Dichte - Eine transdisziplinäre Dekonstruktion. Diskurse

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Nikolai Roskamm
Dichte
Urban Studies
Nikolai Roskamm (Dr. phil.) arbeitet am Institut für Stadt- und Regionalplanung der TU Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind
Raum- und Stadttheorien, Stadtplanung und urbane Aneignungsprozesse.
Nikolai Roskamm
Dichte
Eine transdisziplinäre Dekonstruktion.
Diskurse zu Stadt und Raum
Zugleich Dissertation an der Fakultät für Architektur der BauhausUniversität Weimar
Die Veröffentlichung wurde gefördert durch eine Publikationsbeihilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
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Umschlaggestaltung: Anke Fesel, capadesign
Lektorat & Satz: Nikolai Roskamm
Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar
ISBN 978-3-8376-1871-6
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem
Zellstoff.
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Inhalt
Einleitung
|9
| 19
1 Dichte, Stadt und Gesellschaft
1.1
1.2
1.3
Durkheims Dichte | 19
Ein Stadtbaustein | 36
Renaissance der Dichte
| 47
| 59
Masse und Massenpsychologie
Über Distanz | 69
Crowding | 73
2 Dichte und Individuum
2.1
2.2
2.3
| 59
Reflexion (I)
| 87
| 97
Erfindung der Dichte | 97
Der Diskurs ›Volk ohne Raum‹ | 108
Alter Kontext, ohne Kontext | 117
3 Dichte und Raum
3.1
3.2
3.3
| 131
Bewertungssysteme | 131
Der Diskurs ›Raum ohne Volk‹
Obsolete Dichte | 155
4 Dichte und Bevölkerung
4.1
4.2
4.3
| 169
Raumordnung | 169
Blütezeit | 179
Institutionalisierte Dichte
| 147
5 Dichte und Ordnung
5.1
5.2
5.3
| 195
Reflexion (II)
| 213
| 225
Wurzeln der Debatte | 225
Der Diskurs der Architekten | 247
Aufgelockerte Stadt | 262
6 Dichte und Städtebau (Teil 1)
6.1
6.2
6.3
| 279
Das Maß der Nutzung | 279
›Urbanität durch Dichte‹ | 299
Rettung der Dichte | 315
7 Dichte und Städtebau (Teil 2)
7.1
7.2
7.3
Schluss: ›Dichte‹
Verzeichnisse
| 339
| 349
Reflexion (III)
| 327
»Indeß ist diese Dichtigkeit etwas Relatives.«
KARL MARX 1867
»In keinem modernen Lande der Welt ist das Waldgefühl so lebendig
geblieben wie in Deutschland. Das Rigide und Parallele der
aufrechtstehenden Bäume, ihre Dichte und ihre Zahl erfüllt das Herz des
Deutschen mit tiefer und geheimnisvoller Freude.«
ELIAS CANETTI 1960
»Sowohl der Städtebau als auch die Landesplanung haben als vornehmstes
Ordnungsziel die Erreichung einer optimalen Nutzung des Raumes, also
auch einer optimalen Dichte.«
OLAF BOUSTEDT 1975
»Die Reaktionen auf hohe Dichte variieren von Spezies zu Spezies; häufig
führt eine hohe Dichte zur Abgrenzung von Territorien und zu einer
erhöhten Sterblichkeit, wodurch sich die Dichte verringert.«
JÜRGEN FRIEDRICHS 1977
»Man gewinnt den Eindruck, daß Angaben zur Bevölkerungsdichte in die
Klasse der Auskünfte von nutzloser Richtigkeit gehören, deren Erwähnung
hochgradig ritueller Natur ist: Ihre Kenntnis dient weder der Beantwortung
einer drängenden Frage, noch löst sie eine aus.«
CLAUS HEIDEMANN 1992
»Dichte steht am Ursprung allen menschlichen Siedelns. (…) Dichte ist also
allgemein gleich Stadt und Stadt gleich Dichte.«
VITTORIO LAMPUGNANI 2004
»Dichte ist das Hauptmerkmal unserer Weltform.«
PETER SLOTERDIJK 2006
Einleitung
Der Begriff ›Dichte‹ ist in vielen gegenwärtigen Debatten präsent. Überall
dort, wo die Stadt und das Urbane die Themen sind, ist der Begriff selbstverständlicher Bestandteil von Beschreibungen, Erläuterungen, Thesen und
Zielformulierungen. Wenn etwa darüber nachgedacht wird, was Stadt zur
Stadt oder was Gesellschaft zur Gesellschaft macht, wenn räumliche, soziale
oder ökonomische Strukturen von Ländern, Regionen, Städten oder Quartieren erforscht, wenn die Auswirkungen von räumlichen Gegebenheiten auf
das Empfinden von einzelnen Personen oder Personengruppen untersucht
werden, wenn über die Ausgestaltung von städtebaulichen Projekten und ihre sozialen oder ökologischen Folgen verhandelt und nicht zuletzt wenn
über planerische Ziele und Leitbilder diskutiert wird, immer dann ist die
Rede von ›Dichte‹. Aber nicht nur in gegenwärtigen, auch in vergangenen
Debatten findet sich der Begriff mit großer Regelmäßigkeit und an zentraler
Stelle: Vor allem im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert wurde ›Dichte‹ als Schlüsselbegriff in sehr unterschiedlichen Diskursen der Soziologie,
der Geographie, der Nationalökonomie und des Städtebaus verwendet, insbesondere als Merkmal und Ursache von gesellschaftlicher und volkswirtschaftlicher Entwicklung, als Inbegriff für soziale, gesundheitliche und sittliche Missstände in den Großstädten, als Leitterminus für die räumliche Planung im regionalen und nationalstaatlichen Maßstab oder als instrumenteller
Bestandteil von städtebaulichen Regeln und Gesetzen.
Ursprünglich ist ›Dichte‹ ein Begriff der Grundwissenschaften Philosophie und Physik, die bis zu Beginn der Neuzeit als Einheit betrieben wurden. Seine naturwissenschaftliche Definition wurde dem Ausdruck ›Dichte‹
– im Zuge der Verselbstständigung der Physik als eigene abgegrenzte Wissenschaftsdisziplin – in der Philosophiae Naturalis Principia Mathematica
von Isaac Newton gegeben. Newtons ›physikalische Dichte‹ hat seitdem einen festen Platz als analytische Kenngröße für empirisch messbare stoffliche Eigenschaften und wird bestimmt als Quotient aus Masse und Volumen
(bezogen auf einen materiellen Stoff). In dieser Arbeit geht es jedoch um eine andere ›Dichte‹. Gegenstand meiner Untersuchung ist ein Dichtebegriff,
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der von seiner naturwissenschaftlichen Bestimmung in zweifacher Weise
abgegrenzt ist: definitorisch und kontextuell. Einerseits wird der hier behandelte Dichtebegriff definiert als das Verhältnis von einer Anzahl von Menschen zu einer Flächeneinheit (bezogen auf einen konkreten Ort). Die so bestimmte ›Dichte‹ beinhaltet eine soziale Komponente (die Anzahl von Menschen) und einen räumlichen Bezug (den Ort), womit gleich zu Beginn zwei
im Vordergrund dieser Arbeit stehende Themen genannt sind. Andererseits
wird die Unterscheidung zur ›physikalischen Dichte‹ über den Kontext bestimmt, in dem der Begriff verwendet wird: Thema meiner Untersuchung ist
der Dichtebegriff der Sozial-, Planungs- und Bevölkerungswissenschaften.
Mit dieser zweiten Abgrenzung wird der Untersuchungsbereich erweitert.
Neben die Bevölkerungsdichte (die durch die angegebene Grundformel definiert worden ist) rücken damit weitere Dichtebegriffe in das Erkenntnisinteresse, etwa die ›bauliche Dichte‹ des Städtebaus oder die ›soziale Dichte‹ der Soziologie (die ohne eine solche Erweiterung aus dem von der Bevölkerungsdichtedefinition vorgegebenen Raster herausgefallen wären).1
Der physikalische und der hier verwendete räumliche/sozialwissenschaftliche Dichtebegriff unterscheiden sich auch dadurch voneinander, dass ersterer »kontextfrei definierbar« ist, während letzterer ohne Angaben der »situativen Bezugsgrößen« ohne Aussage bleibt (Heidemann 1975, 23). Isoliert
betrachtet ist der sozialwissenschaftliche Dichtebegriff »inhaltsleer« (Spiegel 2000, 39), für sich alleine genommen bleibt ›Dichte‹ eine Kategorie ohne selbstständigen Bedeutungsgehalt, eine Ausführung ohne Folge, ein Behälter ohne Inhalt. Das ändert sich allerdings, wenn ›Dichte‹ in den Kontext
ihrer Verwendung gestellt wird. Da ›Dichte‹ nicht »aus sich selbst heraus
existiert«, wird sie aus dem »aufeinander Bezogensein bestimmter Einheiten« konstituiert, und dabei zur Metapher, beladen mit Bedeutungen und
transparent für »dahinter stehende Wertvorstellungen« (Gerberding-Wiese
1968, 1f.). Beim Gebrauch von ›Dichte‹ – als Bestandteil von Analysen,
Theorien, Programmen – wird also der inhaltsleere Behälter aufgefüllt: mit
Haltungen, Erzählungen, Erklärungen, Interpretationen. Die Betrachtung
dieser Gebrauchspraxis macht ›Dichte‹ als ein Konstrukt lesbar, mit dem
Inhalte transportiert werden (und genau dafür sind Behälter ja bekanntlich
auch da).
Die Gebrauchspraxis der ›Dichte‹ besteht aus einem komplexen Inund Nebeneinander der quantifizierenden und qualifizierenden Anwendungen des Begriffs. Erstens gibt es die (quantitative) Zahlenangabe von ›Dichte‹. Eine solche Angabe stellt einen fiktiven Wert dar, der in der Realität
nicht vorkommt: Die gleichmäßige Verteilung der Menschen im Sinne er1
Im Folgenden wird der auf diese Art abgegrenzte Dichtebegriff als ›Dichte‹ gekennzeichnet.
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rechneter Bevölkerungsdichte ist nirgends wirklich vorhanden (Wilhelmy
1966, III 114). Um exakte Vergleichsmöglichkeiten der Dichtewerte zu erhalten, erfolgt bei der Angabe von Dichtewerten zudem eine Reduzierung
auf die Ziffer ›Eins‹ – auf einen Hektar, auf einen Quadratkilometer et cetera (Gerberding-Wiese 1968, 15). Die quantitative ›Dichte‹ ist also eine Fiktion und eine Reduktion, und sie ist auch eine Abstraktion: Wer die Bevölkerungszahl in ein Verhältnis mit der Flächengröße setzt (oder auch die Geschossfläche mit der Grundstücksfläche) abstrahiert dabei auf eine vermittelnde Darstellungsebene. Schon die quantitative Dichteverwendung ist damit eine auf verschiedene Arten konstruierte Gebrauchsform. Zweitens lässt
sich eine qualitative Anwendungsebene unterscheiden. Zur (qualitativen)
Metapher wird ›Dichte‹, wenn sie nicht als konkreter Zahlenwert angegeben
wird, sondern die Rede von der ›Dichte‹ ist. Die ›Dichte der europäischen
Stadt‹, die ›zu hohe Dichte‹ in den Arbeitervierteln der industrialisierten
Stadt des 19. Jahrhunderts, die ›geringe Dichte‹ der Vorstadt – all das sind
Beispiele für Dichteverwendungen, hinter denen sich komplexe und normative Begründungskonstruktionen verbergen, die mit dem Begriff metaphorisch zum Ausdruck gebracht werden sollen. Wenn die Rede nicht von
›Dichte‹, sondern von der ›Dichte‹ ist (respektive nicht über ›Dichte‹, sondern über die ›Dichte‹ geredet wird), drücken sich damit regelmäßig eine
Personifizierung des Begriffs und/oder die Behauptung einer eigenen Materialität von ›Dichte‹ aus. Der Ausdruck ›dichte Stadt des 20. Jahrhundert‹
etwa verbindet die beiden Begriffe der ›Einwohnerdichte‹ und der ›baulichen Dichte‹ zu einem Gesamtpaket, dem ein eigenständiger Bedeutungsgehalt zugeschrieben wird. Solche metaphorischen Konstruktionen von ›Dichte‹ und die sich jeweils dahinter verbergenden (oder auch deutlich postulierten) Absichten stehen im Mittelpunkt meines Interesses.2 Die qualitative
Gebrauchsform und die quantitative Verwendung stehen dabei insgesamt in
einem engen Wechselverhältnis. Die quantitative Dichteangabe wird durch
den metaphorischen Bedeutungszusammenhang inhaltlich aufgewertet, die
metaphorische Dichtenennung erlangt durch die Berechenbarkeit ihres
quantitativen Gegenstücks an (natur)wissenschaftlichem Gehalt. ›Dichte‹ ist
2
Wenn im Folgenden auch in dieser Arbeit ausführlich von ›der Dichte‹ berichtet
werden wird, dann soll damit keine neue Form der Personifizierung und Materialisierung betrieben, sondern auf eine jeweilig bestehende Gebrauchspraxis und
deren diskursiver Konstruktionsform Bezug genommen werden (also etwa auf
die ›Erfindung der Dichte‹ im geographischen Dichtediskurs des 19. Jahrhunderts oder auf eine ›Renaissance der Dichte‹ im aktuellen stadtsoziologischen
Kontext). Allerdings ist zu vermerken, dass natürlich auch meine Rede von ›der
Dichte‹ eine Konstruktion ist und an der »kulturellen Praxis der Bedeutungsproduktion« (Lippuner 2005, 207) teilnimmt.
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D EKONSTRUKTION
– so könnte man es vielleicht formulieren – eine potentiell berechenbare
Metapher.
Die Rede von der ›Dichte‹ ist immer ein Konstrukt. Die meiner Untersuchung zugrunde liegende These lautet, dass dieses Konstrukt auf zwei
verschiedene Weisen konstruiert wird: zum einen durch die jeweilige Definition des Begriffs, zum anderen durch die jeweilige Gebrauchspraxis. Aus
dieser Annahme ist der Ansatz für meine Vorgehensweise abgeleitet. In einer historisch-kritischen Analyse sollen anhand von exemplarischen Texten
vergangene und gegenwärtige Theorien und Debatten betrachtet und das
dortige Verständnis und die dortige Gebrauchspraxis der ›Dichte‹ dargestellt, interpretiert und diskutiert werden, um dabei gemeinsame und gegenläufige Argumentations- und Erklärungsmuster und deren Schärfen, Unschärfen und Widersprüche herauszuarbeiten. Ziel ist es, die Konstruktion
von ›Dichte‹ zu zeigen, die Hintergründe und Motive dieser Konstruktionspraktiken zu erkennen. Dieser Ansatz soll einerseits zu einem besseren Verständnis des komplexen Begriffs ›Dichte‹ beitragen, andererseits soll dadurch aber auch der jeweilige Kontext selbst (in dem das Konstrukt verwendet wird) besser verstanden werden. Der Begriff ›Dichte‹ ist dabei ständiger
Bezugspunkt des Erkenntnisinteresses, und er bildet den roten Faden, der
durch die verschiedenen Diskurse leitet. ›Dichte‹ ist damit zum einen der
Forschungsgegenstand, zum anderen übernimmt der Begriff auch eine methodische Funktion: Das Konstrukt bildet den Zugang zu den diskursiven
Problemlagen, den Mittler, Fokus und Filter für die unterschiedlichen Debatten und Theorien.
Im Untertitel meines Textes wird eine Dekonstruktion angekündigt.
Der Begriff Dekonstruktion geht zurück auf Jaques Derrida (1930-2004)
und auch die Versuche, den Begriff in anderen Disziplinen in Gebrauch zu
nehmen (etwa in der Architektur, vgl. Eisenman 1989), beziehen sich sämtlich auf den französischen Denker. Dekonstruktion ist im engeren Sinne
weder eine Theorie noch eine Methode, sondern eher als eine philosophische Haltung zu bezeichnen. Dabei entzieht sich der Begriff konsequent einer exakten eigenen Definition, Derrida selbst hat eine explizite Begriffsbestimmung stets vermieden. Für meine Arbeit steht die Wahl des Begriffs
Dekonstruktion für einen kontingenten Denkansatz, der wie folgt beschrieben werden kann: »Alle was man von einem dekonstruktivistischen Standpunkt versucht zu zeigen, ist, daß Konventionen, Institutionen und der Konsens Stabilisierungen sind [...], das heißt, daß sie Stabilisierungen von etwas
grundsätzlich Instabilem und Chaotischem sind« (Derrida 1999, 185). Zudem lassen sich aus der Verwendung des Dekonstruktionsbegriffs einige
Prämissen ableiten, die die Vorgehensweise in meiner Untersuchung konk-
E INLEITUNG | 13
retisieren.3 Erstens ist der Startpunkt von Dekonstruktion die »Frage nach
dem Bedeutungsgeschehen« (Bertram 2002, 81). Bedeutungsgeschehen liegt
dort vor, wo etwas Bedeutung gewinnt. Antworten sind aus dem gegebenen
Bedeutungsgeschehen heraus zu geben, in das die Frage selbst involviert ist.
Dekonstruktion beginnt nach Bertram damit, dass ein »Begriff des Zeichens« expliziert wird, der von der »Praxis von Zeichen in gegebenen Texten und Diskursen« ausgeht« (ebd. 85). Dekonstruktion bedeutet also, »in
den Texten selbst« zu beginnen und auch, dass Texte überhaupt »in hohem
Maße ernst genommen« werden (ebd. 18). Zweitens folgt als Arbeitsansatz
eine Rekonstruktion von Strukturen, wie sie sich von den Zeichen her ausbilden. Dabei gewinnt insbesondere der Begriff Kontext an Relevanz. Drittens, so führt Bertram weiter aus, ist das Ergebnis von Dekonstruktion eine
Vereinfachung. Dekonstruktion wird letztlich für das »Geltendmachen eines
großen Zusammenhangs« verwendet (ebd. 136). Auf diesen drei Grundlegungen von Dekonstruktion baut meine Arbeit auf. Erstens steht am Beginn
meiner Untersuchung der Ansatz, ›Dichte‹ als Text zu betrachten, als gedankliche Konstruktion, als begriffliches Konzept. Im Mittelpunkt meiner
Untersuchung steht damit das generierte Bedeutungsgeschehen, also die
Zuweisung von Bedeutungen in den verschiedenen Dichtetexten und Dichtediskursen. Zweitens sind sowohl die Rekonstruktion von Strukturen als
3
Ich folge hier der Argumentation von Georg W. Bertram, der den Fragen nach
den »Axiomen der Dekonstruktion« nachgeht, wohlwissend, dass ein solches
Vorhaben den SympathisantInnen dekonstruktiver Theoriebildung wie Unverstand klingen muss und dass Derrida in seinen Texten kein Interesse gezeigt hat,
die »Verbindung in den eigenen Denkbewegungen systematisch aufzuarbeiten«
(Bertram 2002, 17f.). Bertram postuliert jedoch, dass es in jedem Fall legitim sei,
die Fragen nach den Grundlagen dekonstruktiver Philosophie zu stellen: Dekonstruktion sei keine Philosophie, die »dem Verstehen widerspricht« (ebd. 22). Bertrams Versuch wird innerhalb der Debatte um Derrida und Dekonstruktion zwar
einerseits kritisiert, da er die Dekonstruktion »bis zur Lehrbarkeit« systematisiere, was ein Unterfangen darstelle, dem sich Derrida immer verweigert habe
(Baum 2008, 27f.). Andererseits wird Bertrams Text jedoch (von gleicher Seite)
als der »bisher womöglich überzeugendste Versuch der Systematisierung und
Vermittlung dekonstruktiver Theorie« gewürdigt (ebd.). Zudem lässt sich – sowohl hinsichtlich Bertrams Systematisierung als auch bezüglich meines Gebrauchs des Dekonstruktionsbegriffs – mit Derrida selbst argumentieren, der die
Hoffnung formuliert, dass die »politische Linke an den Universitäten« mit der
Dekonstruktion arbeite und dass sie dabei »in erhöhtem Maße« politisch werde
(Derrida 1999, 190). Schließlich schreibt Derrida: »Und ich bestehe darauf, daß
jeder dieses Motiv [der Dekonstruktion] benutzen kann, wie es ihm gefällt [...]«
(ebd. 189).
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auch ein starker Kontextbezug zentrale und aus dem Dekonstruktionsbegriff
ableitbare Motive meiner Arbeit. Ansatz der Analyse ist es, den Dichtebegriff vor dem Hintergrund von sechs unterschiedlichen disziplinären Kontexten (s.u.) zu untersuchen und zu rekonstruieren. Schließlich ist drittens
auch das Moment der Vereinfachung ein Fundament meines Textes: Die
Vorgehensweise, mit dem Fokus auf einen Begriff ein übergreifendes und
neues Verständnis (der ›Dichte‹ und der Dichtekontexte) zu gewinnen, ist
nichts anderes als der Versuch, einen großen Zusammenhang geltend zu
machen.
Darüber hinaus wird mit der Verwendung des Begriffs Dekonstruktion
ein diskursanalytischer Zugang gewählt. Auch aus dieser Wahl lassen sich
einige Prämissen für mein Vorgehen ableiten. Diskursanalytische Studien
bilden eine noch relativ junge Tradition konstruktivistischer Forschungsansätze in den Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Ziel solcher Analysen ist es zu untersuchen, mit welchen sprachlichen Codes, Assoziationen
und Bewertungen innerhalb der Diskurse gearbeitet wird und »welche normativen Setzungen« dabei erfolgen, mithin welche impliziten, unthematischen oder verschwiegenen, sprachlichen oder institutionellen Voraussetzungen zum Gegenstand werden, die »aus Äußerungen einen ›Diskurs‹ machen« (Laugstien 1995, 727). Dabei wird ein Verständnis von ›Diskurs‹ als
»Sprachspiel von handelnden Akteuren« respektive als »Gesamtheit von
Regeln, die einer Praxis immanent sind« zugrunde gelegt (Foucault nach
Hesse 2008, 416). Die Akteure von ›Diskursen‹ geben sich allgemein akzeptierte Regeln, die bestimmen, was wie gesagt werden darf und was nicht.
Über das Spiel mit diesen Regeln wird Deutungsmacht ausgeübt und es
werden materielle Prozesse beeinflusst: Praxis geht immer ein Diskurs voraus (Hesse 2008, 416f.). Eine diskursive Analyse hat folglich die Absicht,
»strukturelle, handlungsleitende Muster gesellschaftlicher Praxis« zu identifizieren, wobei das Ziel »zumindest nicht primär« die Suche »nach der
›richtigen‹ Orientierung für die Zukunft« ist, sondern zunächst das Herausarbeiten von »konkurrierenden Auffassungen und Bewertungen« in Gegenwart und Vergangenheit (ebd.). Bei einer diskursanalytischen Studie sind
die Objekte der Erkenntnis nicht passiv zu registrieren, sondern sie müssen
erst selbst rekonstruiert werden. Der diskursanalytische Zugang verlangt dabei eine »stete Bemühung um Reflexivität«, die wiederum selbst die permanente Auseinandersetzung mit den eigenen Begriffen und Klassifizierungen
sowie eine »epistemologische Wachsamkeit« erfordert, die sowohl die eigenen Konstruktionsprinzipien im Auge behält als auch fortlaufend die strukturierende Praxis mit analysiert (Lippuner 2005, 190). Die reflexive Praxis
produziert somit kein »solides theoretisches Fundament, kein zeitüberschreitendes theoretisches Vokabular«, sondern einen »theoretischen Ort der Pro-
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