 2008:82-99).
80
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
Abbildung 5: Allgemeines inhaltsanalytisches Ablaufmodell44
Quelle: Mayring 2008:54
Da Mayrings Ansatz jedoch nicht behandelt, wie Bezüge zwischen den Kategorien
hergestellt, Muster entdeckt und aus dem Material Theorien entwickelt werden können, wird
44 Festlegung des Materials: 11 von insgesamt 13 Interviews in der Form von Transkripten; 20
Beobachtungssituationen in der Form von Beobachtungsprotokollen; 11 von insgesamt 13 Aneignungsplänen,
zusammengefasst pro Untersuchungsgebiet.
Analyse der Entstehungssituation: s. Kap. 4.6.
Formale Charakteristika des Materials: Die Interviews wurden digital aufgenommen und mit Hilfe von F4
transkribiert. Die Beobachtungssituationen wurden während der Beobachtung in einem Beobachtungsbogen
beschrieben und anschliessend in einem Beobachtungsprotokoll zu einem Text verfasst. Weiter ist das
Beobachtungsprotokoll mit Fotos illustriert, welche beobachtete Elemente, jedoch nicht die beobachteten
Jugendlichen selbst darstellen. Interpretationen der Beobachtungen wurden in das Beobachtungsprotokoll
miteinbezogen und markiert. Bei den Aneignungs-Plänen handelt es sich um A3-Bögen mit aufgedrucktem Plan
des betreffenden öffentlichen Raumes sowie den Klebepunkten. Sie wurden digitalisiert, indem auf dem JPEG
des unbearbeiteten Planes die Klebepunkte reproduziert wurden.
Richtung der Analyse: vom Text (Interviewtranskript, Beobachtungsprotokoll) bzw. von der Darstellung
(Aneignungs-Plan) zum Kommunikator (interviewte und beobachtete Jugendliche)
Definition der Analyseeinheiten: Als Kodiereinheit gilt eine Proposition, die als relevante Aussage des Befragten
oder der Beobachtung zum interessierenden Sachverhalt eingestuft werden kann. Als Kontexteinheit werden alle
Fundstellen innerhalb eines Interviews oder Beobachtungsprotokolls verstanden. Ein Interview bzw. ein
Beobachtungsprotokoll gilt als Auswertungseinheit, wobei bei der Analyse dem chronologischen Aufbau gefolgt
wird.
81
für das konkrete Analysevorgehen die Framework Analysis von Ritchie, Spencer und
O’Connor (2003) verwendet, wie sie in der Abbildung 6 ersichtlich ist.
Die Autorinnen verstehen den Prozess der Datenanalyse als einen steten und
kontrollierten Abstraktionsprozess vom Management des Rohmaterials über die
Beschreibung der Ausprägungen bis zur Erklärung vorgefundener Phänomene, wobei die
Erstellung von so genannten Thematic Charts das Grundgerüst bildet (Ritchie et al. 2003:217):
„The hierarchy is made of a series of ‚viewing’ platforms, each of which involves different
analytical tasks, enabling the researcher to gain an overview and make sense of the data“
(Ritchie et al. 2003:213).
Abbildung 6: Die analytische Hierarchie
Quelle: Ritchie et al. 2003:212.
Das von Ritchie et al. (2003) beschriebene Instrument soll dabei helfen, den
Analysevorgang so systematisch wie möglich zu gestalten ohne den Bezug zu den Daten zu
verlieren oder Details aus dem Rohmaterial auszublenden. Deshalb wird das Vorgehen auch
als Analyseleiter verstanden, auf der innerhalb der hierarchischen Struktur vor und zurück
gegangen werden sollte: „As categories are refined, dimensions clarified, and explenations are
82
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
developed there is a constant need to revisit the original or synthesised data to search for new
clues, to check assumptions or to identify underlying factors“ (Ritchie et al. 2003:213).
Die Analyse der Daten wurde computerunterstützt mit der aktuellsten Version von
MAXQDA durchgeführt45.
Daten-Management
Zu Beginn des analytischen Prozesses ist es notwendig, die Masse an Datenmaterial zu ordnen
und zu reduzieren. Nach Ritchie et al. (2003) sollen in dieser Phase der Analyse allgemeine
Themen oder Konzepte generiert werden, um die Daten zu kodieren. Es handelt sich dabei
um eine Form des Kategoriensystems wie es auch in anderen qualitativen Analysemethoden
vorgeschlagen wird (vgl. Mayring 2008). Die Autorinnen gehen dabei induktiv vor und
erarbeiten ein so genanntes Framework mit Ober- und Unterthemen, die möglichst nahe am
Datenmaterial formuliert werden (Ritchie et al. 2003220-228). Für die vorliegende Arbeit
wurde diese Vorgehen insofern abgewandelt, als dass die Oberthemen teilweise aus den
theoretischen Überlegungen zu den Raumdimensionen abgeleitet und nur die Unterthemen
induktiv aus dem Material erarbeitet wurden. In Tabelle 5 ist das konzeptionelle Framework
ersichtlich, wobei diese endgültige Fassung in einem Prozess zahlreicher Umformulierungen
und Ordnungen entstanden ist.
Anhand des konzeptionellen Frameworks wurde das Datenmaterial mit Hilfe von
MAXQDA kodiert46, wobei teilweise noch weitere Subkategorien differenziert wurden. In
einem weiteren Schritt wurden so genannte Thematic Charts erarbeitet, die entlang der
Hauptkategorien die unterschiedlichen Subkategorien für alle Auswertungseinheiten in einer
Matrix zusammenfassen. Dabei ist es möglich und notwendig, die einzelnen Kategorien
umzubenennen oder auch gewisse Unterkategorien auf mehreren Themenmatrizen zu
verwenden. Ziel ist es, zu den wichtigsten Themen der Arbeit jeweils eine Thematic Chart zu
erstellen, die alle relevanten Aussagen des gesamten Datenmaterials zusammenfasst und somit
ermöglicht, die einzelnen Auswertungseinheiten miteinander zu vergleichen (Ritchie et al.
2003: 229-236). In der vorliegenden Analyse wurden elf Thematic Charts zu den fünf
Hauptkategorien ‚Identifikation’, ‚Repräsentation’, ‚Regulierung’, ‚Handlungen & Interaktion’
sowie ‚Nutzung’ erstellt.
45 Gratis-Demoversion erhältlich unter: http://www.maxqda.de/downloads/demo.
46 Ritchie et al. (2003) distanzieren sich vom Begriff des Kodierens und verwenden für ihre Arbeit stattdessen
den Begriff des ‚indexing’. Ihrer Meinung nach verweist der Begriff des Kodierens auf die Anwendung eher
abstrakter Kategorien, währenddessen ein Index auf eher beschreibende Kategorien rekurriert. Aufgrund der
Geläufigkeit des Begriffs ‚Kodieren’ wird er entgegen Ritchie et al. (2003) Vorschlag in dieser Arbeit dennoch
verwendet.
83
Tabelle 5: Konzeptuelles Framework (Kodebaum)
Hauptkategorie
Identifikation mit dem öffentlichen Raum
Unterkategorie
fehlende Identifikation
negative Identifikation
positive Identifikation
Zeichen, Symbole und Repräsentation
Anerkennung
Ablehnung
Lebensstil
Repräsentation nach aussen
Regulierung und Normen
Regulierung durch andere
Selbstregulierung
Transformation von Regeln
Wissen
über
Regulierungsmechanismen
Interaktionen und Handlungen
Austausch
Umgangsformen
das soziale Setting
Gruppe und Umwelt/Umfeld
Gemeinsame Handlungen
Jungs, Männer
Mädchen, Frauen
Konflikterlebnisse
Konfliktlösung
Reaktion im Konflikt
Konfliktursachen
Konflikt
Nutzung
Wünsche
negative Bewertung
positive Bewertung
physisches Aneignungsverhalten
Beschreibende Analyse
In der zweiten Phase der Analyse steht die Darstellung des Spektrums und Vielfalt jedes
bedeutsamen Phänomens im Zentrum. Die drei wichtigsten Schritte zu einer solchen
Beschreibung des Datenmaterials sind erstens die Entdeckung der Dimensionen eines
Phänomens, zweitens die Kategorisierung des Datenmaterials, sowie drittens die
Klassifikation mehrerer Kategorien zu Typen auf einem höheren Abstraktionsniveau:
84
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
„Detection involves looking within a theme, across all cases in the study and noting the range
of perceptions, views, experiences or behaviours which have been labelled or tagged as part of
that theme. Once this range has been noted, the analyst then sets out to sort and distil the key
dimensions within the range, identifying broader, more refined categories which can both
incorporate and discriminate between different manifestations of the data. (…) the analyst
may further refine the categories, identifying fewer classes by which to sort, encapsulate and
present the data” (Ritchie et al. 2003:238).
In einem Beispiel soll dargestellt werden, wie in dieser Analysephase vorgegangen worden
ist: Als erstes wurde zur besseren Übersicht die Subkategorien ‚Gemeinsame Handlungen’,
‚Jungs, Männer’ und ‚Mädchen, Frauen’ auf einer Thematic Chart zur soziale Aneignung
zusammengefasst. Schritt für Schritt wurden aus den Aussagen und Beobachtungen zur
sozialen Aneignung zuerst die wichtigsten Elemente identifiziert und dann zu Klassen
zusammengefasst. Im Anschluss wurden zwei zentrale Dimensionen erkannt, erstens die
eingenommene Bühne im öffentlichen Raum und zweitens die Ausrichtung der Gruppe nach
innen oder nach aussen, mit welchen unterschiedliche Sozialitätstypen gebildet werden
konnten: S1: nach innen gerichtet, Hinterbühne; S2: nach innen gerichtet, Vorderbühne; S3:
nach aussen gerichtet, Hinterbühne; S4: nach aussen gerichtet, Vorderbühne.
Tabelle 6: Beschreibende Analyse der Sozialitätstypen
Fall
Soziale Aneignung
Bach1
Und dann hat es noch ein
Dreimeter-Sprungbrett und so
einfach Faxen reissen gehen. (4)
Interviewerin: Flirten und
Beobachten, genau.
Person 1: Hier am Rändchen halt so.
Bei den Schwimmbecken. (196)
oder einfach an Rand hinsetzen und
so (Person 3: Reden) und dann mit
Kollegen reden. Oder eben auch
vom Rand aus ein wenig
beobachten, wer alles so im Wasser
ist oder ob man jemand kennt, der
dort gerade im Wasser ist und so.
(273)
Interviewerin: Und was schaut ihr
so zu, wenn ihr daneben hockt?
Person 1: Wir lachen sie aus.
Person 3: Hahaha.
Person 4: Also nein, nicht gerade
auslachen, wir schauen halt einfach
allgemein.
Person 1: Was sie machen halt und
so.
Person 4: Wer so durch läuft.
Bach3
Bach3
Bach4
Elemente /
Dimensionen
Faxen
machen
Kategorien /
Klassen
Necken / lustig
sein
Typ Sozialität
flirten und
beobachten
Flirten
Beobachten
(Jungs)
S3
sitzen und
reden
beobachten,
ob man
jemanden
kennt
Chillen
Reden
Beobachten
(Vielfalt)
Bekannte
suchen/treffen
S3
daneben
sitzen und
Leute
auslachen
schauen, was
die Leute
machen und
wer
durchläuft
Leute
Chillen
S3
Beobachten
(Vielfalt)
Kommentieren
85
S2
S4
Bach4
Person 1: Wir tun Leute kritisieren.
Person 4: Ja, und schauen halt (54)
Person 3: Am meisten, mit
Kolleginnen schnurren, lustig
haben, einfach Erlebnis. (237)
kritisieren
reden, es
Necken / lustig
lustig haben, sein
etwas erleben reden
etwas erleben
Beo_Bach1 Keiner der beiden möchte wirklich sich
Necken / lustig
ins Wasser; erst als der erste Junge
gegenseitig
sein
einen seiner trockenen Kollegen mit necken
etwas neckt (aus der Entfernung ist
nicht zu sehen, um was es sich
genau handelt) und ihn dazu
zwingt, einen Bogen um ihn zu
machen, springt dieser zum
Ausweichen ins Becken. (4)
S1
S2
Die Ergebnisse der beschreibenden Analyse basieren auf dem Vergleich der verschiedenen
Fälle (Interviews, Beobachtungssituationen). So wäre es dann auch der Normalfall in anderen
Anwendungen der Typenbildung, die einzelnen Fälle je einem Typ zuzuordnen. Ritchie et al.
(2003) betonen diesbezüglich mehrmals, dass die Qualität einer Typologie darin liege,
voneinander diskrete Typen zu bilden und jedem Fall nur einen Typ zuzuordnen (Ritchie et
al. 2003:245). Wie dem Beispiel zu entnehmen ist, wurde dieses Vorgehen nicht auf die
vorliegende Analyse angewendet; mehrere Fälle weisen mehrere Sozialitätstypen auf. Dies ist
notwendig und auch nachvollziehbar, weil in den einzelnen Fällen jeweils eine Fülle von sehr
unterschiedlichen Formen von Aneignungsprozessen enthalten sind und eine Handlung oft
mehrdeutig ist (wie bspw. das Faxen machen auf dem Sprungbrett in Bach1). Die Fälle auf nur
je einen Typ zu reduzieren würde die Vielseitigkeit der jugendlichen Handlungen in
öffentlichen Räumen zu wenig berücksichtigen. Der Nutzen der Typenentwicklung im
vorliegenden Fall ist aber dennoch gegeben: Mit Hilfe der Entwicklung von Typen kann das
gesamte Spektrum der jugendlichen Aneignungsverhaltens erfasst werden und gegebenenfalls
mit anderen Aneignungstypen in Verbindung gebracht werden.
Erklärende Analyse
Ist die beschreibende Analyse abgeschlossen, besteht die Möglichkeit verschiedene aus den
Daten herausgearbeitete Phänomene (z.B. unterschiedliche Sozialitätstypen) miteinander zu
verknüpfen oder Verbindungen zwischen den Phänomenen und bestimmten Charakteristiken
der Fälle (Geschlecht, Untersuchungsgebiet) aufzudecken. Der Anstoss zum Suchen von
bestimmten Assoziationen kann entweder von den Befragten selbst herrühren oder sich aus
dem Interpretationsprozess ergeben. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, mögliche
Verknüpfung zwischen Phänomenen aus den Daten, also aus der individuellen Fallebene, zu
entwickeln. Dabei ist es möglich sowohl innerhalb eines Falles als auch innerhalb einer
Thematik nach möglichen Assoziationen zu suchen. Dabei sollen ebenso Ausnahmen, welche
die angenommene Verknüpfung nicht bestätigen, berücksichtigt werden47.
Ein einfaches Beispiel dafür ist die Verknüpfung des Untersuchungsgebietes Gartenbad
Bachgraben mit der Möglichkeit für Jugendliche, Erfahrungen im Umgang mit dem anderen
47 Dieser Analyseschritt wurde nur begrenzt in der vorliegenden Arbeit bearbeitet.
86
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
Geschlecht zu sammeln. Diese Assoziation ergibt sich in erster Linie daraus, dass Jugendliche,
die im Gartenbad befragt wurden, häufiger als Jugendliche aus anderen
Untersuchungsgebieten, diese Thematik ansprachen. Diese numerische Auszählung ist für
qualitative Analysen unüblich, hilft aber dabei, das Auftreten der Verknüpfung zu verifizieren
(Ritchie et al. 2003:251).
Wird eine Assoziation zwischen zwei Phänomenen entdeckt, gilt es mögliche Erklärungen
dafür zu entwickeln. Erklärungen ergeben sich zwar manchmal aus den Daten selbst, sind
aber meist Konstruktionen und Abstraktionen der Autorin, die sie auf die Daten anwendet. Es
ist deshalb stets darauf zu achten, mögliche Erklärungen an die Daten zurückzubinden
(Ritchie et al. 2003:252). Es bestehen unterschiedliche Strategien Erklärungen für gefundene
Assoziationen zu finden (vgl. Ritchie et al. 2003:252-257):
 Es kann vorkommen, dass gewisse Erklärungen explizit in den Aussagen und Daten
vorliegen. So beschreiben beispielsweise mehrere befragte Jugendliche, dass sie nur im
Gartenbad die Möglichkeit hätten, den Körper von Mädchen und Jungen zu sehen
und zu bewerten.
 Einige Assoziationen unterliegen aber auch einer tieferen Logik, die den Befragten
selber nicht bewusst ist. So könnte man im vorliegenden Beispiel annehmen, dass das
Frauenbild der befragten Jugendlichen eine mögliche Erklärung für die angenommene
Verknüpfung darstellt: Es zeigt sich die Tendenz, dass die im Gartenbad Bachgraben
befragten Jugendlichen ein eher konservatives Bild der Frau haben (Frauen zeigen
nicht, was sie haben; sie halten sich im Hintergrund; sie vermeiden sexuellen Kontakt
ausserhalb ihrer Intimbeziehung) und ihnen deshalb das Setting des Freibades die
seltene Gelegenheit bietet, sich als Mädchen sexy und offen für Kontakte zu geben
bzw. gleichaltrige Mädchen ohne Hemmungen anzusprechen. Das Gartenbad stellt für
den sonst eher eingeschränkten Umgang mit dem anderen Geschlecht ein legitimer
Rahmen dar. Es ist insbesondere bei dieser Art von Erklärungen wichtig, sich in der
analytischen Hierarchie auf und ab zu bewegen und zu keiner Zeit den Bezug zu den
Daten zu verlieren.
 Eine weitere Möglichkeit zur Erklärung von Assoziationen ist der Miteinbezug von
bereits vorhandenen theoretischen Konzepten wie beispielsweise Gendertheorien oder
Sozialisationstheorien.
 Schliesslich sollte man Konzepte oder Erklärungen anderer ähnlicher Studien
berücksichtigen, um gefundene Assoziationen zu erörtern.
In der Diskussion der Analyse sollte dann geklärt werden, zur welcher weiteren
Anwendung die Ergebnisse genutzt werden können: Erweiterung einer Theorie oder einer
theoretischen Debatte, Implikationen für sozialpolitische Programme, Praxisempfehlungen
für die Soziale Arbeit u.a. (Ritchie et al. 2003:257).
4.6 Gütekriterien und Methodenreflexion
Abschliessend soll das methodische Vorgehen der vorliegenden Forschungsarbeit reflektiert
und diskutiert werden. In diesem Zusammenhang ist auch auf die Grenzen und
Einschränkungen der Arbeit hinzuweisen.
87
4.6.1 Methodentriangulation
Das angewandte Forschungsdesign orientiert sich an einem triangulierten Verfahren und in
diesem Zusammenhang an Flicks (2008) Definition von Triangulation: „Triangulation
beinhaltet die Einnahme unterschiedlicher Perspektiven auf einen untersuchten Gegenstand
oder allgemeiner: bei der Beantwortung von Forschungsfragen. (…) Diese Perspektiven sollen
soweit als möglich gleichberechtigt und gleichermassen konsequent behandelt und umgesetzt
werden. Durch die Triangulation (etwa verschiedener Methoden oder verschiedener
Datensorten) sollte ein prinzipieller Erkenntniszuwachs möglich sein (…)“ (Flick 2008:12).
Wie im Zitat angedeutet, sind unterschiedliche Formen von Triangulation zu unterscheiden48,
wobei sich die vorliegende Arbeit vor allem der Methodentriangulation zu Nutze macht und
zwar in folgenden drei Formen:
 Verknüpfung zweier methodologischer Ansätze: Wie in Kapitel 4.3. dargelegt wurde
sowohl ein ethnomethodologischer als auch ein konstruktivistischer Ansatz in die
Datenerhebung miteinbezogen, um einerseits das soziale Handeln Jugendlicher in
öffentlichen Räumen zu beschreiben und andererseits auch den subjektiv gemeinten
Sinn ihrer Handlungen nachzuvollziehen (vgl. Flick 2008:21-25). Durch die
Verknüpfung dieser beiden Perspektiven auf denselben Forschungsgegenstand soll es
möglich sein, unterschiedliche Facetten von Jugendöffentlichkeit zu thematisieren.
 Kombination von zwei Erhebungsmethoden: Eng mit dem vorherigen Punkt
verbunden ist der Einsatz zweier unterschiedlicher Methoden, einerseits die
Beobachtung und andererseits das Gruppeninterview (vgl. Flick 2008:41-49). Sie
stellen probate Mittel dar, um die beiden Perspektiven von Handeln und subjektivem
Sinn (bzw. Wissen) gleichberechtigt zu erheben.
 Methodeninterne Triangulation: Der Einsatz eines episodischen Interviews schliesslich
erlaubt sowohl narrativ-episodisches als auch begrifflich-semantisches Wissen
innerhalb einer Methode (Gruppeninterview) zu erheben. Die Methodeninterne
Triangulation mit Hilfe des episodischen Interviews ermöglicht die systematische
Nutzung beider Wissensbereiche (vgl. Flick 2008:28-31).
Ziel eines triangulierten Vorgehens ist nicht in erster Linie die Überwindung der
Begrenztheit einer Methode durch die Kombination mehrerer Methoden, wie dies Denzin
(1970) in seinen ersten Arbeiten formuliert hat. Vielmehr scheint eine solche gegenseitige
(oder einseitige) Validierung von Forschungsergebnissen eher unrealistisch, weil die
einzelnen eingesetzten Methoden nicht dasselbe Phänomen abbilden und somit auch nicht
gegeneinander ausgespielt werden können: Jede Forscherin passt sich den von ihr
untersuchten Gegenstand an die eingesetzte Methode an und ebenso ist davon auszugehen,
dass der Einsatz einer spezifischen Methode ein dementsprechend spezifisches Abbild des
untersuchten Phänomens liefert. Deshalb lässt sich durch die Kombination von
unterschiedlichen Methoden keine erhöhte Objektivität oder Validität herstellen – dafür aber
differenziertere, breitere und demnach auch aussagekräftigere Antworten auf die
Fragestellung (Flick 2008:17-19).
48 Flick (2008) unterscheidet folgende Formen von Triangulation: a) Daten-Triangulation, b) Investigator
Triangulation, c) Theorien-Triangulation sowie d) Methodentriangulation (vgl. Flick 2008:13-16).
88
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
Folglich dient Triangulation nicht dazu, kongruente Daten hervorzubringen, sondern sie
zielt vielmehr auf eine gegenseitige Ergänzung der Daten und einen damit verbundenen
Erkenntniszuwachs. Das Ergebnis triangulierter Forschungsvorhaben ist demnach ein
„kaleidoskopartiges Bild“ (Köckeis-Stangl 1980, 363) des Untersuchungsgegenstandes (vgl.
Flick 2008:17-19, 25-26). Durch die Kombination von systematischer Beobachtung im
öffentlichen Raum und der Durchführung von Gruppeninterviews ergibt sich
unterschiedliches Datenmaterial, das in der Kombination eine dichte Beschreibung der
Aspekte von Aneignung und der Herstellung von Jugendöffentlichkeiten in all seinen Facetten
wiedergibt. Während die systematische Beobachtung insbesondere das Aneignungsverhalten
von aussen erfasst, kann mit den Erzählungen bedeutsamer Situationen in öffentlichen
Räumen sowie den gruppenspezifischen Vorstellungen von Öffentlichkeit auch die subjektive
Perspektive berücksichtigt werden. Mit den themenzentrierten Aufgaben hingegen können
die Jugendlichen direkt zu ihrem Verhältnis zu und zur Gestaltung der räumlichen
Bedingungen befragt werden.
Das angewandte Verfahren nutzt die Triangulation einerseits um das Feld zu erkunden:
Die zuerst durchgeführten Beobachtungen geben Einblick in die komplexen
Aneignungsformen und Interaktionsmuster von Jugendlichen in öffentlichen Räumen und
ermöglichen der Forscherin, sich mit dem Feld vertraut zu machen. Andererseits sollen die
Daten beider Erhebungsmethoden in der Analyse gleichberechtigt verknüpft und mit
derselben Methode gemeinsam nach Abschluss der Erhebungsverfahren bearbeitet werden.
(vgl. Flick 2008:107f).
4.7 Gütekriterien qualitativer Forschung
Aus dem triangulierten Vorgehen sowie aus der Erfahrung im und durch die Reflexion des
Forschungsprozesses lassen sich Kriterien ableiten, die dazu dienen können, das geplante
Forschungsvorhaben kritisch zu überprüfen. Die vorliegende Arbeit stützt sich auf die von
Steinke (2003) erarbeiteten Gütekriterien qualitativer Forschung. Steinke lehnt es ab,
quantitative Gütekriterien49 auf qualitative Forschungsvorhaben anzuwenden, weil diese für
andere Methoden und Erkenntnistheorien entwickelt wurden und deshalb für den
qualitativen Zugang ungeeignet sind. Dennoch ist es notwendig, Bewertungskriterien für
qualitative Forschung zu entwickeln, wollen qualitative Untersuchungen innerhalb der
‚scientific community’ anerkannt werden. Demnach sind spezifische Gütekriterien
qualitativer
Forschung
zu
entwickeln,
die
ihren
„Kennzeichen,
Zielen,
wissenschaftstheoretischen und methodologischen Ausgangspunkten Rechnung tragen“
(Steinke 2003:322). Im Folgenden soll die Anwendung der wichtigsten Gütekriterien, die sich
aus einem qualitativen und triangulierten Vorgehen ableiten lassen, auf die vorliegende
Untersuchung diskutiert werden:
49 Als quantitative Gütekriterien sind zu nennen: a) Objektivität, d.h. frei von subjektiver Meinung, b)
Reliabilität, d.h. reproduzierbar, c) interne Validität, d.h. es wird gemessen, was gemessen werden soll, sowie d)
Repräsentativität (vgl. Steinke 2003:320).
89
1. Intersubjektive Nachvollziehbarkeit: Weil eine identische Reproduktion qualitativer
Forschungs-ergebnisse aufgrund der begrenzten Standardisierung qualitativer
Verfahren nicht möglich ist, muss der Forschungsprozess so nachvollziehbar wie
möglich beschrieben sein (Steinke 2003:324-325). In dieser Arbeit wird deshalb
sowohl das theoretische Vorverständnis (s. Kap. 3) als das methodische Vorgehen (s.
Kap. 4) ausführlich dargestellt und dokumentiert. Die Daten werden als rohe
Transkripte bzw. als Beobachtungsprotokolle beigelegt (vgl. beigelegte Daten-CD),
damit die Korrektheit des Analyseprozesses überprüft werden kann. Schliesslich wird
grosser Wert darauf gelegt, bei der Darstellung der Ergebnisse (vgl. Kap. 5) möglichst
präzise zu formulieren, um dem Leser oder der Leserin die Unterscheidung zwischen
Aussagen der Befragten und Interpretation der Autorin zu erleichtern.
2. Anwendung kodifizierter Verfahren: Auch wenn qualitative Forschung weit weniger
standardisiert ist als quantitative Erhebungen, sollte sie sich an einem regelgeleiteten
und systematischen Vorgehen orientieren (Steinke 2003:326). Die vorliegende Arbeit
verwendet deshalb Erhebungs- und Analysemethoden, die ein systematisches
Vorgehen garantieren und zumindest teilweise in Theorie und Praxis bereits etabliert
sind. Wo dies nicht der Fall ist (bspw. bei der spezifischen Form der gewählten
Interviewform), wird versucht, das Vorgehen möglichst nachvollziehbar darzustellen
(vgl. Kap. 4.3.2.3).
3. Indikation
des
Forschungsprozesses:
Dieses
Kriterium
soll
die
Gegenstandsangemessenheit der gewählten Forschungsmethoden garantieren (Steinke
2003:326-328). Zu Beginn des Methodenteils wurde bereits darauf hingewiesen, dass
ein qualitatives Verfahren deshalb angebracht ist, weil sich die Fragestellung auf die
subjektive Wahrnehmung und Bedeutungszuschreibung durch Jugendlichen bezieht.
Weiter handelt es sich um eine explorativ angelegte Studie, welche auf das Testen von
Hypothesen verzichtet. Die Methodenwahl beruht in erster Linie auf ähnlichen
Studien wie beispielsweise Sozialraumanalysen mit Kindern und Jugendlichen (vgl.
Kap. 2). Die Anwendung von Beobachtung und Interview lässt sich vor allem durch
deren spezifische Stärken begründen: Während die systematische Beobachtung
ermöglicht, Handlungen und Verhalten als Untersuchungsgegenstand zu studieren
und ggf. auch Aussagen aus Interviews zu ergänzen, zielt das qualitative
Interviewverfahren
auf
die
Erhebung
von
Situationsdeutungen
und
Handlungsmotiven, von Alltagstheorien und Selbstinterpretationen, und ermöglicht
dabei eine Verständigung über deren Interpretation zwischen der Interviewerin und
den Befragten (Hopf 2003:350).
Ein weiteres wichtiges Kriterium der Gegenstandsangemessenheit ist der Spielraum,
welchen den Untersuchten zur freien Meinungsäusserung eingeräumt wird (Steinke
2003:327). Im Rahmen der Gruppeninterviews wird grosser Wert auf die subjektiven
Perspektiven und alltäglichen Bedeutungszuschreibungen gelegt; und zwar auch
insofern, als dass während des Interviews vor allem diejenigen Themen behandelt
werden sollen, welche für die Jugendlichen eine besondere Bedeutung haben. Der
Leitfaden gibt zwar die wichtigsten zu bearbeitenden Fragestellungen vor, beinhaltet
aber auch genügend Raum für Nachfragen zu bisher aufgetauchten interessanten
Äusserungen, die aber noch präziserer Erklärung bedürfen. Diese Offenheit ist im
90
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
Rahmen der systematischen Beobachtung weniger gegeben, da die vorab definierte
Systematik die Beobachtungsmöglichkeiten einschränkt. Dennoch ist durch den
Übergang von der beschreibenden über die fokussierte zur selektiven Beobachtung
garantiert, dass zumindest zu Beginn relativ offen beobachtet wird. Beide
Untersuchungsmethoden lassen demnach auch Unvorhergesehenes zu und sind so
angelegt, auch Irritierendes oder vom Vorwissen Abweichendes näher zu ergründen.
Auch die Wahl der Samplingstrategie gibt Hinweise darauf, ob das angewandte
Verfahren dem Gegenstand angemessen ist (Steinke 2003:328). Die Stichprobe wurde
in erster Linie nach dem inhaltlich-konkreten Kriterium der „maximalen Variation“
(Merkens 2003:291) definiert, sowohl hinsichtlich der Untersuchungsgebiete als auch
im Bezug zu den Jugendgruppen. Es wurde ebenso bereits begründet, weshalb
Jugendliche gerade in öffentlichen Räumen (und nicht in einem anderen Setting) und
in Gruppen (und nicht als Einzelpersonen) beobachtet bzw. befragt wurden (vgl.
Kapitel 4.4.2. und 5.3.2.2.). Überdies kann davon ausgegangen werden, dass aufgrund
des nicht-standardisierten Stichprobenverfahrens (direktes Beobachten/Ansprechen
im Feld) und des Vorgehens nach dem Prinzip des theoretischen Samplings die
Stichprobe stark verzerrt ist und für die Grundgesamtheit der Jugendlichen in Basel
Stadt nicht repräsentativ ist. Da es aber aus qualitativer Sicht viel eher von Bedeutung
ist, aus untersuchten Einzelfällen Verallgemeinerungen für eine spezifische
Grundgesamtheit zu erarbeiten, kann dieser Punkt als vernachlässigbar bezeichnet
werden.
Die getroffenen Sampling-Entscheidungen sind in erster Linie durch das Ziel
begründet, statt eine breite Datenbasis zu generieren, tiefer in die Struktur eines
bestimmten Ausschnitts des Untersuchungsgegenstandes einzudringen (vgl. Flick
2002:111-112). Aus diesem Grund wurden nur einige Faktoren fokussiert (drei
Untersuchungsgebiete sowie Eingrenzung der Personen, Zeiten, Handlungen und
Raumausschnitte) und somit andere wichtige Aspekte des Gegenstandes ausgeblendet:
Auf der Ebene der Jugendlichen beispielsweise wurde ihre familiäre Situation oder ihre
Einbindung in Freizeitorganisationen nicht erfragt, im Bezug zum
Untersuchungsraum wurden zum Beispiel auf Erhebungen in der Nacht oder in
anderen öffentlichen Räumen verzichtet.
4. Empirische Verankerung: Dieses Qualitätskriterium bezieht sich auf die aus den Daten
entwickelte Theorie und fordert eine möglichst enge Verknüpfung der generierten
Daten mit den aus der Analyse hervorgegangen Ergebnissen (Steinke 2003:238). Mit
dem Analysevorgehen nach Ritchie et al. (2003) soll bewusst darauf geachtet werden,
dass sich alle Analyseergebnisse direkt auf die Rohdaten beziehen lassen und mit
empirischen Belegen untermauert sind. Es ist jedoch absehbar, dass mit steigendem
Objektivierungsgrad der Untersuchungsergebnisse der Bezug zu den Daten abnimmt.
Die schrittweise Analyse der Daten von der Beschreibung zur Erklärung und die
entsprechende Strukturierung im Text (s. Kap. 5) sollen diesen Umstand transparent
machen.
5. Limitation: Mit diesem Kriterium wird die Autorin dazu aufgefordert, die Grenzen des
Geltungsbereiches für die Ergebnisse zu reflektieren und zu erörtern. In jeder
91
Forschungsarbeit muss dargelegt werden, „auf welche weiteren Bedingungen (…) die
Forschungsergebnisse, die unter spezifischen Untersuchungsbedingungen entwickelt
wurden, zutreffen“ (Steinke 2003:329). Dies wird einerseits durch die stete
Objektivierung der Daten erreicht (s.o.), andererseits soll dieser Punkt im
Diskussionsteil gesondert abgehandelt werden, auch im Hinblick auf zukünftige
Forschungsdesiderata (s. Kap. 6.3.).
6. Reflektierte Subjektivität: Hier handelt es sich um das Erfordernis, dass die Forscherin
als Subjekt und Teil der von ihr untersuchten sozialen Welt ihre eigene Rolle
innerhalb der Untersuchung reflektiert (Steinke 2003:330-331). Es ist unumgänglich,
dass die Vorannahmen und Einstellungen der Autorin den gesamten
Forschungsprozess als Hintergrundfolie prägen. Bereits das Interesse am vorliegenden
Untersuchungsgebiet impliziert eine bestimmte Haltung gegenüber dem
Untersuchungsgegenstand (bspw. ein emanzipatives Verständnis von Jugendarbeit
oder ein liberales Gesellschaftsmodell) und formt dementsprechend auch die
Forschungsanlage. Mit der sorgfältigen Auseinandersetzung mit empirischen und
theoretischen Annahmen (Kap. 2 und 3) wird jedoch versucht, das implizite
Vorverständnis zu explizieren und zu begründen, um dann auf dieser Basis das
methodische Vorgehen zu bestimmen und die Erhebung durchzuführen (bspw. die
Bestimmung von Auswahlkriterien des Samplings, der Beobachtungskriterien oder der
Fragen im Interviewleitfaden). Der Aufbau der vorliegenden Arbeit entspricht
demnach auch weitestgehend dem Vorgehen im Forschungsprozess und beschreibt
somit die stetige Elaboration des Wissens und der Einsichten der Autorin.
Ein weiterer wichtiger Aspekt in dieser Hinsicht ist die Position der Forscherin, die sie
während der Erhebung und gegenüber den Untersuchten einnimmt. Die systematische
Beobachtung im öffentlichen Raum ist zwar als eine eher non-reaktive Methode zu
bezeichnen, dennoch beeinflussen die aktuelle Befindlichkeit sowie die subjektive
Wahrnehmung und Bedeutungszuschreibung der Forscherin die Verarbeitung und
Interpretation der Beobachtungssituation. Schönes Wetter, eine angenehme
Atmosphäre im Untersuchungsgebiet wie auch eine positive Einstellung zum
Vorhaben wirken auf die Motivation und Ausdauer förderlich, umgekehrte
Vorzeichen hingegen eher hinderlich. Diese Faktoren sind auch für die
Interviewsituation von Relevanz; hier spielen aber aufgrund der direkten Interaktion
mit den Befragten noch weitere Faktoren eine Rolle. So ist es entscheidend, als
Forscherin das Vertrauen der Jugendlichen zu gewinnen, was je nach Vorzeichen und
Situation unterschiedlich gut gelingen kann. So ist beispielsweise davon auszugehen,
dass das Geschlecht sowie das Alter der Forscherin von den interviewten
Jugendgruppen unterschiedliche bewertet wird, sodass die Interviewerin mal als (fast)
gleichaltrige Komplizin, mal als erwachsene Autoritätsperson wahrgenommen wird.
Zwar kann versucht werden, mit dem eigenen Verhalten eine möglichst konstruktive
Interviewsituation zu generieren (Offenheit, Empathie, Interesse, Geduld, etc.), eine
vollständige Kontrolle ist jedoch nicht möglich. Aus diesem Grund wurde die jeweilige
Interviewsituation in der Form eines Post Skriptums festgehalten.
92
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
5
Darstellung der Ergebnisse
Die Darstellung der Ergebnisse ist thematisch entlang der zentralen Fragestellungen
Aneignung, Öffentlichkeit und Macht gegliedert und umfasst jeweils die Beschreibung sowie
die Analyse zur entsprechenden Thematik.
Im Rahmen der Beschreibung wird die Raumpraxis der in den drei untersuchten
öffentlichen Räumen Jugendlichen beschrieben, erörtert und im Kontext gedeutet. In diesen
Abschnitten stehen die Handlungen der Jugendlichen im Vordergrund sowie ihre
Wahrnehmung und Bedeutungszuschreibung der räumlichen Strukturen. Bei der
Beschreibung der Ergebnisse handelt es sich bereits um eine erste interpretative Bearbeitung
des Materials, weil es zusammengefasst und strukturiert und deshalb bereits mit Bedeutungen
durch die Autorin versehen wird.
Im Abschnitt zur Analyse, welche auf die Beschreibung folgt, wird versucht, über die
einzelnen öffentlichen Räume hinweg Bezüge innerhalb und zwischen den
Aneignungsdimensionen herzustellen. Ziel ist es, auf einem übergeordneten
Abstraktionsniveau allgemeine Aussagen zu Jugendlichen in öffentlichen Räumen zu machen
bzw. zentrale Motive von Jugendöffentlichkeiten herauszukristallisieren. Bei der Analyse
handelt es sich um eine systematische Interpretation des Datenmaterials anhand der
Vorgaben der ‚Beschreibenden und Erklärenden Analyse’ von Ritchie et al. (2003).
5.1 Jugendöffentlichkeit zwischen Reproduktion und Transformation räumlicher
Bedingungen
In diesem Unterkapitel wird auf die physischen Aneignungsformen in den drei
Untersuchungsgebieten eingegangen. In der darauf folgenden Analyse können drei
unterschiedliche Formen physischer Aneignung herauskristallisiert werden.
Physische Aneignung auf dem Barfüsserplatz
Die Treppen auf dem Barfüsserplatz, sei es nun rund um den gepflasterten Hauptplatz oder
hinauf zum Leonhardsschulhaus, nehmen für die physische Aneignung eine zentrale
Bedeutung ein: Hier wird gegessen, getrunken, gechillt oder auch einfach nur gesessen. Somit
beschränkt sich die Benutzung der Treppe meist auf einen passiven Gebrauch. Ähnlich
verhält es sich auch mit solchen Elementen, die eine Sitzgelegenheit bieten, wie beispielsweise
ein Schaufenstersims. Auch dort wirkt das Raumverhalten von vier beobachteten Mädchen
„eher passiv (…). Ihr Verhalten ist (…) auf engen Raum begrenzt, einzig die selten
ausgestreckten Beine ragen in den öffentlichen Gehsteig hinein und machen so auf die
Mädchen aufmerksam. Sie sind eher am Rand des Platzes stationiert, sitzen in einer Art
Nische (Beo_Barf3:2).“ Das Aufsuchen solcher Orte kann einer konkreten Intention folgen
(zur fliegenden Verpflegung), kann aber ebenso auch Ausdruck einer spontanen bzw.
unintendierten Handlung sein: „Und wir hatten keine Lust zum Herumlaufen und dann
haben wir gedacht, wir sitzen hier hin“ (Barf2:61). Das Geländer an der zentralen
Tramhaltestelle stellt ein weiteres räumliches Element dar, auf welches die Jugendlichen in
93
ihrer Raumpraxis Bezug nehmen. Im Gegensatz zu den Treppen wird dieses Geländer aktiv
angeeignet: Es dient nicht nur zum Anlehnen oder sich Draufsetzen, sondern es fungiert als
stabiler Bezugspunkt beweglicher Jugendgruppen: „Auch diese fünf Jungs wechseln ständig
ihre Positionen: Anfangs sitzen zwei auf dem Geländer, die anderen stehen, einige Minuten
später lehnen sie allesamt in einer Reihe am Geländer, während der Ältere sich ihnen schräg
zuwendet“ (Beo_Barf1:7). Das Geländer dient den Jungen als Orientierungspunkt für den
eigenen Körper (Sitzen, Lehnen), sie stehen immer in Bezug zum Gestänge. Auch fungiert es
als Verbindungslinie zwischen den Jugendlichen: Die beobachteten Knaben sind nur
zeitweilig miteinander im Gespräch, es ist auch nicht offensichtlich, ob sich alle untereinander
kennen; teilweise platzieren sich auch wartende Fremde zwischen den einzelnen Jugendlichen.
Jedoch sind die Knaben über ihr Aneignungsverhalten zueinander in Bezug zu setzen
(Beo_Barf3:13).
Während bei dieser Form von Aneignung die räumlichen Strukturen verbindend wirken
und zur Bewegung anregen, verweisen andere Raumpraktiken auf Besitzergreifendes
Verhalten: Eine beobachtete Jungengruppe beispielsweise, die sich auf einem schmalen
Bürgersteig unterhalb der Leonhardstreppe aufhält, beschränkt sich einerseits auf einen
kleinen Ausschnitt des beobachteten Raumes. Durch die Enge des Bürgersteigs wirken sie fast
ein wenig eingeklemmt, auch die sogleich angrenzende Tramschiene schränkt ihre
Bewegungsfreiheit ein; die Jungen bleiben an Ort und Stelle. Die Raumnutzung wirkt passiv
und aufgrund der räumlichen Bedingungen (viele Leute, enger Durchgang, Verkehr)
eingeschränkt. Andererseits kann dieses Verhalten auch als Raum ergreifend verstanden
werden, weil die Gruppe durch die Wahl ihres Standortes viele Menschen am Durchgehen
behindern. Sie stehen an einem Nadelöhr, positionieren sich dort ohne Rücksicht auf andere
Passanten. Auch die Fahrräder, die die Jungen mit in die Gesprächsrunde stellen, versperren
zusätzlich den Weg. Die Passanten müssen die Gruppe umgehen oder wenn ein Tram gerade
vorbeifährt auch kurz abwarten (Beo_Barf2:8). Schliesslich fungiert der Barfüsserplatz für
viele Jugendliche auch als Transitort (vgl. Abb. 7).
Die physisch-materiellen Strukturen des Barfüsserplatz können von den Jugendlichen, wie
beschrieben, meist ohne Probleme angeeignet werden, insbesondere die Treppen und
Vorsprünge dienen als Sitzgelegenheit. Dementsprechend schwierig ist es aber für
Jugendliche, dies auch bei nassem und kaltem Wetter oder bei sehr starker
Sonneneinstrahlung umzusetzen. So schlägt dann auch ein Mädchen vor, Sonnenschirme bei
den Treppen aufzustellen, um sich vor der Sonne schützen zu können (vgl. Barf1). Was
Jugendliche ebenfalls als Restriktion ihrer physischen Aneignung erleben, ist das Fehlen einer
sauberen Toilette – vorausgesetzt sie verweilen längere Zeit auf dem Barfüsserplatz.
94
© (Jahr) Newsletter Lehrstuhl Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit Bd(Nr): S-S
Abbildung 7: Aneignungsplan Barfüsserplatz
95
Physische Aneignung im Gartenbad Bachgraben
Einer der zentralsten Aneignungsleistung erbringen Jugendliche durch das Suchen und
Belegen eines Liegeplatzes. Es handelt sich dabei meist um die erste Handlung, nachdem die
Jugendlichen das Gartenbad betreten haben (Bach1:207ff):
„Interviewerin: Also fangt mal an, ihr kommt, genau, ihr kommt rein beim
Eingang und zahlt, und was passiert als nächstes?
Person 3: Platz suchen. Nicht gerade wo viele Leute sind, Schatten, Sonne beides,
würde ich mal sagen.
Person 2: Es kommt darauf an, ob man schon umgezogen ist oder nicht. Dann
muss man in die Kabine.
Person 3: Aber als erstes jedenfalls Platz suchen, dann (...) weiss auch nicht, reden
(...) kommt darauf an was man dabei hat, Musik hören.
Person 2: Tuch hinlegen. Irgendwo sich hinlegen. Ja, ein wenig erzählen von
gestern oder so, vom Freitag.“
Dieses Zitat macht deutlich, dass „sich-einen-Platz-suchen“ als physische Aneignung
ebenso soziale Aspekte aufweist: Den Platz sucht und wählt man einerseits auf der Basis einer
gemeinsamen Entscheidung in der Gruppe, andererseits achtet man bei der Auswahl darauf,
welche anderen Personen sich wo befinden. Aus den Beobachtungen und Aussagen der
Befragten ist demnach abzuleiten, dass sich die meisten Jugendliche in einem ganz
bestimmten Areal niederlassen, wo sie vor allem unter sich sind. Es handelt sich dabei um die
Liegewiese im unteren linken Bereich des Geländes (s.u. Aneignungsplan): „Also eben vor
allem hier, wo Jugendliche mega viel sind. Das ist eigentlich unser Standort, wo wir eigentlich
meistens am Baden sind und am Chillen sind“ (Bach3:63). Wenn diese Jugendliche also ihren
Liegeplatz aussuchen, ihr Tuch ausbreiten und sich dort einrichten, nehmen sie auch ein
bestimmtes Territorium für sich in Anspruch, markieren ihren eigenen Platz mit ihren
Gegenständen und Körpern. Gleichzeitig grenzen sie sich von anderen Nutzergruppen wie
Familien oder Kindern ab, die sich an anderen Standorten niederlassen. Dieses Einteilen des
Gartenbades in verschiedene Territorien dient dem harmonischen Umgang zwischen den
Gruppen. Oft werden die Kinder genannt, auf die Rücksicht genommen werden sollte, da sie
andere Bedürfnisse als die Jugendlichen haben (Bach1:139ff):
„Person 1: Eigentlich von hier kann man sozusagen sagen, hier, die, hier eigentlich
nicht. Dieser Bereich, denn hier sind eigentlich so kleinere Kinder mit den
Müttern also mit den Eltern einfach hier, also hier hintendurch eigentlich so.
Interviewerin: Und was würdet ihr sagen ist jetzt der Unterschied eben also so von
der Atmosphäre zwischen hier und hier? […]
Person 3: Ja ich denke mal, dann ist man einfach in seinem, im Bereich vom Alter.
Also ich meine so bei Kleinkindern oder weiss auch nicht, und ich denke, so kann
man auch Leute kennen lernen und ja. (…) Ich meine es kommt auch immer
darauf an, mit wem man geht, wenn man mit Familie geht oder so, dann würde
ich auch mit meinen, zum Beispiel ich habe zwei kleinere Brüder und ich mit
96
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
ihnen auch einfach schauen, wo sie hingehen, ich denke, sie wollen jetzt nicht
gerade hier, wo alle rauchen und weiss auch nicht was. Vielleicht schon irgendwo,
wo man irgendetwas spielen kann oder einfach halt so zum Alter entsprechend.“
Dieses Beispiel verweist darauf, dass die Möglichkeit, sich als Jugendliche in einen
bestimmten Teilbereich des Bades zu konzentrieren, Vorteile für alle Altersgruppen bringen
kann. Eine räumliche Trennung ermöglicht die Befriedigung aller Bedürfnisse ohne
gegenseitige Störung. Auch das folgende Beispiel begründet die Einrichtung
Altersentsprechender Bereiche, wie beispielsweise ein Kinderbecken oder einen Spielplatz für
Kinder sowie ein Becken für Jugendliche, mit den unterschiedlichen Bedürfnissen
(Bach2:69f):
„Person 3: Und beim Schwimmbad, (früher?) ist, früher bin ich doch nicht hier
[Nichtschwimmerbecken] hinein gegangen, dann bin ich immer hier hinein
[Kinderbecken] gegangen, weil ich der Kleine war. Ist doch eben für Kinder oder,
so sieben, sechs Jahre, so. Und dort gefällt es mir einfach, als ich noch Kind war,
oder. Und als ich noch klein war, dann ging ich hierher.
Person 1: Also zu den Kinder, ich finde es einfach respektvoll, ich meine, wir sind
grösser geworden, wir haben ein grosses Becken, und für Kinder ist auch etwas
hier. Das finde ich einfach noch gut und zum Rasen, ich finde es einfach einen
unnötig grosser Platz. Ich meine, wenn man könnte es für etwas anderes
ausnutzen, man könnte etwas, noch einen Spielplatz bauen, oder so etwas, das
würde auch noch gerade passen zum Kinderbecken.“
Während die genannten Beispiele auf ein harmonisches Nebeneinander verweisen,
beschreibt eine andere Mädchengruppe die Kopräsenz von unterschiedlichen Altersgruppen
als problematisch. Sie selbst ziehen sich explizit aus den Kinderbereichen zurück, um
möglichen Konflikten aus dem Weg zu gehen, und bewerten die für Kinder typischen
Bereiche als „Kindergarten“, mit welchem sie selber lieber nichts zu tun haben wollen
(Bach3:56ff). Hier verweist die Aufteilung in Territorien zwischen Jugendlichen und Kindern
eher auf einen Konflikt hin, der aber nicht offen ausgetragen wird. Er ist implizit spürbar, weil
das Verhältnis zwischen den Kindern und Jugendlichen aus der Sicht der befragten Mädchen
von Misstrauen und Abwertung geprägt ist. Die territoriale Besetzung von Teilbereichen des
Gartenbades durch die Jugendlichen dient in erster Linie der Konfliktvermeidung und
Distanzierung. Schliesslich wird die territoriale Einteilung des Gartenbades auch als
Einschränkung wahrgenommen, wenn man sich beispielsweise in einem fremden Territorium
unwohl oder bedroht fühlt und deshalb auf etwas verzichtet, das man gerne hätte. Dies ist im
Gartenbad Bachgraben vor allem dort der Fall, wo sich in erster Linie Jugendliche aus
Frankreich aufhalten und diese zu gewissen Jugendlichen in einem konfliktiven Verhältnis
stehen. Es handelt sich dabei um den Bereich rund um das Volleyballfeld. Eine der befragten
Jugendgruppen beschreibt, auf welche Probleme sie in diesem Bereich treffen und wie sie
versuchen, diesen aus dem Weg zu gehen (Bach1:252ff):
„Von den Franzosen? Ja, ich und er, wir sind manchmal dort, manchmal machen
wir so kleine Turniere Fussball. Dann sind sie gerade, die werden gerade mega
97
aggressiv oder. Sie werden gerade aggressiv, wenn sie verlieren und so, solche
Leute sind einfach zum schlagen. […]
Person 3: Ja ich denke, hier gibt es halt Grüppchen. Eben zum Beispiel die
Franzosen, die dort ihr Eckchen haben, und die anderen. Ich weiss jetzt nicht, wie
sie sich jetzt dort aufführen oder keine Ahnung.
Interviewerin: Und wie könnt ihr eben dem aus dem Weg gehen?
Person 2: Eben, wenn man halt ein wenig weiter weg sitzt.“
98
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
Abbildung 8: Aneignungsplan Gartenbad Bachgraben
99
Dieses Beispiel zeigt auf, dass auch zwischen den Jugendlichen territoriale
Aufteilungen existieren, die auf gegenseitige Abgrenzungen hinweisen. So grenzt sich
beispielsweise die letzte Mädchengruppe explizit von denjenigen Jugendlichen ab, die sich auf
der Jugendwiese aufhalten, um versteckt vor anderen Badegästen zu rauchen, zu trinken oder
zu kiffen (Bach4:153ff):
„Interviewerin: Ihr habt schon ein wenig gesagt, also hier irgendwie, was hier sind
irgendwie viele Leute die kiffen, oder was? […]
Person 3: Dort hinten [in der untertesten linken Ecken des Geländes] sind alles
Ghetto-Kinder ja.
Person 4: Ja eben, das ist es. So Abstürze.
Person 1: Dann rauchen sie alle Shisha und so und beim Eingang steht einfach so
ein Riesenplakat "Shisha rauchen verboten". Ich lachte gerade kaputt vorhin.
Interviewerin: Was sind Ghetto-Kinder?
Person 4: So Abstürze halt!
Person 1: Ja, diejenigen, die halt eben kiffen und rauchen.
Person 3: Die, die sich meinen, dass wenn sie rauchen, dass sie voll cool sind, und
wenn sie trinken.“
Zusammenfassend kann also davon ausgegangen werden, dass die physische Aneignung
eines Liegeplatzes eine bedeutende Handlung der Jugendlichen ist. Der Platz bestimmt den
Aufenthaltsort an diesem Tag, zum Teil für mehrere Stunden, und mit ihm sind verschiedene
Bedürfnisse verbunden, die er optimal zu erfüllen hat. Neben den objektiven Kriterien wie
Beschaffenheit oder Lage entscheiden insbesondere soziale Faktoren darüber, welcher Platz
ausgesucht wird.
Weitere physische Aneignungsformen kann man dort beobachten, wo Jugendliche,
ähnlich wie beim Barfüsserplatz, Treppen oder Absätze zum Sitzen und Entspannen nutzen.
Die Besonderheit im Gartenbad Bachgraben liegt darin, dass diese Treppen immer hin zum
Becken gerichtet und deshalb als eine Art Zuschauerbühne konzipiert sind und sich deshalb
hervorragend zum Beobachten der anderen Badegäste eignen. Auf diese soziale
Aneignungsmöglichkeit wird noch weiter unten eingegangen.
Während der Liegeplatz sowie die Treppen eher als passive Nutzungen bezeichnet werden
können, eignen sich die Jugendlichen die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten des Gartenbades
auch aktiv an, jedoch meist in der bereits vorgegebenen Funktion: den Tischtennistisch zum
Pingpong-Spielen, das Schwimmerbecken zum Längen schwimmen, das Volleyballfeld zum
Ballspielen, etc. So stellt eine Jungengruppe mehrmalig vor allem die Funktionalität der
verschiedenen Einrichtungen in den Vordergrund: „Dann kommen wir halt zum VolleyballPlatz. Ich meine es ist praktisch, man kann spielen, man kann sich austoben“ (Bach2:57).
Praktisch beschreibt hier ein positives Attribut, nämlich dass das Volleyballfeld seine
Funktion erfüllt und die Bedürfnisse der Jungen befriedigt. Neben der Aneignung im Rahmen
der vorgegebenen materiell-physischen Funktion bieten aber viele der genannten
Einrichtungen auch unterschiedliche Nutzungsmöglichkeiten und –varianten – als Beispiel
hier die Fortsetzung des vorherigen Zitates (Bach2:57ff):
100
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
„Person 1: (…) Hast du noch was?
Person 3: Saltos üben einfach.
Interviewerin: Wie?
Person 3: Saltos und so üben.
Interviewerin: Salto dort beim Volleyball?
Person 3: Ja, auf dem Sand.“
Besonders typisch für solcher auf Veränderung ausgerichtete Aneignungsformen ist die
Aneignung einerseits des Sprungbretts und andererseits der Rutschbahn. Diese beiden
Elemente des physisch-materiellen Substrats des Gartenbades werden zwar meist innerhalb
der vorgegebenen Funktion genutzt – also das Sprungbrett zum Springen und die Rutschbahn
zum Rutschen – gleichzeitig versuchen gewissen Jugendliche diese Funktionen jedoch
auszuweiten und ihre Grenzen auszuloten. Im Folgenden ein Beispiel für die Rutschbahn
(Beo_Bach4:3):
„Nach ungefähr 20 Minuten begeben sich die vier Jungs zur Rutschbahn. Diese
nutzen sie nun ausgiebig, in jeweils unterschiedlichen Formationen (alleine oder
in der Gruppe) rutschen sie ins Wasser. Dabei versuchen sie sich in immer neuen
Möglichkeiten des Runterrutschens: Auf den Knien, auf den Füssen, auf dem
Rücken drehend, mit Schwung durch das Pendeln am oberen Geländer und mit
viel Gespritzte dank einem Absprung am Ende der Rutsche ins Wasser.“
Obschon die Rutsche in ihren Funktionen auf den ersten Blick als begrenzt erscheint,
erweitern die hier beobachteten Jungen mit ihren neuen Techniken das Möglichkeitsspektrum
der Nutzung. Ebenso beim Sprungbrett (hier eine Aussage auf die Frage nach der präferierten
Rolle im Gartenbad, Bach2:329ff):
„Person 2: Das Sprungbrett würde ich wählen.
Interviewerin: Also der Springer, quasi? Was ist das spezielle an dieser Rolle?
Person 2: Kann man ALLES ausprobieren, was man will, alle möglichen
Drehungen, alle möglichen Posen. Alles, das ist einfach mein bestes.“
Die Beispiele machen deutlich, dass die Transformation und Erweiterung materiellphysischer Nutzungsmöglichkeiten als herausragende Form der physischen Aneignung auch
einen symbolischen Aspekt aufweisen, weil sie den betreffenden Jugendlichen die Möglichkeit
geben, sich in der Öffentlichkeit zu inszenieren (s. Kapitel 5.2.).
Schliesslich soll noch ein letzter Aspekt der physischen Aneignung erwähnt werden:
Mehrmalig konnte beobachtet werden, wie Jugendliche die einzelnen Elemente des
Nichtschwimmerbecken (Rutschbahn, Beckenränder, Wasserfontäne, die Betonfläche rund
um das Becken sowie einen Beckenabschnitt mit stärkerer Wasserströmung) durch ihre
Bewegung ihres Körpers durch den Raum miteinander zu eine Art Parkour verbinden.
Beispiele aus den Beobachtungsprotokollen können dies wohl am besten aufzeigen:
101
„Als Gruppe steigen sie die Stufen ins Nichtschwimmerbecken hinab, wobei zwei
der Mädchen zögern und kurzzeitig zurückbleiben, andere vorübergehend
untertauchen oder einige Züge schwimmen; anschliessend sammeln sie sich
wieder in der Mitte des Beckens und reden miteinander. Die Jugendlichen können
im Bad gut stehen, das Wasser reicht ihnen bis zur Brust. […] Anschliessend
waten sie im Schritttempo gemeinsam durchs Becken, queren in ruhigem Tempo
einen Durchgang mit erhöhter Strömung (weiterhin im Gespräch), um
anschliessend wieder zu den Stufen zurückzukehren“ (Beo_Bach2:3).
„Diese drei Buben (13-14 Jahre) sind sehr aktiv und sich stets gegenseitig am
Necken. So spritzen sie sich unermüdlich an oder stossen sich vom Beckenrand
ins Wasser. Auch sind sie unentwegt in Bewegung, nutzen neben der Rutschbahn
auch den Beckenrand, den Strudelbereich und stehen ebenso auf der Plattform,
wo sich die Springbrunnen befinden. Diesen durchschreiten sie mehrmalig und
versuchen mit den Händen einen Strahl zu formen und andere anzuspritzen. […]
ihr Interesse gilt den zahlreichen Nutzungsmöglichkeiten“ (Beo_Bach_Rep:9).
Obschon die beiden Beispiele zwei unterschiedliche Formen der Aneignung beschreiben –
das erste eher eine ruhige und auf die Gruppe bezogene, die zweite eher eine ausgelassene und
nach aussen gerichtete Aneignung – ist ihnen gemeinsam, dass die Jugendlichen sich die
unterschiedlichen Elemente des Nichtschwimmerbeckens durch die eigene körperliche
Bewegung zu eigen machen und für das gemeinsame Gespräch oder das spielerische Austoben
nutzbar machen können.
Die physisch-materiellen Strukturen des Gartenbades Bachgraben können von den
Jugendlichen wie beschrieben auf vielfältige Weise angeeignet werden: Erstens schaffen sie
sich durch das Aussuchen und Belegen eines Liegeplatzes einen eigenen Standort sowie ein
spezifisches Jugendterritorium, das ihre Bedürfnisse nach Ruhe, Selbstregulierung und
sozialem Austausch unter seinesgleichen optimal befriedigt. Zweitens nutzen die Jugendlichen
die unterschiedlichen Einrichtungen des Freibades ausgiebig, teils entsprechend der
vorgegebenen Funktion, teils die Funktion verändernd und erweiternd. Drittens eignen sich
die Jugendlichen die Treppen und Beckenränder als Zuschauerränge an, um andere Badegäste
zu beobachten und zu kommentieren. Schliesslich ermöglichen das Restaurant und der Kiosk
sowie auch die Toiletten den Jugendlichen, sich über einen längeren Zeitraum im Bad
aufzuhalten und die Aneignungsmöglichkeiten somit vollends auszuschöpfen. Im Gegensatz
dazu nennen viele Jugendliche auch Einschränkungen ihrer Aneignung, die in erster Linie auf
die physisch-materiellen Strukturen zurückzuführen sind: Beispielsweise bergen gewisse
Nutzungen Gefahren oder Unannehmlichkeiten in sich (z.B. Ertrinkungsgefahr im Wasser,
Verletzungsgefahr auf Sprungbrett oder Rutschbahn, vgl. Bach3:349ff oder Bach4:101f, sowie
Bienenstiche im Rasen, vgl. Bach4:197f), die es zu vermeiden gilt, oder die Jugendlichen
fühlen sich von gewissen materiell-physischen Einrichtungen nicht angesprochen (bspw.
keine Lust Längen zu schwimmen oder auf die Rutschbahn zu gehen, vgl. Bach1:56 oder
Bach2:195). Wie erwähnt ziehen sich einige Jugendliche auch bewusst aus gewissen
Territorien zurück, weil sie dort einen Konflikt zu befürchten haben oder sich vom Verhalten
anderer abgrenzen möchten. Besonders negativ bewerten mehrere Jugendgruppen den
Eingangsbereich: Dieser wird aus unterschiedlichen Gründen als Hürde betrachtet, die es zu
überwinden gilt, um sich Zugang zum Gartenbad zu verschaffen (Bach2:48):
102
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
„Person 1: Also fangen wir an beim Eingang, gerade dort rechts oben. Beim
Eingang ist es so, es kommen manchmal, die, welche dort arbeiten, oder? Also
manchmal haben sie so eine freche Art mit den Mitmenschen und manchmal
haben sie eine gute Art, und dann finde ich es einfach blöd. Und meiner Meinung
nach müssten sie auch mehr Kassen haben, ich meine es stehen so viele Leute an
und man muss unnötig warten, man wird gestresst und das kann auch zu
Problemen führen, das ist auch blöd.“
Dieser meist negativ empfundene Erstkontakt mit dem Gartenbad führen die
Jugendlichen wie im obigen Beispiel unter anderen auf die materiell-physischen Bedingungen
zurück (Enge, zu wenig Kassen). Ebenso spielen aber auch soziale (unfreundliche
Kassiererinnen, Konflikte mit anderen Badegästen) sowie symbolische Aspekte (Kauf eines
Eintrittstickets) eine Rolle.
Weiter wünschen sich alle befragten Jugendgruppen physische Veränderungen, die vor
allem darauf abzielen, die vorhandenen Nutzungsmöglichkeiten noch zu erweitern: So fordert
eine Gruppe die Einrichtung eines Grillplatzes, mit dem Ziel das Gartenbad als soziale
Einrichtung aufzuwerten (vgl. Bach1:476ff); andere Interviewpartner hätten grosse Freude an
einer neuen Fall-Rutschbahn, wie sie bereits im Gartenbad St. Jakob gibt (vgl. Bach4:966ff). In
der weiteren Diskussion über die Realisierbarkeit dieser Wünsche sind sich die Jugendlichen
unsicher darüber, wer ihre Forderungen unterstützen würden und inwiefern ihre Bedürfnisse
überhaupt gerechtfertigt seien (z.B. zu gefährlich, zu aufwendig, zu störend, etc.). Es scheint
den Jugendlichen demnach eher zu gelingen, die vorhandenen Einrichtungen zu
transformieren, als neue Nutzungsmöglichkeiten einzufordern.
Physische Aneignung auf der Dreirosenanlage
In den Befragungen wie auch Beobachtungen wird offensichtlich, dass die Jugendlichen alle
vorhandenen physischen Abschnitte und Einrichtungen der Dreirosenanlage auf vielfältige
Weisen nutzen; abgesehen von einem von allen befragten Jugendlichen negativ bewerteten
Picknicktisch, der sich unter der Dreirosenbrücke nahe den Graffitis und Abfallcontainern
befindet, erscheint ihnen die gesamte Anlage als anregend. So werden unzählige Orte zum
passiven Verweilen aufgesucht: auf der Wiese Liegen, auf den Treppen vor dem
Jugendtreffpunkt Sitzen, sich auf den vielen Sitzbänken Niederlassen und Reden, auf dem
Hartplatz Herumstehen und Plaudern und vieles mehr. Die soziale Komponente dieser Form
der physischen Aneignung spielt dabei eine bedeutsame Rolle, da die Aneignung der
physisch-materiellen Elemente dem sozialen Austausch in der Jugendgruppe dient.
Abgesehen davon nutzen die Jugendliche die Dreirosenanlage vor allem für sportliche und
spielerische Betätigungen (Fussball, Basketball, Tanzen, Verstecken spielen, etc.). Aus den
Beobachtungen wie auch den Interviews ist abzuleiten, dass sich diese aktive Form der
physischen Aneignung auf einem breiten Spektrum vom ehrgeizigen Training über den
spielerischen Wettbewerb bis zum ausgelassenen Rumtollen erstreckt. Die Vermischung von
physischer und sozialer Aneignung wird auch hier evident. Während des physisch
orientierten Spielens oder zwischen zwei Spielphasen treten immer wieder soziale Aspekte in
den Vordergrund: So nimmt die Begegnung von Basketballspielenden nach einem
konzentriertem Spiel auf dem Hartplatz eine gesellige und räumlich verzettelte Form an, sie
103
lachen und scherzen in kleinen Gruppen und zeigen sich gegenseitig Balltricks vor, um sich
dann im Anschluss erneut zu einem gesammelten Spiel zusammenzufinden. Der Hartplatz
wirkt demnach verbindend, er verknüpft die unterschiedlichen Funktionen (spielerische
Betätigung, Ort des Zusammenseins sowie Repräsentation der eigenen Fähigkeiten)
miteinander und erlaubt somit eine vielseitige Nutzung (vgl. Beo_Drei2).
Eine andere beobachtete Gruppe vor dem Jugendtreffpunkt weist ebenfalls ein paralleles
Auftreten von spielerischen und sozialen, von aktiven und passiven Tätigkeiten auf
(Beo_Drei1:4):
„Das Gruppenverhalten ist von Bewegung geprägt: Selten bleibt ein
Gruppemitglied für längere Zeit an einem Ort, sondern es herrscht ein
immerwährender Wechsel zwischen Sitzen, Stehen, Umhergehen oder eben auch
Ballspielen oder Fahrradfahren. Dabei bleiben die sich in Bewegung befindenden
Jugendlichen stets in Kontakt mit den weniger mobilen Jugendlichen, immer
wieder kehren sie zurück und klinken sich in die Gespräche ein. So nimmt die
Gruppe insgesamt etwas eine Fläche von 18m2 ein. Dabei gruppieren sich die
Jugendlichen an der Treppe relativ eng beieinander: […] Diese Szene alleine
betrachtet würde den Eindruck erwecken, die Jugendlichen nutzen den Raum
lediglich passiv und sie seien auf engen Raum begrenzt. Die Beweglichkeit der
Gruppenmitglieder und insbesondere auch ihre mobilen Elemente (Fahrrad,
Fussballspiel) machen aber deutlich, dass sie vielmehr Raum greifend agieren, ihn
aktiv nutzen und stets in Bezug zu den sozialräumlichen Bedingungen auftreten.“
Obschon sich die Mehrheit dieser 14-köpfigen Jugendgruppe dem Raum gegenüber eher
passiv verhält, werden sie von den raumgreifenden Jugendlichen (zwei mit einem Fussball
spielende Jungen, ein Junge auf einem BMX fahrend) sowohl in physischer als auch in sozialer
Hinsicht in Bewegung gehalten: Ihre Form der aktiven Raumnutzung prägen die
Diskussionsthemen und das Gruppenverhalten der Jugendlichen mit. So animiert ein
Fussballspielender beispielsweise einen anderen Knaben dazu, sich mit ihm im Balljonglieren
zu messen (vgl. Beo_Drei1:7), oder der Junge auf dem Fahrrad provoziert die sitzenden
Madchen so weit, dass eines davon aufsteht und ihm hinterher rennt (vgl. Beo_Drei2:4). In
diesem Sinne verbindet das physische Aneignungsverhalten Einzelner die Gruppe
untereinander und erweist sich als für den gesamten Sozialraum prägend. Indem die Aktiven
die von den Jugendlichen genutzte Fläche vor dem Jugendtreffpunkt mal zu einem Spielfeld,
mal zu einem Ort des Wettbewerbs machen, variieren sie auch die Funktion dieses
Raumabschnitts und ihre Beziehungen darin.
Ein drittes Beispiel macht indes deutlich, wie das Tanzen als eine Form der Aneignung auf
der Dreirosenanlage ebenso eine repräsentative Komponente aufweist (Drei2:162):
„Ah, eben einmal waren diese Jerkers50 hier in der Mitte, also nicht die Capkidz
sondern die Kleineren [Young Capkidz], jerkten irgendwie rum, dann kamen ich
50 Das Jerken ist ein amerikanischer Tanzstil und kann als eine Jugendkultur charakterisiert werden. Nach
Angaben einer befragten Jugendgruppe, die sich selber als Jerkcrew (Capkidz bzw. Young Capkidz) bezeichnet
und bereits an mehreren Tanzwettbewerben teilgenommen hat, ist dieser Tanzstil in der Schweiz nicht
verbreitet; in Basel existiere nur auf der Dreirosenanlage so etwas wie eine Jerkkultur, die aktiv gelebt würde (vgl.
Drei1).
104
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
und Steffi und tanzten mit, sagten immer "Ja, also bring mir das bei" wir konnten
eh schon alles und dann waren hier so andere Leute, die uns die ganze Zeit
zuschauten, und dann hörten sie nicht mehr auf und dann rannten wir hier so
rum und hatten voll den Spass zusammen, gell? (Person 4: Ja.) Waren glaub ich
sogar (Wafers?) oder so, glaube ich, weiss auch nicht, und dann standen die Typen
hier auf, fingen auch an zu tanzen und dann flippte ich aus, weil ich hasse es,
wenn ich am Tanzen bin und dann schaut man mich und dann tanzt man auch,
dass ist dann so wie ein Battle.“51
51 Unter einem Battle ist ein (institutionalisierter oder informeller) Tanzwettbewerb zu verstehen, bei welchem
die Beteiligten nacheinander vor Publikum tanzen und dabei ihre tänzerischen Fähigkeiten messen.
105
Abbildung 9: Aneignungsplan Dreirosenanlage
106
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
Ein weiteres Charakteristikum des physischen Aneignungsverhaltens von Jugendlichen
auf der Dreirosenanlage ist neben der sozialen Vernetzung ebenso ein grenzüberschreitendes
Verhalten. Mehrmalig konnte beobachtet werden, wie die einzelnen Raumabschnitte des
Geländes durch die Handlungen der Jugendlichen miteinander verbunden werden,
beispielsweise durch ein raumgreifendes Fussballspiel über die Grünfläche hinaus, in der
Form von der Durchquerung des Geländes zu Fuss oder per Fahrrad oder durch körperliche
Bewegung über den Standort der Gruppe hinaus. Territoriale Besetzungen werden von den
befragten Jugendlichen nicht genannt und sind auch nur selten zu beobachten (vgl.
Beo_Drei3). Die Situationen, in welchen Besetzungen auftreten, zum Beispiel vor dem
Jugendtreffpunkt (vgl. Beo_Drei1) oder während des Basketballspiels auf dem Hartplatz (vgl.
Beo_Drei2), sind meist temporärer Art und werden durch Raumgreifende und verbindende
Aneignungsformen aufgelockert.
Zusammenfassend werden die vorhandenen physisch-materiellen Strukturen (Sport- und
Spielplätze, Sitz- und Liegeflächen, Jugendtreffpunkt inkl. Infrastruktur) von den
Jugendlichen ohne Schwierigkeiten angeeignet. Die physische Aneignung ist durch Bewegung,
Ausdehnung und Verbindung gekennzeichnet, was davon zeugt, dass sich die Jugendlichen
frei von physischen Einschränkungen bewegen können. Wie die Beispiele verdeutlichen, wird
das gesamte Areal von jugendlichen Aneignungsverhalten überspannt, beinahe alle möglichen
Raumausschnitte können genutzt werden. Die Ausprägung dieser Form der Aneignung lässt
sich anhand der Weiterführung des ersten Beispiels erörtern: Wie beschrieben hält sich die
grosse Jugendgruppe im Eingangsbereich des Jugendtreffpunktes auf und verweilt dort
beinahe eine ganze Stunde. Nach und nach verlassen einzelne Gruppenmitglieder den
Standort und gesellen sich zu an anderen Orten stationierten Jugendlichen. Nach der
Auflösung der Gruppe zeigt ein Standortwechsel der Beobachterin (auf die Dreirosenbrücke
mit Sicht von oben auf den gesamten unteren Bereich der Dreirosenanlage) auf, dass sich die
zuvor beobachteten Jugendlichen an einer neuen Stellung, konkret auf dem geteerten Weg auf
der dem Jugendtreffpunkt gegenüberliegenden Längsseite formieren und sich mit neuen
Jugendlichen aus anderen Richtungen treffen: „Auffallend ist an dieser Stelle die sich
wechselnde Bewegung der Gruppenmitglieder zwischen Dispersion und Konzentration:
Nachdem sich die Gruppe über eine Stunde hinweg beinahe aufgelöst hat, findet sie auf
spontane Art und Weise wieder zusammen. Aus der Vogelperspektive lässt sich nun erneut
beobachten, was bereits beim ersten Standort deutlich wurde: Die Dynamik und
Beweglichkeit der Jugendlichen ist sehr hoch, immer wieder formieren sie neue
Untergruppen, um sich nur kurz darauf wieder in neuen Konstellationen zusammenzufinden“
(Beo_Drei1:12f).
Die physischen Aneignungsformen sind von einer starken Identifikation der Jugendlichen
mit der Dreirosenanlage geprägt. Die Jugendlichen fühlen sich sehr wohl hier, schätzen die
Nutzungs- und Kontaktmöglichkeiten und einige verbringen einen Grossteil ihrer Freizeit auf
dem Gelände: „Interviewerin: Und wann seid ihr denn so typischerweise hier? Person 5:
/Person 4: Jeden Tag (lachen)“ (Drei2:37). Es nur einige wenige materiell-physische
Raumausschnitte (Längsverlaufende Flüsschen und die angrenzende Dreirosenbrücke), die
107
von einer Mädchengruppe als negativ bewertet werden; sie schränken jedoch die
Aneignungschancen der Mädchen nur geringfügig ein (vgl. Drei3).
Analyse der physischen Aneignung in öffentlichen Räumen
Versucht man die überaus vielseitige Aneignungspraxis der einzelnen Jugendgruppen in den
unterschiedlichen öffentlichen Räumen zu verallgemeinern, dann lassen sich drei
Ausprägungen von Aneignung voneinander unterscheiden:
 Reproduktion räumlicher Bedingungen: Viele der beobachteten und erfragten
Handlungen Jugendlicher in öffentlichen Räumen bewegen sich im Rahmen der von
den räumlichen Strukturen vorgegebenen Bedingungen. Konkret kann man hier von
einer aktiven oder passiven Nutzung öffentlicher Räume sprechen, die in erster Linie
die vorhandenen räumlichen Strukturen reproduziert. Dies gilt typischerweise für die
Dimension der physischen Aneignung, da diese direkt auf die Ausstattung eines
öffentlichen Raumes Bezug nimmt. In wenigen Fällen wurde durch die Jugendlichen
das materiell-physische Substrat eines öffentlichen Raumes direkt verändert. Auch im
Bezug zu den normativen und kulturellen Strukturen lässt sich feststellen, dass
Jugendliche die räumlich eingelagerten Normen- und Symbolsysteme übernehmen
und reproduzieren. Dies gilt beispielsweise für die Einhaltung gewisser vorgegebenen
Regeln oder die Orientierung an herrschenden Normensystemen wie das
geschlechtliche Rollenverständnis. Die Reproduktion räumlicher Bedingungen ist
jedoch nicht als minderwertig oder folgenlos zu verstehen, denn die Jugendlichen
leisten dadurch ihren spezifischen Beitrag zur Unterstützung der räumlichen Ordnung
(Ruhe, Sicherheit, etc.) sowie zur Aufrechterhaltung der in den Räumen verorteten
gesellschaftlichen Strukturen (Normensystem, Wertesystem, Umgangsformen, etc.).
 Transformation räumlicher Bedingungen: Die Analyse der Ergebnisse hat gezeigt, dass
gewisse Handlungen von Jugendlichen in öffentlichen Räumen darauf abzielen, die
vorhandenen räumlichen Strukturen zu verändern. Dabei eignen sich alle
untersuchten Aneignungsdimensionen dazu, auf das räumlich Gegebene aktiv Einfluss
zu nehmen. Die physischen Aneignungsformen wie Ausdehnen, Bewegen, Verbinden
oder Besetzen sind beispielsweise typische Verhaltensweisen von Jugendlichen, die auf
die Umnutzung der materiell-physischen Ausstattung eines öffentlichen Raumes
abzielen. Aber auch indem Jugendlichen ihre sozialen Beziehungen in öffentliche
Räumen pflegen und dort ihr Beziehungsnetz erweitern, formen sie das soziale Setting:
Durch ihre Anwesenheit sowie durch ihre Handlungen verändern sie die Atmosphäre
eines Raumes und im Rahmen von Interaktionen mit anderen Nutzergruppen
gestalten sie die im öffentlichen Raum verorteten sozialen Beziehungen. Ebenso
können die jugendspezifischen Ausdrucksweisen, gerade weil sie für anderen
Nutzergruppen sicht- und hörbar sind, das in den öffentlichen Räumen eingelagerte
Symbolsystem transformieren, beispielsweise wenn die Dreirosenanlage zur
Tanzbühne und somit Jugendkultur vor einem breiteren Publikum thematisiert wird.
Schliesslich wurden zahlreiche Beispiele aufgeführt, die belegen, wie Jugendliche das
normative Setting eines öffentlichen Raumes umgehen, verzerren oder auch
108
JUGENDÖFFENTLICHKEIT

eigenständig gestalten. In diesem Zusammenhang sind öffentliche Räume als
Möglichkeitsräume zu bezeichnen, welche den Jugendlichen selbstständige und
selbstwirksame Handlungen gestatten (vgl. Kap. 6.3.).
Opposition gegenüber räumlichen Bedingungen: Während es sich bei den oben
aufgeführten transformativen Praktiken um Aneignungsmöglichkeiten handelt,
können räumliche Strukturen die jugendliche Aneignungspraxis auch einschränken.
Einige Jugendliche akzeptieren diesen Zwang, bewerten ihn neutral bis positiv (z.B.
normatives Setting auf der Dreirosenanlage, Geschlechtsrollenverständnis im
Gartenbad Bachgraben…) und/oder hinterfragen ihn kaum. Andere Heranwachsende
hingegen stellen sich direkt oder implizit gegen vorhandene räumliche Strukturen und
kritisieren offen, was ihnen daran nicht gefällt. Man könnte sich nun vorstellen, dass
solche Konstellationen zu offenen Konflikten in öffentlichen Räumen führen oder dass
darauf zumindest eine Artikulation jugendlicher Wünsche erfolgt. Die
Untersuchungsergebnisse geben jedoch relativ wenig Hinweise auf opponierendes
Verhalten von Seiten der Jugendlichen. Zwar kann belegt werden, dass Jugendliche
Strategien entwickeln, um mit möglichen Einschränkungen umzugehen (z.B.
Ausweichstrategien der Raucherinnen im Gartenbad Bachgraben, Meidung von
erwachsenen Drogenkonsumenten auf der Dreirosenanlage…), ein Versuch, die
vorhandenen Strukturen aktiv anzugreifen, bleibt jedoch aus. Dies zeigt sich auch
darin, dass die Jugendlichen im Bezug zu ihren Veränderungswünschen eher
pessimistisch eingestellt sind, da sie nicht davon ausgehen, dass ihre Visionen von
anderen mächtigeren Nutzergruppen geteilt würden. Deshalb kann auch von einer
gewissen Stabilität räumlicher Strukturen gesprochen werden, da sie nur selten direkt
angegriffen werden.
5.2 Jugendöffentlichkeiten zwischen Sichtbarkeit und Privatheit
Im folgenden Kapitel werden die sozialen Aneignungsformen der Jugendlichen in den drei
Untersuchungsgebieten dargestellt und im Abschnitt zur Analyse zu einem Spektrum
zwischen sichtbaren und privaten Handlungen verdichtet werden. Dabei fliessen neben der
sozialen Aneignung auch repräsentative Verhaltensweisen in die Analyse mit ein.
Soziale Aneignung auf dem Barfüsserplatz:
Wie im Aneignungsplan zum Barfüsserplatz (Abb. 7) ersichtlich, lassen sich drei zentrale
Aneignungsformen identifizieren, die von unterschiedlicher Bedeutung für die jugendliche
Lebenswelt auf dem Barfüsserplatz sind. Erstens ist der Barfüsserplatz Ort des Konsums, der
vorwiegend in der Gruppe stattfindet. Es ist verbunden mit dem gemeinsamen Gespräch oder
Zusammensein. Der Konsum stellt dabei auch ein wichtige Form der symbolischen
Aneignung dar: Jugendliche auf dem Barfüsserplatz verpflegen sich an ganz bestimmten
Orten (McDonalds, Dönerbox, Has Sofra, Papa Joe’s, Lolipop, etc.) (vgl.
Beo_Barf_Transit:2/26), die für sie sowohl eine Identitätsstiftende Funktion einnehmen als
auch Ausdruck des eigenen Lebensstils sind.
109
Zweitens wird der Barfüsserplatz für viele Jugendliche mit besonderen Veranstaltungen in
Verbindung gebracht: „Hm, also für mich der Barfüsserplatz hat für mich eine Bedeutung
wenn zum Beispiel der FCB Schweizer Meister ist. Und ja, dass man diesen, dass man auf dem
Barfi feiern kann und dass wir alle dann Spass haben und so weiter. Und auch hier, auch das
JKF komme ich gerne hierher und ja. Es ist alles, was mir gefällt, Fasnacht, genau“ (Barf2:2).
Gerade solche Anlässe ermöglichen es gemäss den Jugendlichen, mit anderen Gleichaltrigen
in Kontakt zu treten, andere Leute zu beobachten oder spontan Bekannte zu treffen
(Barf3:18ff):
„Person 1: Und einfach du triffst viele Leute, die du ansonsten nicht so treffen
würdest.
Interviewerin: Zum Beispiel?
Person 1: Ja, Leute zu denen du sonst nicht so Kontakt hast, aber dich freust, wenn
du sie wieder einmal siehst.
Person 3: Ja so Leute, die man auch schon von anderen Festivals schon kennen
gelernt hat, sieht man dann wieder, dass ist einfach mega lustig dann“
Drittens ist der Barfüsserplatz ein Treffpunkt für alle befragten Jugendlichen: „Oder
einfach mit denen, welche, wenn man irgendwie einmal abmacht und man sagt man trifft sich
in der Stadt, sagt man automatisch ja, ‚Komm wir treffen uns am Barfi’. […]52 Es ist derjenige
Punkt, wo die Stadt wie ein wenig anfangt, aber doch auch ein Mittelpunkt ist“ (Barf3:171).
Als Treffpunkt ist der Barfüsserplatz deshalb geeignet, weil er erstens im Mittelpunkt steht,
was einerseits auf einen Punkt in der Mitte der Stadt verweist, aber auch derjenige Punkt ist,
der für alle am nächsten ist (zentral). Mittelpunkt rekurriert gleichzeitig auch auf die
herausragende Bedeutung des Barfüsserplatzes, als ein Ort, der im Mittelpunkt steht. Zweitens
ist der Barfüsserplatz der Anfang der Stadt: Er ist dort, wo die Stadt beginnt, dort wo man im
Gegensatz zum Wohnquartier in oder ausserhalb Basel in das urbane Leben eintritt; er ist der
Eingang, das Tor in eine andere Umgebung mit besonderen Funktionen (Shoppen, Treffen,
Essen gehen, etc.). Anhand der Beobachtungen und Interviews lassen sich zwei
unterschiedliche Muster des „Sich-Treffens“ unterscheiden: Diejenigen Jugendlichen, die mit
einer bestimmten Absicht auf den Barfüsserplatz kommen, verweilen nur selten länger am
Treffpunkt; nach der Begrüssung und einigen Worten gehen sie weiter (Barf1:218):
„Person 3: Ich treffe mich meistens mit einem Kollegen nach dem Schwimmen
hier, aber ansonsten niemand.
Interviewerin: Ok, und dann treffen wirklich um hier einfach hier zu bleiben oder
geht ihr nachher weiter von hier?
Person 3: Wir gehen dann eigentlich gehen wir immer vor dem Schwimmen
gehen wir früher hierher, machen irgendwas und dann gehen wir ins Schwimmen
dort hinauf zur Rittergasse, dann kommen wir wieder hierher zurück und sind
52 Da gemäss den Transkriptionsregeln folgendes Zeichen (…) zur Darstellung einer Sprechpause verwendet
wurde, wird bei den folgenden Zitaten aus den Transkripten folgendes Zeichen […] verwendet, um die Kürzung
eines Zitates anzugeben.
110
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
dann noch ein wenig hier und dann gehen wir mit dem 11er wieder zurück nach
Hause.“
Davon zu unterscheiden sind diejenigen Jugendlichen, welche sich ohne erkennbare
Absichten auf dem Barfüsserplatz aufhalten und spontan Freunde antreffen. Sie nutzen die
Zentralität des Platzes als Gelegenheitsstruktur, Bekannte zu treffen. So positioniert sich
beispielsweise eine beobachtete Gruppe am Geländer der Tramhaltestelle und kommt damit
regelmässig in Kontakt mit anderen vorbeigehenden oder aus dem Tram steigenden
Jugendlichen. Diese Kontakte sind meistens von kurzer Dauer und bestehen aus Begrüssung,
kurzem Gespräch und einer Verabschiedung. Der Standort gilt somit als Ort, wo man andere
Bekannte mit hoher Wahrscheinlichkeit antreffen kann, weil er sich im Zentrum des Platzes
und an der Verkehrsdrehscheibe Tram befindet (vgl. Beo_Barf_Liminal:11-14).
Der Barfüsserplatz bietet den Jugendlichen die Möglichkeit, positive soziale Kontakte
insbesondere zu anderen Jugendlichen zu erleben und zu pflegen und sich in der Gruppe
auszutauschen. Der Barfüsserplatz stellt aber auch die Gelegenheiten zur Verfügung, sich zur
Gesellschaft als Ganzes in Bezug zu setzen: Er ist ein „Hotspot eigentlich von Basel, wo man
sich halt trifft und wo man halt dann hingeht“ (Barf4:311), wo man Teil der Stadt und seines
dichten sozialen Netzwerks werden kann. Die uneingeschränkte (auch weil nicht
gebührenpflichtig) Teilhabe am soziokulturellen Leben von Basel ist für die meisten
untersuchten Jugendlichen deshalb bedeutsam. Auf der anderen Seite erleben Jugendliche auf
dem Barfüsserplatz, wenn auch selten, ab und zu bedrohliche Situationen mit andere
Menschen: So nennt eine Gruppe die Angst vor Schlägereien, ein Mädchen erzählt, wie sie im
Coop mit dem Messer bedroht wurde, ein Junge beschreibt sein Unbehagen, wenn er auf
Drogenabhängige trifft oder sich mit „komischen“ Menschen auseinandersetzen muss.
Gerade aber die soziokulturellen Events, welche die Jugendlichen so schätzen, bergen in sich
auch das Potential des Kontrollverlustes, weil so viele Menschen auf einem Ort versammelt
sind. So beschreibt ein Junge, der ansonsten begeisterter Besucher der Meisterfeier des FCB
ist, ein negatives Erlebnis auf dem Barfüsserplatz (Barf2:110):
„Person 1: Also ich bin mitten drin gestanden, dort wo sie Bengalen anzünden,
jedes Mal, wenn es geklöpft hat, bin ich in die Knie gegangen (hebt Hände
schützend über Kopf) und die Kollegin hat gesagt „Gable, was ist mit dir?" und so
weiter „Ja, musst keine Angst haben, macht doch nichts, klöpfen nur" und „Ah ja
ja ist gut". Aber ich hatte Angst ich musste allewiil hinuntergehen. […] Habe
Angst gehabt, dass ich einen auf den Kopf bekomme.“
Soziale Aneignung im Gartenbad Bachgraben
Wie im Aneignungsplan zum Gartenbad Bachgraben (Abb. 8) ersichtlich nennen die
befragten Jugendlichen zwei zentrale soziale Aneignungsformen: Erstens das gemeinsame
Chillen und zweitens der Austausch mit andere Mädchen beziehungsweise Jungen. Die beiden
anderen genannten Aneignungsformen wurden bereits unter der physischen
Aneignungsdimension erörtert, verweisen aber ebenso auf die von den Jugendlichen
genannten sozialen Aktivitäten.
111
Das gemeinsame Chillen mit Freunden kann unterschiedliche Bedeutungen für die
Jugendlichen haben: Erstens verweist es auf einen sozialen Austausch innerhalb der Gruppe
(Bach3:145ff):
„Person 2: Also Chillen, was versteht sich unter Chillen?
Person 3: Einfach reden und so.
Interviewer: Kannst du das noch in Klammer schreiben, was das alles genau.
Person 2: Reden, austauschen, lachen, weiss doch nicht, einfach alles Mögliche.
Person 4: Reden, lachen.
Person 3: Erzählen.“
Diese Mädchen beschreiben in ihren weiteren Ausführungen die Vielfalt dieses
Austausches, der neben dem Erzählen von Neuem und Erlebten ebenso den Austausch von
Geheimnissen und Intimitäten beinhaltet, aber auch das gemeinsame lachen und schwatzen.
Das Gartenbad Bachgraben scheint für diese Jugendliche der ideale Ort zu sein, um
unbeschwert mit Freunden und Freundinnen reden zu können. Chillen beschreibt demnach
zweitens auch eine beliebte Form der Entspannung: „Und das Bachi ist einfach für mich einen
Ort, wo ich einfach ausruhen kann, chillen, mit Kollegen zusammen reden und so“ (Bach3:2).
Diese Momente der Erholung, welche die befragten Jugendlichen im Gartenbad erfahren,
hängen eng mit ihrer normativen Aneignung zusammen, nämlich dass sich die Jugendlichen
trotz der starken Regulierung im Gartenbad frei von alltäglichen Stresssituationen fühlen
(mehr dazu s. Kap. 5.3.). Ebenso haben die Jugendlichen im Gartenbad die Möglichkeit, auch
einfach das zu tun, worauf sie Lust haben: Schwatzen, Rumliegen, Musik hören, die Sonne
Geniessen, etc. Drittens nutzen gewisse Jugendliche das Gartenbad auch dazu, in der Gruppe
zu Rauchen und Alkohol zu Trinken. Insbesondere das gemeinsame Shisha-Rauchen hat für
eine befragte Jugendgruppe eine zentrale Bedeutung für das Zusammensein: „Aber zum
Beispiel ja grün [auf dem Aneignungsplan] ist eigentlich eine, wo man so raucht, sauft ein
wenig, Shisha raucht, alles allgemein. Wenn sie jetzt mal eine Runde drehen würden, dann
würden sie sehen, dass viele Jugendliche hier Shisha am Rauchen sind“ (Bach1:106).
Während das gemeinsame Chillen eine stark nach innen gerichtete Form der sozialen
Aneignung beschreibt, verweist der Umgang mit anderen Jugendlichen und insbesondere mit
dem anderen Geschlecht eine starke Aussenorientierung auf. Im Generellen scheint das
Gartenbad Bachgraben ein potentieller Ort zu sein, um andere Jugendliche kennen zu lernen,
obschon die Möglichkeiten dazu stark von der sozialen Vernetzung im Quartier sowie der
Offenheit der Jugendlichen selber abhängt: Während beispielsweise die Mädchen einer
Gruppe immer wieder mal neue Leute kennen lernen, die sie beispielsweise schon mal im
Jugendtreffpunkt des Quartiers oder in der Schule gesehen haben, scheinen andere befragte
Mädchen nur selten neue Kontakte zu knüpfen, mitunter auch deshalb, weil sie weder das
Bedürfnis dazu haben noch über mögliche Kontaktpersonen verfügen. Ebenso verhält es sich
beim spontanen Treffen von Bekannten: Diejenigen Jugendliche, die sozial und lokal vernetzt
sind, treffen immer wieder auf Kolleginnen oder Kollegen, ohne dass sie zuvor miteinander
abgemacht hätten (Bach3:7f):
112
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
„Person 4: Und ja, eben so mal zufällig Kollegen antreffen, das ist halt noch toll,
auch wenn man gar nicht abgemacht hat. Es ist lustig einfach.
Person 2: Wir haben zum Beispiel gar nicht abgemacht, ich habe gar nicht
gewusst, dass sie hierher kommt. Wir zwei waren hier, dann haben wir sie einfach
gerade gesehen und ja.“
Eine weitere Möglichkeit, Kontakte im Bachgraben zu knüpfen, besteht in der Nutzung
von Facebook. So erzählt ein Mädchen, wie sie vom Facebook bekannte Personen im
Gartenbad zufällig trifft und dadurch den bis anhin virtuellen Kontakt persönlich vertiefen
kann: „Manchmal ist es bei auch so, per FACEBOOK, wenn ich irgendein Gesicht sehe und
dann kommt er oder sie mich ansprechen "Bist du nicht der oder die?" und dann sage ich "Ja"
und dann kommen wir auch nachher ins Gespräch“ (Bach1:178). Generell scheinen die Social
Media inklusive Mobiltelefon ein steter Begleiter der Jugendlichen im Bachgraben zu sein:
Zahlreiche Beobachtungen und Interviews beinhalten Stellen, an welchen entweder diese
Medien benutzt oder zum Thema gemacht werden. Die Jugendlichen scheinen neben der
örtlich sozialen Aneignung ebenso eine virtuell vernetzte soziale Aneignung zu betreiben,
indem sie über Mobiltelefone und andere Social Media ihre sozialen Handlungen im
Gartenbad Bachgraben (Chillen, andere Jugendliche kennen lernen, etc.) durch die
Verbindung zum eigenen Beziehungsnetzwerk ausserhalb des Freibades ergänzen und
bereichern.
Ähnlich wie auf dem Barfüsserplatz treten Jugendliche im Gartenbad Bachgraben nur
selten in direkten Kontakt mit anderen ihnen nicht bekannten Nutzergruppen. Dies beruht
vor allem auf der räumlichen Trennung des Areals in unterschiedliche Territorien. Ebenso
spielen sich zahlreiche Handlungen der Jugendlichen innerhalb der eigenen Peergroup ab;
teilweise sogar versteckt und ohne grössere Aufmerksamkeit anderer.
Häufig nutzen sowohl Mädchen als auch Jungen die freizügigere und ungezwungenere
Atmosphäre des Freibades um sich im Umgang mit dem anderen Geschlecht zu üben
(Bach4:333ff):
„Interviewerin: […] Was, gibt es da einen Unterschied Typen beobachten in der
Badi und Typen beobachten eben in der Schule?
Person 2: In der Badi haben sie kein T-Shirt an.
(lachen)
Person 4: Dann sieht man, wer Muckis hat und wer nicht.
Person 2: Also wer trainiert und wer nicht trainiert.
Person 3: Genau wer trainiert, wer Sport macht. Das ist wichtig.“
Einige Jugendliche trauen sich nur aus der Distanz zu beobachten, andere sind mutiger,
suchen den Blickkontakt, sprechen ein Mädchen oder einen Jungen auch mal an oder flirten
offensiv (Anmachsprüche, körperlich näher kommen, etc.) (Bach3:262ff):
„Interviewerin: Ok, und wie funktioniert so das flirten hier am Rändchen? Wie
muss ich mir das vorstellen?
113
Person 2: Vielleicht von weitem anschauen und sagen ‚Eh, der hat einen geilen
Sixpack’ und so.
Person 1: Und ja vielleicht wenn wir im Wasser sind, einmal so extra aus Versehen
an ihn ranschwimmen und so ja Weg blockieren oder so und dann entschuldigen
und so auch.
Person 2: Augenkontakt.
Person 4: Ohne einfach so tun, als hätten wir es nicht extra gemacht und so.
Person 1: Und irgendwie Augenkontakt suchen.
Interviewer: Und das funktioniert?
Person 1: Ja, öfter.
Person 4: Nicht immer.
Person 3: Aber meistens.“
Einige Jugendliche erzählen, wie sie einen Jungen oder ein Mädchen hier im Gartenbad
kennen lernten und sich daraus auch eine Liebesbeziehung entwickelte, andere wiederum
berichten nicht ohne Stolz, dass sie im Freibad auch sexuell aktiv waren. Im Allgemeinen
bietet die besondere Atmosphäre im Freibad optimale Bedingungen, ungehemmt auf andere
Mädchen oder Jungen zuzugehen (Bach2:198ff):
„Person 1: Also im Schwimmbad, sonst noch, ich habe einfach das Gefühl, die
hübschen Frauen kommen auch ins Schwimmbad nicht nur weil sie sich einfach
abkühlen wollen oder so oder sich sonnen, die kommen auch an Interesse für
andere Typen. Wollen vielleicht jemanden kennen lernen, wollen hübsche Typen
sehen und so, und wir Männer denken halt auch genau gleich, wir kommen
hierher, sind ein wenig cool und so, ziehen uns ein wenig gut an, sehen gut aus
und wollen auch andere Frauen kennen lernen und sie ansprechen und.
Interviewerin: Aber kann man das, ist das speziell gut dieser Ort, die Badi für das,
im Gegensatz zu anderen Orten? (Person 1:/Person 3: Ja.) Wieso denn?
Person 3: Hier sind alle offen, alles offene Menschen, also offene Menschen, ich
sage nicht. Aber hier merkt man wie sie sind, das merkt man gerade.
Interviewerin: Und wie merkt man das?
Person 1: Man kann sich einfach näher kommen und so, man redet zusammen
und so, dann geht man zusammen ins Wasser, fasst sich an.
Person 3: Dann spürt man ein wenig. (...) Draussen können wir doch nicht so
nebendran so einfach anfassen, oder? Es geht nicht.
Interviewer: Aber hier ist es möglich?
Person 3: Hier ist es eben möglich, vielleicht kann man sagen, also, ‚Sorry, ist nicht
extra passiert’ so etwas. Oder wenn wir so ein Wasserteil haben, können wir sie
anspritzen und können wir sagen ‚Sorry, mein Kollege ist (unv.), sorry’."
114
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
Zahlreiche Aussagen insbesondere von Mädchen zeigen aber auf, dass speziell diese
Offenheit immer wieder auch Grenzüberschreitungen provoziert, die dann zu unangenehmen
Situationen führen können (z.B. Belästigungen durch Jungen, vgl. Bach3:77ff). Aufgrund der
unterschiedlichen Einstellungen und Erfahrungen der befragten Jugendlichen lassen sich
teilweise sehr unterschiedliche und auch widersprüchliche Wahrnehmungen dieses
geschlechtsspezifischen Verhaltens ableiten, welche unter Kapitel 5.5. näher betrachtet werden
sollen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die sozialen Bedingungen im Gartenbad
Bachgraben es den Jugendlichen ermöglichen, sowohl nach innen gerichteten Austausch
(Chillen, etc.) als auch nach aussen gerichtete Interaktionen, insbesondere mit dem anderen
Geschlecht, zu pflegen. Dafür konzentrieren sich die Jugendlichen in ihrer sozialen
Aneignung oft auf die von ihnen physisch angeeigneten Strukturen, also auf die Jugendwiese
sowie auf die beiden grösseren Becken (vgl. Aneignungsplan). Dabei stellen gerade die
vorhandenen physisch-materiellen Anordnungen wie die Treppen und Betonflächen rund um
die Becken optimale Bedingungen zum gegenseitigen Beobachten und Kommentieren dar.
Soziale Aneignung auf der Dreirosenanlage
Wie dem Aneignungsplan zur Dreirosenanlage (Abb. 9) zu entnehmen ist, suchen
Jugendliche diesen Ort auf, um mit anderen Jugendlichen gemeinsam die Freizeit zu
verbringen. Neben den spielerischen und sportlichen Tätigkeiten ist für die befragten
Jugendliche das gemeinsame Chillen von Bedeutung, was ähnlich wie bei den anderen
Untersuchungsräumen eine Bandbreite von Aktivitäten beinhaltet (sich austauschen, reden,
singen, lachen, essen, entspannen, Musik hören, rauchen, etc.). Dabei ist zu beobachten, dass
sich die Gruppendynamik oft wellenartig in der Form von Stimmungsschwankungen
zwischen ruhigen, in sich gekehrten und lauten und beinahe aggressiven Ausprägungen hin
und her bewegt oder vielfältige Stimmungsfacetten (friedlich, spielerisch, lustig, kämpferisch,
energisch, etc.) aufweist (vgl. Beo_Drei1, Beo_Drei4, Beo_Drei5). Auffallend ist ebenso ein
zum Teil polarisierendes Verhalten der Jugendlichen: „Während die Gruppen in einem
Moment noch friedlich diskutiert, werden im nächsten Moment harsche Worte ausgetaucht.
So schwankt auch die Stimmung innerhalb der Gruppe schnell und erscheint unstet“
(Beo_Drei1:5). Auf diese Form der sozialen Auseinandersetzung wird unter dem Abschnitt zu
Aneignungschancen und –restriktionen auf der Dreirosenanlage weitergehend eingegangen.
Schliesslich stellt das gemeinsame Chillen für eine interviewte Mädchengruppe einen
Ausgleich zum Alltagsstress dar (Drei2:432ff):
„Interviewerin: Könnt ihr noch so ein wenig sagen, was Chillen so beinhaltet? Was
heisst das genau? […]
Person 1: Entspannen. […]
Person 3: Musik hören, reden und so, gemütlich.
Person 4: Nicht an die Schule denken.
Person 3: Genau.
Person 4: Kein Stress.“
115
Zweitens dient die Dreirosenanlage vielen Jugendlichen als Treffpunkt, wobei sich der
Jugendtreffpunkt als der wichtigste Sammelpunkt auf dem Gelände erweist: „Es ist halt das
Jugi Dreirosen und alle sind drinnen, spielen, alle halt tanzen, alles. Also dort kommen die
meisten rein und nachdem kommen sie hier raus“ (Drei2:124). Das Besondere am Jugi ist
demnach zweierlei: Erstens kommen alle hierher, man kann hier bekannte Leute treffen und
Neue kennen lernen. Zweitens kann man hier alles machen, alles wonach die Jugendlichen
Lust hat und was sie auch gerne tun. Diese beiden Elemente zusammen machen den
Jugendtreffpunkt zu einem Orientierungspunkt, wo sich alle und alles konzentriert. Auch
wenn man sich nicht unbedingt nur in der Einrichtung aufhält, dorthin begibt man sich als
erstes: Er stellt somit die Eintrittspforte ins Dreirosen-Leben dar, wo die Jugendlichen zuerst
die Lage sondieren, die Anwesenden auschecken und dann weitere Aktivitäten aufnehmen:
„Also wir kommen an, wir reden, begrüssen, schauen wer alles hier ist“ (Drei1:201).
Dementsprechend kommen die Jugendlichen vor allem dann auf die Dreirosenanlage, wenn
der Jugendtreffpunkt geöffnet ist; wenn er hingegen geschlossen ist, erscheint der Ort den
Jugendlichen weniger attraktiv (vgl. Drei3). Generell positionieren sich einige Jugendliche so
im Gelände, um sich einen möglichst guten Überblick über die auf dem Areal Anwesenden zu
verschaffen: „Ja also, wir können dort hocken und alle, die gehen und kommen, die sehen uns
und wir reden so. […] Ja, und wir können immer so reden mit allen und also man verpasst
eigentlich keinen, alle die heute hier waren, die sehen wir“ (Drei3:63). Diese Form des „Sehenund-Gesehen-Werdens“ dient im Gegensatz zum Gartenbad Bachgraben weniger
repräsentativen Zwecken sondern vielmehr dazu, die Kontaktmöglichkeiten auszuloten und
die eigenen Chancen, Bekannte zu treffen, zu erhöhen. Diese Form der sozialen Aneignung
basiert demnach auf einem ausgeprägten Bedürfnis, Beziehungen zu anderen Jugendlichen
aufzubauen, und wird durch die starke Quartiersorientierung des Platzes gefördert, sodass
sich beinahe alle Jugendlichen auf der Dreirosenanlage kennen oder sich zumindest immer
wieder dieselben Jugendlichen auf dem Areal aufhalten. Im Gegensatz dazu scheint sich die
Dreirosenanlage ebenso dazu zu eignen, neue Leute kennen zu lernen. Dies vollzieht sich
einerseits über bereits bestehende Kontakte: „Also ja, es kommt halt darauf an, manchmal
kommt eine Kollegin und diese Kollegin kommt mit ihrer Kollegin und dann bin ich mit
jemanden anderen und dann ist gerade Kennen lernen. Oder ja, doch es ist eigentlich so,
Kolleg, dessen Kollege, dessen Kollege“ (Drei2:482); oder andererseits über gemeinsame
Interessen: „Doch, es kommt darauf an zum Beispiel, wenn jetzt irgendjemand einen
Tanzschritt macht und dann kommt jemand ‚Wow wie hast du das gemacht, kannst du mir
das beibringen?’. Ja und dann kommt man automatisch in Kontakt“ (Drei2:488). Das Tanzen
scheint generell eine wichtige Funktion im sozialen Austausch einzunehmen, insbesondere
um neuen Kontakte zu knüpfen, aber auch um mit Mädchen zu flirten, wie es die interviewte
Jungengruppe beschreibt (vgl. Drei1). Das Tanzen ist ein probates Mittel, um die
Aufmerksamkeit und Anerkennung der Mädchen zu erlangen und sich somit eine optimale
Flirt-Situation zu schaffen.
Die in der Dreirosenanlage eingelagerten sozialen Bedingungen sind wie oben beschrieben
von einer sowohl engmaschigen als auch flexiblen sozialen Vernetzung unter den
Jugendlichen geprägt. Neben dem gemeinsamen Chillen unter Freunden bietet das Areal den
Jugendlichen zahlreiche Möglichkeiten, Kontakte zu anderen Gleichaltrigen aufzubauen und
116
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
auch aufrecht zu erhalten. Die Atmosphäre beschreiben die meisten Befragten als friedlich
und ruhig, die Anwesenden werden als hilfsbereit und nett wahrgenommen (vgl. Drei2:282ff
und Drei3:4ff). Im gleichen Masse aber erwähnen die interviewten Gruppen, dass ihr
Verhältnis zu den anderen Jugendlichen teilweise von Misstrauen und Vorurteilen geprägt ist
(Drei3:392ff):
„Person 2: Die meisten denken eben, wenn man jemanden sieht, denkt man
gerade das von einem, obwohl es gar nicht stimmt. Und dann denkt er solange an
das, bis er dich richtig kennen gelernt hat. […]
Person 3: Und dann haben sie meistens auch einen Hass gegen eine Person, aber
sobald man ihn kennen lernt, also bei mir ist das immer so, nachdem sie mich
kennen lernen, haben sie mich zum Beispiel sehr gerne. Kommen auch immer
fragen, was man machen könnte und so.
Person 1: […] und ich vertraue auch nicht allen, weil gute Kolleginnen können
mal schlechte Kolleginnen werden und gegen diese Schlechten will ich auch nicht
immer ganz so gemein sein, die können mal wieder Kollegin werden.“
Alle befragten Jugendlichen erzählen von persönlichen Konflikten und teilweise heftigen
Auseinandersetzungen, die sie auf der Dreirosenanlage erlebt haben. Diese
Auseinandersetzungen stehen zwar im krassen Gegensatz zu den konfliktfreien sozialen
Aneignungsmöglichkeiten, müssen aber nicht zwingend als Restriktionen interpretiert
werden. Die Jugendlichen selber sehen darin weder einen zwingenden Grund dafür, sich nicht
auf die Dreirosenanlage zu begeben, noch einen bedeutsamen Faktor, welcher die Realisation
ihrer Aneignungswünsche verhindert. Abgesehen von den erwähnten Konfliktsituationen
unter Gleichaltrigen fühlen sich die Jugendlichen vor allem von Drogenkonsumierenden
Erwachsenen in ihrer Aneignung eingeschränkt. Bereits zu Beginn dieses Kapitels wurde der
Picknickplatz erwähnt, wo sich gemäss den Befragten hin und wieder „Drögeler und Kiffer“
aufhalten (vgl. Drei1:61ff). Auch aus Beobachterperspektive wirkt dieser Ort für Jugendliche
wenig attraktiv: Das Areal „ist charakterisiert durch Schatten und Feuchtigkeit,
Randständigkeit und Zurückgezogenheit, mit den Graffitis an der Wand rund um die
Kletterhilfen herum wirkt der Ort düster“ (Beo_Drei3:4). Eine Mädchengruppe beschreibt
zusätzlich, dass sie regelmässig von betrunkenen Männern oder „Pädophilen“, die sich auf
den Treppen zum Rhein hin positionieren, angesprochen und belästigt werden: „Und wenn
man vielleicht mal hier vorbei läuft, wird man gerade so angeschaut, so angesprochen und sie
haben halt Bierflaschen in der Hand und so. Einfach ignorieren und weitergehen“ (Drei2:114).
Schliesslich grenzt sich eine Mädchengruppe explizit vom Kontakt mit Kindern ab, nicht nur
weil sie laut sind, sondern vor allem um ungestört zu rauchen und dadurch die eigene
Vorbildfunktion nicht zu gefährden (s.o.). All diese genannten Einschränkungen scheinen
zum Alltag der Jugendlichen auf der Dreirosenanlage zu gehören und in den Interviews wird
deutlich, dass sich die Befragten unterschiedliche Strategien angeeignet haben, mit den
erwähnten Restriktionen umzugehen (ausweichen, aushandeln, verhindern…).
Zusammenfassend pendelt das soziale Leben der Jugendlichen stets zwischen dem Treffen
von Bekannten und dem Kennen lernen von Unbekanntem, zwischen spontanen
117
Interaktionen und geplanten Aktivitäten, wobei sich die Dreirosenanlage als stabiler Rahmen
für beide Formen der sozialen Aneignung erweist. Die soziale Vernetzung der Jugendlichen ist
demnach das zentrale Charakteristikum dieses Rahmens, die sich sowohl über die Alters- und
Geschlechtsgrenzen (vgl. Beo_Drei1, Beo_Drei5, Drei3) als auch über die residentielle
Herkunft (vgl. Drei3) oder Interessenlagen hinweg erstreckt (Drei3:173ff und 430):
„Interviewerin: Was sind das so für Leute, die ihr hier trifft, woher kennt ihr die?
Person 3: Ja einfach, manche kommen von hier, manche kommen von der Schule,
manche auch vom Alltag, Facebook oder weiss nicht, sind einfach so Kolleginnen.
Das
ist
nichts
Besonderes.
Interviewerin:
Mädchen,
Buben,
älter,
jünger?
Person 2:/Person 3: Alles, egal. […]
Person 1: Weil es kommen Skaters, Basketballspieler, Fussballspieler, Jerkers und
Hiphop, alles gemischt“ (Drei3:430).
Die spielerischen und sportlichen Betätigungen wirken dabei integrativ, der soziale
Austausch schafft die Basis für ein breites Zugehörigkeitsgefühl, das nicht zwingend auf einer
Freundschaftsbeziehung beruhen muss, sondern ebenso aus einem positiven
Gemeinschaftserlebnis erwachsen kann (Drei3:83):
„Es war einfach ein Erlebnis, wir gingen mit dem ganzen Jugi nach dort hinten,
ein paar zogen Shisha und so und wir waren eigentlich, es waren alles Leute, die
wir nicht kannten, aber sie waren irgendwie voll nett, so als würden wir sie schon
seit Jahren kennen. Und wir redeten alle zusammen, lachten und eigentlich so,
also wir waren alle zusammen“.
In diesem Zusammenhang fühlen sich gewisse Jugendliche gegenüber anderen Kindern
verpflichtet, ihnen zu helfen, sie bei Problemen zu unterstützen und sie auch aktiv in der Rolle
eines Vorbildes anzuleiten (Drei3:356):
„Person 1: Und dort ist auch so als wäre das ist unser eigenes Quartier, die müssen
wir schützen und wenn man zum Beispiel ein kleines Kind sieht, das wir kennen,
‚Nein nicht rauchen, nicht das’ und so, aber Person 3: Auch wenn wir kommen, einfach so schützen.
Person 1: Ihnen immer mal erzählen ‚Nein, das ist nicht so gut’ auch wenn wir sie
nicht kennen, wenn wir sie sehen, einfach so mal ansprechen und sagen ‚Ja, wieso
macht ihr denn das? Es ist nicht gut’ und so.
Person 3: Oder wenn sie sich prügeln, sich einfach mal reinmischen, das klären,
damit es nicht so weit kommt.“
Für diese Mädchengruppe, von welcher die letzten beiden Aussagen stammt, kann der
Zusammenhalt unter den Jugendlichen auf der Dreirosenanlage sogar die
Familienzugehörigkeit ersetzen (Drei3:223):
„Person 2: Ja, und hier ist halt sozusagen wie Familie, wenn man Zuhause nicht so
Lust hat, ist man hier sozusagen wie Familie, einfach dasselbe Alter. […]
118
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
Person 3: Einfach ohne Mutter, Vater, es gibt auch Kolleginnen, die aufeinander
schauen. […]
Person 1: Oder also die Liebe, die man eigentlich Zuhause nicht hat, bekommt
man hier einfach von Kollegen und Kolleginnen.“
Die auf der Dreirosenanlage durchgeführten Beobachtungen zeigen auf, dass die
Interaktionen der Jugendlichen mit anderen Nutzergruppen ausgeprägter sind als in den
beiden anderen Untersuchungsgebieten. Immer wieder treten die Jugendlichen in Kontakt
mit Aussenstehenden (z.B. beim Fussballspielen, vgl. Beo_Drei5 und Beo_Drei4, oder auf dem
Hartplatz, vgl. Beo_Drei3) oder werden mit Erwachsenen konfrontiert (z.B. vor dem Eingang
des Jugendtreffpunktes, vgl. Beo_Drei1). Auch in den Interviews werden diese Kontakte
angesprochen (z.B. Kontakte zur Polizei, vgl. Drei3, oder i.A. mit den Jugendarbeitenden des
Treffpunktes). Ebenso sind es öfters diese Jugendgruppen, die das öffentliche Leben auf der
Dreirosenanlage prägen, sei es nun aufgrund der räumlichen Ausdehnung oder der erhöhten
Lautstärke (vgl. Beo_Drei5), sei es mittels der Besetzung von bestimmten räumlichen
Ausschnitten (vgl. Beo_Drei1), oder mit Hilfe von jugendkulturellen Ausdrucksformen wie
das Tanzen oder Musik hören (vgl. Drei1, Drei2 oder Beo_Drei1). Teilweise erscheint es so,
als dass die Jugendlichen im Austausch mit kleineren Kindern eine dominanten Rolle
einnehmen und sich zum Beispiel unaufgefordert in ein Spiel einmischen (vgl. Beo_Drei5,
Beo_Drei4) oder sie auch zurechtweisen (vgl. Drei3); gegebenenfalls beruhen solche
Verhaltensweisen auch auf dem Fakt, dass es sich um Geschwisterbeziehungen unter den
Heranwachsenden handeln könnte.
Generell kann davon ausgegangen werden, dass die Jugendlichen dank den bezeichnenden
physischen, sozialen, normativen und symbolischen Aneignungsformen einen starken
Einfluss auf das öffentliche Leben der Dreirosenanlage nehmen und eine aktive Rolle im
Austausch einnehmen.
Analyse der sozialen Aneignung in öffentlichen Räumen
Die Interaktionen und sozialen Handlungen wie auch die beschriebene Vielfalt der
Repräsentationsformen lassen sich so zueinander in Bezug setzen, dass sich ein schlüssiges
Bild über die jugendliche Auseinandersetzung mit der Sichtbarkeit in öffentlichen Räumen
zeichnen lässt. Wie in Abbildung 10 ersichtlich, spielen sich die soziokulturellen Handlungen
im Spannungsfeld zwischen einer privaten und einer öffentlich-sichtbaren Sphäre ab.
Die auf die Privatheit bezogenen Handlungen sind zwar nicht unsichtbar, da sie sich im
öffentlichen Raum abspielen, lassen sich aber insofern dem Privaten zuordnen, als dass sie
sich nach innen auf die eigenen Peergroup richten. Der soziale Austausch unter Freunden
steht bei diesen Handlungen im Vordergrund.
In der Sphäre der Sichtbarkeit53 hingegen handelt es sich um nach aussen gerichtete
Handlungen und Verhaltensweisen. Dabei lassen sich verschiedene Rollen unterscheiden,
welche die Jugendlichen im öffentlichen Austausch einnehmen können: In der Rolle des
53 Die Sphäre der Sichtbarkeit umfasst alle Handlungen und Verhaltensweisen der Jugendlichen, die von
anderen Nutzenden des öffentlichen Raumes wahrgenommen werden können. Der Begriff ‚Sichtbarkeit’ meint
demnach immer auch ‚Hörbarkeit’.
119
Publikums54 beobachten, bewerten und kommentieren die Jugendlichen das öffentliche
Geschehen und bringen eigene Sichtweisen, Geschmacksvorlieben und Vorstellungen
beispielsweise von Geschlecht oder Jugendkultur in Bezug zu ihrer Umwelt. Das Imitieren
anderer Anwesenden (z.B. beim Tanzen auf der Dreirosenanlage oder beim Sprungturm im
Gartenbad Bachgraben) geht noch einen Schritt weiter: Die Handlungen werden zwar aus der
Distanz und ohne direkten Kontakt mit dem oder der Beobachteten ausgeführt, stellt aber
gleichzeitig eine Art Schauspiel für die eigene Peergroup dar (vgl. Beo_Bach1, Beo_Barf5).
Während der Beobachter meist unentdeckt bleibt, kann die Imitierende aufgrund des
expressiven Verhaltens selbst zum Beobachtungsgegenstand werden. Die Imitation von
beobachteten Verhaltensweisen steht demnach auf der Schwelle zur Schauspieler/innenrolle.
Befinden sich die Jugendlichen in der Rolle des Schauspielers oder der Schauspielerin
verhalten sie sich so, dass sie die Aufmerksamkeit anderer auf sich ziehen und im Zuge des
öffentlichen Austauschs beobachtet werden. Es handelt sich dabei meist um
selbstdarstellendes Verhalten, mit Hilfe dessen sich die Jugendlichen Annerkennung
verschaffen wollen, sei es bei der eigenen Peergroup oder einer breiteren Öffentlichkeit. Ein
eindeutiges Beispiel dafür stellt das „anderen Imponieren“ dar, welches darauf abzielt, andere
mit den eigenen Fähigkeiten und Qualitäten zu beeindrucken. Das „Faxen machen“ hingegen
spielt mit dem Spannungsfeld zwischen Privatheit und Sichtbarkeit, weil es einerseits
Komponenten des Peergroup-bezogenen Austausches beinhaltet (Spass haben, sich Necken),
andererseits aber ebenso die Aufmerksamkeit und Neugier Aussenstehender weckt. Im
Allgemeinen sind hier auch alle anderen Formen der jugendlichen Selbstdarstellung
anzusiedeln; die Repräsentation des jugendlichen Lebensstils sowie der eigenen
Geschlechtszugehörigkeit werden separat abgehandelt (s.u.).
54 In den weiteren Ausführungen werden die Begriffe Publikum, Schauspieler/in und Bühne in Anlehnung an
Goffmans Theatermetapher verwendet (vgl. Kapitel 3.1.3.3.).
120
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
Abbildung 10: Jugendöffentlichkeiten zwischen Sichtbarkeit und Privatheit
Quelle: Eigene Darstellung
Oft können die beiden Rollen entweder als Publikum oder als Schauspieler/in nicht so
deutlich wie oben dargestellt voneinander getrennt werden und meist finden sich die
Jugendlichen in beiden Rollen wieder. Es ist von den Daten abzuleiten, dass alle Jugendlichen
andere Menschen beobachten und somit auch alle Jugendlichen von anderen Jugendlichen
beobachtet werden. Dies gilt für eine Mehrheit ihrer sozialen Handlungen in öffentlichen
Räumen, da diese ideale Bedingungen für das „Sehen-und-Gesehen-Werden“ bieten. Diese
Form des jugendlichen Verhaltens kann als eine genuin soziale Handlung bezeichnet werden,
weil sie vor allem in der Gruppe stattfindet. Die gewonnenen Eindrücke von aussen werden
mit den Gleichaltrigen verarbeitet und eingeordnet (Kommentieren und Bewerten),
repräsentatives Verhalten wird stets durch den Rückhalt in der sozialen Gemeinschaft gestützt
oder im Austausch mit anderen Gruppen herausgefordert (Imponieren und Faxen Machen).
Alleine andere zu beobachten oder sich als Einzelperson nach aussen zu repräsentieren stellen
keine Handlungen dar, die von den Jugendlichen mit Bedeutung versehen werden. Weiter
lässt sich feststellen, dass sich das „Sehen-und-Gesehen-Werdens“ vor allem dann einstellt,
wenn die Jugendlichen im „Modus der Kontaktbereitschaft“ sind: In denen Momenten, in
denen Jugendliche offen sind für neue Kontakte und andere Jugendliche kennen lernen
möchten, aktiv nach im öffentlichen Raum anwesenden Bekannten suchen und sie auch
treffen – kurz: ihre sozialen Antennen ausgefahren haben – in solchen Momenten treten sie
121
bewusst und aktiv in die Sphäre der Sichtbarkeit ein. Das sichtbare Verhalten in all seinen
Facetten der jugendlichen Selbstdarstellung ist demnach eng mit dem Bedürfnis nach
Sozialität verbunden. Ebenso können die tendenziell seltenen Kontakte mit Fremden sowie
die vergleichsweise ausgeprägten Interaktionen mit dem anderen Geschlecht als Ausprägung
dieser sozial-repräsentativen Handlungen gedeutet werden.
Schliesslich lässt sich feststellen, dass gewisse Handlungen, die in erster Linie der
Privatheit zuzuordnen sind, ebenso die Sphäre der Sichtbarkeit formen können. Es handelt
sich dabei einerseits um die Aktivitäten in öffentlichen Räumen, welche zwar in der Gruppe
stattfinden, aber je nach Ausgestaltung für andere sicht- und hörbar sind und somit das
öffentliche Geschehen (mit-)prägen (v.a. physisch ausgedehnte oder besetzende
Aneignungsformen wie Fussball-, Basketballspiele u.ä.). Andererseits fungieren öffentliche
Räume für Jugendliche als beliebte Treffpunkte, die sowohl Ausgangspunkt für private
Beschäftigungen sind (z.B. Shoppen, Essen, in den Ausgang gehen…) als auch Anlass für
selbstdarstellende Verhaltensweisen in der Gruppe geben (z.B. Begrüssungsrituale).
Die dargestellten soziokulturellen Handlungen und Verhaltensweisen Jugendlicher in der
Öffentlichkeit lassen sich zwar auf einem Spektrum zwischen nach innen gerichteten privaten
und nach aussen gerichteten sichtbaren Ausprägungen einordnen, jedoch sind sie bei allen
befragten und beobachteten Jugendlichen mehr oder weniger stark ausgeprägt. Am folgenden
Beispiel im Garten Bachgraben soll aufgezeigt werden, wie eine Jugendgruppe mehrere der
erwähnten Formen innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne und in einem einzigen
öffentlichen Raum vereint: Während sich die beobachtete Jugendgruppe zu Beginn im
Nichtwasserbecken des Gartenbades aufhält und dort vor allem nach innen gerichteten
Aktivitäten nachgeht (Reden, Körperkontakt, lachen), begeben sie sich zu einem späteren
Zeitpunkt zum Sprungturm, um dort in die Rollen des Publikums und der Schauspieler zu
schlüpfen. Dort macht ein Junge spektakuläre Sprünge (Imponieren, Beobachtet werden), die
anderen Mädchen sitzen auf der Zuschauertreppe und beobachten und kommentieren das
Geschehen. Schliesslich zieht sich die Gruppe zu ihrem Liegeplatz zurück, um sich dort in
abgeschlossener Privatheit zu entspannen (Reden, Musik hören, Chillen…) (vgl. Beo_Bach2).
Öffentliche Räume und die in sie eingelagerten sozialen Beziehungen werden von den
Jugendlichen zu Bühnen der Sichtbarkeit umdefiniert: Sie positionieren sich im Raum als
Zuschauerinnen und/oder als Schauspieler und zwar so, dass ihre Chancen auf sozialen
Austausch mit andere Jugendlichen möglichst gross ist. Dabei hängen soziale wie symbolische
Aneignungsformen eng zusammen und ermöglichen in ihrer Verknüpfung Zugehörigkeit als
auch Abgrenzung.
5.3 Jugendöffentlichkeit zwischen Kontrolle und Selbstregulierung
Dieses Unterkapitel widmet sich der normativen Aneignung der Jugendlichen in den drei
Untersuchungsgebieten. In der abschliessenden Analyse werden unterschiedliche Kategorien
von Regulierungsmechanismen unterschieden, die in allen drei öffentlichen Räumen von
Bedeutung sind.
Normative Aneignung auf dem Barfüsserplatz
122
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
Im Vergleich zu den beiden anderen untersuchten Räumen nehmen die Jugendlichen den
Barfüsserplatz als tendenziell unreguliert wahr – sowohl was die institutionalisierte
Regulierung als auch die soziale Kontrolle angeht. In keinen der Interviews wird ein Verbot
oder Gebot genannt, welches sie einschränkend betrifft; vereinzelt kritisieren sie die fehlende
soziale Kontrolle, zum grossen Teil aber erfahren die Jugendlichen den Barfüsserplatz als Ort
der Nicht-Regulierung positiv (Barf1:333):
„Person 2: Das [soziale Kontrolle] passiert mir sonst überall, aber hier nicht.
(lachen)
Interviewerin: Wieso denn hier nicht und sonst überall?
Person 2: Ich weiss nicht, weil man hier irgendwie alles darf“
Diese Freiheit nehmen die Jugendlichen als Gegenpol zu anderen Orten (Schule oder
Familie) wahr, wo sie einer stärkeren Regulierung unterworfen sind: „Und hier, wenn man
Erwachsen ist, sagen auch die Eltern nichts mehr, dann kann man hier machen, was man will“
(Barf2:252) oder „In der Schule bekommt man schneller Stress, auf dem Barfi kriegt man
keinen Stress“ (Barf1:233). Mehreren Jugendlichen fällt hingegen auf, dass sich die Polizei als
formelle Kontrollinstanz regelmässig auf dem Barfüsserplatz aufhält, was für einen Jungen
auch zu einer unangenehmen Situationen geführt hat (Barf2:204):
„Person 1: Also vor zwei Jahren im 09 war ich auch hier unterwegs und dann ging
ich schnell hier hinten auf das WC (unv.) davor gestanden in der Reihe
angestanden, dann kommt ein Schäferhund an mir vorbei gelaufen, schmeckte
herum und ich dachte, „So nein, jetzt läuft er weiter, der will sicher etwas von
mir“. Ich blieb ganz ruhig und so keine Panik bekommen, er lief einfach vorbei,
schnell an der Hose geschmeckt und so weiter dachte ich ok. […] Also ja wenn ein
Polizist auf mich zu laufen würde, dann ich meine, ich wüsste nicht was machen.“
Andererseits ist es dann auch die Polizei, welche bei Unfällen oder Schlägereien eingreift
oder auch Jugendliche vor bedrohlichen Situationen beschützt (vgl. Barf1 und Barf2).
Im Allgemeinen erleben Jugendliche auf dem Barfüsserplatz keine spezifischen
normativen Einschränkungen, sondern sehen ihn vielmehr als Ausgleich zu den stark
regulierten Kontexten ihres Alltages (Schule, Familie).
Normative Aneignung im Gartenbad Bachgraben
Die Regulierung im Gartenbad Bachgraben ist stark ausgebaut. Dementsprechend können die
befragten Jugendlichen zahlreiche formelle und informelle Normen benennen. Im Gegensatz
zu den Ausführungen zum Barfüsserplatz werden die Normen und Regeln im Gartenbad
meist ambivalent bewertet: Zwar sehen viele Jugendliche ein, weshalb es beispielsweise
verboten ist, unter 18 Jahren zu rauchen oder andere Mädchen sexuell zu belästigen, aber
ebenso kommen sie immer wieder in Konflikt mit diesen Regeln oder nehmen ihnen
gegenüber eine ambivalente Haltung ein. Im Folgenden sollen dazu einige Beispiele zu
unterschiedlichen Aspekten der Regulierung genannt werden:
123
a) Hygieneregeln: Obschon diese Mädchengruppe auffällig viele Regeln zur Achtung der
Hygiene genannt haben, erscheinen ihre Aussagen dazu sehr ambivalent (Bach4:766ff):
„Interviewerin: Einfach mal so eine Frage, also wieso ist es eine Regel [vor dem
Baden Duschen] und ihr macht es trotzdem?
Person 3: Weil sie nicht so streng darauf schauen.
Person 1: Nein, weil teilweise sind es einfach überflüssige Regeln.
Interviewerin: Zum Beispiel, welche ist überflüssig, welche?
Person 3: Vor dem Dings duschen, (Person 1: Nein das finde ich nicht.) das
können sie irgendwie nicht
Person 2: Nein das finde ich auch mega überflüssig, (Person 1: Das ist mega
hygienisch) aber ich mache es halt gleich, ja überflüssig, aber ich mache es halt
trotzdem.
Person 3: Ja aber sie können es nicht kontrollieren. Ich habe noch nie, ich habe
noch nie erlebt, dass mir ein Bademeister angesprochen hat, ich sollte vorher
duschen.“
b) Sicherheitsregeln: Ähnlich verhält es sich bei den Regeln, welche die Sicherheit im
Wasser gewährleisten sollten. Mehrere Jugendgruppen haben diese Regeln zwar genannt,
beinahe im selben Atemzug aber auch kritisiert:
„Person 1: Was gibt es noch? Zum Beispiel nicht vom Rand ins Wasser springen.
Aber das ist so eine
Person 2: Ja hier, wo sie Längen schwimmen. Das darfst du nicht.
Interviewer: Was ist das dumm?
Person 1: Das ist wirklich dumm. Ich denke, wenn man freie Bahn hat und man
will ins Wasser springen, dann darf man doch reinspringen“ (Bach1:325ff).
„Person 4: […] Was auch noch Regel ist leider, auf der Rutschbahn nicht stehen
und so. Kein Scheiss auf der Rutschbahn. Nicht vom Sprungbrett schubsen.
Person 1: Ja das hat, das mache ich immer. Wenn jemand nicht runterspringt“
(Bach3:345f).
c) Drogenkonsum: Mehrere Jugendliche weisen darauf hin, dass es im Allgemeinen
verboten sei, Marihuana oder Wasserpfeife zu rauchen, sowie im Besonderen es Jugendlichen
unter 18 Jahren nicht erlaubt ist, Zigaretten zu rauchen. Vor allem eine Mädchengruppe
kennt sich mit den Regelungen und Konsequenzen der Regelübertretung gut aus, unter
anderen auch deshalb, weil sie selber immer wieder die Regeln missachten, indem sie ihre
nonkonformen Aktivitäten verbergen oder leugnen (Bach3:459ff):
„ Wir sassen letztens dort hinten, ich war mit (Name) dort, gell? Ich, Zigi in der
Hand, schaue so, ‚Fuck you, Securitas’, schiesse ich einfach die Zigi weg. Nachher
124
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
kommen sie, der eine Mann schaut mich so an, kommt so ran näher ‚Hast du
gerade etwas weggeworfen?’ ich so ‚Ich? Nein.’ Er ‚Aha, ich meinte schon, du hast
irgendetwas weggeworfen so ähnlich wie eine Zigi’. Ich so ‚Ich? Ich und Rauchen?
Nein, sicher nicht, ich bin zu jung.’ Er so ‚Ok, dann ist gut’, lauft weiter und ich
holte die Zigi wieder.“
d) Sexueller Umgang: Schliesslich weisen einige Jugendliche eine ambivalente Haltung
gegenüber den Einschränkungen im sexuellen Umgang auf. Einerseits finden sie es moralisch
richtig, die eigenen sexuellen Bedürfnisse nicht hemmungslos auszuleben, andererseits
werden sie gerade durch die relativ freizügige Atmosphäre des Gartenbades (s.o.) in ihren
Fantasien angeregt (Bach1:460f):
„Interviewerin: Vorhin hast du noch gesagt, du findest es schade, dass man keine
perversen Sachen machen kann?
Person 1: Ja es ist schon noch schade eigentlich. Aber es gehört sich auch
eigentlich nicht dazu. Wenn man es so eigentlich betrachtet, ist es schade. (...) Von
der Männer-Seite her ist es schade, von den Frauen, Frauen haben es eher nicht so
gerne, wenn man sie quasi so betatscht und so oder. Vielleicht auch schon? Jede
Frau hat gerne, also eigenes Spiel im Kopf, oder. Aber es sind kleine Kinder hier
und so, es gehört sich nicht dazu. Aber eigentlich ist es schon schade, aber diese
Regel ist eigentlich gut, ja.“
Diese Beispiele geben Einblick in die Möglichkeiten und Restriktionen der normativen
Aneignung im Gartenbad Bachgraben, die vor allem darin bestehen, sich mit den gegebenen
Regulierungsmechanismen vertraut zu machen und einen Umgang damit zu finden. Die
Ambivalenzen hinsichtlich der normativen Aneignung (sowohl Anerkennung als auch Kritik
und Übertretung der Regeln) werden von den Jugendliche dabei vor allem im Sinne einer
Aufweichung der Regulierung wahrgenommen: Im Gegensatz zu Zuhause, zur Schule oder
dem Arbeitsort können sie eben hier im Bachgraben mal eine Shisha oder Zigarette rauchen,
sich im Versteckten masslos betrinken, sich sexy anziehen, ein Mädchen im Wasser anfassen
oder mit einem Jungen einfach rummachen… Aufgrund des ausgeprägten Normensystems
sowie der formalisierten Begegnungen (Eingangsbereich, Kiosk, Restaurant) ergeben sich für
die Jugendlichen zahlreiche Möglichkeiten, sich mit den öffentlichen Vertretern des
Gartenbades auseinanderzusetzen. Teilweise gestalten sich diese Interaktionen als
konfliktgeladen, sodass die beteiligten Jugendlichen zur kritischen Auseinandersetzung mit
der Umwelt aufgefordert werden. Die Jugendlichen nehmen in solchen Situationen jedoch
immer eine untergeordnete Rolle ein, da sie als besonders stark regulierte Nutzergruppe meist
durch nonkonformes Verhalten auffallen.
Trotz der tendenziell ausgeprägten Regulierungsmechanismen im Gartenbad empfinden
einige Jugendliche hier sogar ein ausserordentlich starkes Freiheitsgefühl (Bach3:22ff):
„Person 4: Ja, wenn man Stress zu Hause hat, vor allem dann, oder wenn du auch
jetzt in der Schule Probleme hättest, zum Beispiel, wenn du gerade Stress mit einer
Kollegin hast, kannst du, kann ich, komme ich meistens mit Kolleginnen hierher,
125
chillen es hier und dann rede ich auch mit ihnen zusammen und dann können wir
auch baden gehen, und. Ich weiss nicht, ich bin hier irgendwie freier Mensch, ich
kann machen was ich will. Ich bin einfach eine andere Person, wenn ich hier bin,
und frei habe. Ich habe einfach meine Freiheit hier. (...) Bist du nicht so wie
eingesperrt oder so.
Interviewerin: Empfindet ihr das auch so?
Person 2: Weil zu Hause schauen die Eltern immer, was du machst und dass du
dieses nicht machst und jenes nicht machst.
Person 4: Eben kontrollieren und so. Du wirst nicht kontrolliert.
Person 3: Man hat keine Freiheiten einfach.
Person 2: Und hier kannst du wirklich alles quasi machen, ja.“
Die normative Aneignung einer anderen Gruppe wiederum äussert sich vor allem in einer
Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen der eigenen Selbstverantwortung.
Da einige Regeln weder kontrolliert werden noch in ihren Augen sinnvoll sind, plädieren sie
darauf, sich selbst zu kontrollieren und nach eigenem Wissen und Gewissen abzuschätzen,
welche Regel wann zur Anwendung kommen sollte (vgl. Bach4:772ff und 934ff).
Die normativen Strukturen des Gartenbades scheinen zwar aus der Sicht eines
Aussenstehenden eher einschränkend auf die jugendliche Selbstregulierung zu wirken. Die
Äusserungen der Befragten machen jedoch deutlich, dass sich viele Jugendliche die im
Gartenbad vorhandenen Freiheiten dennoch zu Nutze machen können (s.o.). Weder die
formelle Kontrolle durch Bademeister oder Securitas noch die durch Eltern oder andere
Nutzergruppen ausgeübte soziale Kontrolle scheint die Jugendlichen im Allgemeinen davon
abzuhalten, die aufgestellten Regeln zu überschreiten. Die Veränderung der
Regulierungsmechanismen erscheint hingegen als schwieriger: So wünscht sich eine
Mädchengruppe einen „Jugendtag“, an welchem nur Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren
Zutritt zum Bad erhalten und diese sich in dieser Zeit an keine Regeln zu halten haben. Diese
radikale Transformation des im Gartenbad vorherrschenden normativen Settings kann am
ehesten als Utopie verstanden werden, auf die alle Wünsche der Mädchen nach
Selbstregulierung projiziert sind, die jedoch nicht realisierbar ist (vgl. Bach3:516ff).
Bezeichnenderweise tritt auch bei diesem Gedankenspiel die ambivalente Haltung der
Mädchen gegenüber der Regulierung von Jugendlichen zu Tage, denn je weiter sich die Idee
eines solchen Jugendtages radikalisiert, desto grösser werden auch die Bedenken der
Mädchen, die Jugendlichen könnten sich selbst ins Chaos stürzen (vgl. Bach3:553ff).
Normative Aneignung auf der Dreirosenanlage
Die befragten Jugendlichen geben zwei Formen von Verboten an, die es auf der
Dreirosenanlage zu beachten gilt. Erstens betonen sie, dass kriminelle Handlungen wie
Drogendealen, Haschischkonsum, Sachbeschädigung oder Gewalt auf dem Gelände nicht
126
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
geduldet werden. Für die Jugendlichen stellen diese Verbote Standardregeln dar, die aufgrund
der gesetzlichen Verankerung zumindest in der Öffentlichkeit einzuhalten sind (Drei1:451ff):
„Person 5: Also erstens mal nicht dealen, kiffen nicht, Sachbeschädigung und
Person 1: Nicht fighten.
Person 5: Schlägerei.
Person 1: Das ist unnötig, die sollten sich Zuhause kaputt schlagen, aber nicht
hier.
Interviewer: Was sonst noch?
Person 2: Eben das eigentlich, das ist eigentlich Standard.
Person 5: Ja klar.“
Zweitens scheinen so genannte Fairness- oder Respektregeln von zentraler Bedeutung für
die normative Regulierung zu sein: Mehrere Jugendliche erheben den Anspruch an sich und
andere Jugendliche, dass man auf der Dreirosenanlage niemanden beleidigt oder „unnötig
anstresst“ und sich anderen gegenüber anständig, fair und respektvoll verhält. In den weiteren
Ausführungen der Interviewpartnerinnen wird deutlich, dass sie einen Grossteil dieser
Umgangsformen von den im Jugendtreffpunkt eingeforderten Regeln ableiten. Obschon die
Regeln des Jugendtreffpunktes nicht für die öffentliche Anlage gelten, sind sie Teil der
Sozialisation der Jugendlichen, sodass die Jugendlichen diese Regeln generalisieren. Der
Jugendtreffpunkt nimmt somit eine Vorbildfunktion ein und fungiert als zentrale
Sozialisationsinstanz. Diese Übertragung des normativen Settings des Jugendtreffpunkts auf
den öffentlichen Raum der Dreirosenanlage findet ihren Ausdruck in weiteren Aussagen der
Jugendlichen. So nimmt eine Jungengruppe direkt Bezug auf die Treffpunkt-Regel „Kein
Rassismus!“ und sagt dazu: „Egal ob du Asiat bist oder Albaner oder wie auch immer, eben
man sollte sich einfach respektieren, dass ist eine Regel, würde ich sagen“ (Drei1:467).
Ähnlich verweist eine Mädchengruppe implizit auf die Treffpunkt-Regel „Keine Gewalt!“
wenn sie erklärten, dass sie Konflikte mit Hilfe von Gesprächen klären (Drei3:19ff):
„Person 1: Ja und vor allem wenn es hier irgendwie Stress gibt, sind alle eigentlich
alle füreinander irgendwie hier. Und man kennt sich hier meistens mega gut so
wie Person 2: Meistens wird auch geklärt durch Reden.
Person 1: Ja dann kommen immer alle und reden.“
Dieses Zitat verweist auf das bereits erörterte Zugehörigkeitsgefühl unter den Jugendlichen
auf der Dreirosenanlage: Aufgrund der ausgeprägten Vertrautheit ist es ein zentrales
Bedürfnis der Jugendlichen, zur Vermeidung von Eskalationen eine Konfliktlösung
anzustreben – „Wenn etwas nicht stimmt, dann machen wir es meistens denn so, dass es
wieder stimmt. Ich weiss auch nicht, wie wir das hinkriegen“ (Drei2:282) – und dadurch das
harmonische Zusammenleben und die soziale Ordnung auf der Dreirosenanlage nicht zu
gefährden: „Das ist wichtig. Also man muss sich respektieren, dann lebt man auch gut
zusammen“ (Drei1:469). Insbesondere das Prinzip der Gegenseitigkeit stellt sicher, dass die
127
sozialen Strukturen aufrecht erhalten bleiben: „Ok man sollte, glaube ich, sich immer
respektieren, Respekt geben und Respekt kriegen“ (Drei2:187). Es ist deshalb gemäss den
befragten Jugendlichen in einige Fällen notwendig, sich auch Respekt zu verschaffen,
beispielsweise wenn man in Auseinandersetzungen unfair behandelt oder von anderen
Jugendlichen ausgenutzt wird (Drei2:288):
„Eben man muss schon oft jemandem zeigen ‚Hey, von mir musst du Respekt
haben’, dann damit man auch respektiert wird, weil wenn zum Beispiel jetzt ich
und Steffi wir sind hier und sie macht uns jetzt zum Beispiel runter und wir, wir
fangen, keine Ahnung, wir fangen an zu heulen, heulen hier eine Runde
zusammen, dann respektiert sie uns dann nicht mehr, dann kommt sie nächsten
Tag und macht uns wieder runter. Aber wenn wir dann zu ihr kommen und sagen
‚Ja dies dies dies dies das’, dann merkt sie, man muss hier Respekt haben, und
dann ist es am nächsten Tag besser. Also man muss lernen, damit umzugehen.“
Die zentrale Aneignungsleistung der Jugendlichen in Bezug zur normativen Ordnung der
Dreirosenanlage liegt demnach darin, ein stabiles System sozialer Kontrolle und
Selbstregulierung aufzubauen, welches die Aufrechterhaltung des sozialen Friedens garantiert.
Im Gegensatz zu den beiden anderen Untersuchungsräumen scheint die soziale Kontrolle
unter den Jugendlichen selbst von zentraler Bedeutung für die Nutzung der Dreirosenanlage
zu sein: Die Jugendlichen scheinen sich gegenseitig zu kontrollieren, versuchen wann immer
möglich, Konflikte und Eskalationen zu vermeiden und greifen deshalb auch selbst in
Auseinandersetzungen ein, wenn sie es für notwendig erachten (Drei3:206ff):
Interviewerin: Aber seid ihr denn, weil eben jetzt gerade so mit diesen Jüngeren,
seid ihr denn überhaupt mit denen in Kontakt?
[…]
Person 1: Ja falls mit ihnen etwas los ist.
Person 3: Dann sind wir schon für sie da, also falls sie ein Problem haben oder so.
Person 1: Zum Beispiel letztens haben sich so drei Kleine geritzt und dann kam
der Bruder und wollte die Schwester schlagen und sie hatten Zuhause auch
Probleme, dann musste man ihnen eigentlich den Bruder halten, es ist mega hart.
[…]
Person 1: Ja man muss einfach helfen, weil sonst (unv.)
Person 3: Ins Spital gebracht und so. (...) Schauen einfach.
Interviewerin: Ist das etwas eben, das alle machen hier, aufeinander schauen?
Person 1: /Person 3: Ja.
Person 3: Alle schauen aufeinander. Das ist wichtig hier.
Die formelle Kontrolle ist demgegenüber sehr schwach ausgeprägt. Gelegentlich
anwesende Polizisten übernehmen dabei weniger Kontroll- und vielmehr soziale und
unterstützende Funktionen (Drei3ff):
128
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
„Person 2: […] jetzt kommen meistens Polizisten von Stop-Gewalt-Kurs, wenn es
diejenigen Leute betrifft, die viel Stress geben, sollten sie, wird ihnen meistens
empfohlen, diesen Kurs zu machen. […]
Person 1: Und vor allem ist es manchmal toll, wenn Polizisten hierher kommen,
Polizei gegen Jugendliche Match und so, und wir können auch
Person 2: Bei denen ist auch alles geschützt, die erzählen auch Sachen nicht weiter,
man kann ihnen auch alles Mögliche erzählen.
Person 1: Wir können auch so Handschellen nehmen und spielen dann mit, alles
anschauen, das finde ich cool.“
Die objektiven normativen Vorbedingungen der Dreirosenanlage sind wie erwähnt
tendenziell schwach ausgebildet und folglich bietet dies den Jugendlichen die Chance, das
normative Setting aktiv zu gestalten. In der gegenseitigen Auseinandersetzung und über
gemeinsame Aushandlungsprozesse, aber auch aufgrund der Sozialisation im
Jugendtreffpunkt, hat sich unter den Jugendlichen ein vergleichsweise stabiles Normensystem
etabliert, an welches sich die Mehrheit der Heranwachsenden hält. Die normative Aneignung
der Jugendlichen ist demnach vor allem durch eine ausgeprägte Selbstregulierung geprägt, da
die Jugendlichen ihre sozialen Beziehungen untereinander selbstständig und aktiv regeln.
Oder anders formuliert: Aus den in der Dreirosenanlage eingelagerten Möglichkeiten zur
Selbstregulierung hat sich ein System sozialer Kontrolle entwickelt, dass zwar informell bleibt,
aber auch in gewisser Weise institutionalisiert ist.
Dieser Institutionalisierungsprozess im Rahmen der normativen Aneignung lässt sich
ebenso in der Auseinandersetzung um die Nutzung der unterschiedlichen Bereiche der
Anlage aufzeigen. So verdeutlicht eine längere Beobachtung Basketballspielender Jugendliche
auf dem Hartplatz, wie die Jugendlichen sich frei von externer Regulierung selber und
gegenseitig regulieren. Die acht beobachteten Jugendlichen drängen für ein gemeinsames
Spiel auf den Hartplatz und machen sich bereit für das Gruppenspiel, während ein einzelner
Erwachsener dort bereits Korbbälle trainiert: „Eine erste Interaktion folgt direkt auf den
Spielstart: Der erwachsene Spieler, welcher sich bis anhin noch auf derselben Platzhälfte
befunden hat, muss nun auf die andere Seite ausweichen. Es scheint hier ein wortloses
Verständnis darüber zu herrschen, wer wann und weshalb welchen Teil des Hartplatzes
nutzen darf. Die beiden Parteien – Jugendgruppe und Erwachsener – scheinen sich praktisch
nicht zu beachten, das Wechseln des Erwachsenen auf die andere Hälfte geht ohne
Kommentare oder näheren Austausch vonstatten“ (Beo_Drei2:5). Ähnlich wie diese Szene
legt die gesamte Beobachtungssituation nahe, dass die Selbstregulierung zu einem bestimmten
Grad auch institutionalisiert ist und entweder das Produkt von früheren Aushandlungen oder
aber Teil eines generellen Sportverhaltens darstellt, wie es die beobachteten Jugendliche
vielleicht in ihren Sportclubs oder in der Schule/Ausbildung gelernt haben. Auf jeden Fall
scheint ein gewisser Verhaltenskodex zu bestehen, der im Falle der genannten Beobachtung
von allen anerkannt und ohne zusätzliche Aushandlungen eingehalten wird: Die Nutzung des
Hartplatzes wird in erster Linie den Spielenden und nicht den Trainierenden zugesprochen
und dementsprechend haben sich Einzelpersonen (Erwachsener) in ihrem Nutzungsverhalten
an Gruppen anzupassen (Ausweichen auf Resträume). Auch innerhalb der Gruppe sind sich
129
die Jungen einig: Die Konzentration gilt dem Spiel, Ablenkungen sollen vermieden werden.
Dieses wortlose Verständnis, das zwischen den Basketballspielenden herrscht, lässt sich
jedoch nicht auf Aussenstehende übertragen: Ein Junge, der vertieft in ein Telefongespräch
den Hartplatz durchquert und damit das Gruppenspiel behindert, verhält sich durch diese
Aktion gegenüber dem Verhaltenskodex ignorant; deshalb stösst dieses Verhalten bei den
Spielenden auf wenig Verständnis, sie reagieren genervt und ungehalten. Dieses Beispiel
erhärtet die oben ausgeführte Annahme, dass die Ausgestaltung des normativen Settings der
Dreirosenanlage durch die Jugendlichen relativ institutionalisiert und deshalb wenig flexibel
ist. Es ist deshalb zugleich davon auszugehen, dass dieses Normensystem auf das Verhalten
der
Jugendlichen
regulierend
wirkt
und
insbesondere
die
normativen
Aneignungsmöglichkeiten von Minderheiten einschränken kann – auch wenn diese
Ausschlussmechanismen in den Interviews nicht direkt angesprochen wurden.
Analyse der normativen Aneignung in öffentlichen Räumen
Die von den Interviewgruppen genannten Regulierungsmechanismen und in den öffentlichen
Räumen vorherrschenden Normensysteme können wie in Abbildung 11 in sieben
unterschiedliche Kategorien differenziert werden. Diese wiederum lassen sich einerseits auf
einem Kontinuum zwischen formeller und informeller Regulierung ansiedeln und
andererseits nach dem Grad ihrer Verbindlichkeit unterscheiden.
Die formellste und sogleich auch verbindlichste Kategorie stellen die Strafgesetze dar.
Gemäss den Befragten dienen sie dazu, die Sicherheit aller zu gewährleisten und mögliche
Risiken, wie beispielsweise negative Folgen des unkontrollierten Drogenkonsums für
Minderjährige, zu minimieren. Während der Verzicht auf Gewalttaten unumstritten bejaht
wird, widersetzen sich einige Jugendliche den gesetzlichen Vorschriften zum Konsum von
Rauschmitteln (Marihuana Rauchen) und der davon ausgehenden formellen Kontrolle (bspw.
durch Securitas im Gartenbad Bachgraben) und nehmen das Risiko auf sich, für die
Missachtung bestraft zu werden.
Wenngleich Verbote (vgl. die Verordnung über öffentliche Bäder des Kantons) ebenso
verbindlich und ähnlich formalisiert wie Gesetze sind, werden sie von den befragten
Jugendlichen weitaus stärker kritisiert. Zwar anerkennen die meisten den Zweck der Verbote,
nämlich die Verhinderung von körperlichen Gefährdungen sowie riskantem Verhalten (z.B.
im und ums Wasser), einige sprechen sich aber dafür aus, die Regulierung in die
Verantwortung der Nutzenden des öffentlichen Raumes zu übergeben. Dementsprechend
werden Verbote dieser Art regelmässig missachtet, obschon auch hier die Kontrolle
verhältnismässig ausgeprägt ist. Der Regelübertritt zieht jedoch keine allzu strengen
Konsequenzen nach sich, es sei denn, er führe zu einer tatsächlichen Gefährdung anderer.
Abbildung 11: Jugendöffentlichkeit zwischen Kontrolle und Selbstregulierung
130
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
Quelle: Eigene Darstellung
Vorschriften sind im Gegensatz zu Gesetzen oder Verboten eher unverbindliche Regeln,
obschon sie einen vergleichsweise formellen Charakter aufweisen. Unter Vorschriften sind
vor allem die Hygieneanweisungen im Gartenbad Bachgraben zusammengefasst. Diejenigen
Jugendlichen, welche sich im Interview zur Thematik äussersten, bewerten diese
Regulierungsform als dysfunktional da unkontrollierbar und würden ähnlich wie im
vorherigen Abschnitt einen selbstverantwortlichen Umgang bevorzugen. Der Umstand, dass
die Missachtung solcher Vorschriften aufgrund der fehlenden sozialen und formellen
Kontrolle keine Konsequenzen habe, fällt diesen Jugendlichen besonders negativ auf.
Normen hingegen sind zwar weitaus weniger formalisierte Regeln, zählen aber dennoch zu
den verbindlichen Regulierungsmechanismen, weil sie gemäss den jugendlichen Aussagen auf
ihr Verhalten regulierend wirken. Normative Vorgaben beziehen sich in der vorliegenden
Erhebung in erster Linie auf spezifische Formen des Konsums von Rauschmitteln, der zwar
gesetzlich legal ist, jedoch aus der Sicht einer oder mehrerer Gruppen als negativ bewertet
wird (z.B. massloser Alkoholkonsum, Zigarettenkonsum Minderjähriger). Die befragten
Jugendlichen anerkennen diese Normen und begründen sie mit einem für sie
nachvollziehbaren Jugendschutz. Auch betonen sie ihre eigene diesbezügliche
Vorbildfunktion gegenüber jüngeren Kindern, die sie versuchen so weit als möglich
wahrzunehmen. Dennoch werden die Normen wiederkehrend gerade von denjenigen
Jugendlichen missachtet, welche in den Befragungen die oben genannten Argumente
erwähnten. Somit sehen sich gewisse Heranwachsende mit dem Dilemma konfrontiert, dass
sie aus rationalen Gründen die normativen Vorgaben unterstützen, sie jedoch aufgrund der
eigenen Bedürfnisse überschreiten. Dies äusserst sich ebenso in ihrer ambivalenten Haltung
bezüglich der Einschätzung, ob sie als Jugendlichen nun selbst Verantwortung für ihren
131
Rauschmittelkonsum übernehmen können oder doch darauf angewiesen sind, von aussen in
ihrer Selbstkontrolle eingeschränkt zu werden. Der Drang nach Selbstkontrolle und –
regulierung bringt diese Jugendlichen dann auch immer in den Konflikt mit den formellen
Kontrollorganen. Dennoch empfinden die Befragten gerade in solchen Momenten der
Spannung zwischen Fremd- und Selbstbestimmung ein besonders stark ausgeprägtes
Freiheitsgefühl.
Der Anspruch auf Ruhe & Ordnung (Abfall entsorgen, Musiklautstärke reduzieren, nicht
laut herumschreien, etc.) wird von gewissen Jugendlichen unterstützt, von anderen in
ähnlichem Masse kritisiert. Diese Regeln entsprechen im weitesten Sinne dem Anspruch
mehrerer befragter Jugendliche, aufeinander Rücksicht zu nehmen und das Wohlbefinden
anderer nicht zu beeinträchtigen. Diese befragten Jugendlichen sehen in der Befolgung der
herrschenden Vorstellungen zum Verhalten in öffentlichen Räumen eine gesellschaftlichen
Verpflichtung, der sie bereit sind nachzukommen. Andere Interviewgruppen hingegen stellen
die eigenen Bedürfnissen, sich selbstbestimmt auszutoben und auszuleben, über die
Forderungen anderer Nutzergruppen und übertreten deshalb regelmässig die an sie
gerichteten Ansprüche. Aufgrund der vergleichsweise schwach ausgeprägten formellen
Kontrolle von Ruhe & Ordnung sind diese Jugendlichen auch nicht von bedeutsamen
Konsequenzen betroffen; allenfalls müssen sie sich mit durch ihr Verhalten gestörten
Nutzenden auseinandersetzen (soziale Kontrolle). Oft ist es gerade diese Kategorie der
Regulierungsmechanismen, die den Jugendlichen am meisten Freiheiten und Möglichkeiten
zur Selbstregulierung erlaubt. Dies kann neben der fehlenden Kontrolle auch auf die
Relativität des Verständnisses von Ruhe & Ordnung zurückgeführt werden: Oft fühlen sich
die Jugendlichen in diesem Zusammenhang gegenüber anderen Nutzenden im Recht und
auch im Stande, eigenen Verhaltensstandards auf das Handeln anzulegen und deren
Angemessenheit korrekt abzuschätzen. Schliesslich scheint die Forderung nach Ruhe &
Ordnung in den öffentlichen Räumen zwar vorhanden, aber weitaus weniger stark ausgeprägt
als in anderen lebensweltlichen Zusammenhängen der Jugendlichen (Schule, Zuhause,
Arbeitsplatz).
Die Moral bezieht sich auf diejenigen Aussagen der Jugendlichen, die sich explizit oder
implizit auf das sexuelle und zwischengeschlechtliche Verhalten in öffentlichen Gartenbädern
bezieht. Die befragten Jugendlichen des Gartenbades Bachgraben geben mehrere Beispiele
dafür, wie man sich in diesem Zusammenhang eben nicht zu verhalten habe. Es ist für sie
meist unumstritten, dass die moralischen Vorgaben im Umgang mit dem eigenen Körper ein
wichtiges Mittel darstellen, die sexuelle Integrität und die Privatsphäre jedes Einzelnen zu
wahren. Sie begründen diese Regeln einerseits mit ihrer Vorbildfunktion gegenüber
anwesenden Kindern sowie mit den von ihnen präferierten Geschlechterrollen (s.u.),
insbesondere was das korrekte Sexualverhalten von Mädchen angeht. Ein interviewter Junge
gibt zwar zu, dass er sich aufgrund seiner eigenen sexuellen Bedürfnisse eine Lockerung der
moralischen Regulierung wünschen würde, besteht aber dennoch auf ihre Gewährleistung
zum Schutze und Respekt vor der Privatsphäre. Dennoch scheint es im Gartenbad gewisse
Möglichkeiten zu geben, die moralischen Standards zumindest teilweise zu umgehen (andere
Mädchen anfassen, sich sexy präsentieren…), sofern das Gegenüber damit einverstanden ist.
Die unter der Kategorie Umgangsformen zusammengefassten Aussagen der Befragten
behandeln in erster Linie diejenigen informellen Regeln, die zu einem konfliktfreien
132
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
Auskommen untereinander beitragen. Sie dienen gemäss den Jugendlichen dazu, das teilweise
unkontrollierte Verhalten von Heranwachsenden in die Schranken zu verweisen und ein
gewisses Mass an gegenseitigem Respekt garantieren zu können. Die Begründung solcher
Umgangsformen basiert demnach auch auf dem weiter oben besprochenen universellen
Verständnis von Respekt, nämlich dass jeder Mensch das Recht auf angemessene und
respektvolle Behandlung habe. Diejenigen Jugendgruppen, die sich diesbezüglich geäussert
haben, sehen sich jedoch genötigt, die herrschenden Vorgaben im gegenseitigen Umgang in
gewissen Situationen zu untergraben, sei es um sich selbst Respekt zu verschaffen, sei um sich
zum eigenen Recht zu verhelfen. Es handelt sich bei dieser Kategorie demnach um eine
Regulierung mit vergleichsweise ausgeprägtem Konfliktpotential, wobei sich die Jugendlichen
vor allem mit der sozialen Kontrolle durch andere Jugendliche auseinandersetzen müssen.
Wie oben zur Dreirosenanlage beschrieben steht das Aushandeln solcher Umgangsregeln
jedoch in der Verantwortung der Jugendlichen selbst und die ausgehandelten
Umgangsformen sind demnach das Produkt jugendlicher Selbstregulierung.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass alle der hier beschriebenen Regulierungsformen
und Mechanismen Gegenstand jugendlicher Aneignung sind: Erstens sind die Jugendlichen
an der Reproduktion von regulativen Machtverhältnissen massgeblich beteiligt, indem sie sich
gewissen Regeln mehr oder weniger stark verpflichten und dies auch nach aussen
kommunizieren (z.B. Moral oder Strafgesetze). Zweitens gelingt es den Jugendlichen auch,
vorherrschende Regelsysteme zum eigenen Nutzen zu erweitern, indem sie sich Strategien
zum Umgehen von Kontrollmechanismen erarbeiten (z.B. Norm). Schliesslich gibt es auch
zahlreiche Regeln, denen sich die Jugendlichen bewusst entgegenstellen (z.B. Vorschriften).
Die produktive Herstellung wie auch die Reproduktion von Regelsystemen kann als
bedeutsame Facette von Jugendöffentlichkeiten verstanden werden.
5.4 Jugendöffentlichkeit als Repräsentation des jugendlichen Lebensstils
Jugendliche nutzen öffentliche Räume häufig als Bühne zur Selbstdarstellung. In diesem
Unterkapitel wird auf diese Form der symbolischen Aneignung näher eingegangen. Zuerst
werden die symbolischen Aneignungsformen getrennt nach den drei Untersuchungsgebieten
beschrieben, anschliessend im Analyseabschnitt zusammenfassend dargestellt.
Symbolische Aneignung auf dem Barfüsserplatz
Die symbolische Repräsentation der Jugendlichen lässt sich als vielseitig und teilweise auch
widersprüchlich bezeichnen. Im Generellen fällt auf, dass sich die untersuchten Jugendlichen
den Barfüsserplatz durch auffälliges Verhalten aneignen: sich anders stylen (z.B. Haare rot
färben, vgl. Barf3), die ganze Zeit lachen, schwatzen und Faxen machen (vgl. Barf4), laut und
wild sein (vgl. Beo_Barf2 oder Barf3) und vieles mehr. Durch dieses auffällige Verhalten
können sie sich von den anderen Nutzenden, die alle gleich zu sein scheinen, abheben; und
zwar auf positive Art und Weise, da sie nach aussen lustig, glücklich und voller Energie
wirken. Eine Jugendgruppe grenzt sich aber explizit von nonkonformen Verhalten ab
(Barf4:274ff als Antwort auf die Frage nach der präferierten Rolle in der Öffentlichkeit):
133
„Person 1: Komödie, oder?
(lachen)
Person 1: Nein, ich glaube schon eine Komödie.
Person 2: Ja. (...) Halt Clown oder so.
Person 3: Clown und so.
Person 1: Ja, halt so drei, die halt die ganze Zeit Scheiss machen und Scheiss im
Kopf haben, würde ich sagen.
Interviewerin: Aber wo man dann eben in einer Komödie darüber lachen kann?
Person 1: Also ja, man macht nicht so scheissmässig mit Randalieren oder so
Zeug, ich mein.
Interviewerin: Ihr tut nicht so?
Person 1: Mit Randalieren und so Scheiss, ich meine, so lustige Sachen halt
machen und so. Wo man halt darüber lachen kann.“
Dieser Gruppe führt dann noch weiter aus, dass es ihnen dennoch wichtig ist, authentisch
zu bleiben, was darauf hindeutet, dass sie ihr eigenes repräsentatives Verhalten (Clowns in
einer Komödie spielen) nur bedingt als solches wahrnehmen. Auffälliges Verhalten kann
soweit gehen, dass sich Jugendliche auch mal auf dem Gehsteig raufen oder an der Fasnacht
eine unbekannte Personen angreifen – dies ist aber immer im Spass gemeint. Im Gegensatz
dazu grenzt sich eine Gruppe von drei Mädchen explizit von auffälligem Verhalten in der
Öffentlichkeit ab und vertritt die Meinung, dass man in der Öffentlichkeit nur selten so sein
könne, wie man wirklich ist (vgl. Barf3). Ausserdem verneinten diese Mädchen im
Allgemeinen repräsentatives Verhalten in öffentlichen Räumen als mögliche Thematisierung
der eigenen Persönlichkeit: „Interviewerin: Eben merkt man so eure Persönlichkeit, wenn ihr
hier in der Öffentlichkeit seid? […] Ich finde gar nicht, also man kennt mich überhaupt nicht
in, durchschauen in zwei drei Sekunden, denke ich. Also ich bin immer anders, bin nie gleich“
(Barf3:293).
Schliesslich repräsentieren sich Jugendliche nach aussen als zusammengehörige Gruppe,
die der anonymen und treibenden Masse auf dem Barfüsserplatz entgegensteht: Indem viele
Jugendliche den Barfüsserplatz als kollektiven Aufenthaltsort nutzen, leben sie auch ein Teil
ihre Privatlebens (Freundeskreis, Intimbeziehungen) im öffentlichen Raum, wie zahlreiche
Beobachtungen beispielsweise von sich küssenden Pärchen oder in Gespräche vertiefte
Freunde aufzeigen (vgl. Beo_Barf4 oder Beo_Barf_Liminal).
Wie bereits zur Dimension der sozialen Aneignung erwähnt, spielt der Konsum von
Nahrungsmittel eine besondere Rolle für Jugendliche auf dem Barfüsserplatz. Neben der
Tatsache, dass ihnen das angebotene Essen schmeckt, steht die Nutzung von
Fastfoodrestaurants – denn um solche handelt es sich in erster Linie – eng im Zusammenhang
mit dem eigenen Lebensstil: Die Gastrobetriebe auf dem Barfüsserplatz werden vor allem
deshalb geschätzt, weil das Essen schnell serviert wird und man es deshalb auch spontan oder
zwischen zwei Verpflichtungen einnehmen kann: „Dann hat man Hunger, dann gehst du
134
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
schnell etwas essen. (…) Kurz vor dem Ausgang oder nach dem Ausgang, dass man dann hier
schnell etwas essen geht“ (Barf4_26). Dieses Motiv der Spontaneität tritt mehrmalig auf und
scheint typisch für den Barfüsserplatz zu sein.
Weiter steht der Barfüsserplatz für das Erleben von Aussergewöhnlichem. Insbesondere
der Besuch soziokultureller Veranstaltungen gibt den Jugendlichen die Möglichkeit, ihren
Lebensstil so auszuleben, wie sie es ansonsten nicht können. Beispielsweise kann man auch
mal etwas Verrücktes tun (wie bspw. an der Fasnacht fremde Erwachsene stopfen, vgl. Barf1),
ein Gefühl der Zugehörigkeit erleben (z.B. an der Meisterfeier, vgl. Barf2) oder auch mal „die
Sau rauslassen“ (vgl. Barf2).
Das auf dem Barfüsserplatz vorherrschende Symbolsystem (soziokulturelle
Veranstaltungen, Werbeplakate, Gastronomie, etc.) erscheint dem Aussenstehenden als
relativ strukturierend und vor allem auf die Erwachsenenwelt bezogen. Dennoch gelingt es
den Jugendlichen über die Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit ihre eigenen Zeichen zu
setzen, indem sie sich anders als die Mehrheit repräsentieren. Von besondere symbolischen
Bedeutung sind aber auch diejenigen Events auf dem Barfüsserplatz, die sich explizit auf die
Jugendlichen als Zielgruppe fokussieren (z.B. Jugendkulturfestival, Imagine – Festival gegen
Rassismus, etc.). An diesen Veranstaltungen können Jugendliche nicht nur den sozialen
Austausch pflegen, sondern auch ihr jugendliches Lebensgefühl ausleben (Abtanzen,
interessante und neue Musik hören, etwas Aussergewöhnliches erleben, etc.). Deshalb
beklagen sich einige Jugendliche auch darüber, dass auf dem Barfüsserplatz abgesehen von
den einzelnen Festivals, zu wenig los sei und nichts Spektakuläres vorfalle (Barf3:69-75):
„Person 3: Ja die Fasnacht ist hier. Also das ist das einzige, sonst ist ja hier nicht so
etwas Spektakuläres los ausser. […]
Interviewerin: Aber jetzt hast du vorhin gerade gesagt, sonst ist nicht so viel los
hier auf dem Barfi?
Person 3: Ja manchmal am Wochenende so Festival, aber sonst ist einfach so die,
welche halt arbeiten gehen und die, welche rumlaufen“
In den Gesprächen wird aber ebenso deutlich, dass sich das Bedürfnis nach dem
Spektakulären und Spannenden ebenso in den ganz alltäglichen Situationen befriedigen lässt,
beispielsweise beim Beobachten anderen Leute (Barf3:94):
„Interviewerin: Also so das Beobachten und Leute treffen und so, das ist noch so
etwas Wichtiges hier auf dem Barfi?
Person 3: Man macht es hier irgendwie automatisch wenn man wartet schaut man
so ein wenig rum. Interviewerin: Aber kann man das hier besonders gut auf dem
Barfi?
Person 2: Ich finde also es lauft irgendwie immer ein wenig etwas, also irgendwie
wenn Leute aus dem Tram kommen oder ja halt der Verkehr ist hier einfach recht
stark und dann wenn man so ein wenig rumhängt, dann hat man immer etwas zu
sehen, dann fallen einem solche Sachen auf.
135
Symbolische Aneignung im Gartenbad Bachgraben
Die symbolische Repräsentation der Jugendliche im Gartenbad Bachgraben ist von Vielfalt
geprägt.
In Anlehnung an die normative Aneignung versuchen einige Jugendliche sich selbst als
soziales Vorbild zu etablieren, meist aus Rücksicht auf die Kinder (Bach3:482ff):
„Person 4: Heutzutage sagen mega viele, ja Eltern schon, Jugendliche, die man hier
auf der Strasse sieht, sind mega verantwortungslos, die rauchen, die machen das
alles vor den kleinen Kindern, oder. Ich schaue wenigstens, dass ich nicht gerade
unbedingt vor kleinen Kindern bin (Person 2: Ja, das stimmt.), aber wenn ich
praktisch nie unter kleinen Kindern bin, dann habe ich die Zigi so versteckt, dass
es so durch schaut, dass der Rauch so. Dann nimm ich immer so, oder, so auf der
Seite, dass es nicht. […]
Person 4: Weil ich finde das nicht gut, weil ich will eigentlich nicht so ein
Scheissvorbild eigentlich ehrlich sein.“
Daraus ergibt sich auch das Motiv, die eigenen nonkonformen Verhaltensweisen vor
Erwachsenen oder Kindern zu verstecken. Generell weisen einige Jugendliche darauf hin, dass
sie im Gartenbad den Kontakt mit anderen Altersgruppen meiden (s.o. unter physische
Aneignung) und dies liesse darauf schliessen, dass die Selbstdarstellung gegenüber
Erwachsenen für sie nur von geringer Bedeutung sei. Im Gegensatz dazu ist es aber möglich,
auch sehr extrovertierte Formen der symbolischen Aneignung zu erfassen: Einige physischmateriellen Bedingungen, wie die Rutschbahn oder das Sprungbrett, scheinen geradezu dafür
bestimmt, die eigenen Fähigkeiten in der Form von Kunststücken (Sprünge, Saltos, etc.) nach
aussen hin zu präsentieren (vgl. Beo_Bach4 oder Beo_Bach_Repräsentation) und dabei auch
ein besonderes Lebensgefühl zu vermitteln, bspw. das Bedürfnis nach Herausforderung und
Erlebnis oder den Antrieb, immer wieder etwas Neues auszuprobieren, auch mal etwas zu
wagen und somit das Leben auszukosten: „Egal wie gefährlich es ist, mal ausprobieren.
Einfach Spass haben. Wir leben nur einmal, oder? Und wir müssen alles probieren, Mann. So
ist unsere Art“ (Bach2:287). Ausserdem dienen Sprungbrett, Wasserbecken und Rutschbahn
als Plattform, den eigenen Körper auszutesten, an die Grenzen zu bringen oder auch zu
trainieren. Während Jugendliche also andere Badegäste mit ihren Fähigkeiten und
Kunststücken beeindrucken können, gelingt es ihnen ebenso mittels auffälligem Verhalten
Aufmerksamkeit bei anderen Besuchern zu erregen: „Wir sind laut und wir sind auffällig.
Einfach so, weiss nicht, wenn wir zusammen sind, dann habe ich zum Beispiel keine
Hemmungen irgendwie etwas zu machen, das ich alleine nicht machen würde“ (Bach4:467).
Dabei definieren sich diese Jugendliche oft über das „Anders-Sein“ als andere (Bach4:587ff):
„Interviewerin: Jetzt wollte ich euch noch fragen, wenn ihr euch vorstellt, die Badi
ist eine Bühne oder ihr könntet hier einen Film drehen oder so, was würdet ihr für
eine Rolle spielen? […]
Person 1: Die Abnormale.
Interviewer: Die Abnormalen genau. Was würden denn die Ab-, was zeichnet die
Abnormalen aus in einem Film?
136
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
Person 3: Das sind halt Abnormale (lacht). Wenn man ab einem Viech eine
Panikattacke kriegt und absegglet.55
Person 1: Wenn man einfach so anders ist als die anderen.
Person 3: Ja genau.“
Dieses Beispiel zeigt auf, dass anzunehmen ist, dass Jugendliche in der Öffentlichkeit meist
sich selber sind, jedoch andere Personen vor allem nur einige wenige Charaktereigenschaften
dieser Jugendlichen in überproportionalem Masse wahrnehmen, wie auch die folgenden
Antworten auf die Frage zur präferierten Rolle zeigen (Bach3:849ff):
„Person 4: Ich schwöre, ich wäre Psychofrau Mann.
Person 2: Sie wäre eine, die immer Stress hätte, irgendwie zu Hause oder mit dem
Freund.
Person 3: Es ist so.
Person 1: Wir zwei wären Psychofrauen.
Person 4: Psychofrau und Stressfrau.
Person 2: Und ich wäre die, die immer lacht.
Person 4: Die, welche den Clown spielt.
Person 3: Die immer Probleme löst und so.
Person 4: Die dich auf gute Laune, Fun-Laune bringt.“
Somit könne man auch interpretieren, dass sich in der Öffentlichkeit über einige wenige
ausgeprägte Charaktereigenschaften zu repräsentieren und somit auch nur eine Rolle zu
spielen, für Jugendliche etwas Natürliches ist, also dass es implizit zum Jugendlich-Sein
gehört, Aufmerksamkeit zu erregen und dadurch auch seine Persönlichkeit zum Ausdruck zu
bringen. Diese Annahme kann teilweise mit den eigenen Beobachtungen widerlegt werden, in
welchen viele Jugendliche eher ausgelassen und wenig auf Repräsentation bedacht erscheinen
(vgl. Beo_Bach_Repräsentation). Eine besondere Form des auffälligen Verhaltens ist das
Blödsinn-Machen, weil es sowohl nach innen gerichtet ist (gemeinsam Spass haben,
miteinander und übereinander lachen, ein einmaliges Erlebnis in der Gruppe, an das man sich
auch noch später daran erinnert) als auch darauf abzielt, im Umfeld auf Korrespondenz zu
stossen. Der Ausdruck "Faxen machen", der von einer Gruppe in diesem Zusammenhang
genannt wurde, scheint diese beiden Bedeutungen miteinander zu vereinen (vgl. Bach1:4).
Weitere Elemente der jugendlichen Selbstdarstellung im Gartenbad Bachgraben sind
beispielsweise die von einigen Jugendlichen betonte positive Ausstrahlung – „Person 2: Ja wir
sind einfach alle glücklich, also wir sind so. Person 4: Vor allem immer gut drauf. Person 3:
Glückliche Menschen“ (Bach4:650ff, Selbstbeschreibung anhand eines Selbstportraits) – oder
auch die Zusammengehörigkeit als Gruppe. Ähnlich wie bei den Ergebnissen zum
Barfüsserplatz stellt die Peergroup nicht nur eine Organisationsform für Jugendliche, sondern
55 Dieses befragten Mädchen hat zuvor im Interview bereits erwähnt, dass sie panische Angst vor Insekten hat
(vgl. Bach4:202f).
137
auch ein zentrales Element ihrer Repräsentation nach aussen dar. So betonen viele
beobachtete Jugendliche ihre Zusammengehörigkeit durch besondere Gesten (Einhaken,
Zuflüstern, Körperkontakt, etc.) und bringen somit ihre Freundschaft auch für
Aussenstehende zum Ausdruck. Dieses Freundschaftsmotiv drückt einerseits Zugehörigkeit
und Abgrenzung nach aussen aus, repräsentiert aber ebenso die zuvor erwähnte positive
Ausstrahlung als Element eines bestimmten jugendlichen Lebensgefühls: „Also es ist einfach
so, dass es kommen sehr viele Jugendliche hierher und unter diesen sind viele Freunde,
Kollegen, so halt, Familie. Und es gefällt uns einfach und wir kommen hierher, haben unseren
Spass, verbringen unsere Freizeit hier, erfrischen uns, werden dann müde (lacht). (...) Haben
einfach Spass“ (Bach2:2).
Zusammenfassend kann davon ausgegangen werden, dass die symbolische Aneignung im
Gartenbad Bachgraben weniger über das äussere Erscheinungsbild (Kleidung, Accessoires,
etc.)56, sondern vor allem durch selbstdarstellendes Verhalten (Kunststücke machen, auffällig
sein, positive Ausstrahlung, etc.) vermittelt wird. Einzig im Umgang mit dem anderen
Geschlecht wird der eigene Körper zur Darstellungsfläche von Weiblichkeit oder
Männlichkeit sowie Attraktivität (mehr dazu unter Kapitel 5.5.).
Symbolische Aneignung auf der Dreirosenanlage
Ein Mittel zur Selbstdarstellung der Jugendlichen auf der Dreirosenanlage stellen ihre
Aktivitäten dar, sei es nun das mehrfach erwähnte Tanzen oder andere Sportarten wie
Basketball- oder Fussballspielen. Über diese Aktivitäten wird das Bedürfnis nach jugendlicher
Repräsentation auf unterschiedliche Art und Weise befriedigt.
Insbesondere das Tanzen stellt nicht nur eine Freizeitbeschäftigung dar, sondern ist
Ausdruck eines jugendlichen Lebensstils: Das Tanzen steht für Ehrgeiz und Leistung, Spass
und Lebensfreude, Zugehörigkeit und Abgrenzung, und vieles mehr. Deshalb macht es ein
zentrales Element der jugendlichen Selbstdarstellung aus und ist ebenso Quelle von Respekt
und Anerkennung (s. Kap. 5.6.)
Weiter taucht während des Interviews mit der männlichen Interviewgruppe eine Form der
jugendlichen Selbstdarstellung auf, die von ihnen selbst als „Swag“ bezeichnet wird. Swag57
scheint im Allgemeinen schwierig zu definieren und umschreibt im vorliegenden Fall neben
einer bestimmten Form von Selbstdarstellung nach aussen ebenso ein jugendtypisches
Lebensgefühl von Lässigkeit und Coolness: Rumhängen, gute Laune haben, easy drauf sein
und Spass an dem haben, was man tut: „Aber solange wir wissen, alles ist Fun, alles ist
56 Eine Ausnahme bildet ein beobachtetes Mädchen, das sich im Gegensatz zur Gruppe, in der sie sich aufhält,
bewusst gestylt hat. Da sie grosse goldene Ohrringe, gezöpfelte Haar und ein auffällig farbiges Bikini trägt sowie
zusätzlich relativ laut und dominant auftritt, hebt sie sich aus Beobachterperspektive von den restlichen
Jugendlichen ab, die lediglich ihre Badeanzüge tragen (vgl. Beo_Bach3:2).
57 Definition des Urban Dictionary für Swag: „The way in which you carry yourself. Swag is made up of your
overall confidence, style, and demeanour. Swag can also be expanded to be the reputation of your overall
swagger. You gain swag, or "Swag up", by performing swag worthy actions that improve this perception. A
person can also "swag down" by being an overall pussy and garnering negative swag for their actions. Swag is a
subtle thing that many strive to gain but few actually attain. It is reserved for the most swagalicious of people“.
Zugriff am 3.12.2011 auf URL: http://www.urbandictionary.com/define.php?term=swag.
138
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
möglich, alles ist, nehmen wir alles easy. Sind wir halt einfach so die Swaggers halt“
(Drei1:382). Die Jugendlichen definieren Swag schliesslich als positive Ausstrahlung, die sich
sowohl auf das äussere Erscheinungsbild als auch auf das Verhalten bezieht: Draussen sein
und tanzen, von anderen gesehen zu werden, sich über Mode unterhalten, eine positive
Ausstrahlung haben - kurz: Style nicht nur zu reproduzieren, sondern auch zu leben. Für die
betreffende Jungengruppe lassen sich unter Swag alle die für sie bedeutsamen Lebensinhalte
und –stile zusammenfassen: Erstens sich mit dem Tanzen nach aussen zu repräsentieren und
Anerkennung zu erhalten, zweitens sich von anderen abzusetzen bzw. zu den Swaggern
dazuzugehören und drittens sich einen Gegenpol der Gelassenheit zum stressigen Alltag zu
verschaffen. Schliesslich kann Swag mit einigen Vorbehalten auch dahingehend interpretiert
werden, dass die jugendliche Suche nach Anerkennung durch die Öffentlichkeit sich über eine
positive Selbstdarstellung verwirklichen lässt, also dass die Jugendlichen dank ihrer positiven
Ausstrahlung durchaus anerkennende Rückmeldungen von anderen Menschen erhalten. Die
folgende Aussagen der Jungen lassen sich möglicherweise in diesem Sinne deuten (Drei1: 348f
als Antwort auf die Frage, das die andere Leute von ihnen denken, sowie Drei1:417):
„Person 1: Ich denke nicht gerade Idioten, ich denke einfach es ist etwas Neues
[…]. Das ist etwas Neues, weil sie haben so etwas noch nie gesehen, das ist etwas
Neues, ein neues Erlebnis, und ich denke, die meisten Leute denken wirklich, sie
machen ein paar Sachen, die krank sind oder komisch sind, sie tanzen wenigstens,
sie können tanzen. […] Und sie haben Freude am Tanzen. Das sieht man, wir sind
einfach lebendige Menschen. […]
Person 2: In diesen Videos teilen wir eigentlich unsere Kunst, verstehen sie was
wir meinen, und wir haben auch Spass daran.“
Während diese Jungen dem Anschein nach grossen Wert auf ihre Aussenwirkung legen,
fällt bei den Beobachtungen ebenso auf, dass sich viele Jugendliche im Vergleich zu
beispielsweise den Jugendgruppen auf dem Barfüsserplatz eher unauffällig kleiden (vgl.
Beo_Drei5, Beo_Drei4, Beo_Drei3). Obwohl diese Erkenntnis nicht ohne Weiteres erklärt
werden kann, gibt ein befragtes Mädchen einen Hinweis darauf: „Ja wenn man, wenn jetzt
Steffi zu mir sagt, wir gehen Dreirosen, dann schaue ich, dass ich mich so anziehen, dass es
mir angenehm ist, dass ich alles ein wenig machen kann. Also ich komme dann schon nicht
mit dem Miniröckchen oder so“ (Drei2:459). Hier wird direkt auf die zahlreichen
Eventualitäten physischer und sozialer Aneignung Bezug genommen.
Weiter betonen einige Interviewpartner, dass es ihnen ein grosses Anliegen ist, für andere
Kinder ein Vorbild zu sein. Indem sie versuchen, nicht vor kleinen Kindern zu rauchen
(Drei3), das eigene Wissen an Jüngere weiterzugeben (Drei1), sich gegenseitig zu helfen und
zu beschützen (Drei3) und sich im Allgemeinen an die Gesetze zu halten (Drei1) tragen diese
Jugendliche aktiv zu einer positiven Atmosphäre auf der Dreirosenanlage bei. Die
unterschiedlichen Ausprägungen jugendlicher Aneignung (sich Respekt verschaffen,
anständig und respektvoll sein, sich vorbildlich verhalten…) erfüllen somit in erster Linie die
soziale Aufgabe der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung im öffentlichen Austausch und
die Integration aller Nutzergruppen in einem sozialen Gesamtzusammenhang.
139
Ähnlich wie die Jugendlichen im Gartenbad Bachgraben oder auf dem Barfüsserplatz
empfinden ebenso die auf der Dreirosenanlage befragten Jugendlichen einen gewissen Grad
an Freiheit, welche jedoch weniger in Bezug zur normativen Regulierung wie in den anderen
Untersuchungsgebieten steht, sondern in erster Linie mit einem Gefühl von Individualität
und Authentizität zu tun hat (Drei 1:):
„Person 2: Also in der Freizeit ist man, ja wie soll ich sagen, (lieber?) als wenn man
irgendwie mit der Familie ist oder in der Lehre oder in der Schule oder. […] Ich
würde auch sagen, also Freizeit ist Freizeit und Schule ist Schule, also in der Schule
ist man seriös, man arbeitet oder (Person 4: Und in der Freizeit ist man
Vollidioten?) man denkt für seine Zukunft halt und wenn man hierher kommt,
schaltet man ein wenig aus, tobt sich ein wenig aus, redet ein wenig, und ja.
Person 4: Nächster Tag geht es weiter.
Person 2: Ja genau. […]
Person 4: Dann ist es etwas anderes (unv. zu schnell), dann kannst du DU sein,
Alter, dann kannst du wie die Schweizer sagen "Die Sau rauslassen, ne?", dann
kannst du einfach du sein. Dann musst du dich nicht verstellen, bei uns musst du
dich halt nicht verstellen, kannst du so sein, wie du bist.“
Auch wenn die Jugendlichen ihre Arbeit oder ihre Schule - also insgesamt ihre Zukunft sehr seriös nehmen und versuchen, den Leistungsstandards gerecht zu werden, stellt diese
Institutionen für sie nur den Alltag dar und hat wenig mit der eigenen Selbstverwirklichung
zu tun. Deshalb können die Jugendlichen auf der Dreirosenanlage auch entspannen und sich
gehen lassen, weil sie nicht unter dem Leistungsdruck stehen und nicht an ihre Zukunft
denken müssen, sondern der Verwirklichung ihrer eigenen Lebensträumen nachgehen
können. Ähnliches beschreibt auch ein Mädchen mit der folgenden Aussage: „Es ist so, wie
wenn man aus dem Haus raus geht, also noch im Haus noch ganz anders, sobald man aus
dem Haus ist, in einer anderen Welt, draussen Dreirosen vielleicht andere Charakter anderen,
wenn du nach Hause kommst wieder eine ganz andere Person“ (Drei3:314). Mit diesem Zitat
wird deutlich, dass jeder Ort - ob nun im Privaten oder im Öffentlichen - ein bestimmtes
Setting vorgibt und man sich dementsprechend verhält. Gerade für dieses Mädchen, welches
ins Gymnasium geht und sich auf der Dreirosenanlage aber vor allem mit Jugendlichen mit
anderen Ausbildungswegen umgibt, scheint ein Gegensatz zwischen dem Herkunftssetting
(inkl. Schule) und dem Dreirosensetting zu bestehen. Der Zugang zu solch unterschiedlichen
Orten ermöglicht dem Mädchen, unterschiedliche Rollen einzunehmen, die beide authentisch
sind und ihren unterschiedlichen Lebensbereichen entsprechen.
Das in der Dreirosenanlage verortete Symbolsystem stellt sich als verhältnismäßig schwach
ausgeprägt und demnach äusserst form- und veränderbar dar. Dementsprechend gelingt es
den Jugendlichen, sich den öffentlichen Raum mit den verschiedensten
Repräsentationstechniken und Identifikationsprozessen anzueignen. Das relativ offene Setting
der Dreirosenanlage erlaubt es den Jugendlichen, jugendkulturelle Ausdrucksweisen in einer
solchen Weise zu entwickeln, dass sie eine zentrale Bedeutung für die Identitätsbildung und
140
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
die Integration erlangen (z.B. das Tanzen, der Style). Zugleich ist davon auszugehen, dass
aufgrund der Offenheit des Symbolsystems eine Konkurrenz zwischen den Jugendlichen um
unterschiedliche Zeichensetzungen und Repräsentationsformen entstehen kann: „Also wenn
ich jetzt rumlaufe und irgendjemand findet, das steht mir nicht oder lacht, weil ich das
angezogen, das ist mir jetzt eigentlich egal, weil ich bin ich, das ist mein Style und ich laufe so
rum, wie ich will“ (Drei2:336). Dieser Umstand stellt für die Jugendlichen eine
Aneignungschance dar, da er ihnen die direkte Auseinandersetzung um die eigene Identität
sowie das Erleben und Verarbeitung von Anerkennung und Ablehnung ermöglicht.
Zusammenfassend lässt sich die Dreirosenanlage einerseits als Ort einer ausgeprägten
Jugendkultur bezeichnen, welcher den Jugendlichen Zugang zu Anerkennung,
Selbstverwirklichung und vielleicht sogar Erfolg verspricht. Die strukturellen Bedingungen
der Dreirosenanlage scheinen die kulturelle Eigenproduktion der Jugendlichen nachhaltig zu
fördern. Auf weiten Strecken gelingt es den Jugendlichen über ihre Aktivitäten und
Kommunikationsformen die Teilhabe am öffentlichen Leben herzustellen oder es sogar tief
greifend zu prägen (wie im Falle des Jerkings, das auch von Aussenstehenden mit der
Dreirosenanlage assoziiert wird). Andererseits stehen einige Formen der symbolischen
Aneignung der Jugendlichen im Bezug zur sozialen Ordnung auf der Dreirosenanlage, die es
aufrechtzuerhalten gilt. Schliesslich nutzen die Jugendlichen den Ort als Plattform zur
Identitätsfindung und zur Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle im sozialen und
kulturellen Austausch (im Mittelpunkt stehen oder zuschauen, verlieren und gewinnen,
Respekt suchen und finden, etc.).
Analyse symbolischer Aneignungsformen in öffentlichen Räumen
Zwischen dem nach aussen sichtbaren Verhalten der Jugendlichen und den individuell
definierten oder Gruppenspezifischen Lebenseinstellungen lassen sich anhand des
Datenmaterials Verknüpfungen herstellen, welche den jugendlichen Lebensstil58 als
Zusammenspiel von Werten und deren Repräsentation reflektieren. Konkret bedeutet dies,
dass sich der jugendlichen Lebensstil sowohl in der persönlichen Einstellung als auch in der
Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit widerspiegelt. Alle aus den Daten assoziierten Aspekte
des jugendlichen Lebensstils sind in der folgenden Abbildung 12 dargestellt.
Es gelingt demnach den Jugendlichen zumindest Aspekte ihres Lebensstils der
Öffentlichkeit mitzuteilen. Während gewisse Elemente des in der Erhebung vorzufindenden
jugendlichen Lebensstils ohne Widerstand anerkannt werden, können andere ein gewisses
Konfliktpotential in sich bergen oder von Aussenstehenden negativ bewertet werden.
Betrachtet man die aufgelisteten Aspekte des Lebensstils und seiner sichtbaren Repräsentation
lassen sich gewisse Bezüge zu den bereits besprochenen Ablehnungserfahrungen der
58 In Anlehnung an Max Weber (1985) sind unter dem Lebensstil Wertvorstellungen und die äusserlichen
Repräsentation (in der Form von ritualisierten Handlungen) zu verstehen, die einer bestimmten sozialen Gruppe
gemeinsam sind. Spellerberg beschreibt den Lebensstil als die „sichtbare Verhaltensweisen und expressive
Gestaltung des Alltags im Rahmen getroffener Lebensplanung“ (Spellerberg 1995a:571) und unterscheidet dabei
die interaktive (Freizeitgewohnheiten), expressive (Musik-, Einrichtungs-, Lesegeschmack, etc.) und evaluative
(Lebensziele) Dimension von Lebensstil (Spellerberg 1995b).
141
Jugendlichen herstellen: Beispielsweise ist es nahe liegend zu vermuten, dass das von den
Jugendlichen beliebte Chillen und die von ihnen hoch geschätzte Gemütlichkeit, von
Unbeteiligten nicht als eine Form der Gelassenheit oder Erholung sondern vielmehr als
unproduktives Herumhängen wahrgenommen wird (Ablehnung aufgrund von
Minderwertigkeit). Ähnlich könnte auch davon ausgegangen werden, dass das auf Spass
ausgerichtet Handeln Jugendlicher nicht als positive Ausstrahlung erkannt sondern als
abnormales Getue abgetan wird (Ablehnung aufgrund von Andersartigkeit). Schliesslich ist
anzunehmen, dass das Bedürfnis der Jugendlichen, immer wieder Neues zu erleben und auch
mal Verrücktes auszuprobieren (z.B. massloses Alkohol trinken), von Aussenstehenden nicht
als kreative Impulse sondern verantwortungsloses Handeln ettiketiert wird (Ablehnung
aufgrund von Verwerflichkeit). Einige dieser Annahmen lassen sich mit einzelnen Aussagen
aus dem Datenmaterial belegen, andere sind eher spekulativer Natur – ein Widerspruch
zwischen dem von den Jugendlichen präferierten und dem von Erwachsenen59 als angebracht
bezeichneten Lebensstil lässt sich aber nicht von der Hand weisen. Dass sich Jugendliche mit
ihrem Freizeitverhalten bewusst gegen herrschende Werte und Normen (bspw.
Leistungsgesellschaft, produktive Freizeit, etc.) wehren, ist aus den Daten nicht zu eruieren
(vgl. dazu auch zukünftige Forschungsdesiderata, Kap. 6.3.).
59 Es ist zu betonen, dass es sich hierbei nicht um Aussagen von Erwachsenen handelt, sondern vielmehr um die
subjektive Wahrnehmung der Jugendlichen, also um das, was Jugendliche denken, wie Erwachsene über sie
urteilen.
142
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
Abbildung 12: Jugendöffentlichkeit als Repräsentation des jugendlichen Lebensstils
Quelle: Eigene Darstellung
5.5 Jugendöffentlichkeit als Repräsentation der Geschlechtszugehörigkeit
Mehrmalig wurde darauf hingewiesen, dass der Umgang mit dem anderen Geschlecht wie
auch die Repräsentation der eigenen Geschlechtszugehörigkeit ein zentrales Element von
Jugendöffentlichkeit darstellt60.Im vorliegenden Unterkapitel sollen die Hinweise zur
geschlechtsspezifischen Repräsentation am Beispiel des Gartenbades Bachgraben dargestellt
und analysiert werden.
Geschlechtsspezifische Repräsentation im Gartenbad Bachgraben
60
Der Grossteil der dieser Interpretation zugrunde liegenden Aussagen stammen aus dem Untersuchungsgebiet
Gartenbad Bachgraben. Die befragten Jugendlichen vom Barfüsserplatz sowie von der Dreirosenanlage haben
sich nicht substanziell zur Thematik geäussert. Einzig aus den Beobachtungen lassen sich einige wenige
Assoziationen herleiten; sie fliessen in die weiteren Erörterungen mit ein.
143
Die Badekultur im Gartenbad Bachgraben scheint äusserst anregend auf die Jugendlichen zu
wirken: Die viele nackte Haut und die Möglichkeiten zur männlichen bzw. weiblichen
Repräsentation sowie die zahlreichen Gelegenheiten, die eigenen körperlichen Fähigkeiten
darzustellen, sind zentrale Elemente der symbolischen Aneignung der Jugendlichen im
Freibad.
Jungs beschreiben sich selbst als gut aussehend wie gepflegt und begeben sich aktiv auf die
Suche nach ebenso gut aussehenden Mädchen. Sie gehen davon aus, dass das Interesse am
Kennenlernen (oder an mehr) nicht nur bei ihnen sondern ebenso bei den Mädchen
vorhanden ist: „Also im Schwimmbad, sonst noch, ich habe einfach das Gefühl, die hübschen
Frauen kommen auch ins Schwimmbad nicht nur weil sie sich einfach abkühlen wollen oder
so oder sich sonnen, die kommen auch an Interesse für andere Typen. Wollen vielleicht
jemanden kennen lernen, wollen hübsche Typen sehen und so, und wir Männer denken halt
auch genau gleich, wir kommen hierher, sind ein wenig cool und so, ziehen uns ein wenig gut
an, sehen gut aus und wollen auch andere Frauen kennen lernen und sie ansprechen“
(Bach2:198). Ebenso lassen die Aussagen der befragten Mädchen den Schluss zu, dass dieses
Geschlechtsrollenverständnis auch für sie Gültigkeit besitzt. Jungen von gutem Aussehen und
sportlicher Statur wirken auf sie anziehend und interessant und einzelne Mädchen
formulieren ähnlich wie die Knaben ihr Bestreben, mit anderen Jungen aktiv zu flirten
(Bach4:262):
„Interviewerin: Ok, und wie funktioniert so das flirten hier am Rändchen? Wie
muss ich mir das vorstellen?
Person 2: Vielleicht von weitem anschauen und sagen ‚Eh, der hat einen geilen
Sixpack’ und so.
Person 1: Und ja vielleicht wenn wir im Wasser sind, einmal so extra aus Versehen
an ihn ranschwimmen und so ja Weg blockieren oder so und dann entschuldigen
und so auch.
Person 2: Augenkontakt.
Person 4: Ohne einfach so tun, als hätten wir es nicht extra gemacht und so.
Person 1: Und irgendwie Augenkontakt suchen.“
Ebenfalls wie die Jungen sind die interviewten Mädchen auf ihr Äusseres bedacht und
haben die Idealvorstellung einer perfekten Frau (hübsch sein, eine gute Figur haben, etc.).
Mädchen geben ähnlich wie die Jungs alles dafür, perfekt auszusehen (Figur, Bekleidung, etc.).
Im Gegensatz dazu fühlen sich mehrere Mädchen in gewissen Situationen von Jungs
bedroht, was ihr Männerbild negativ verfärbt. So beschreiben einige befragte Mädchen die
Jungen als belästigend und sie kritisieren ihr auf Repräsentation ausgelegtes Verhalten
(Bach4:627ff):
Person 3: Vor allem, wenn sie so blufferisch sind.
Person 2: Ja, einfach von der Art, wie sie rumlaufen .
144
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
Person 1: Wenn sie meinen, sie bekommen jede und so.
Person 4: Oder wenn eine (unv.) "Hey Hübsche" oder so.
Person 3: Oder Ball so anwerfen so extra.
Die Antizipation der Badekultur und des Körperkultes durch die Jugendlichen kann in
diesem Sinne sowohl als ermöglichend als auch als einschränkend interpretiert werden:
Einerseits bietet das Gartenbad eine besondere Plattform zur geschlechtlichen und
körperlichen Selbstdarstellung, andererseits ergeben sich durch die unbewusste Übernahme
von diesem Symbolsystem inhärenten Geschlechtsrollenbilder Konflikte zwischen den
Bedürfnissen der Jungs und den Vorstellungen der Mädchen.
Analyse der Repräsentation von Geschlechtszugehörigkeit in öffentlichen Räumen
Aus den Aussagen der befragten Gruppen lassen sich in diesem Zusammenhang auch
bestimmte Geschlechtsrollenbilder ableiten, die entweder zueinander kongruent oder
entgegengesetzt sind. Die Abbildung 13 versucht darzustellen, welche Geschlechtsrollenbilder
Mädchen und Jungen haben, also wie die Jugendlichen das weibliche Geschlecht (hellrosa
Waben) und das männliche Geschlecht (dunkelviolette Waben) wahrnehmen und definieren.
Dabei spielen neben den subjektiven Sichtweisen vor allem auch individuelle Erlebnisse sowie
der Umgang mit herrschenden Rollenverständnissen eine wichtige Rolle.
Abbildung 13: Jugendöffentlichkeit als Repräsentation der Geschlechtszugehörigkeit
145
Quelle: Eigene Darstellung
Als erstes weisen die Daten darauf hin, dass eine gewisse Kongruenz zwischen den
Ansichten der Mädchen und Jungen existiert und sie dementsprechend ein kongruentes
Geschlechtsrollenverständnis konstruieren. Sowohl Mädchen als auch Jungen sind darum
bemüht, auf das andere Geschlecht attraktiv zu wirken und beide Geschlechter zeigen sich am
anderen Geschlecht interessiert.
Im Gegensatz zu dieser Kongruenz der Aussagen beider Geschlechter äussern sich die
Mädchen aber auch negativ über ihr Verhältnis zu den Jungen. Die akzentuierte Sichtbarkeit
der Jungen, beispielsweise die Betonung der eigenen körperlichen Fähigkeiten oder ein den
Mädchen gegenüber überhebliches Verhalten, steht in krassem Gegensatz zur bemühten
Unsichtbarkeit der Mädchen. Viele der interviewten Mädchengruppen beharren nämlich
darauf, dass Frauen im Allgemeinen und Mädchen im Besonderen in der Öffentlichkeit
zurückhaltend auftreten sollten. Es handelt sich hier um eine moralisierende Vorstellung
146
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
davon, wie sich Frauen im Umgang mit dem anderen Geschlecht zu verhalten haben bzw. um
einen Verhaltensdruck, der den Mädchen auferlegt wird: Mädchen sollten sich nicht an
andere Jungen heranmachen, sondern vielmehr die Initiative dem Jungen überlassen, sie
sollten ihre weiblichen Reize nicht zur Schau stellen, sich in ihren sexuellen Kontakten
zurückhalten und sich vor berüchtigten Jungen fernhalten; und wenn sie dennoch in
unangebrachter Art und Weise berührt oder belästigt werden, sollten sie sich sogleich und mit
Vehemenz davon distanzieren. Solche und ähnliche Ansichten können zur Vorstellung von
einer weiblichen Unsichtbarkeit zusammengefasst werden, und zwar in dem Sinne, als dass
Mädchen ihre Weiblichkeit und Sexualität im Gegensatz zu den Jungen in der Öffentlichkeit
nicht auszuleben haben (vgl. die Moral als Teilaspekt der öffentlichen Regulierung). Das
negativ gefärbte Männerbild einiger Mädchen ist demnach damit zu erklären, dass die Jungen
mit ihrem von Sichtbarkeit geprägtem Verhalten die Grenzen ihrer unsichtbaren Weiblichkeit
überschreiten und deshalb negativ sanktioniert werden.
Es handelt sich in diesem Zusammenhang also um eine völlig andere als im ersten
Abschnitt beschriebene Konstruktion des Geschlechterverhältnisses, welches auf dem
Gegensatz zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der eigenen Geschlechtlichkeit beruht.
Aus der Sicht der Mädchen wird das männliche Geschlecht deshalb ambivalent beurteilt:
Einerseits sind die Jungen Objekte ihrer (sexuellen) Begierde, andererseits werden sie als
Bedrohung ihrer weiblichen Integrität und ihrer Selbstbestimmung wahrgenommen.
Teilweise werden Jungen aus dem Bekannten- oder Familienkreis aber auch als behütend und
vertrauensvoll beschrieben, weil es diejenigen Personen sind, welche die Mädchen vor
anderen Jungen beschützen können.
Während das kongruente Bild des Geschlechterverhältnisses den Jungen also eine gewisse
Sicherheit im Umgang mit anderen Mädchen zu vermitteln scheint, äussert sich das
ambivalente Geschlechtsrollen-verständnisses der Mädchen in einer erhöhten Unsicherheit
im Umgang mit anderen Jungen61.
5.6 Jugendöffentlichkeiten zwischen Anerkennung und Ablehnung
Dieses Kapitel beinhaltet die Beschreibung der von den Jugendlichen geschilderten
Anerkennungs- und Ablehnungserlebnisse, die sie in den jeweiligen öffentlichen Räumen
erlebt haben. In der Analyse dieser Erlebnisse werden unterschiedliche Formen von
Anerkennung und Ablehnung in öffentlichen Räumen erörtert und mit den erlebten
Konfliktsituationen in Verbindung gebracht.
Annerkennungs- und Ablehnungserlebnisse auf dem Barfüsserplatz
Anerkennung erfahren Jugendliche auf dem Barfüsserplatz in erster Linie darin, dass die
zahlreichen Events eine legitime Plattform, bieten ihre jugendlichen Vorlieben und Freiheiten
Aus den Beobachtungen lässt sich eine dritte Assoziation innerhalb der Thematik feststellen: Jungen, die sich nach
aussen hin vor allem mit ihren körperlichen Fähigkeiten darstellen treffen auffällig oft mit Mädchen zusammen, die sich aus
der Beobachterperspektive vom Rollenbild der unsichtbaren Weiblichkeit distanzieren lassen. Das Zusammenspiel zwischen
männlichen Körper-Könnern und selbstbewussten Mädchen lässt sich als gegenseitige Herausforderung beschreiben (vgl.
Beo_Bach3 und Beo_Drei5).
61
147
auszuleben. Mit der Veranstaltung von Jugendfestivals zeigt die Stadt den Jugendlichen, dass
sie als Teil der Gesellschaft anerkannt werden. Aber auch im Alltag beschreiben einige
Jugendliche, wie sie mit ihrem auffälligen Verhalten positive Reaktionen und Sympathien
hervorrufen (vgl. Barf4). Im Gegensatz dazu geben mehrere Jugendliche an, dass ihr Auftreten
in der Öffentlichkeit auf wenig Verständnis stösst (unanständige Kleidung, zu laut,
abnormales Verhalten, etc.). Insbesondere scheint den Jugendlichen in öffentlichen Räumen
wie dem Barfüsserplatz deutlich vor Augen geführt werden, dass sie als Jugendliche keinen
guten Stand in der Öffentlichkeit haben. Über diese Form der Ablehnung, nämlich nicht als
Einzelperson sondern als soziale Gruppe, äussert sich vor allem eine Interviewgruppe.
Innerhalb der Diskussion darüber, welche Möglichkeiten Jugendliche hätten, etwas auf dem
Barfüsserplatz zu verändern, bringen sie zum Ausdruck, dass Jugendliche aus ihrer Sicht zu
wenig Respekt von Erwachsenen erhalten (Barf1:377-389):
„Person 3: Bei uns jetzt, also wenn man einfach jugendlich ist oder so, dann hören
die Leute meistens nicht zu. […] Aber bei Erwachsenen hören sie meistens mehr
zu und haben auch meistens mehr Respekt davor, vor den Leuten. […] Person 2:
Jugendliche machen einfach mehr Scheiss und dann, also zum Beispiel auch in der
Schule, wenn man so sagt "Ja was hättet ihr gerne in der Schule?" dann kommen so
eher so unsinnige Ideen und von Erwachsenen kommen dann so mega
konstruktive Vorschläge. Und ich weiss auch nicht, wenn die, welche selber
Erwachsene sind, das Gefühl haben, dass wenn es Erwachsene sind, dann nehmen
sie sie eher ernst, weil sie gleich sind und Jugendliche sind, weil sie eher so
minderwertig sind, (unv. weil zu schnell) dann fühlen sie sich so überheblich.“
Annerkennungs- und Ablehnungserlebnisse im Gartenbad Bachgraben
Da die jugendlichen Bedürfnisse nach Selbstregulierung durch die vorherrschenden
Regulierungsmechanismen eingeschränkt sind, kann es als Ablehnung gegenüber dem
jugendlichen Lebensstil interpretiert werden. Sowohl aus den eigenen Beobachtungen als auch
aus den Schilderungen der Jugendlichen lässt sich schliessen, dass einiges, das Jugendliche
gerne tun (Rauchen, Musik hören, Neues und Gefährliches Ausprobieren, etc.), im Gartenbad
nicht toleriert wird. Dennoch haben die Jugendlichen Strategien entwickelt, wie sie sich trotz
dieser fehlenden Anerkennung Möglichkeiten schaffen können, um ihre Bedürfnisse dennoch
ausleben zu können. Demnach bewerten die befragten Jugendlichen diese Form der
Ablehnung durch das Normensystem nicht zwingend als Abwertung, viel eher scheinen sie
andere Ablehnungserlebnisse stärker zu beschäftigen. So befürchtet beispielsweise eine
Jungengruppe, dass sie mit ihrem Kunststücken bei anderen Badegästen (in diesem Fall bei
einem anderen Mädchen) negativ auffällt und die von ihnen beabsichtigte positive Wirkung
fehlschlägt (vgl. Bach2:321ff). Andere Interviewpartnerinnen erzählen von Erlebnissen, bei
denen sie von anderen Jugendlichen abwertend behandelt wurden; insbesondere eine
Mädchengruppe schildert in diesem Zusammenhang ihren Kampf um die Anerkennung ihrer
integren Sexualität (Bach3:611ff):
„Person 2: Wenn du dich betatschen lässt, ist es morgen, steht es sogar in der
Zeitung. Es geht so schnell um die Welt, ganz Basel weiss dann davon.
[…]
148
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
Person 1: Und die würden sogar rum erzählen, wegen einmal angefasst, die haben
gefickt. […]
Person 2: Und es verändert sich immer, einmal war sie betrunken, dann war sie
schwanger, immer sie müssen immer etwas dazu erfinden und so.
Interviewerin: Also wer erfindet denn das dazu? […]
Person 1: Ja, Typen die einfach nichts Besseres zu tun haben, als den Ruf kaputt
machen und diesen ganzen Scheiss.
Person 4: Obwohl dass man eigentlich einen guten Ruf hätte, machen sie nachher
aus unserem eigenen Ruf einen schlechten Ruf. Dann denkt jeder ja ‚Das ist so
eine Schlampe, die kann jeder haben, die gibt jedem, ja, ein Loch und so’ also Futz
und ‚Mit dieser kannst du machen, was du willst, die lässt alles zu, so eine Bitch’.“
Diese heftigen Worte, mit welchen die Mädchen ihre Angst vor Ablehnung beschreiben,
machen deren existentielle Bedeutung offensichtlich: Einmal als Frau zur ‚Bitch’ degradiert,
müssen die Mädchen weitere Abwertungen und Ablehnungserlebnisse in Kauf nehmen, die
sie schliesslich in ihrem Umgang mit dem anderen Geschlecht aber auch mit gleichaltrigen
Mädchen stark beschränken. Generell scheint sich diese Mädchengruppe in einem steten
Konkurrenzkampf mit anderen Mädchen zu befinden, geht es nun ums Aussehen, um andere
Jungen oder die eigene sexuelle Integrität.
Schliesslich begründet eine Jugendgruppe, ähnlich wie im Falle des Barfüsserplatzes, die
fehlende Unterstützung bei der Umsetzung eines Grillplatzes im Gartenbad mit dem
negativen Jugendbild, das in der Öffentlichkeit vorherrscht: „Ja also ältere Leute, die würden
sagen ‚Ja komm, die heutige Jugend’, die so voll un-, kein Respekt haben wir und ja, sie
[gemeint ist die Interviewerin] wissen es selber, sie sind auch nicht so alt, sie sind eigentlich
auch jung und sie wissen selber manchmal ältere Leute sagen ‚Heutige Jugend ist Scheisse’“
(Bach1:484).
Wie bereits erwähnt kommt es im Gartenbad Bachgraben auch zu Konfliktsituationen
zwischen Jugendlichen. Eine Mädchengruppe beschreibt ausführlich, wie sie bereits mehrmals
mit anderen Mädchen Streit im Gartenbad hatte, weil sie sich – aus der subjektiven Sicht der
Beteiligten – gegenseitig „komisch“ angeschaut haben. Wie diese Mädchen erklären, kann
man sich insbesondere im Gartenbad schnell mal von solch einem Blick provoziert fühlen:
„Aber in der Stadt ist es nicht so, weil mega viele sind in der Stadt unter Stress und so, sind
konzentriert oder sind gerade am Natel und so, dann merken sie es nicht. Aber hier im Bachi
schaut jeder jeden an, oder, und dann merkst du es mega. Dann schaust du genauer hin, wenn
dich jemand komisch ansieht“ (Bach3:105). Die besondere Atmosphäre im Gartenbad
Bachgraben als Ort des „Sehen-und-Gesehen-Werdens“ birgt in sich ein Konfliktpotential,
beispielsweise wenn mit einem komischen Blick Ablehnung ausgedrückt wird. Die
eingenommene Perspektive der Beteiligten spielt eine zentrale Rolle dabei, wie jemand einen
solchen Blick interpretiert und dementsprechend darauf reagiert, weshalb die
Konfliktvermeidung äusserst schwierig ist: „Ja, ok, das kannst du nicht ändern, ohne Stress,
dass es keinen Stress gibt, aber es gibt immer irgendwie Stress, scheissegal, wo du bist oder wo
149
du verkehrst, es gibt immer irgendwie Stress“ (Bach3:551). Weitere Konflikte ergeben sich
laut den befragten Jugendlichen aufgrund von räumlichen Grenzziehungen, wie sie bereits
erörtert wurden. Auf der Basis von gegenseitiger Ablehnung und Vorurteilen entstehen somit
territoriale Konflikte, die ab und zu auch in (verbal oder physisch) gewalttätigen
Auseinandersetzungen münden (vgl. insbesondere Bach1:252ff und 430ff). Während die bis
anhin
geschilderten
sozial
bedingten
Aneignungsrestriktionen
auf
direkten
Auseinandersetzungen mit anderen Personen beruhen, schildern einige Jugendliche auch eine
generelle Angst vor Gewalt (Schlägereien, Vergewaltigung) oder Kriminalität (Diebstahl) als
einschränkende Faktoren, die entweder auf persönlichen Erfahrungen (vgl. Bach1:238ff und
Bach3:74ff) oder überlieferten Situationen beruhen (vgl. Bach4:126ff).
Im Allgemeinen reagieren die befragten Jugendlichen unterschiedlich auf die
Konfliktsituationen, die sie im Gartenbad erleben: Die meisten Jugendlichen versuchen,
Konfliktsituationen zu vermeiden. Einige aber nehmen die Haltung ein, dass es notwendig sei,
sich zu wehren und sich durch die Konfliktaustragung Respekt zu verschaffen: „Solche Leute,
also so Franzosen und so, denen darfst du einfach keinen Respekt zeigen. Wegen, die meinen
hier, sie müssen mal schauen gehen, die meinen sie wären hier die grössten Kings und so. (...)
Eigentlich sind sie nichts, also so quasi wie Asyle, die hierher kommen“ (Bach1:267).
Schliesslich fühlen sich einzelne Jugendliche auch dazu verpflichtet, in Streitereien involvierte
Freunde zu unterstützen, weshalb sie ebenfalls eingreifen (vgl. Bach1:424ff).
Annerkennungs- und Ablehnungserlebnisse auf der Dreirosenanlage
Das Tanzen als jugendkultureller Ausdruck wird von den Jugendlichen mehrmals als
Handlung erwähnt, die entweder Anerkennung oder Ablehnung bei anderen Personen
hervorruft. Besonders die befragte Jungengruppe stellt aufgrund ihrer ausgeprägten Teilhabe
an der Öffentlichkeit der Tanz-Jugendkultur einen interessanten Fall dar, um die
Ablehnungs- und Anerkennungsmechanismen Jugendlicher in der Öffentlichkeit besser zu
verstehen. Deshalb wird im Folgenden vor allem auf die Anerkennungs- und
Ablehnungserlebnisse dieser Gruppe eingegangen.
Das Tanzen in der Öffentlichkeit birgt in sich die Möglichkeit, sich als Gruppe und
Einzelperson Anerkennung zu verschaffen. Die offiziellen Auftritte sowie die „Hauptrolle“ in
der MTV-Reportage verschaffen den Jungen das Erfolgsgefühl, welches sie sich so sehr
wünschen (Drei1:367ff):
„Interviewerin: Aber […] wie fühlt man sich so, wenn man hier quasi im
Mittelpunkt steht?
Person 1: Es ist geil, wenn man die beste Gruppe in der Schweiz ist.
Person 5: Es ist nice. […]
Person 4: Zum Beispiel dann weiss man, ja wenn man dran kommt, dann schauen
alle aufPerson 1: Man hat etwas erreicht eigentlich, wenn man dann weiss, dass alle die
hier waren wissen jetzt, dass sind halt jetzt auch die besten Crews. Und wenn man
zum Beispiel in Zürich oder so, dann wissen alle ‚Aha, die sind hier.’ Das motiviert
einfach.“
150
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
Die Dreirosenanlage ist eng mit diesen Erlebnissen verknüpft und deshalb ein
bedeutsamer Teil ihrer Erfolgsgeschichte, auch weil hier alles begonnen hat (Drei1:102ff):
„Interviewerin: Gibt es sonst noch irgendeine tolle Geschichte, die euch in den
Sinn kommt, so irgendwie ein positives Erlebnis?
Person 3: Ja, dass ich das alles aufgegründet habe.
Person 1: Hey stimmt Alter.
Person 3: Ich tanzte hier zuerst und so und mit der Zeit habe ich das aufgebaut
und mit der Zeit ist ja, Jerken halt aufgekommen.
Person 1: Ist gut raus gekommen.
Die Aneignung der Dreirosenanlage durch diese Jungengruppe durch das Tanzen reicht
aber über eine räumlich und zeitlich begrenzte sowie situative Repräsentation hinaus,
vielmehr ist sie Teil eines umfassenden und bedeutsamen Lebenszusammenhanges der
Jugendlichen: Auf der Dreirosenanlage wurde die Tanzgruppe gegründet (vgl. Drei1:103ff), in
den Räumen des Jugendtreffpunktes treffen sich die Jungen regelmässig zum Tanztraining
(Drei1:16ff), hierher kam auch MTV, um ihr Fähigkeiten in einem Video zu dokumentieren
(Drei1:86ff) – in der Dreirosenanlage sind also die zukünftige Tanzkarriere und damit auch
die Lebensträume und Identitätskonstruktionen der Jugendlichen verortet. Das Tanzen als
eine Form der jugendlichen Selbstdarstellung steht demnach für Erfolg und
Selbstverwirklichung.
Das Tanzen ist aber auch abseits der grossen Auftritte ein bedeutungsvolles Mittel, sich als
Gruppe Anerkennung zu verschaffen, beispielsweise wenn die jüngeren Knaben ihre
Tanzkünste bewundern (Drei1:362ff) oder vorbeigehende Passanten ihnen positive
Aufmerksamkeit schenken (Drei1:348ff). Dass die Jugendarbeitenden des Treffpunktes den
Jugendlichen ihren Trainingsraum kostenlos zu Verfügung stellen und sie auch regelmässig in
ihren Projekten unterstützen, stellt einen weiteren wichtigen Beitrag dazu dar, dass das
Tanzen für diese Jugendlichen ein äusserst positives Gefühl der Anerkennung und
Selbstwirksamkeit vermittelt. Dies gilt nicht nur für diese Jugendgruppe, auch eine weitere
Interviewgruppe spricht davon, dass sie mit die Teilhabe an der Öffentlichkeit des Tanzens
positive Erlebnisse und Empfindungen verbinden.
Das Tanzen in der Öffentlichkeit ermöglicht der Jugendgruppe ausserdem, die
Aufmerksamkeit möglicher Manager oder Sponsoren zu erregen und ihnen ihr Können zu
präsentieren (Drei1:316ff):
„Interviewerin: Ihr habt ja immer in diesen Videos62 eben so öffentliche Räume
aufgesucht. […] Wieso macht ihr das in der Öffentlichkeit? […]
Person 4: Es halt so etwas damit zu tun, dass wir zum Beispiel Connections
erwerben wollen. Also wir sozusagen von Leuten Aufmerksamkeit bekommen,
dass wir hier weiterhin noch bekannter werden als nur im Internet.
62
Siehe dazu URL: http://www.youtube.com/user/TheCapKidzofficial.
151
Person 6: Zum Beispiel dass wir dann Auftritte haben und so. Zum Beispiel wir
haben jetzt Auftritte in Biel (unv.).
Person 2: Ja und wir wollen einfach Jerk bekannt machen. Also indem wir einfach
überall tanzen, kommen so Leute, und denn fragen sich diese Leute ‚Was tanzen
die?’ und können wir sagen ‚Hey, das ist Jerk, ein neuer Tanzstyle’ und so machen
wir Jerk einfach auch bekannt in der Schweiz.“
Positive Aufmerksamkeit wie beispielsweise die Mitarbeit bei der Jerk-Reportage von
MTV sowie die Teilnahme an Wettbewerben63 bringen ihnen die notwendige Anerkennung,
die ihnen einerseits neue Motivation zum Weitermachen gibt und andererseits sie jeweils ein
Stück näher an ihr Ziel ihrer Träume bringt: „Man hat etwas erreicht eigentlich, wenn man
dann weiss, dass alle die hier waren wissen jetzt, dass sind halt jetzt auch die besten Crews.
Und wenn man zum Beispiel in Zürich oder so, dann wissen alle ‚Aha, die sind hier’. Das
motiviert einfach“ (Drei1:372).
Aber auch bei einer anderen interviewten Mädchengruppe nimmt das Tanzen einen
prominenten Stellenwert der symbolischen Aneignung der Dreirosenanlage ein. Auch für
diese Mädchen bedeutet das Tanzen auf der Dreirosenanlage sowohl Aufmerksamkeit als
auch Anerkennung, dies aber in erster Linie in einem sozialen Sinne. So beschreibt eines
dieser Mädchen ihr schönstes Erlebnis auf der Dreirosenanlage folgendermassen: „Ah, eben
einmal waren diese Jerkers hier in der Mitte, […] jerkten irgendwie rum, dann kamen ich und
Steffi und tanzten mit, sagten immer ‚Ja, also bring mir das bei’, wir konnten eh schon alles
und dann waren hier so andere Leute, die uns die ganze Zeit zuschauten, und dann hörten sie
nicht mehr auf und dann rannten wir hier so rum und hatten voll den Spass zusammen, gell?
[…] und dann standen die Typen hier auf, fingen auch an zu tanzen und dann flippte ich aus,
weil ich hasse es, wenn ich am Tanzen bin und dann schaut man mich und dann tanzt man
auch, dass ist dann so wie ein Battle, und ja, das war mega lustig dieser Tag. Ich weiss auch
nicht, das ist mir in Erinnerung geblieben“ (Drei2:162). Solche und ähnliche Situationen
vermitteln ihnen das Gefühl, am öffentlichen und jugendkulturellen Leben teilzuhaben; so
erwähnen sie im Weiteren auch den MTV-Event (s.o.) als eines der schönsten Erlebnisse, weil
sie hier „wie bei einem richtigen Tanzfilm“ (Drei2:155) zuschauen konnten. Die Mädchen
nutzen das Tanzen demnach als Kommunikationsmittel, einerseits um positive soziale
Erlebnisse zu kreieren und andererseits um sich, beispielsweise in einem Battle, Respekt zu
verschaffen. Der Tanzwettbewerb (oder eben Battle) steht stellvertretend für alle symbolischen
Aneignungsprozesse, die mit dem Tanzen in Verbindung stehen: Aufmerksamkeit,
Anerkennung, Erfolg, Respekt und Teilhabe.
In demselben Masse wie das Tanzen den Jungen Anerkennung verschafft, ist es ebenso
Ursache für zahlreiche Ablehnungserfahrungen: Die Jungen werden regelmässig von anderen
Jugendlichen ausgelacht und beleidigt, von Aussenstehenden wird ihnen Ignoranz oder gar
Abwertung entgegengebracht. Ähnlich erzählen auch die Mädchen der zweiten Gruppe
davon, dass sie erlebt haben, wie andere über ihren Tanzstil gelacht haben (Drei2:236ff).
63
Zur MTV-Reportage siehe http://www.swatchmtvplayground.com/gb/scene/group/2. Ausserdem wurden The
Capkidz Zweite am Swiss Jerk Championship 2011.
152
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
Solche Erlebnisse scheinen den Jugendlichen zu schaffen zu machen, im Falle der
Jungengruppe werden diese Formen der Ablehnungen als direkter Störfaktor in ihrer
Entwicklungen und als ein Hindernis ihrer Tanzkarriere empfunden. Dazu kommen mehrere
negative Erfahrungen an Tanzwettbewerben oder mit Vertretern des Business, die sie teilweise
verunsichern oder hilflos machen: „Wir haben es oft erlebt, dass wir Leute reinliessen beim
Training, dann haben sie nachher von uns kopiert und dann an einem Contest, also zum
Beispiel gerade diese Choreographie machen, aber die andere Gruppe hatte es bereits
gemacht. Dann konnten wir es nicht machen, und so waren wir wie verwirrt, wussten wir
nicht, was machen“ (Drei1:429). Sich in der Öffentlichkeit als Tanzcrew zu präsentieren
bedeutet für die Jungen auch immer, sich einem Konkurrenzkampf auszuliefern und ebenso
Gefahr zu laufen, ausgenutzt und enttäuscht zu werden: „Weil einmal hat uns so ein, einmal
wollte uns ein Mann in seinem Label aufnehmen, und dann hatten wir so Freude […] aber am
Schluss hat er so uns einfach verarscht“ (Drei1:551). Dieses Misstrauen ist auch der Grund
dafür, weshalb sich diese Gruppe eher von anderen Nutzergruppen auf der Dreirosenanlage
abkapselt und unter sich bleibt, obschon sie sich im Allgemeinen einen offeneren Umgang mit
anderen Menschen wünscht: „Man sollte eigentlich offener sein und mehr zusammen
machen, dann hätte man auch mehr Spass. Ich meine, wenn wir nur zu fünft, zu sechst,
immer nur, immer dasselbe, während fünf sechs Jahren, das ist ein wenig langweilig. Aber
wenn Leute immer offen sind und sich begrüssen oder, und Spass zusammen haben, dann ist
es auch besser, finde ich. Man sollte gelassener sein, nicht immer so verschlossen, egoistisch
auch“ (Drei1:594). Im Generellen beurteilt diese Jugendgruppe trotz der zahlreichen
Erfolgserlebnisse sowie der Unterstützung und Anerkennung Aussenstehender ihre Situation
als wenig Erfolgsverprechend (Drei1:562ff):
„Person 4: In der Schweiz zum Beispiel, hier wenn du tanzt, dann schauen die
Leute nur so, laufen vorbei, aber zum Beispiel, keine Ahnung, in Amerika oder so,
wenn sie so tanzen, werden sie bewundert oder so, dann rufen alle ‚Wow, was ist
das’ und so.
Person 1: Hier wirst du nur bewundert, wenn du eine Lehre hast.
(lachen)
Person 4: No Lehre, keine Bewunderung, du bist Luft. […]
Person 4: Du bist einfach ganz, wenn du keine Lehre hast, für diese Leute bist du
einfach ein fauler Siech.
Person 1: Und jetzt nicht rassistisch gemeint oder so, aber vor allem wenn du
noch dunkelhäutig bistPerson 4: Oh, dann hast du geschissen.
Person 6: (unv. reden durcheinander) sagen diese Leute ‚Aha, das sind so Leute,
die nichts zu tun haben und dann kommen sie einfach so auf die Strasse’ (unv.
reden durcheinander).
Person 1: Leben von der Stadt und sie zahlen für uns.“
153
Es scheint so, als ob das mit dem Tanzen angestrebte Ziel nach Anerkennung und Erfolg
für die Jungen nicht realisierbar scheint. Ihre ethnische Herkunft scheint zwar nicht nur aber
zumindest teilweise eine Ursache dafür zu sein, dass die Jungen stärker als andere um
Anerkennung kämpfen müssen. Mehrmals erwähnen sie während des Interviews, dass sie
aufgrund ihrer Hautfarbe von anderen als anders oder abnormal wahrgenommen werden
(Drei1:343f):
„Interviewerin: Also eben diese Leute, die das eben nicht kennen so wie ich oder
so, was denkt ihr, was denken die von euch, wenn sie euch auf der Strasse tanzen
sehen?
Person 5: Crazy Niggers.“
Diese Andersartigkeit stellt in Bezug auf die Chance auf Anerkennung eine Ambivalenz
dar, ist sie doch einerseits der Grund für die beschriebenen Ablehnungserlebnisse, aber
andererseits ebenso eines der wichtigsten Mittel, sich von anderen positiv abzuheben und
nicht alltägliche Selbsterfahrungen zu machen. Als Beispiel dazu die Fortsetzung des obigen
Zitates (Drei1:348ff):
“Person 5: Crazy Niggers.
Person 4: Idioten.
Interviewer: Crazy Niggers?
(lachen)
Person 1: Ich denke nicht gerade Idioten, ich denke einfach es ist etwas Neues
(Person 5: Das können nur Schwarze, Alte.) Das ist etwas Neues, weil sie haben so
etwas noch nie gesehen, das ist etwas Neues, ein neues Erlebnis, und ich denke, die
meisten Leute denken wirklich, sie machen ein paar Sachen die krank sind oder
komisch sind, sie tanzen wenigstens, sie können tanzen.
Person 1: Und sie haben Freude am Tanzen. Das sieht man, wir sind einfach
lebendige Menschen.
Person 3: Also die meisten lachen vielleicht aus, weil sie es noch nie gesehen
haben, aber wenn sie es mehrmals sehen, dann denken sie ‚Tschöss, wie geht das?
Das ist schwer zu machen, es ist doch nicht so leicht’ und so. Ja mit der Zeit
denken sie dann so ‚Oje, das ist doch noch geil’ statt auslachen.“
Die widersprüchlichen Aussagen dieser Interviewgruppe sind möglicherweise Ausdruck
davon, dass sie sich in einem Prozess der Identitätsentwicklung befinden.
Bei den anderen beiden Mädchengruppen treten weitere Motive hinsichtlich ihrer
Anerkennungs- und Ablehnungserfahrungen auf: Erstens erhalten die Mädchen sowohl
positive wie auch negative Rückmeldungen zu ihrem äusseren Auftreten und Style (vgl.
Drei2); zweitens sind sie nicht selten in gegenseitige Feindseligkeiten verstrickt, die sich
wiederum in der Form von offener Ablehnung ausdrücken (vgl. Drei2 und Drei3); schliesslich
scheinen Erwachsene und vor allem auch die eigenen Eltern eine ablehnendes Bild von den
154
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
Jugendlichen auf der Dreirosenanlage zu haben, das insbesondere mit dem in den Augen der
Erwachsenen verantwortungslosen und Normabweichendem Verhalten der Jugendlichen
begründet wird. So geht die eine Mädchengruppe davon aus, dass sie aus Erwachsenensicht
als Jugendliche ein schlechtes Vorbild für die Jüngeren abgeben (Rauchen, Streiten) und die
Dreirosenanlage generell ein gefährliches Umfeld (Vergewaltigung, Gewalt) für die
Entwicklung der Mädchen darstellt (Drei3:307ff und 442ff). Auch während den
Beobachtungen konnte registriert werden, dass einige Erwachsene Abstand zu den
Jugendlichen halten oder sie mit kritischen Blicken taxieren (vgl. Beo_Drei1 und Beo_Drei3).
Deshalb ist es das Anliegen eben dieser Mädchengruppe, Aussenstehende davon zu
überzeugen, dass sie im Gegensatz zur öffentlichen Meinung auf der Dreirosenanlage einen
positiven sozialen Umgang pflegen. Auf die Antwort nach der präferierten Rolle im
öffentlichen Raum antworten sie dementsprechend (Drei3:420ff):
„Person 3: Also eine Rolle würde ich jetzt nicht auswählen, ich würde einfach das
mache, wie ich bin. Der Film wäre einfach ganz normaler Alltag einfach, das wäre
ein spannender Film auf jeden Fall.
Interviewerin: Ok, du würdest so eine Art wie ein Dokumentarfilm machen?
Person 3: Ja.
Person 1: Also nein, ich würde gerne mal so zeigen, wenn es Stress gibt, wie wir
das klären, was wir alles machen und was wir nach Stress machen, wenn man
wieder Frieden hat. Dass es eigentlich ganz witzig ist, als wäre vor fünf Minuten
nichts passiert, so alle wieder ganz normal undPerson 3: Oder wie man füreinander da ist und man sich immer gegenseitig hilft,
oder wie man zusammen Spässchen macht oder man kann auch locker jetzt ins
Jugi rein gehen und ein Bube ist zum Beispiel Playstation am Spielen und du
kennst ihn gar nicht, als hättest du es heute mitbekommen(unv. zu schnell) und
du spielst einfach mit dem.“
Ähnlich möchte die zweite interviewte Mädchengruppe einen Tanzevent organisieren, bei
welchem ihnen sich die Gelegenheit böte, Aussenstehenden ihre jugendliche Tanzkultur
näher zu bringen und sie von den positiven Aspekten dieser Freizeitbeschäftigung zu
überzeugen: „Ich würde hier so eine mega grosse Bühne aufbauen und dann eine mega grosse
Veranstaltung und überall Flyers verteilen und dann würde ich hier so eine Show vorführen,
weiss auch nicht, an welcher so diese Leute, diese Tänzer tanzen und dann vielleicht so Leute,
die sagen, wie wichtig Tanzen für einem ist“ (Drei2:412). Solche Aktivitäten zeigen das
Bedürfnis der Jugendlichen nach positiver Anerkennung in der Öffentlichkeit.
Neben dem Tanzmotiv, das für die beiden erwähnten Interviewgruppen von Relevanz war,
lässt sich ebenso das „Sich-Respekt-Verschaffen“ als weitere Form der Anerkennung
Jugendlicher auf der Dreirosenanlage beschreiben. Nicht nur im Battle sondern im
Allgemeinen liegt den Jugendlichen viel daran, sich in der Öffentlichkeit Respekt zu
verschaffen (vgl. auch den Abschnitt zur normativen Aneignung). In Anlehnung an das
155
normative Prinzip des gegenseitigen Respekts gibt sich manche oder mancher Jugendliche in
persönlichen Auseinandersetzungen deshalb unnachgiebig und provokativ (Drei2:319ff):
„Person 3: Aber am meisten wenn uns jemand beleidigt, beleidigen wir auch
zurück. […] Also wir ignorieren es nie.
Interviewerin: Und wieso nicht?
Person 3: Das nervt, wenn man so, einfach wenn jemand mich beleidigt, ich bin
einfach nicht so still, ich muss auch etwas sagen. Dann sagt der andere ‚Hast du
keine Wörter?’ und so, ich lasse mich nicht einfach beleidigen und so. […]
Person 5: Eben sie zeigt ihr Respekt, also sie - […]
Person 4: Also sie bleibt nicht einfach still, weil sonst kommt diese Person und
denkt ja ‚Bei dieser ich kann das immer machen und die sagt einfach nichts.’
Person 3: Ja eben.“
Diese Form der jugendlichen Selbstdarstellung bringt ein Mädchen prägnant auf den
Punkt, wenn sie erklärt, weshalb sie sich die Fingernägel in einem knalligen Pink lackiert:
„Nein, ich habe einfach Knallfarben gerne und dann merkt man es immer so ‚Passt auf!’
(macht mit der Hand eine Krallenbewegung)“ (Drei3:336). Von aussen betrachtet scheint
diese eher aggressive Form der Selbstdarstellung mit dem auf Harmonie ausgelegtem sozialen
Umgang zu opponieren; es erscheint unvereinbar, auf der einen Seite sich anständig und
respektvoll zu verhalten und auf der anderen Seite von der eigenen Position um keinen Preis
abzuweichen. Für die befragten Jugendlichen selbst wird dieser Widerspruch jedoch nicht
offensichtlich; für sie dient das repräsentative Verhalten viel eher dazu, die soziale Ordnung
und Harmonie zu garantieren oder wiederherzustellen.
Alle befragten Jugendlichen erzählen von persönlichen Konflikten und teilweise heftigen
Auseinandersetzungen, die sie auf der Dreirosenanlage erlebt haben. Dabei handelt es bei der
Jungengruppe vor allem um Situationen, in welchen sie sich von anderen Jugendlichen beim
Tanztraining gestört und nicht respektiert fühlen (Drei1:480ff):
„Person 1: Frech, lachen uns aus, asozial. Sie denken, sie wären etwas Besseres wie
wir, sie denken, wir sind ein Stück Scheisse, aber dabei sind wir etwas Besseres
(lacht). […]
Person 2: Also ich würde sage, solche Leute sind, sie (lachen?) einfach über alles,
was anders ist, sie beleidigen die ganze Zeit, sodass es ständig stresst, und einfach
nicht, wie soll ich sagen- […]
Interviewerin: Aber gibt es das viel, so Stress und Konflikt hier?
Person 1: Ja hier schon. […]
Interviewer: Wieso gibt es denn Stress, was ist der Grund dafür?
Person 3: Sie sind, ich denke, sie sind einfach eifersüchtig. Weil wenn wir tanzen,
wir haben alle zusammen Spass, alle haben uns gerne (Person 4: Weil sie denken),
aber wenn sie vorbei kommen, alle sind ruhig. Alle schauen sie so an so wie ‚Ihr
156
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
könnt einfach nichts’. Weil sie denken jetzt, weil wir quasi jetzt etwas Besseres
können, dann denken sie jetzt eben ‚Ok, sie sind besser als wir’, aber es gibt auch
Momente, in denen sie etwas besser können als wir, zum Beispiel.
Person 6: Oder sie werden eifersüchtig, weil wir hier manchmal ein paar Auftritte
haben. Und dann zum Beispiel wenn wir kommen, geben sie uns zum Beispiel
Sandwich oder Pizza geben sie uns gratis aus und so und dann werden sie
eifersüchtig, dann fangen sie so an.“
Solche Konflikte erwachsen aus einem grundlegenden Konkurrenzverhältnis und
ebenso aus dem Ehrgeiz der hier portraitierten jungen Tänzer, sich von anderen zu
unterscheiden. Andere Auseinandersetzungen entspringen persönlichen Vorlieben und
Abneigungen unter den Jugendlichen, die sich in der Form von Vorurteilen und Intoleranz
gegenüber anderen darstellt. Im folgenden Zitat beschreibt ein Mädchen, dass sie gegenüber
gewissen Mädchen eine Antipathie empfindet und es deshalb nicht erträgt, von solchen
„blöd“ angeschaut zu werden – ähnlich wie im Gartenbad Bachgraben (s.o.) (Drei2:243):
„Person 4: Oh ja. Also es gibt zu viele so eingebildete Leute in diesem Quartier,
also die vor allem im Jugi gibt es so ein paar Leute, die meinen, sie seien hier die
Besten und die Tollsten (Person 1: Ja), die dann so auch reinkommen müssen
auch so angekleidet, so ‚Mmh ich bin die Beste"’ naninana und es fängt eigentlich
schon mit Blicken an, dass wenn man jemanden anschaut und diese Person schaut
dann schon so blöd, dann weiss nicht?
Interviewerin: Was passiert dann?
Person 4: Ja dann frage ich zuerst frage ich mich ‚Warum schaut diese Person?’.
Also wenn ich jetzt ganz normal reinschaue, so oder ich komme ins Jugi rein und
es starren mich gerade alle an und dann hat es gerade zum Beispiel so ein
Mädchen, das gerade so krumm muss schauen, also krumm, einfach gerade so
muss schauen, dann frage ich mich schon so ‚Warum schaut die so?’ und wenn sie
dann weiterhin so schaut, regt es mich langsam auf und dann gehe ich, es kommt
darauf an, vielleicht ignoriere ich es und wenn nicht gehe ich dorthin und frage ja,
was los ist.“
Teilweise können solche Feindseligkeiten zu aggressiven Konfrontationen ausarten,
beispielsweise wenn sich streitende Mädchen anschreien oder an den Haaren zerren
(Drei2:451f), Jugendliche sich gegenseitig verletzen (Drei3:248ff) oder sich mehrere
verfeindete Jugendgruppe gar zu Schlägereien auf der Dreirosenanlage verabreden
(Drei3:270f):
Person 2: Also es war zum Beispiel so eine Kollegin von mir (unv. Rauschen) sie
wohnt in Baselland und sie kommt eigentlich schon oft hierher, weil es ist eben
Treffpunkt viele Leute kommen hierher und sie kam extra hierher, weil sie wollte
jemanden stressen und so und ich war auch dabei.
157
Person 3: Also hier gibt es auch Schlägereien am meisten, wenn jemand eben
jemanden schlagen will, dann ‚Komm Dreirosen’ und so, also höre ich am
meisten, dass es hier ‚Es gibt im Dreirosen Schlägerei’ und so.“
Solche Konflikte wurden jedoch während der Erhebung nicht beobachtet. Die Ursachen
für die erwähnten Konflikte sind vielfältig, partiell lassen sie sich auf persönliche
Auseinandersetzungen zurückführen, die von anderen Kontexten (Schule, Familie) in die
Dreirosenanlage hineingetragen werden, manchmal sind sie aber auch Ausdruck des auf der
physischen und sozialen Nähe der Jugendlichen basierenden Konfliktpotentials.
Alle befragten Gruppen haben unterschiedliche Strategien entwickelt, mit den erwähnten
Konfrontationen umzugehen, sei es durch aktive Verhinderung solcher Situationen oder
verbale Klärung von Konflikten (vlg. Drei2 und Drei3), sei es indem sie
Auseinandersetzungen ausweichen oder zu verhindern versuchen (vgl. Drei1): „Wir sind
jeden Tag hier ich und sie und ich komme eigentlich hierher und ja ich habe mich langsam
daran gewöhnt an solche Situationen. […] Wenn etwas nicht stimmt, dann machen wir es
meistens denn so, dass es wieder stimmt. Ich weiss auch nicht, wie wir das hinkriegen“
(Drei2:282f).
Analyse der Anerkennungs- und Ablehnungserlebnisse in öffentlichen Räumen
Die Anerkennungs- und Ablehnungserlebnisse der befragten Jugendlichen lassen sich wie in
Abbildung 14 dargestellt untereinander differenzieren und zu einzelnen Kategorien
zusammenfassen. Sowohl die Anerkennungs- als auch die Ablehnungserfahrungen basieren
auf der wahrgenommen Fremdbeurteilungen der Jugendlichen durch Andere und reichen
von Einzelerlebnissen bis zu generalisierten Bewertungen der eigenen Zugehörigkeit zu einer
sozialen Gruppe.
Anerkennung erhalten die Jugendlichen in zahlreichen Momenten, in denen sie sich in
öffentlichen Räumen aufhalten. Positive Aufmerksamkeit, Interessensbekundungen und
einfache Neugier geben ihnen das Gefühl, als Einzelperson oder Gruppe beachtet und in ihrer
Teilhabe am öffentlichen Leben anerkannt zu werden64. Diese Form der Anerkennung der
Existenz beruht weniger auf einer positiven Fremdbeurteilung durch andere, sondern
vielmehr im Fehlen einer negativen Bewertung durch Aussenstehende. Die Präsenz andere
Mitnutzenden im öffentlichen Raum wird im Generellen anerkannt.
Abbildung 14: Jugendöffentlichkeiten zwischen Anerkennung und Ablehnung
64
Es gilt festzuhalten, dass die bei Aussenstehenden erweckte Neugierde nicht zwingend mit einer positiven
Bewertung des Wahrgenommenen übereinstimmen. So äussert sich die Neugier von befragten und beobachteten
Jugendlichen oft in einer eher kritischen Haltung gegenüber des oder der Beobachteten und dementsprechend ist
davon auszugehen, dass ebenso die Neugier gegenüber Jugendlichen kritisch gefärbt sein kann.
158
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
Quelle: Eigene Darstellung
Während sich die Anerkennung der Existenz nicht in Bezug zu den Eigenheiten einer
Jugendgruppe in Beziehung setzen lässt, stehen die beiden weiteren Kategorien der
Anerkennung – der Ausdrucksweise einer Gruppe sowie der Gruppe an und für sich – in
direkter Beziehung zu den spezifischen Charakteristiken der Jugendlichen. Aus den
Befragungen geht hervor, dass Jugendliche für ihre Ausdrucksweisen (Verhalten,
Handlungen, äussere Erscheinung, etc.) in der Öffentlichkeit positive Reaktionen wie auch
Bewunderung und Komplimente erhalten (bspw. für einen gelungenen Tanzschritt oder eine
schöne Frisur). Zu dieser Art der Anerkennung kann ebenso die Tolerierung gewisser
jugendlicher Verhaltensweisen gezählt werden (z.B. Toleranz gegenüber öffentlichem Musik
Hören oder Raumbesetzendem Verhalten). Diese den Jugendlichen entgegengebrachten
Sympathien lassen sich direkt von der Wahrnehmung Aussenstehenden ableiten, sie sind aber
nur mit einer einzigen Ausdrucksweise zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem spezifischen
Ort verknüpft.
Demgegenüber entspringt die Anerkennung als Person oder Gruppe vielmehr einer
allgemeinen positiven Fremdbewertung, die sich zwar direkt auf ein bestimmtes soziales
Kollektiv bezieht, jedoch nicht auf ihre einzelnen Ausdrucksweisen. Hierunter sind zu zählen
159
die Anerkennung der Leistung einer Person oder Gruppe (und der darauf sich einstellende
Erfolg), die Würdigung der Handlungen und Einstellungen einer Person oder Gruppe sowie
den Personen zugekommene Unterstützungsleistungen durch Aussenstehende. Diese Formen
der Anerkennung lassen sich nur dann in einem öffentlichen Raum verorten, wenn ihr
Ursprung mit einem bestimmten Ort und den damit verbundenen Erfahrungen in
Verbindung steht (wie dies bei der tanzenden Jungengruppe auf der Dreirosenanlage der Fall
ist).
Die Anerkennung als soziale Gruppe schliesslich bezieht sich meist auf die Frage,
inwiefern die Jugendlichen als soziale Gruppe (bzw. die jugendlichen Mädchen und
jugendlichen Jungen als soziale Geschlechter) in der Öffentlichkeit in ihren Eigenheiten und
Bedürfnissen geachtet werden. Die positive Fremdbeurteilung lässt sich in diesem Fall nicht
mehr auf Einzelpersonen zurückführen, vielmehr handelt es sich um eine auf eine soziale
Gruppe generalisierte Anerkennung, die allen dieser Gruppe Zugehörigen zuteil kommt65.
Der Respekt gegenüber einzelnen Personen oder Gruppen sowie gegenüber einer sozialen
Gruppe stellt eine zentrale Form der Anerkennung dar, die sich über alle bereits
besprochenen Anerkennungsformen erstreckt und von mehreren interviewten Gruppen als
die bedeutendste ‚Währung’ für Anerkennung dargestellt wurde. Je nachdem, ob sie als
universelles Recht aller oder als partikulare Wertschätzung verstanden wird, bezieht sie sich
entweder auf die Anerkennung als soziale Gruppe oder auf die Anerkennung als Personen
und deren Verhalten. Im ersteren Fall ist anzunehmen, dass die Jugendlichen von einem
universellen Recht aller Menschen auf eine respektvolle Behandlung und Beurteilung
ausgehen. Beispiele dafür sind die Fairness-Regeln auf der Dreirosenanlage sowie die
wahrgenommenen Freiheiten auf dem Barfüsserplatz. Dieses Verständnis von Respekt basiert
auf der Überzeugung, dass alle Menschen gleiche Rechte haben und stellt demnach auch allen
Jugendlichen Anerkennung in Aussicht. Im Gegensatz dazu scheint es weitere Vorstellungen
von Respekt zu geben, die nur partikular für bestimmte Personen gültig sind. Dies gilt erstens
dann, wenn die Anerkennung an eine bestimmte soziale Position gekoppelt und somit
Ausdruck von gegebenen Machtstrukturen ist. Dieses Respekts-Verständnis basiert auf einer
hierarchisierten Vorstellung sozialer Beziehungen und zeigt sich beispielsweise im
respektvollen Umgang mit Autoritätspersonen (Mitarbeiter des Gartenbades Bachgraben,
Respekt gegenüber älteren Personen oder Eltern, etc.). Aus dieser Perspektive fällt es den
Jugendlichen schwer, sich in öffentlichen Räumen Respekt zu verschaffen, da sie in den
sozialen Beziehungen meist untergeordnete Rollen einnehmen. Schliesslich kann davon eine
dritte Kategorie von Respekt unterschieden werden, welche als Wertschätzung korrekten
Verhaltens anderer umschrieben werden kann. Auch hier handelt es sich um eine partikulare
Vorstellung von Anerkennung, weil Respekt nur denjenigen gewährt wird, die sich den
Normen entsprechend verhalten. Respekt entspringt gemäss dieser Vorstellung aus einer
bestimmten Wertekongruenz zwischen den Beteiligten und folgt demnach dem Prinzip der
Gegenseitigkeit. In diesem Zusammenhang haben die Jugendliche realistische Chancen auf
65
Diese Kategorie konnte nicht direkt aus den erhobenen Daten abgeleitet werden, sondern wurde als Gegenpol
zur Kategorie „Ablehnung als soziale Gruppe“ konstruiert. Diese Vorgehensweise dient dazu, die theoretischen
Annahmen zur Anerkennung und Ablehnung jugendlicher in öffentlichen Räumen/in der Öffentlichkeit zu
verfeinern und mögliche Lücken im Datenmaterial sichtbar zu machen.
160
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
Anerkennung in öffentlichen Räumen, sofern sie sich an die geltenden Verhaltensnormen
halten.
Diesem ausdifferenzierten Spektrum von Anerkennung Jugendlicher in öffentlichen
Räumen steht eine ebenso vielseitige Bandbreite an Ablehnungserfahrungen Jugendlicher
gegenüber. Bezüglich der Ablehnung der Präsenz verhält es sich ähnlich wie zu seinem
Pendant in den Annerkennungs-Kategorien: Jugendliche erfahren negativ gefärbte
Aufmerksamkeit im öffentlichen Raum und ihre Präsenz wird als störend empfunden66.
Im Zusammenhang mit der Ablehnung jugendlichen Ausdrucksweisen wurde von den
Interviewten beschrieben, dass sie teilweise mit negativen Reaktionen auf ihre Verhalten
direkt konfrontiert werden, umso häufiger jedoch das Gefühl verspüren, Aussenstehende
würden ihre öffentlich sichtbaren Verhaltens- und Erscheinungsweisen diskreditieren. Das
Spektrum der Herabsetzungen lässt sich mit folgenden drei Feldern umreissen:
Minderwertigkeit (unproduktiv, unreif, schwach), Andersartigkeit (abnormal, nonkonform)
und Verwerflichkeit (unmoralisch, verantwortungslos, überheblich, respektlos). Die
Ausdrucksweisen der Befragten in öffentlichen Räumen werden folglich als minderwertig,
andersartig oder verwerflich bezeichnet, was von ihnen selbst als Ablehnung ihrer Verhaltensund Erscheinungsweisen gedeutet wird. Schliesslich äussert sich die Ablehnung ihrer
spezifischer Ausdrucksweisen auch in der Störung oder gar Sabotage ihrer Vorhaben, wie dies
beispielsweise die tanzende Jungengruppe erleben musste.
In der Kategorie der Ablehnung als Person oder Gruppe verhält es sich ähnlich wie zuvor
beschrieben: Einzelne Personen oder Gruppen werden von Aussenstehenden als
minderwertig, andersartig oder verwerflich charakterisiert und deshalb angegriffen oder
beleidigt. Als besonders kränkend empfinden die Interviewten beispielsweise die fehlende
Anerkennung ihrer eigenen Leistung oder die böswillige Verleumdung der eigenen Person,
aber auch ein Mangel an Unterstützung der individuellen und gruppenbezogenen Vorhaben
löst bei den Jugendlichen das Gefühl hervor, abgelehnt zu werden. Gleichsam wie auf der Seite
der Anerkennung ist eine Beziehungen zwischen der Ablehnung als Personen und einem
bestimmten öffentlichen Raum nur dann gegeben, wenn sich die Ablehnungserfahrungen an
diesem Ort ergeben haben.
Schliesslich erleben die Heranwachsenden als soziale Gruppe, sei es als Altersgruppe der
Jugendlichen, als zugehörig zu einem sozialen Geschlecht, sei es als Ausländer oder
Ausländerin
oder
aufgrund
der
Zugehörigkeit
zu
einem
bestimmten
Quartierszusammenhang, ebenso Ablehnung in öffentlichen Räumen. Diese basiert auf
generalisierten Vorurteilen (Minderwertigkeit, Andersartigkeit, Verwerflichkeit), mit denen
sie von Aussenstehenden in Verbindung gebracht werden. Die Abwertungen gehen sowohl
von anderen Jugendlichen als auch von Erwachsenen aus und zielen auf die Herabsetzung
einer bestimmten sozialen Gruppe.
66
Diese Kategorie wurde nicht direkt aus den Daten abgeleitet, sondern als Gegenstück zur Kategorie
„Anerkennung der Existenz“ konstruiert. Diese Vorgehensweise dient dazu, die theoretischen Annahmen zur
Anerkennung und Ablehnung jugendlicher in öffentlichen Räumen/in der Öffentlichkeit zu verfeinern und
mögliche Lücken im Datenmaterial sichtbar zu machen.
161
Die Jugendöffentlichkeit befindet sich in einem Spannungsfeld zwischen Anerkennung
und Ablehnung, in einem steten Ausgleich zwischen positiver und negativer Beurteilung
durch Aussenstehende sowie in einem nie endenden Wettbewerb unter den Jugendlichen
selbst. Da Jugendlichen sowohl mit Anerkennungs- als auch mit Ablehnungserlebnisse in
öffentlichen Räumen konfrontiert sind, stellt sich ihre diesbezügliche Erfahrungswelt als
ambivalent und widersprüchlich dar; viele Befragten sind noch auf der Suche nach ihrer
eigenen Position im Geflecht der sie umgebenden sozialen Beziehungen und nutzen auch
selbst Zugehörigkeits- und Abgrenzungsmechanismen, um ihre gesellschaftliche Stellung zu
festigen. Gleichzeitig wird ihnen ihre jeweilige soziale Position von Aussenstehenden
zugewiesen und sie müssen sich mit allfälligen Unterordnungen auseinandersetzen. Je stärker
die
Jugendlichen
ihre
Perspektive
von
den
spezifischen
Ausprägungen
(Anerkennung/Ablehnung der Ausdrucksweisen und als Person/en) abwenden und auf die
generalisierten oder diffusen Ausprägungen (Anerkennung/Ablehnung der Existenz und als
soziale Gruppe) richten, desto existentieller wird die Frage nach Anerkennung und
Ablehnung. Dies verdeutlichen beispielsweise die ambivalenten Aussagen der Jungengruppe
auf der Dreirosenanlage. Sowohl als öffentlich bekannte Tanzcrew sowie mit ihrem
öffentlichen Tanzen können sie Sympathien gewinnen und ebenso Antipathien wecken
(Anerkennung/Ablehnung der Ausdruckweise), sich durch ihre Leistung Respekt verschaffen
und gleichsam die Missgunst anderer auf sich lenken. Diese Erlebnisse geben den
Jugendlichen ein direktes Feedback und helfen ihnen, motiviert zu bleiben und sich der
Herausforderung zu stellen, Unterstützungsnetzwerke aufzubauen sowie schädigende
Beziehungen zu vermeiden. Die öffentlichen Ablehnungen aber, welche die Jugendlichen
aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu sozialen Gruppierungen erfahren, stellen die Verwirklichung
ihrer Träume wiederkehrend in Frage: Die doppelte Abwertung ihrer selbst einerseits als
„Schwarze“ sowie andererseits als Jugendliche und ebenso die fehlende Anerkennung ihres
Lebensentwurfes als Tänzer schwächt ihre Motivation und birgt in sich ein grosses
Frustrationspotential (vgl. Drei1).
Wie dargestellt, ergeben sich in öffentlichen Räumen zahlreiche Konflikte
unterschiedlicher Reichweite und Intensität. Ein Teil dieser Auseinandersetzungen lassen sich
direkt oder indirekt aus den in diesem Abschnitt geschilderten Ablehnungs- und
Ausschlussmechanismen im öffentlichen Raum ableiten und sind demnach als Konflikte auf
der Beziehungsebene67 zu begreifen. Weitere Konfrontationen zwischen Jugendlichen und
Aussenstehenden sowie unter den Jugendlichen selbst können entweder auf unterschiedliche
Interessen (Konflikte auf der Sachebene, z.B. Musiklautstärke im öffentlichen Raum) oder auf
Konfliktfördernde soziale Bedingungen des öffentlichen Raumes (Konflikte auf der Ebene des
sozialen Settings, z.B. rücksichtlose Umgangsformen oder eine angespannte Atmosphäre im
67 Mit dem Begriff der Beziehung soll darauf hingewiesen werden, dass die Konfliktursache innerhalb des
Beziehungsgefüges der Konfliktbeteiligten liegt. Es muss sich dabei nicht um private Beziehungen handeln,
sondern wie im Kapitel ausführlich erörtert kann es sich ebenso um sog. „öffentliche Beziehungen“ handeln, die
zwischen
unterschiedlichen
Jugendgruppen
oder
sozialen
Gruppierungen
(Altersgruppen,
Geschlechtszugehörigkeit, etc.) in öffentlichen Räumen bestehen. Dementsprechend wird im Folgenden auch
von „öffentlichen Konflikten“ gesprochen, die von den Zugehörigkeits- und Ausschlussmechanismen von am
öffentlichen Leben beteiligten Personen ausgehen.
162
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
öffentlichen Raum) zurückgeführt werden. Diese beiden Konfliktkategorien werden teilweise
von den auf der Beziehungsebene basierenden beziehungsweise privaten Spannungen
überlagert oder verstärkt. Dabei lässt sich aus den erhobenen Daten selten eindeutig erkenne,
wo sich der Ursprung des Konfliktes verorten lässt, ob es sich um eine private oder öffentliche
Auseinandersetzung handelt und welche Bedeutung vorhandene Meinungsverschiedenheiten
auf der Sachebene und Bedingungen des sozialen Settings während des Konfliktsverlaufs
spielen.
Die These der sozialen Bedingtheit von Konflikten in öffentlichen Räumen lässt sich
jedoch zusätzlich erörtern, wenn man die unterschiedlichen Formen des Umgangs in
Konflikten und Lösungsstrategien der Jugendlichen in den Blick nimmt: Handelt es sich um
Interessenkonflikte auf sachlicher Ebene versuchen die Jugendlichen die eigenen Interessen
gegen andere abzuwägen und wo möglich Rücksicht zu nehmen oder einen Kompromiss
auszuhandeln. Auseinandersetzungen, welche auf das spezifische soziale Setting eines
öffentlichen Raumes zurückzuführen sind, werden von den Jugendlichen wenn immer
möglich vermieden (z.B. aggressive oder betrunkene Personen) oder ignoriert (z.B.
Provokationen) und wenn notwendig ausgehalten (z.B. rücksichtloses Verhalten von
Mitnutzenden). Nur selten kommt es zu einer direkten Konfrontation. Konflikte auf der
Ebene der sozialen Beziehungen schliesslich fordern von den Jugendlichen eine aktive
Mitgestaltung: In solchen Auseinandersetzungen liegt den Jugendlichen viel daran, sich im
Konflikt zu positionieren, das heisst sich einerseits zu wehren und Respekt zu verschaffen
(meist aber gemäss dem Prinzip des Gewaltverzichts) und andererseits eine Klärung und
Konfliktlösung herbeizuführen. Nur wenige Interviewte zeigen sich in solchen Fällen
nachgiebig, ziehen sich zurück oder halten Angriffe ohne Gegenwehr aus. Der Vergleich der
drei Konfliktkategorien und den entsprechenden Strategien macht deutlich, dass
Auseinandersetzungen auf der Beziehungsebene die Jugendlichen am stärksten betreffen und
herausfordern68.
68 Viele der erörterten Anerkennungs- und Ablehnungserlebnisse beruhen auf dem Austausch zwischen
Jugendlichen und Jugendgruppen. Wie bereits zu den einzelnen Untersuchungsgebieten dargestellt, ist die
jugendliche Rolle im öffentlichen Austausch weniger durch Kontakte zu anderen Alters- oder Nutzergruppen,
sondern vielmehr durch die Interaktion mit anderen Jugendlichen geprägt. Betrachtet man die
Jugendöffentlichkeit zwischen Anerkennung und Ablehnung, dann stellt sich jedoch auch die Frage nach dem
Verhältnis der Jugendlichen einerseits zu den jüngeren Kindern und andererseits zu Erwachsenen (ältere
Personen oder Eltern) in öffentlichen Räumen.. Mögliche Aussagen dazu können nur bedingt getroffen werden,
da sie auf einer relativ kleinen Datenmenge beruhen.
163
6
Diskussion
6.1 Zusammenfassung der Ergebnisse und Beantwortung der Fragestellungen
Im Kapitel zur Darstellung der Ergebnisse wurde ausführlich beschrieben, welche
Aneignungsformen Jugendliche in den drei unterschiedlichen Untersuchungsgebieten
ausüben und wie sie ihre Handlungen zu ihrer jeweiligen Lebenswelt in Bezug setzen und
deuten. Ihre je gruppenspezifische und individuelle Lebenslage, sei es nun ihre momentane
Ausbildungs- oder Berufssituation, ihre Vorlieben und Abneigungen in der Freizeitgestaltung
oder auch ihr derzeitiger gesellschaftlicher Status (ökonomisch, kulturell, sozial, etc.), scheint
einen gewichtigen Faktor für die Aneignung öffentlicher Räume darzustellen. Dies zeigt sich
beispielsweise in den verfügbaren Ressourcen (Zeit, Geld) für die Freizeitbeschäftigung oder
die unterschiedliche Nutzung öffentlicher Räume nach Geschlecht. Darüber hinaus spielen
ebenso gemachte Erfahrungen (auch in anderen Kontexten) und biografisch verankerte
Erlebnisse eine wichtige Rolle in der subjektiven Wahrnehmung und Deutung öffentlicher
Räume durch Jugendliche, wie zum Beispiel Anerkennungs- und Ablehnungserfahrungen
oder die sozialisierte Haltung gegenüber Sexualität oder Drogenkonsum. Diese
personenbezogenen Faktoren wurden zwar in den Interviews erwähnt und ebenso in der
Analyse der Daten berücksichtigt, standen jedoch aufgrund von theoretischen Erwägungen
sowie der relativ lückenhafte Datenlage zu diesen Variablen nicht im Vordergrund der
vorliegenden Forschungsarbeit. Sie konzentriert sich in erster Linie auf die Beziehung
zwischen den jugendlichen Handlungen, deren Wahrnehmung und Bedeutungszuschreibung
und den je nach öffentlichem Raum spezifischen Bedingungen (vgl. Kapitel 3.4.).
In diesem Kapitel sollen die Ergebnisse, geordnet anhand der drei zentralen
Fragestellungen, zusammengefasst erörtert werden. Dieses Vorhaben gestaltet sich als
Herausforderung, sind die Ergebnisse aufgrund der oben erwähnten personenbezogenen
Faktoren doch sehr differenziert und facettenreich. Aus diesem Grund wird im Folgenden
weniger auf die Beschreibung der Analyse eingegangen, sondern vor allem versucht,
systematisch zentrale Aussagen aus der Analyse des Datenmaterials herauszukristallisieren.
Die Aneignungsfrage
Wie lassen sich die physische, soziale, normative und symbolische Aneignungspraxis von
Jugendlichen in öffentlichen Räumen beschreiben?
Versucht man die überaus vielseitige Aneignungspraxis der einzelnen Jugendgruppen in den
unterschiedlichen öffentlichen Räumen zu verallgemeinern, dann lassen sich drei
Ausprägungen von Aneignung voneinander unterscheiden: Erstens die Reproduktion
räumlicher Bedingungen, d.h. aktive und passive Nutzung öffentlicher Räume, die in erster
Linie die vorhandenen räumlichen Strukturen reproduziert; zweitens die Transformation
räumlicher Bedingungen, d.h. Handlungen in öffentlichen Räumen, die darauf abzielen, die
vorhandenen räumlichen Strukturen zu verändern; und drittens die Opposition gegenüber
164
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
räumlichen Bedingungen, d.h. Handlungen, die sich direkt oder implizit gegen vorhandene
räumliche Strukturen richten.
Welche Bezüge bestehen zwischen den unterschiedlichen Aneignungsdimensionen?
Es stellt sich weiter die Frage, ob zwischen den unterschiedlichen Aneignungsdimensionen
Bezüge hergestellt werden können, die für die Jugendlichen von besonderer Bedeutung sind.
Als erstes kann davon ausgegangen werden, dass die physische Aneignung und deren
Ausprägungen im Verhältnis zu den anderen Dimensionen meist eine unterstützende
Funktion einnimmt. Konkret bedeutet dies, dass das materiell-physische Substrat von den
Jugendlichen zwar anerkannt, bewertet und genutzt wird, es stellt jedoch selten der einzige
und auch nicht der wichtigste Grund dar, weshalb sich Jugendliche auf eben diesem
öffentlichen Raum aufhalten. Sie sind von sekundärer Bedeutung. Aus der Analyse der
Ergebnisse kann abgeleitet werden, dass physisch ausgerichtete Handlungen immer auch eine
soziale (z.B. beim Rumsitzen auf dem Barfüsserplatz spezielle Leute sehen oder beim
Basketballspielen neue Leute kennen lernen) und symbolische Komponente enthalten (z.B.
beim Sprungbrettspringen seine Fähigkeiten präsentieren oder fürs Basketballspielen
Anerkennung erhalten). Ähnlich kann davon ausgegangen werden, dass symbolische
Handlungen Jugendliche in der Aufrechterhaltung und Ausweitung ihrer sozialen Netzwerke
unterstützen (z.B. an jugenkulturellen Anlässen neue Bekanntschaften machen). Generell
scheinen die soziale und symbolische Aneignungspraxis von zentraler Bedeutung für die in
öffentlichen Räumen erfahrene Anerkennung und Ablehnung zu sein. Der Bezug der
normativen Aneignungsdimension zu den anderen ist weniger eindeutig, er setzt in erster
Linie einen Rahmen, welcher die Möglichkeiten zur physischen, sozialen und symbolischen
Aneignung definiert. In Abbildung 15 wird eine mögliche Variante des Verhältnisses
zwischen den vier Aneignungsdimension grafisch dargestellt.
Abbildung 15: Verhältnis zwischen den vier Aneignungsdimensionen
Quelle: Eigene Darstellung
165
Aus den Daten kann gefolgert werden, dass die physischen Aneignung in öffentlichen
Räumen lediglich dazu dient, sich in der Öffentlichkeit darzustellen (symbolische Aneignung)
und sich dadurch Anerkennung und Zugehörigkeit zu verschaffen (soziale Aneignung). Die
normative Aneignung fungiert als rahmende Handlung, mit welcher die Möglichkeiten und
Grenzen der andere Aneignungsformen verhandelt werden.
Die Öffentlichkeitsfrage
Wie erfahren und reflektieren Jugendliche ihre Rolle als Schauspielende und Publikum in
öffentlichen Räumen?
Die meisten jugendlichen Handlungen in öffentlichen Räumen spielen sich im Spannungsfeld
zwischen einer privaten und einer öffentlich-sichtbaren Sphäre ab. Während sich die auf die
Privatheit bezogenen Handlungen vor allem auf den sozialen Austausch in der Peergroup
beziehen, handelt es sich in der Sphäre der Sichtbarkeit um nach aussen gerichtete
Verhaltensweisen. In der Rolle des Publikums beobachten, bewerten und kommentieren die
Jugendlichen das öffentliche Geschehen oder imitieren andere Anwesenden. Befinden sich die
Jugendlichen in der Rolle des Schauspielers oder der Schauspielerin verhalten sie sich so, dass
sie die Aufmerksamkeit anderer auf sich ziehen und im Zuge des öffentlichen Austauschs
beobachtet werden. Oft können die beiden Rollen entweder als Publikum oder als
Schauspieler/in nicht präzise voneinander getrennt werden und meist finden sich die
Jugendlichen in beiden Rollen wieder. Betreten Jugendliche öffentliche Räume dann scheinen
sie gleichzeitig auch eine Bühne der Sichtbarkeit zu betreten, und zwar immer mit dem Ziel,
ihre Chancen auf sozialen Austausch mit andere Jugendlichen möglichst zu erhöhen. Dabei
hängen soziale wie symbolische Aneignungsformen eng zusammen und ermöglichen in ihrer
Verknüpfung Zugehörigkeit als auch Abgrenzung.
Jugendliche reflektieren ihre Rolle als Beobachtende und Beobachtete innerhalb der
Peergroup: Die gewonnenen Eindrücke von aussen werden mit den Gleichaltrigen verarbeitet
und eingeordnet, repräsentatives Verhalten wird stets durch den Rückhalt in der sozialen
Gemeinschaft gestützt oder im Austausch mit anderen Gruppen herausgefordert. Gesamthaft
ist davon auszugehen, dass die Jugendlichen ihre eigene Sichtweisen, Geschmacksvorlieben
und Vorstellungen beispielsweise von Geschlecht oder Jugendkultur in Bezug zu ihrer
Umwelt bringen. Inwiefern es sich dabei um einen bewussten Reflexionsprozess handelt ist
aus den Daten nur schwierig abzuleiten.
Auf welche Art und Weise machen Jugendliche ihre Lebenswelt über ihre
jugendspezifischen Ausdrucksmittel in der Öffentlichkeit sichtbar?
Die Datenanalyse lässt weiter den Rückschluss zu, dass Jugendliche sowohl über
jugendkulturelle als auch alltägliche Praktiken im öffentlichen Raum Aspekte ihrer eigenen
Lebenswelt der Öffentlichkeit mitteilen können. Es handelt sich dabei vor allem um kollektive
Lebenseinstellungen oder, allgemeiner ausgedrückt, um einen jugendlichen Lebensstil, der
über ein spezifisches Verhalten in der Öffentlichkeit nach aussen transportiert wird. Dabei
bedienen sich die Jugendlichen aller Formen von Aneignung – physisch, sozial, symbolisch
166
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
und normativ. Es ist demnach davon auszugehen, dass ein solcher jugendlicher Lebensstil, der
je nach Gruppe unterschiedlich gelebt und definiert wird, durch das Zusammenspiel von
Werten und deren Repräsentation geformt wird. Konkret bedeutet dies, dass er sich sowohl in
der persönlichen Einstellung als auch in der Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit
widerspiegelt. Während gewisse Elemente des in der Erhebung vorzufindenden jugendlichen
Lebensstils ohne öffentlichen Widerstand anerkannt werden, können andere ein gewisses
Konfliktpotential in sich bergen oder von Aussenstehenden negativ bewertet werden. Ein
Widerspruch zwischen dem von den Jugendlichen präferierten und dem von Erwachsenen als
angebracht bezeichneten Lebensstil kann demnach angenommen werden.
Die Machtfrage
Welche Aneignungschancen und -restriktionen erfahren Jugendliche in öffentlichen
Räumen?
Die Chancen und Restriktionen jugendlicher Aneignung lassen sich in erster Linie über die
positive und negative Bewertung von sowie Identifikation mit öffentlichen Räumen ableiten:
Tabelle 7: Positive und negative Bewertung von Raumausschnitten
positive Bewertung
Ausstattung &
Eigenschaften
Atmosphäre &
Sympathien
Beispiele
Sportgeräte, Möglichkeiten
zum Sitzen und Chillen,
entspricht den
Bedürfnissen,
Verpflegungsmöglichkeiten,
etc.
ruhig, man kann unter sich
sein, man kann tolle Leute
kennen lernen, etc.
negative Bewertung
Ausstattung &
Eigenschaften
Atmosphäre &
Antipathien
Beeinträchtigung durch
Dritte
Positive Identifikation
Positive Erlebnisse
Positive Gefühle
Ownership
Negative Identifikation
Negative Erlebnisse
Beispiele
Neue Leute kennen gelernt,
Spass gehabt, positive
Erinnerungen aus der
Kindheit, etc.
positive und friedliche
Stimmung, Wohlbefinden,
Entspannung, etc.
Der öffentliche Raum wird
sehr häufig genutzt, als
Jugendtreffpunkt
bezeichnet, als Lieblingsort
bezeichnet, etc.
Negative Gefühle
167
Beispiele
fehlende Ausstattung,
gefährliche Nutzung, zu
wenig Platz, widerspricht
den Bedürfnissen, für
längeren Aufenthalt
ungeeignet, etc.
laut, man trifft auf
unsympathische Leute, es
gibt immer Streit, etc.
bestimmte Territorien
werden aufgrund von
Konflikten, Antipathien,
Bedrohung u.a. gemieden
Beispiele
Konflikte erlebt, negative
Erinnerungen aus der
Kindheit, Schlägereien,
etc.
aggressive Stimmung,
Angstgefühle,
Stressmomente, etc.
Eine vielseitige und den Bedürfnissen angepasste Ausstattung, welche auch einen längeren
Aufenthalt im öffentlichen Raum ermöglicht, eine angenehme und sichere Atmosphäre und
Chancen auf soziale Kontakte sowie positive Gefühle oder Erlebnisse sind Faktoren, welche
die Aneignungschancen der Jugendlichen in öffentlichen Räumen erhöhen und unterstützen.
Eine besondere Form stellt dabei auch der Faktor ‚Ownership’ dar, also ein derart starke
Identifikation der Jugendlichen mit dem öffentlichen Raum, dass sie ihn als ihr Eigen
bezeichnen können. Eine mangelnde und den Bedürfnissen der Jugendlichen
entgegengesetzte Ausgestaltung und eine Ausstattung, welche einen längeren Aufenthalt im
öffentlichen Raum erschwert, eine bedrohliche und angespannte Atmosphäre mit wenig
Chancen auf positive soziale Kontakte sowie negative Erlebnisse und Gefühle sind hingegen
Faktoren, welche für die Aneignung öffentlicher Räume durch Jugendliche ein Hindernis
darstellen. Insbesondere die Beeinträchtigung der Aneignung durch Dritte hat überaus
negative Auswirkungen auf den Zugang zu Teilen oder dem gesamten öffentlichen Raum.
Welchen Umgang pflegen Jugendliche mit den jeweiligen Regulierungsmechanismen und
wie erfahren und bewerten sie die in öffentlichen Räumen eingelagerten Normen?
Die von den Interviewgruppen genannten Regulierungsmechanismen und in den öffentlichen
Räumen vorherrschenden Normensysteme können in unterschiedliche Kategorien
differenziert werden. Diese wiederum lassen sich einerseits auf einem Kontinuum zwischen
formeller und informeller Regulierung ansiedeln und andererseits nach dem Grad ihrer
Verbindlichkeit unterscheiden (vgl. Abb. 12). Gesetze, Verbote und Vorschriften werden von
den Jugendlichen eindeutig den formellen Regulierungsmechanismen zugeordnet. Der
Anspruch auf Ruhe & Ordnung im öffentlichen Raum sowie moralische und soziale Regeln
hingegen, werden von den Jugendlichen als informelle Regulierung wahrgenommen.
Während sich die Jugendlichen einigen Regelsystemen weniger verpflichtet fühlen oder sich
ihnen entgegenstellen (Vorschriften, Ruhe & Ordnung, Umgangsformen), betrachten sie
andere als verbindliche Leitlinien ihres Verhaltens (Gesetze, Verbote, Normen, Moral). Es
sind deshalb auch letztere Regulative, welche im Rahmen der normativen Aneignung
bearbeitet werden: Entweder sind die Jugendlichen an der Reproduktion von regulativen
Machtverhältnissen massgeblich beteiligt, indem sie sich gewissen Regeln mehr oder weniger
stark verpflichten und dies auch nach aussen kommunizieren (z.B. Moral oder Gesetze). Oder
es gelingt den Jugendlichen auch, vorherrschende Regelsysteme zum eigenen Nutzen zu
erweitern, indem sie sich Strategien zum Umgehen von Kontrollmechanismen erarbeiten (z.B.
Normen). Die produktive Herstellung wie auch die Reproduktion von Regelsystemen kann als
bedeutsame Facette von Jugendöffentlichkeiten verstanden werden.
Welche Formen von Anerkennung und Ablehnung erleben Jugendliche in öffentlichen
Räumen?
Die Anerkennungs- und Ablehnungserlebnisse der befragten Jugendlichen sind äusserst
vielfältig und lassen sich untereinander differenzieren und zu einzelnen Kategorien
zusammenfassen. Sowohl die Anerkennungs- als auch die Ablehnungserfahrungen basieren
auf der im öffentlichen Raum wahrgenommen Fremdbeurteilungen der Jugendlichen durch
168
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
Andere und reichen von Einzelerlebnissen bis zu generalisierten Bewertungen der eigenen
sozialen Gruppe.
Anerkennung erhalten die Jugendlichen in zahlreichen Momenten, in welchen sie sich in
öffentlichen Räumen aufhalten. Positive Aufmerksamkeit, Interessensbekundungen und
einfache Neugier sind Elemente dessen, was als Anerkennung der Existenz bezeichnet werden
kann. Eine weitere Kategorie stellt die Anerkennung einer Jugendgruppe als solche oder deren
Fähigkeiten dar, bspw. wenn den Jugendlichen für ihre Fähigkeiten Bewunderung oder
Komplimente entgegengebracht werden. Die Anerkennung als soziale Gruppe schliesslich
bezieht sich meist auf die Frage, inwiefern die Jugendlichen als Altersgruppe (bzw. die
jugendlichen Mädchen und jugendlichen Jungen als soziale Geschlechter, oder als ethnische
Gruppierung) in der Öffentlichkeit in ihren spezifischen Eigenheiten und Bedürfnissen
geachtet werden. Der Respekt gegenüber einzelnen Personen oder Gruppen sowie gegenüber
einer sozialen Gruppe stellt in diesem Zusammenhang eine zentrale Form der Anerkennung
dar, die sich über alle bereits besprochenen Anerkennungsformen erstreckt und von
mehreren interviewten Gruppen als die bedeutendste „Währung“ für Anerkennung
dargestellt wird.
Diesem ausdifferenzierten Spektrum von Anerkennung Jugendlicher in öffentlichen
Räumen steht eine ebenso vielseitige Bandbreite an Ablehnungserfahrungen gegenüber.
Entsprechend den Anerkennungskategorien können a) die Ablehnung der Präsenz, b) die
Ablehnung jugendlichen Ausdrucksweisen sowie die Ablehnung einer Jugendgruppe und c)
die Ablehnung als soziale Gruppe voneinander unterschieden werden. Ein Grossteil dieser
Formen von Ablehnung basieren auf Vorurteilen, sei es jugendtypischem Verhalten oder der
Jugend als Ganzes gegenüber. Die zahlreichen unterschiedlichen Vorurteile lassen sich zu drei
Gruppen zusammenfassen: a) Jugendliche sind bzw. ihr Verhalten ist minderwertig (z.B.
unproduktiv, unreif, schwach), b) Jugendliche sind bzw. ihre Verhalten ist anders (z.B.
abnormal, nonkonform) und Jugendliche sind bzw. ihre Verhalten ist verwerflich (z.B.
unmoralisch, verantwortungslos, überheblich, respektlos).
Jugendöffentlichkeit befindet sich in einem Spannungsfeld zwischen Anerkennung und
Ablehnung, in einem steten Ausgleich zwischen positiver und negativer Beurteilung durch
Aussenstehende sowie in einem nie endenden Wettbewerb unter den Jugendlichen selbst. Da
den Jugendlichen sowohl Anerkennungs- als auch Ablehnungserlebnisse in öffentlichen
Räumen widerfahren, stellt sich ihre diesbezügliche Erfahrungswelt als ambivalent und
widersprüchlich dar; viele Befragten sind noch auf der Suche nach ihrer eigenen Position im
Geflecht der sie umgebenden sozialen Beziehungen und nutzen auch selbst Zugehörigkeitsund Abgrenzungsmechanismen, um ihre gesellschaftliche Stellung zu festigen. Gleichzeitig
wird ihnen ihre jeweilige soziale Position von Aussenstehenden zugewiesen und sie müssen
sich mit allfälligen Unterordnungen auseinandersetzen. Das Aufhalten in öffentlichen
Räumen ist in diesem Zusammenhang eine notwendige Bedingung für die gesellschaftliche
Integration Jugendlicher: Öffentliche Räume stellen aufgrund ihres Öffentlichkeitscharakters
und ihrer tendenziell geringen normativen Regulierung die einzige Alternative zu anderen
jugendspezifischen Kontexten dar, sich mit der eigenen Umwelt in dieser hier beschriebenen
Art und Weise auseinanderzusetzen.
169
6.2 Reflexion der Forschungsergebnisse
Dieses Kapitel soll dazu dienen, die Forschungsergebnisse auf den Forschungsstand (Kap. 2)
sowie die theoretischen Annahmen (Kap. 3) zu beziehen. Anders als in einer quantitativen
Erhebung, welche aus Forschungsstand und Theorie Hypothesen ableitet und diese dann im
Rahmen der Erhebung zu testen versucht, wurden in der vorliegenden Arbeit Ergebnisse aus
früheren Studien und theoretische Grundlagen zur Thematik herbeigezogen, um das relativ
breite Forschungsfeld einzugrenzen und Indikatoren für die Erhebung zu entwickeln. Das
sensibilisierende Konzept (Kap. 3.4.) beinhaltet demnach in erster Linie Annahmen zu
wichtigen Elementen und Prozessen von Jugendöffentlichkeit, jedoch keine inhaltlichen
Thesen zur konkreten Ausgestaltung von Jugendöffentlichkeit. Da auf diesem konzeptionellen
Raster dann die Erhebung entworfen und durchgeführt wurde, erstaunt es nicht, dass die in
dieser Arbeit bearbeiteten Studien und Konzepte weitestgehend auch für die
Untersuchungsergebnisse stimmig sind. Dies entspricht einer der wichtigsten Erkenntnisse
qualitativer Sozialforschung, dass implizite und explizite Vorannahmen der Wissenschaftlerin
sowohl den Erhebungsprozess als auch die Forschungsergebnisse stark beeinflussen.
Aus diesen Gründen soll hier nur kurz auf die bearbeiten Studien und einbezogenen
Theorien eingegangen und vor allem den Fokus auf mögliche Diskrepanzen zwischen ihnen
und den Forschungsergebnissen gelegt werden:
 Perspektivenwechsel in der Raumforschung (Kap. 2.1.): Die Sozialgeografie der
Kindheit und des Jugendalters plädiert dafür, die kindliche und jugendliche Nutzung,
Erfahrung und Bedeutung räumlicher Strukturen aus der subjektiven Perspektive der
Heranwachsenden und nicht aus einer Erwachsenenperspektive zu erforschen (vgl.
Matthews et al. 1999). Die Forschungsanlage hat darauf grossen Wert gelegt und auch
im Ergebnisteil wurde versucht, die Jugendlichen ‚zu Wort kommen’ zu lassen.
Dennoch wurden die Interviewfragen von einer Erwachsenen gestellt, die Aussagen
und Handlungen der Jugendlichen von einer Erwachsenen analysiert und die gesamte
Arbeit wurden von A bis Z von einer Erwachsenen verfasst. Ausserdem kann davon
ausgegangen werden, dass sich Jugendliche im Rahmen eines Interviews meist
konform geben und sich der ihnen bekannten Erwachsenenperspektive anpassen. Es
ist demnach fraglich, inwiefern dieser von den Autoren radikal geforderte
Perspektivenwechsel stattgefunden hat und ob er überhaupt ein realisierbares Ziel in
der Sozialforschung darstellen kann.
 Forschungsleitende Thesen (Kap. 2.2.1.): Anhand der einbezogenen Studien zur
sozialräumlichen Aneignung in öffentlichen Räumen konnten vorab einige
Forschungsleitende Thesen festgehalten werden, welche in Form von Vorannahmen in
den weiteren Forschungsprozess einbezogen wurden. Auch wenn diese Vorannahmen
nicht einem Hypothesentest unterzogen wurden, können sie doch mit Vorbehalten als
bestätigt bezeichnet werden. Kritisch muss hier angemerkt werden, dass sich die
vorliegende Arbeit einem der bearbeiteten Untersuchungen ähnlichem
Forschungsdesign bedient (qualitatives Vorgehen, Triangulation von Beobachtung
und Befragung, etc.) und somit ggf. auch deren impliziten Annahmen reproduziert
hat. Andererseits spricht dies auch für die Reliabilität der verwendeten Erhebungsund Analyseinstrumente.
170
JUGENDÖFFENTLICHKEIT



Forschungslücke (Kap. 2.3.): Im Abschluss zum Forschungsstand wurde eine
Forschungslücke in der verbindenden Erforschung von Jugend, Öffentlichkeit und
öffentlicher Raum identifiziert. Inwiefern konnte diese nun durch die vorliegende
Arbeit geschlossen werden? Während die Konzeptionalisierung von Jugend in
öffentlichen Räumen relativ einfach gelang, konnte der Öffentlichkeitsbegriff hingegen
nur schwierig wissenschaftlich definiert und für eine Erhebung operationalisiert
werden. In der Datenerhebung wurde bspw. durch die Beobachtung von Interaktionen
oder anhand der Fotoaufgabe versucht, den Öffentlichkeitscharakter jugendlicher
Handlungen zu erfassen. Dies ist insofern gelungen, als dass substantielle Antworten
auf die Öffentlichkeitsfrage gegeben werden können (s.o.). Aber auch die Ergebnisse
zur Aneignungsfrage, welche den Bezug zwischen Jugend und öffentlichen Raum in
den Blick nimmt, geben Aufschluss über den Öffentlichkeitscharakter jugendlicher
Handlungen. Insofern hat die vorliegende Arbeit ihren Beitrag - mit einigen offen
bleibenden Fragen (vgl. Kap. 6.3.) – zur Schliessung der Forschungslücke geleistet.
Gesellschaftszentriertes Raumkonzept (Kap. 3.1.2.1.): Das Mehrebenenmodell
öffentlicher Räume (vgl. Läpple 1991) diente in der Arbeit dazu, ein Verständnis dafür
zu entwickeln, auf welche Art und Weise öffentliche Räume jugendliches Handeln
strukturieren. Während es sich als konzeptionelles Raster während des
Analyseprozesses bewährt hat, musste es für die Erhebung in den Hintergrund treten,
um die subjektive Wahrnehmung und die individuellen Handlungen der Jugendlichen
nicht vorschnell zu kategorisieren. Bei den Interviews stützte sich die Autorin vor
allem auf Selles (2003) Forderung, die Alltagswahrnehmung zum Ausgangspunkt für
eine Bestimmung öffentlicher Räume zu nehmen und insbesondere nach ihrer
Nutzbarkeit zu fragen. Der Miteinbezug unterschiedlicher Konzepte von öffentlichen
Räumen kann demnach als fruchtbar bezeichnet werden, auch wenn es eine
Herausforderung darstellt, die unterschiedlichen theoretischen Zugänge angemessen
und korrekt miteinander zu kombinieren.
Macht in öffentlichen Räumen (Kap. 3.1.2.2.): Die vorliegende Arbeit ging von der
Annahme aus, dass Machtbeziehungen in Räumen einerseits dazu dienen, die
ungleichen Beziehungen innerhalb der Gesellschaft zu stabilisieren und zu
reproduzieren (vgl. Sibley 1995), andererseits aber auch variable Sphären darstellen,
die einem steten Aushandlungs- und Definitionsprozess unterliegen (vgl. Wöhler
2000). Die Vorstellung, dass Jugendliche sowohl Objekt als auch produktives Subjekt
von Machtbeziehungen darstellen, hat die Autorin für die verschiedenen
Umgangsformen der Jugendlichen mit regulativen und normativen Vorgaben in
öffentlichen Räumen sensibilisiert, sodass sich anhand der vorliegenden Ergebnisse die
unterschiedlichen Seiten von in öffentlichen Räumen verorteter Macht beschreiben
lassen. Dahingehend konnte auch festgestellt werden, dass ein Mehr an Regulierung
und normativen Vorgaben nicht zwingend auch ein Weniger an
Aneignungsmöglichkeiten darstellt – und umgekehrt.
So können freiwillige
Unterhaltungs- und Konsumangebote auf dem Barfüsserplatz beispielsweise auf die
Jugendlichen strukturierender wirken als die zahlreichen Regulierungsmechanismen
im Gartenbad Bachgraben, weil diese von den Jugendlichen herausgefordert werden
171


können. Schliesslich konnte mit dem Untersuchungsgebiet Dreirosenanlage auch
aufgezeigt werden, wie Jugendliche Normensysteme eigenständig entwickeln und
aufrechterhalten können.
Soziokulturelle Öffentlichkeit (Kap. 3.1.3.): In Abgrenzung zur politischen
Öffentlichkeit wurde in der vorliegende Arbeit davon ausgegangen, dass Öffentlichkeit
in öffentlichen Räumen über soziokulturelle Kommunikation hergestellt wird.
Beobachten und Beobachtet werden sind Teil eines Prozesse der Selbstvergewisserung,
bei welchem die Jugendlichen in der Gruppe sich selbst und andere reflektieren (vgl.
Klaus 1998). Diese Konzeption von Öffentlichkeit bewährte sich während des
gesamten Erhebungs- und Analyseprozesse und konnte insbesondere durch die in den
Daten gefundene enge Verknüpfung von symbolischer und sozialer Aneignung belegt
werden. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass die sozialen wie
symbolischen Handlungen von den Jugendlichen als die wichtigsten Tätigkeiten in
öffentlichen Räumen wahrgenommen werden, was wiederum auf die zentrale
Bedeutung von Öffentlichkeit für Heranwachsende in diesen Kontexten verweist.
Weiter kann bestätigt werden, was frühere Studien bereits belegten:
Jugendöffentlichkeit – und vielleicht auch viele anderen Öffentlichkeiten (z.B. in
einem virtuellen Chat) – sind Teilöffentlichkeiten, weil sie sich oft auch unter
Bekannten und Freunden konstituiert (vgl. Herlyn 2003).
Öffentliche Räume als Bühne (Kap. 3.1.3.): Goffmans (1998) Theatermetapher lässt
sich auf den interessierenden Forschungsgegenstand optimal anwenden. Sie
ermöglichte der Autorin, die Handlungen und Rollen Jugendlicher in öffentlichen
Räumen zu differenzieren und auf einem Spektrum von Privatheit und Sichtbarkeit
einzuordnen (vgl. Abb. 10). Goffmans Unterscheidung zwischen Vorder- und
Hinterbühne wurde zwar nicht explizit in die Datenanalyse miteinbezogen, kann aber
weitere interessante Aufschlüsse geben: Kurz zusammengefasst ist den Daten zu
entnehmen, dass Jugendliche öffentliche Räume sowohl als Vorderbühnen sozialer
Verständigung als auch als Hinterbühnen zur Reflexion und Selbstvergewisserung
verwenden (z.B. Dreirosenanlage: Basketballfeld als Vorderbühne, gedeckte
Skateranlage als Hinterbühne). Daraus lässt sich folgern, dass ein und derselbe
öffentliche Raum sowohl Rückzugs- als auch Interaktionsräume (vgl. Goffman
1998:118) bereitstellt – und dies auch zu ein und demselben Zeitpunkt. Verfolgt man
dieses Motiv weiter, kann ebenso festgestellt werden, dass öffentliche Räume
gesamthaft
für die Jugendlichen einerseits eine Vorderbühne (Orte der
Repräsentation nach aussen) andererseits eine Hinterbühne (Rückzug aus den
Vorderbühnen des Alttags wie Schule, Arbeit und Familie) darstellen. Ausserdem
machten die befragten Jugendlichen deutlich, dass sie sich in öffentlichen Räumen
anders als in anderen Kontexten verhalten. Dementsprechend werden ihre
Aneignungsmöglichkeiten eingeschränkt, wenn sich beispielsweise ein Elternteil oder
eine Lehrerin im selben öffentlichen Raum aufhält – oder eben auch eine Forscherin in
ihr Territorium eindringt. Jedoch können die Jugendlichen über verschiedene Formen
von Aneignung (temporäre Besetzung, Schaffung von Rückzugsräumen, Nutzung zu
bestimmten Zeiten) eigene öffentliche Räume formen, über deren Zugang sie die
Kontrolle haben.
172
JUGENDÖFFENTLICHKEIT


Jugendöffentlichkeit
(Kap.
3.1.4.):
Negts
(1983)
Ausführungen
zur
Kinderöffentlichkeit wurden in vier Thesen zusammengefasst, die Jugendöffentlichkeit
einerseits als soziokulturelle und andererseits auch als politische Öffentlichkeit
beschreiben. Während die Annahmen, dass Jugendliche in öffentlichen Räumen ihre
eigenen Lebenswelt in öffentlichen Räumen thematisieren und dadurch in ein
Spannungsverhältnis mit der Erwachsenenwelt treten, in den Daten wieder gefunden
werden konnten, scheint das politische Moment von Jugendöffentlichkeit (öffentlicher
Raum als Protestraum) weniger stark ausgeprägt zu sein. Zwar konnte festgestellt
werden, dass Jugendliche in öffentlichen Räumen mehr oder weniger intensive
Konflikte austragen, dass diese jedoch eine Thematisierung der gesellschaftlichen
Machtverhältnisse darstellen, kann nicht belegt werden. Hier könnten demnach
weitere Forschungsvorhaben ansetzen, welche das Politische alltäglicher Praktiken in
öffentlichen Räumen in den Blick nehmen (vgl. Kap. 6.3.). Somit scheint es auch
unangebracht, Jugendöffentlichkeit als Gegenöffentlichkeit zu verstehen, da innerhalb
von ihr gesellschaftliche Werte zwar verhandelt aber ebenso oft auch reproduziert
werden.
Jugendliche Aneignungsprozesse (Kap. 3.3.): Das Konzept der Aneignung (vgl. Deinet
et al. 2005) wurde in der vorliegenden Arbeit dazu verwendet, jugendliche
Handlungen in öffentlichen Räumen vor der Erhebung besser zu verstehen und zu
differenzieren. Bei der Analyse stellte sich jedoch die relativ vage Begriffsdefinition als
Schwierigkeit heraus, denn oft blieb unklar, wo Aneignung anfängt und wo sie
aufhört. Schliesslich musste davon ausgegangen werden, dass alle jugendlichen
Handlungen in öffentlichen Räumen als Aneignung zu bezeichnen sind, unabhängig
davon, ob sie räumliche Strukturen verändern oder nicht. Mit der Unterscheidung
zwischen a) der Reproduktion, b) der Transformation sowie c) der Opposition
gegenüber räumlichen Bedingungen sowie mit der Differenzierung zwischen den vier
Aneignungsdimensionen wurde versucht, ein Beitrag zur begrifflichen und
inhaltlichen Klärung des Aneignungskonzeptes zu leisten.
6.3 Ausblick
Sowohl aus der Perspektive der Sozialen Arbeit als auch der Sozialpolitik sind räumliche
Aspekte gesellschaftlicher Entwicklung von immer grösser werdenden Bedeutung: Seit den
1990er Jahren wird im deutschsprachigen Raum die Kategorie des sozialen Raums in Theorie
und Praxis intensiv diskutiert und die Sozialraumorientierung hat als neues Paradigma ihren
Weg in die Soziale Arbeit gefunden. Aus sozialpolitischer Sicht eröffnet die
Sozialraumorientierung
Möglichkeiten
zur
Modernisierung
wohlfahrtsstaatlicher
Institutionen hin zu mehr Kooperation, Flexibilität und Bürgerpartizipation bei der
Errichtung sozialer Dienstleistungen (Spatscheck et al. 2009:1). Ein prominentes – aber auch
viel kritisiertes – Beispiel dafür stellt die Gemeinschaftsinitiative „Soziale Stadt“ der
Bundesrepublik Deutschland dar, welche mit der Aktivierung von lokalen Akteuren und
Bevölkerungsgruppen in so genannten „Stadtteilen mit erhöhtem Entwicklungsbedarf“ eine
173
Verbesserung der Lebensqualität sowie die Förderung von beruflicher und sozialer
Integration anstrebt (Reutlinger et al. 2005: 18). Hintergrund dafür bildet die Idee einer
‚Verräumlichung sozialer Probleme’ in westlichen Gesellschaften: Während zu fordistischen
Zeiten noch relativ homogene Stadtgesellschaften existierten, erleben wir heute eine Spaltung
der Städte. „Die globale Einbettung führt dazu, dass es (…) zu einem erneutem
Auseinanderdriften von Chancen im Arbeits- und Wohnmarkt, Erreichbarkeit öffentlicher
Einrichtungen und dem Angebot an (Aus-) Bildungschancen, kurz zu einer Spaltung der
Bewohner einer Stadt kommt“ (Reutlinger 2003:19). Die Polarisierung zwischen integrierten
und ausgegrenzten Stadtbewohnenden spiegelt sich in segregierten Stadtteilen wider, von
denen die am stärksten Benachteiligten dann Objekt einer sozialraumorientierten
Sozialpolitik werden (Reutlinger 2003:19-29). Auch wenn das Konzept der ‚Verräumlichung
sozialer Probleme’ tendenziös und teilweise zu wenig differenziert erscheint, gibt es dennoch
Hinweise auf aktuelle Entwicklungen in westlichen Städten.
Innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses zur Sozialen Arbeit hingegen stehen im Bezug
zum Sozialraum räumliche Aneignungs- und Lernprozesse im Mittelpunkt, welche
insbesondere für eine sozialräumliche orientierte Jugend- und Gemeinwesenarbeit genutzt
werden sollten. Böhnisch und Münchmeiers Buch „Pädagogik des Jugendraums“ von 1990
gilt als Ausgangspunkt theoretischer Diskussion und praktischer Implikationen, die auf die
Befähigung und soziale Entwicklung von sozialräumlich eingebetteten Subjekten, in diesem
Fall Jugendliche, abzielen (Spatscheck et al. 2009:1).
Gerade aus sozialpädagogischer Sicht stellen öffentliche Räume für Jugendliche wichtige
Sozialisationsfunktionen bereit, der Sozialraum fungiert als Sozialisationsinstanz: „Die
Jugendlichen sind deshalb gezwungen, sich stärker an sozialräumlichen Kontexten zu
orientieren, in denen sie die traditionalen institutionellen Orientierungsmuster für sich jeweils
neu gewichten, verorten und andere Orientierungsmuster auffinden und einbeziehen können,
um so zu jener personalen und sozialen Identität kommen zu können, welche die
Sozialisationsinstitutionen heute – Ablösungsprozess von der Familie, durch die Schülerrolle,
durch die Arbeiterrolle – nicht mehr herstellen können“ (Böhnisch et al. 1993:52). Weil die
Destrukturierung des biografischen Verlaufs – von der Familie und Schule über Lehre oder
Ausbildung zu beruflicher Selbstständigkeit – durch sozialpolitische Massnahmen nicht
genügend abgefedert werden kann, soll nach den Autoren zumindest die Jugendsozialarbeit
sozialräumliche Angebote als Gegenpol zu den alltäglichen Verunsicherungen der
Jugendlichen aufstellen (Böhnisch et al. 1993:56). Zahlreiche Autoren weisen darauf hin, „dass
sich die Jugendarbeit sowohl im Verstehen der Jugendprobleme, in ihrer pädagogischen
Beziehung zu den Jugendlichen, aber auch in ihrer eigenen institutionellen Verortung
sozialräumlich verstehen muss und kann“ (Böhnisch et al. 1993:11).
Die vorliegende Arbeit ging nicht direkt von einem wie oben angedeuteten sozialen
Problem aus, sondern verfolgte in erster Linie ein forschungstheoretisches Interesse. Dennoch
stellt sich die Frage, wie sich die in dieser Forschungsarbeit gewonnenen Ergebnisse in einen
sozialpolitischen Gesamtkontext stellen lassen und welche Implikationen sich daraus für die
Praxis von Stadtplanung und Soziale Arbeit ergeben können.
174
JUGENDÖFFENTLICHKEIT
Implikationen für die Praxis
Es ist vorwegzunehmen, dass die Ergebnisse weder auf alle Jugendliche noch auf alle
öffentlichen Räume übertragbar sind, da weder von dem einen öffentlichen Raum noch von
der einen Jugend ausgegangen werden kann69. Jugend gibt es zwar als eigene Lebensphase, die
Jugend als einheitliche soziale Gruppe jedoch existiert nicht. Der Geltungsbereich der
Ereignisse ist demnach eingeschränkt. Eine Übertragung auf andere Kontexte scheint in den
folgenden Fällen mehr oder weniger legitim:
Trotz der Auswahl drei sehr unterschiedlicher Untersuchungsgebiete konnten allgemeine
Ausprägungen von Jugendöffentlichkeit herauskristallisiert werden. Somit sind ähnliche
Ergebnisse auch für andere städtische öffentliche Räume zu erwarten. Dies ist deshalb auch
wahrscheinlich, als dass sich die jugendkulturellen Ausdrucksweisen in öffentlichen Räumen
auf Vieles beziehen, dass zumindest westlich geprägten Staaten gemeinsam ist (Kleidung,
Musik, politische Werte, etc.).
Die Übertragung der Ergebnisse auf andere Freizeitkontexte wie Quartierräume oder
Jugendhäuser ist hingegen weniger klar gegeben, weisen doch die jugendlichen Handlungen
für öffentliche Räume spezifische Merkmale auf (insbesondere physische und normative
Aneignung). Andererseits ist vorstellbar, dass Formen der sozialen und symbolischen
Aneignung, die ja für die Jugendöffentlichkeit entscheidender sind, ebenso in anderen
Kontexten in ähnlicher Weise möglich sind. Nimmt man auf die für den öffentlichen Raum
spezifischen Beziehungen zwischen den Aneignungsdimensionen (vgl. Abb. 15) Bezug, dann
ist jedoch nicht von einer vollkommenen Übertragbarkeit auszugehen. Ähnliches gilt auch für
virtuelle Öffentlichkeiten, bei denen beinahe alle untersuchten Aneignungsdimensionen
wegfallen oder anders umgesetzt werden.
Diese Einschränkungen sind bei folgenden Implikationen für die Praxis mitzudenken: Wie
es die Jugendforschung aber auch die gewonnenen Ergebnisse belegen, ist die Jugendphase
von Ambivalenzen und Entwicklung geprägt. Da aus dieser Perspektive öffentliche Räume für
Jugendliche nur als Möglichkeitsräume bedeutsam sind, muss die Stadt- und Raumplanung
darauf Rücksicht nehmen70. Dabei soll und kann es nicht in erster Linie darum gehen,
jugendgerecht zu bauen, auch wenn ein Einbezug der Jugendperspektive in Politik und
Planung wünschenswert ist. Vielmehr gilt es, öffentliche Räume nachhaltig und vor allem
möglichst funktionsentleert zu konzipieren, und somit die Informalität vorhandener
Teilöffentlichkeiten zuzulassen. Nur so können die für die Jugendphase spezifischen
Ambivalenzen ausgehalten und ausgelebt werden, sodass Veränderung und Entwicklung
möglich wird. Dies ist auch deshalb wichtig, weil sich die Qualität öffentlicher Räume nur
subjektiv erfassen lässt, während physische Elemente sekundär sind. Während sich diese
Erkenntnis bei der Planung von Kinderspielplätzen allmählich durchgesetzt hat (vgl. sanu
2011), sollte Ähnliches auch für Jugendliche und ebenso auch für Erwachsene in Betracht
gezogen werden. Sozialpädagogische Interventionen in öffentlichen Räumen sollten deshalb –
wenn sie überhaupt sinnvoll sind – nicht strukturierend, sondern ermöglichend einwirken.
69 Dieser Ausgangspunkt ist einer der wichtigsten Gründe für den Entscheid für ein qualitatives Verfahren.
70 Vgl. dazu Ködelpeter et al. 2008.
175
Generell ist die Pädagogisierung des Bildungs- und Sozialisationspotentials öffentlicher
Räume bspw. als Lernort für schwache Schülerinnen oder als Integrationsraum für
ausländische Jugendliche in diesem Zusammenhang kritisch zu beleuchten. Zwar können
öffentliche Räume als Interaktionsorte einen wichtigen Beitrag zur Integration und Bildung
der Gesellschaft leisten. Integration oder Lernen ist in Anbetracht der Ergebnisse jedoch nicht
in erster Linie auf der Basis von Interaktion zwischen Fremden zu denken, sondern vor allem
als gelungene und emanzipierte Auseinandersetzung jedes Einzelnen mit den
gesellschaftlichen Werten, Normen und Symbolen, die ihm im öffentlichen Raum begegnen.
Die Qualität öffentlicher Räume liegt in eben diesem nicht-pädagogischen sondern
selbstbestimmten Umgang mit Öffentlichkeit.
Zukünftige Forschungsdesiderata
Sozialforschung, die solche Phänomene aus einem ‚neutralen’ Standpunkt beleuchten kann,
hilft in diesem Zusammenhang, die subjektive Wahrnehmung und Sinngebung herrschenden
(pädagogischen) Meinungen gegenüberzustellen, und kann Aufschluss darüber geben, wie mit
den Wünschen und Bedürfnissen der Untersuchten in der Gesellschaft umgegangen wird.
Dennoch bleiben nach einer Erhebung meist mindestens so viele Fragen offen wie
beantwortet wurden, weshalb im Folgenden mögliche Forschungsvorhaben angesprochen
werden sollten.
Wie die Darstellung der Ergebnisse aufgezeigt hat, spielt der Respekt gegenüber den
Nutzergruppen öffentlicher Räume eine wichtige Rolle. Weitere Studien in öffentlichen
Räumen sollten demnach diese zentrale ‚Währung’ von Anerkennung und Ablehnung noch
stärker berücksichtigen, weil sich aus dieser Thematik auch Antworten auf die Fragen zur
Identitätsentwicklung Jugendlicher ableiten lassen.
 Generell konnte in dieser Arbeit die Bedeutung öffentlicher Räume für die
Identitätsformung nur am Rande behandelt werden. Es kann davon ausgegangen
werden, dass Chancen und Restriktionen der Aneignung in öffentlichen Räumen auch
die Erfahrung von Selbstwirksamkeit beeinflussen, welche wiederum einen zentralen
Faktor im Identitätsbildungsprozess darstellen kann (vgl. Klamt 2007, James 1986).
 Ebenso wurden mögliche Bildungsprozesse in öffentlichen Räumen angesprochen,
jedoch nicht explizit behandelt. Da aber Aneignung als gruppenbezogene
Auseinandersetzung mit der Umwelt implizit auch auf mögliche Bildungsprozesse in
öffentlichen Räumen Bezug nimmt (vgl. Deinet 2004, Scherr 2004), wird viel über
mögliche Lernprozesse in öffentlichen Räumen gesprochen, die Aussagen bleiben
jedoch meist vage und bedürfen einer fundierteren Auseinandersetzung. Dabei könnte
ebenso das Konzept einer räumlichen Kompetenz (vgl. Lussault et al. 2010) von
Bedeutung sein.
 Ein interessanter Teilbereich stellt in diesem Zusammenhang auch die politische
Sozialisation in öffentlichen Räumen dar. Während im Allgemeinen nur diejenigen
Handlungen als politisch bezeichnet werden, die in direktem Zusammenhang mit dem
politischen System oder mit politischen Forderungen stehen, gehen einige Autoren
davon aus, dass ebenso alltägliche Praktiken Ausdruck politischer Machtverhältnisse
sind bzw. dazu imstande sind, politische Veränderungen einzuleiten (vgl. de Certeau
176
JUGENDÖFFENTLICHKEIT


2002). Demnach können öffentliche Räume als Plattform zur politischen Sozialisation
fungieren, beispielsweise in der Form vom Erproben sozialer Rollen oder dem
Austragen von Konflikten. Inwiefern öffentliche Räume so auch eine Chance zur
Demokratisierung und politischen Bewusstseinsbildung von Jugendlichen darstellt, ist
eine relevante Fragestellung.
Während die Ergebnisse auf eine ausgeprägte Orientierung an lokalen Kontexten
hinweisen, bleiben die Auswirkungen der Globalisierung unserer Gesellschaften auf
die jugendliche Aneignung öffentlicher Räume unerforscht. Die Untersuchung der
Positionierung von Jugendöffentlichkeit zwischen dem Lokalen und Globalen
(Glokalisierung, vgl. Böhret 2010) stellt ein zukunftsgerichtetes Forschungsdesiderata
dar.
Schliesslich wäre aufgrund der Schnelllebigkeit von Jugendkultur eine
Längsschnittuntersuchung anzustreben, mit welcher Aussagen zu Veränderungen von
Jugendöffentlichkeit im Wandel der Gesellschaft gemacht werden können. In einem
solchen Forschungsvorhaben wird man sich dann auch den Fragen widmen können,
welches Innovationspotential von der jugendlichen Generation ausgeht und welcher
Zusammenhang zwischen den Ausprägungen von Jugendöffentlichkeit und
gesellschaftlichen Werten oder Diskursen besteht.
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