WIST KONSTRUKTIVISMUS UND DIE SOKRATISCHE METHODE DER MAIEUTIK - Versuch über konstruktive Fragen zur Ethik - von Peter Müssen Beitrag zu DELFIN 1995 Konstruktivismus und Ethik Herausgegeben von Gebhard Rusch und Siegfried J. Schmidt Frankfurt a.M. - Suhrkamp 2 1 DIE 'WIE'-FRAGE IM KONSTRUKTIVISMUS Von welcher der vielen möglichen Zugangsweisen aus auch immer der Einstieg in den Konstruktivismus unternommen wird, eine der grundlegend-konvergenten Einsichten, die dabei gewonnen werden kann, wird sicherlich die sein, die S.J. Schmidt in Form einer Empfehlung ausspricht: "Es empfiehlt sich, von Was-Fragen auf Wie-Fragen umzustellen; denn wenn wir in einer Wirklichkeit leben, die durch unsere kognitiven und sozialen Aktivitäten bestimmt wird, ist es ratsam, von Operationen und deren Bedingungen auszugehen statt von Objekten oder von der 'Natur'."1Zu dieser Empfehlung kommt es durch folgende, in aller Kürze resümierten Überlegungen: Jedes Handeln des Menschen vollzieht sich in Relation und Abhängigkeit von Systemen, die als beschriebene ihrerseits die Beobachterperspektiven jenes gewählten Ansatzes reflektieren, durch den sie beschrieben werden.2 Wahrnehmung geschieht aus konstruktivistischer Sicht immer auf dem Territorium von präformierten Landkarten, deren Legende die Ingredienzen phylogenetischer, sozialer und kultureller Herkunft indiziert. Diese formalobjektlichen Determinanten jeder Wahrnehmung, ob auf der Ebene von Beobachtungen erster oder zweiter Ordnung, bestimmen als Interpretationsrahmen das, wie auch immer zu verstehende Materialobjekt der Wahrnehmung. Gegen kognitivistische Verkürzungen ist zu berücksichtigen, daß es sich bei den dabei generierten Konstrukten, auch den wissenschaftlichen!, um Ergebnisse systemischer Prozesse handelt, in die alle Ebenen des Menschen, vor allem auch die emotionalen, involviert sind.3 Der konstruktivistische Aufmerksamkeitsfokus sollte sich demnach auf die "konkreten Prozesse von Kognition und Kommunikation, ihre Bedingungen, Regeln und Kriterien"4 verlagern. Drei Formen von Wie-Fragen möchte ich hier herausgreifen: Die Strategie von Wie-Fragen kann erstens auf die grundsätzlich-allgemeinen Fragen von Kognitionsund Kommunikationsprozessen zielen und dabei zu Aussagen wie denen im vorausgehenden Absatz führen. Die Frage würde hier lauten: Wie und unter welchen Bedingungen prozessieren menschliche Systeme, wenn Kognition oder Kommunikation beobachtbar ist? Zweitens können sich Wie-Fragen auch auf die Strategien von als konstruktiv-effizient bewerteten Kommunikations- und Konstruktionsverläufen beziehen. Hier könnte die leitende Fragestellung zweifach lauten: a. (deskriptiv) Wie prozessieren und interagieren menschliche Systeme in Fällen von, im Hinblick auf bestimmte Ziele besonders gelungenen Kommunikationen oder Konstruktionen? b. (normativ) Wie sollten menschliche Systeme im Hinblick auf bestimmte Ziele prozessieren und interagieren? Die Antworten auf die deskriptive Frage ermöglichen dann die Modellierung von Strategien, während Antworten auf die normative Frage (vor dem Hintergrund von Antworten auf die Wie-Fragen des ersten Typs) zu Empfehlungen führen können, wie sie z.B. Schmidt formuliert hat. 1 Schmidt, S.J. (1994) Kognitive Autonomie und soziale Orientierung. Konstruktivistische Bemerkungen zum Zusammenhang von Kognition, Kommunikation, Medien und Kultur. Frankfurt a.M. S.15. 2 Hier wären vor allem die biologisch-neurobiologische, die kybernetische, die philosophische, die psychologische und die 3 soziologische Perspektiven zu nennen. Mir erscheint es lohnend, in diesem Zusammenhang das Habitus-Konzept Bourdieus zu erinnern. Vgl. hierzu Müssen, P. (1995a) "Variatio delectat" - Lebenskunst als Ethik und Therapie am Beispiel von Michel Foucault und Steve de Shazer. Erscheint demnächst in: Systeme. Interdisziplinäre Zeitschrift für systemtheoretisch orientierte Forschung und Praxis in den Humanwissenschaften. 4 Schmidt, S.J. (1994) S. 43. 3 Drittens kann die Wie-Frage aber auch einen konkreten, individuellen Einzelfall befragen, um so zu einer idiographischen Systemprozeßmodellierung5 zu gelangen. Die Fragerichtung lautet in diesem Fall: Wie genau machst du das, wenn du beispielsweise ein bestimmtes Problem erzeugst? Was sind etwa genau die Bedingungen und Folgen eines Vollzuges dissoziierter Beobachtung von einer MetaMeta-Position bei dir? Das punctum saliens dieser Frage liegt darin, daß hier nicht mehr Antworten aus einer dissoziierten Beobachterposition, sondern vielmehr aus einer assoziierten Selbstbeobachtung heraus gegeben werden6. Es bleibt ja zu berücksichtigen, daß der dissoziierende Prozeß der Verobjektivierung von Operationen und Prozessen selbst ein assoziierter ist, der als individueller nur teilweise mit verallgemeinernden Beobachtungen hinreichend beschrieben werden kann. Der Weg des Fragens soll uns jetzt vor dem Hintergrund dieser Unterscheidungen über folgende Stationen führen: Ich wähle als Einstieg das konkrete Beispiel des griechischen Philosophen Sokrates, um seine philosophische Ethik auf ihre - von vielen Betroffenen als faszinierend empfundene - Methode hin zu befragen. Die Maieutik, d.h. Hebammenkunst, um die es dabei geht, werde ich dann weiter auf ihre Prinzipien und ihre, aus meiner Sichtweise formulierten, Implikationen hin untersuchen: Was genau tut Sokrates, wenn er fragt? Hierbei sollte auch deutlich werden, daß die Frage überhaupt eine dem Konstruktivismus besonders naheliegende Kommunikationsform darstellt, weil sie die kooperativkonsensuelle Erzeugung neuer Realitäten fördert. In einem zweiten Schritt werde ich versuchen, das Modell sokratischer Maieutik in der Frage nach dem Wie des Konstruktivismus im Dialog mit externen bzw. internen Kritikern und im interdisziplinären Dialog auf meine Weise anzuwenden, um dann drittens auf die Möglichkeiten fragender Maieutik im Rahmen von Ethik zu kommen. 2 MAIEUTIK - ODER: DIE FRAGE NACH DEM 'WIE' DER FRAGEN DES SOKRATES Von der Fensterbank vor meinem Schreibtisch aus schaut mich ein knollnäsig-bärtiger Sokrates an seine legendären spindeldürren O-Beine und sein Kugelbauch werden durch ein langes Gewand diskret verborgen -, und mir will fast scheinen, daß ihm die Frage auf den Lippen liegt, was ich denn Aufschreibenswertes über Ethik wisse. Er selber soll ja von sich gesagt haben, daß er nichts wisse, das er aufschreiben könne; ja er wisse eigentlich nur, daß er nichts wisse. Es mag sein, daß er sich selbst für gar keinen so guten Gewährsmann halten würde, auf den ich mich da in einem Beitrag zum Thema 'Konstruktivismus und Ethik' beziehen will; zumindest wenn man der kleinen Anekdote in Nietzsches Götzendämmerung7glaubt, wonach ein Ausländer, der sich auf das Deuten von Gesichtern verstand, dem Sokrates bei einem Besuch in Athen gesagt haben soll, er berge alle schlimmen Laster und Begierden in sich und Sokrates bloß geantwortet habe: "Sie kennen mich, mein Herr!" 5 Vgl. zur 'idiographischen Systemmodellierung' Schiepek, G. (1986) Systemische Diagnostik in der Klinischen Psychologie, Weinheim / München. 6 Die Relevanz dieser Unterscheidung entnehme ich dem NLP; dort wird systematisch mit diesen verschiedenen Positionen gearbeitet. 'Assoziiert sein' bedeutet, daß sich die Person ganz und gar in einem Erlebnis befindet, aktuell oder in der Erinnerung, und es leibhaft mit allen Sinnen empfindet. In der 'dissoziierten Position' ist diese ganzheitliche persönliche Beteiligung an einem Erleben nicht gegeben; es wird von außen als Beobachter wahrgenommen. Natürlich bleibt zu berücksichtigen, daß auch bei einer assoziierten Selbstbeobachtung und deren Versprachlichung die Subjekt-ObjektTeilung wieder vollzogen wird; sie ist transzendental notwendig für jedes Sprechen und wird im folgenden jeweils vorausgesetzt. 7 Vgl. F. Nietzsche, Götzendämmerung, Das Problem des Sokrates 3. 4 Und es mag auch sein, daß sich hinter dieser Antwort die leise Ironie der weisheitlich-realistischen Einsicht in die Vielschichtigkeit der eigenen Persönlichkeitsstruktur verbirgt, aus der heraus sich für Sokrates gerade die Notwendigkeit einer 'epiméleia heautou', einer 'Sorge um sich' ergibt, d.h. der Ethik.8 Deshalb geht er auf die Markt- und Sportplätze Athens und betreibt dort sein philosophisches Geschäft des Fragens. Und Sokrates fragte so radikal, daß er sich den Spitznamen 'Bremse von Athen' einhandelte. Die Frage war sein pädagogisches Mittel, mit dem er die Menschen in ihrer Selbstsicherheit verstörte und so zu neuer Selbsterkenntnis führte. Der Maxime des Delphischen Orakel 'gnothi seauton'9 folgend, die für Sokrates im Kontext der Maxime der 'Sorge um sich selbst' steht, will er durch Fragen seinen Gesprächspartner wie eine gute Hebamme zur Geburt neuer Einsichten verhelfen; von seiner Mutter, einer Hebamme, habe er diese Kunst der Maieutik gelernt. 2.1 Wirkung und Vollzug der Maieutik des Sokrates Im Laches beschreibt Nikias dem Lysimachos die ihn faszinierende Mischung von Radikalität und Charme dieser Hebammenkunst des Sokrates: "Du scheinst gar nicht zu wissen, daß, wer der Rede des Sokrates nahe genug kommt und sich mit ihm einläßt ins Gespräch, unvermeidlich, wenn er auch von etwas ganz anderem zuerst angefangen hat zu reden, von diesem so lange ohne Ruhe herumgeführt wird, bis er ihn da hat, daß er Rede stehen muß über sich selbst, auf welche Weise er jetzt lebt und auf welche er das vorige Leben gelebt hat; wenn ihn aber Sokrates da hat, daß er ihn dann gewiß nicht her herausläßt, bis er dies alles gut und gründlich untersucht hat. Ich nun bin schon mit ihm bekannt und weiß, daß man dieses notwendig von ihm leiden muß; ja auch, daß es mir selbst begegnen wird, weiß ich sehr wohl. Denn gern, o Lysimachos, lasse ich mich ein mit dem Manne und halte es nicht für etwas Übles, daran erinnert zu werden, wo wir etwa nicht schön gehandelt haben oder noch handeln; sondern für notwendig, daß derjenige vorsichtiger werden muß für sein nachheriges Leben, der dieses nicht scheut, sondern es wünscht nach des Solon Wort und gern lernen will, so lange er lebt, nicht aber meint, daß das Alter ihm schon von selbst den Verstand bringen werde. Mir also ist es weder ungewohnt noch ungewünscht, vom Sokrates geprüft zu werden ... "10 Noch beeindruckender ist vielleicht die Schilderung der Wirkung des Sokrates durch Alkibiades, die Platon in seinem 'Symposion' wiedergibt: "Also den Sokrates zu loben, ihr Männer, will ich so versuchen, durch Bilder, er wird nun wohl vielleicht glauben, spöttischerweise, aber gerade zur Wahrheit soll mir das Bild dienen und gar nicht zum Spott. Ich behaupte nämlich, er sei äußerst ähnlich jenen Silenen in den Werkstätten der Bildhauer, welche die Künstler mit Pfeifen oder Flöten darstellen, in denen man aber, wenn man die eine Hälfte wegnimmt, Bildsäulen von Göttern erblickt; und so behaupte ich, daß er vorzüglich dem Satyr Marsyas gleiche. Daß du nun dem Ansehen nach diesen ähnlich bist, o Sokrates, wirst du wohl selbst nicht bestreiten, wie du ihnen aber auch im übrigen gleichst, das höre demnächst. Bist du übermütig oder nicht? Denn wenn tu das nicht eingestehst, will ich Zeugen beibringen. Oder etwa kein Flötenspieler? Wohl ein weit bewundernswürdigerer als jener. Jener nämlich bezauberte vermittels des Instrumentes die Menschen durch die Gewalt seines Mundes und so noch jetzt, wer seine Werke vorträgt. ... Du aber zeichnest dich um soviel vor jenem aus, als du ohne Instrument durch bloße Worte dasselbe ausrichtest. Von uns wenigstens, wenn wir von einem andern auch noch so trefflichen Redner andere Reden hören, macht sich keiner, daß ich es geradeheraus sage, sonderlich etwas daraus. 8 Vgl. zum Verständnis von Ethik als Lebenskunst, die diese 'Sorge um sich' in den Mittelpunkt stellt Müssen, P. (1995a) und folgende Schriften von Michel Foucault: Foucault, M. (1985) Freiheit und Selbstsorge. Frankfurt a.M.; Foucault, M. (3. Aufl. 1993) Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit III. Frankfurt a.M.; Foucault, M. et.al. (1993) Technologien des Selbst. Frankfurt a.M.; sowie: Schmid, W. (1991) Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault. Frankfurt a.M. 9 'Erkenne dich selbst' - Von einigen Kommentatoren interpretiert im Sinne von: 'Wisse, daß du kein Gott bist!' oder auch 'Achte darauf, was du fragst!'. 10 188 a - b (nach der Platon-Ausgabe des Henricus Stephanus bei Ioannes Burnet). 5 Hört aber einer dich selbst oder von einem andern deine Reden vorgetragen, wenn auch der Vortragende wenig bedeutet, sei es nun Weib oder Mann, wer sie hört, oder Knabe, alle sind wir wie außer uns und ganz davon hingerissen. Ich wenigstens, ihr Männer, wenn ihr dann nur nicht glauben wolltet, daß ich ganz und gar betrunken wäre, wollte es euch auch mit Schwüren bekräftigen, was mir selbst dieses Mannes Reden angetan haben und noch jetzt antun. Denn weit heftiger als den vom Korybantentanz Ergriffenen pocht mir, wenn ich ihn höre, das Herz, und Tränen werden mir ausgepreßt von seinem Reden; auch sehe ich, daß es vielen andern ebenso ergeht. Wenn ich dagegen den Perikles hörte oder andere gute Redner, dachte ich wohl, daß sie gut sprächen, dergleichen begegnete mir aber nichts, noch geriet meine Seele in Unruhe darüber und in Unwillen, daß ich mich in einem knechtischen Zustande befände. Von diesem Marsyas aber bin ich so bewegt worden, daß ich glaubte, es lohnte nicht zu leben, wenn so bliebe, wie ich wäre. Und du wirst nicht sagen können, Sokrates, daß das nicht wahr wäre. Ja auch jetzt noch bin ich mir sehr wohl bewußt, daß, wenn ich nur meine Ohren hergeben wollte, ich mich nicht würde halten können, daß mir nicht dasselbe begegnete. Denn er nötigt mich einzugestehen, daß mir selbst noch gar vieles mangelt und ich doch, mich vernachlässigend, der Athener Angelegenheiten besorge."11 Sokrates, der von sich nur weiß, daß er nichts weiß und darin offen ist für alles Wißbare, fasziniert offensichtlich auf bezaubernde Weise seine Schüler.12 Er vermag diese Faszination auszuüben, obwohl er ihnen mit seinen Fragen tief unter die Haut sticht, so daß auch sie erkennen, wie wenig sie wirklich wissen; oder vielleicht besser: wie sehr sie wissen, daß es in ihrem Leben der Veränderung bedarf. Seine Wirkung ist rätselhaft, denn er gibt ihnen keine Antworten, keine Lehre, nachdem er sie durch seine Fragen in tiefste Verunsicherung geführt hat. Und es mag sein, daß dies gerade das Faszinierende und Konstruktive im Umgang mit ihm ist: Die Erfahrung nämlich, daß die Infragestellung des alltäglich Praktizierten, des faktisch Geltenden und anscheinend Selbstverständlichen, daß fundamentale Destabilisierung und Verstörung eine fruchtbare neue Hermeneutik des Selbst initiiert, die im Dienste der Wahrhaftigkeit zum ethischen Impuls wird, und daß der rekursive Prozeß von Frage und Antwort andere und neue Wirklichkeiten aus den jeweiligen Ressourcen entstehen läßt. Von einer gemeinsamen Ebene aus, läßt sich Sokrates ganz auf die Oberflächenstruktur der Alltagssprache und 'Logik' seines Gegenübers ein, um sie immanent durch Fragen auf ihre Tiefenstruktur hin transparent zu machen, von der her sich das eigentliche Wollen in verbindlichen Werten zeigt und evidente Plausibilität aufscheint. Das, worum es Sokrates geht und woraufhin er mit seiner Maieutik abzielt, das liegt im anderen verborgen und muß nur hervorgelockt werden. Und das, was Sokrates zu geben hat, sind nicht Antworten oder Lehren, keine normativen Weltanschauungen; das, was er zu geben hat, ist die Fähigkeit, so nach den Implikationen des eigenen Selbstvollzuges zu fragen, daß sein Gegenüber zu seinen eigenen Antworten und Anschauungen findet, klarer erkennt, was er wirklich will und im gemeinsamen Dialog neue Perspektiven gewinnt. Über den Weg der Selbsterkenntnis als kritische Hermeneutik befragt Sokrates seine Gesprächspartner auf eine Ebene hin, die in ihrer Tiefe und Fundamentalität von fragloser Evidenz gekennzeichnet ist, und die um so größere Gemeinsamkeit zwischen den Gesprächspartnern entstehen läßt, je wahrhaftiger und ehrlicher sie durch oft schmerzliche Unterscheidungen und Einsichten hindurch gefunden wird. 11 215 a - 216 a. 12 Nietzsche meint zu dieser Faszination: "Als jener Pysiognomiker dem Sokrates enthüllt hat, wer er war, eine Höhle aller schlimmen Begierden, ließ der große Ironiker noch ein Wort verlauten, das den Schlüssel zu ihm gibt. 'Dies ist wahr', sagte er, 'aber ich wurde über alle Herr.' Wie wurde Sokrates Herr über sich? - Sein Fall war nur der extreme Fall, nur der in die Augen springendste von dem, was damals die allgemeine Not zu werden anfing: daß niemand mehr über sich Herr war, daß die Instinkte sich gegeneinander wendeten. Er faszinierte als dieser Extreme Fall - seine furchteinflößende Häßlichkeit sprach ihn für jedes Auge aus: er faszinierte, wie sich von selbst versteht, noch stärker als Antwort, als Lösung, als Anschein der Kur dieses Falls." Götzendämmerung, Das Problem des Sokrates, 9. 6 Ohne die Verdienste seiner Frau Xanthippe schmälern zu wollen, so war es doch wohl eher die Freude des Sokrates an solch einem direkten Gespräch mit wem auch immer, als die keifende13 Ehefrau und die hat es sicherlich mit Sokrates und chauvinistischen Philosophiegeschichtsanekdoten auch nicht immer einfach gehabt -, die ihn aus dem Haus trieb, um seiner philosophischen Mission auf der Straße und nicht am Schreibtisch zu folgen. Und es stört ihn dabei auch nicht, sich dabei gegebenenfalls zum Clown zu machen, wenn es ihm nur gelang, mit irgend jemandem über welches Thema auch immer ins Gespräch zu kommen. Die Art und Weise, wie er sich dabei unwissend gab, würde man heute wohl am ehesten als Columbo-Technik bezeichnen: wie jener zerstreute amerikanische Inspektor präsentiert er sich schon äußerlich als harmloser Trottel, der aber doch durch ungewöhnliche Fragen wichtige Informationen sammelt und durch tolpatschige Macken den Einstieg in eine Dialektik vertuscht, deren Ernsthaftigkeit dem Gegenüber erst dann bewußt wird, wenn er sich ihrer Stringenz nicht mehr entziehen kann. Sein schauspielerisches Talent wird Sokrates dabei sicher sehr geholfen haben. Oder war es doch eher die Eitelkeit der Befragten, die sich in der Rolle der Antwortgeber gefielen, um dann erkennen zu müssen, was Sokrates bereits von sich wußte: Daß er nichts wirklich sicher weiß, und daß es deshalb sinnvoll ist, gemeinsam auf die Suche zu gehen? Auf jeden Fall gelang es Sokrates auf seine eigene Art und Weise immer wieder, Menschen in einem Frage-und-Antwort-Spiel dazu zu bewegen, den Anfang von Ethik mitzuvollziehen, der darin besteht, Antworten zu geben, ver-antwortlich zu sein und die Bereitschaft aufzubringen, sich für das was man denkt und tut Rechenschaft abzulegen. Daß viele darauf, derart bezüglich der eigenen Stringenz und Hintergründe hin in Frage gestellt zu werden, mit Aggressionen reagierten, die Sokrates schließlich sogar das Leben gekostet haben, scheint meiner Meinung nach eher für die Gefährlichkeit leidenschaftlicher Philosophie als für die mangelnden Fähigkeiten des Sokrates zu sprechen. Jedenfalls liegt hier ein Beleg dafür vor, daß es ohne ein Mindestmaß an freiheitlicher Bereitschaft keine Chance für einen ethisch zu nennenden Dialog gibt. 2.2 Implizite Voraussetzungen der Maieutik des Sokrates aus systemisch-konstruktivistischer Sicht Ich möchte nun der Frage nachgehen, welche impliziten Voraussetzungen dieser fragenden Maieutik des Sokrates aus meiner Beobachterperspektive, die natürlich durch eigene Vorannahmen und Interpretationskontexte geprägt ist, aufscheinen. Es geht um eine skizzenhafte Darstellung dessen, was ich von meinem Ansatz14 aus darin erkenne, d.h. von Gedanken zur Maieutik des Fragens und zur Ethik, welche die Begegnung mit diesem philosophischen Ethiker und seiner Methode in mir auslöst. (a) Wenn Sokrates auf die öffentlichen Plätze geht, um mit wem auch immer durch Fragen ins Gespräch zu kommen, dann sehe ich darin, daß er selbst seinen Gesprächspartnern eine prinzipielle Kooperationsbereitschaft und Kompetenz unterstellt. Sobald sich der andere auf seine Fragen eingelassen hat, wird Kooperation unvermeidlich. Es geht ihm nicht darum, ein eigenes, allein erzeugtes Konstrukt zu dozieren, sondern um Emergenz aus kommunikativen Prozessen. Er selbst und seine 13 So immerhin Alkibiades: "Die keifende Xantippe ist unausstehlich" - worauf Sokrates geantwortet haben soll: "Auch du läßt dir doch das Geschrei der Gänse gefallen." 14 An diesem Punkt kommen für mich deutlich wahrnehmbar Regionen meiner Landkarte in den Blick, die außer durch systemisch-konstruktivistischen Grundannahmen, wie sie sich etwa bei Schiepek, G. (1991) Systemtheorie der Klinischen Psychologie. Braunschweig / Wiesbaden. S. 136-139 zusammenfassend formuliert finden, auch geprägt sind durch die therapeutische Arbeit mit dem lösungsorientierten Kurzzeittherapieansatz und systemischen NLP. 7 Gesprächspartner befinden sich dabei in einer assoziierten Position und nicht in der Dissoziation15 des Beobachters. Der maieutische Weg der Ethik vollzieht sich demnach durch einen direkten Dialog in Form von Fragen, bei dem sich die Gesprächspartner in einer assoziierten Position befinden; es ist ein kooperativer Weg in der Einheit von Genese und Vermittlung. (b) Wenn Sokrates mit jedem beliebigem Thema seine Dialoge beginnt, dann erkenne ich darin, daß er faktisch-intuitiv davon ausgeht und zugleich demonstriert, daß die verschiedenen Teile und Ebenen der Wirklichkeitskonstrukte des Menschen untereinander vernetzt sind und ein systemisches Ganzes bilden. Kein Teilsystem, kein einzelner emergenter Phänomenbereich kann gänzlich vom Systemganzen separiert werden. Der maieutische Weg der Ethik kann also von jedem Ansatzpunkt aus begangen werden. (c) Wenn Sokrates sich dabei als 'Hebamme' versteht, die nur das, was im anderen bereits vorhanden ist, durch Fragen an das Tageslicht zu holen hilft, dann nehme ich darin wahr, daß er prinzipiell vermutet, daß seine Gesprächspartner alle notwendigen Ressourcen haben, um zu Antworten und Lösungen zu finden, daß sie kompetente und autonome Experten für seine und in ihren eigenen Fragen sind. Vermutlich wird er auch gewußt haben, daß Menschen nur wirklich zu solchen Veränderungen motiviert sind, die sie aus eigener Einsicht und Empfindung als Möglichkeit für sich erkannt haben. Der maieutische Weg der Ethik führt folglich über die Anerkennung des Anderen als autonomes Subjekt, als kompetenten und ressourcevollen Experten. (d) Wenn Sokrates sich ganz auf die Sprache und immanente Logik seiner Gesprächspartner einläßt, dann erscheint er mir selbst kooperativ, indem er von Konstruktgemeinsamkeiten ausgeht, oder sich so gut wie möglich an ihre Wirklichkeitskonstruktionen anpaßt, um den 'Tanz der Kommunikation'16 mitzutanzen. In der Familientherapie würde man dies wohl 'joining', im NLP 'pacing' und in der Biokybernetik das 'Jiu-Jitsu-Prinzip' nennen, und damit jeweils den Versuch bezeichnen, zu einer positiven und vertrauensvollen Beziehung, zu einem guten Rapport oder zu einer 'anschmiegsamen' Intervention zu gelangen. Dabei ist es nicht nur hilfreich, sich, wenn nötig, auf die Denkstrukturen und sprachlichen Eigenarten des Gegenübers einzustellen, wie z.B. auf seine bevorzugten Repräsentationssysteme, sondern auch über eine Synchronisation äußerer Verhaltensweisen in Mimik und Gestik eine Synchronisation der inneren Prozesse anzustreben (con-spirare = zusammen atmen, begeistert und eifrig tätig sein). So bekommt der Fragende, wie die Reaktionen z.B. von Nikias und Alkibiades zeigen, Erlaubnis für seine Fragen auch dann, wenn diese den Befragten in große Unruhe, Irritation und Selbstkritik führen. Der maieutische Weg der Ethik führt mithin über die Betonung von Gemeinsamkeiten bzw. respektvoll angestrebte Konformität und über Vertrauen zur Erlaubnis für Verstörung; er ist im besten Sinne des Wortes konspirativ. (e) Wenn Sokrates nicht philosophisch-ethische Lehren vorträgt, sondern ganz auf die innere Dynamik eines dialektischen Kommunikationsprozesses setzt, dann unterstellt er aus meiner Sicht prinzipiell, daß Bedeutung, Erfahrungen und Sinn interaktional konstruiert werden, und dabei an die in sozialen Interaktionen erreichten Einsichtsstände der Beteiligten anknüpfen.17 Veränderung entsteht in selbstreferentiell operierenden menschlichen Systemen - und Veränderung ist im Sinne einer Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten seines Gesprächspartners wohl das Ziel des immer auch kritischen 15 Vgl. Anmerkung 6. 16 Vgl. Foerster, H. von (1993a) KybernEthik. Berlin. S. 78. 17 Vgl. hierzu Mitterer, J. (1992) Das Jenseits der Philosophie. Wider das dualistische Erkenntnisprinzip. Wien. Schmidt, S.J. (1994) zitiert daraus folgenden prägnanten Satz: "Das Objekt einer Beschreibung wird angegeben, indem die Beschreibung so far an- und vorgegeben wird, die in dieser Beschreibung (from now on) fortgesetzt - entwickelt - verändert werden soll." S. 100 8 Ethikers Sokrates - nur dann, wenn eine vorhandene Ressource zur Optimierung der Landkarte des Befragten aktiviert werden kann. Der maieutische Weg der Ethik führt dementsprechend über die Erweiterung von Handlungsalternativen, über die Erfahrung neuer Freiheitsgrade und neuer, konsensuell erzeugter Sinneinsichten. (f) Schließlich möchte ich dem Sokrates unterstellen, daß er in seiner Methodik davon ausgeht, daß Menschen innerhalb der Möglichkeiten und Fähigkeiten, die von ihnen im Rahmen ihres Wirklichkeitsmodells als zuhandene erlebt werden, immer die bestmögliche Wahl treffen; Bei einer Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeit18 werden sie die ihnen im Hinblick auf ihre Ziele angemessenere Wahlmöglichkeit treffen. Und daß diese Ziele dialogbereiter Menschen im Guten konvergieren, das ist belegtermaßen die Überzeugung des Sokrates gewesen. Der maieutische Weg der Ethik führt demzufolge über die motivationale Kraft von Werten, Zielen, und Lösungsstrategien, die im 'Guten' konvergieren und in freien Entscheidungen gewählt werden; Ethik ist operationalisierte Sinneinsicht. Zusammenfassend können wir nach der Befragung des Wie des Sokrates festhalten, daß sich eine Maieutik, wie sie hier verstanden wird, in Form von direkten Dialogen durch Fragen zum jeweils aktuell-assoziierten Selbstvollzug an unterstelltermaßen autonome und ressourcenreiche Personen wendet. Dabei geht sie möglichst von vorhandenen Gemeinsamkeiten in Sprache und Denkstrukturen aus, sucht konspirative Konformität und baut so Vertrauen auf, damit ihr daraus von ihrem Gesprächspartner die Erlaubnis für verstörende Fragen zu Brüchen und Inkongruenzen im Hinblick auf deren immanente Vollzugslogik gegeben wird. Durch diese kritische Hermeneutik des Selbst ("Erkenne dich selbst") eröffnet die Maieutik die Möglichkeit der Erfahrung neuer Freiheitsgrade, alternativer Handlungsstrategien und Sinneinsichten, die jedoch immer aus dem Boden des Vorhandenen erwachsen, in dessen Tiefe Werte, Wünsche und Ziele verborgen sind, die letztlich im 'Guten' konvergieren und welche die eigentlich motivationalen Faktoren der Ethik darstellen. Eine Maieutik im Raum von Ethik wird demzufolge ihren Gesprächspartnern nicht von außen heteronome Forderungen stellen, sondern sie vielmehr konspirativ durch Fragen nach dem eigenen aktuellen Selbstvollzug und seinen impliziten Deutungen, Sinneinsichten, Möglichkeitsbedingungen, Strebungen und Wünschen zu einer selbstkritischen Erkenntnis und der daraus sich ergebenden Selbstverpflichtung zu alternativen Formen des Selbstvollzuges führen. Ihr ist dabei bewußt, daß es sich hierbei nicht immer gleichsam um pädagogisch-therapeutische Einbahnstraßen handelt, sondern oft genug um den gemeinsamen Prozeß der Erzeugung neuer Wirklichkeit im anerkennenden Ausgang vom jeweils schon Erreichten, bei dem sich beide Seiten verändern und beide Seiten gewinnen können. Gleichwohl empfiehlt sich die Maieutik meiner Meinung nach auch für den Fall eines Ungleichgewichts der Einsichtsstände und Entwicklung. 3 MAIEUTIK UND DIE FRAGE NACH DEM 'WIE' DES KONSTRUKTIVISMUS IM DIALOG "Ich weiß, daß ich nichts weiß." - Dieser sokratische Satz, der mit Gewißheit die eigene Ungewißheit behauptet, könnte, zumindest nach der Meinung mancher Beobachter des konstruktivistischen Diskurses, eine durchaus passende Zusammenfassung der konstruktivistischen Position abgeben. Und man könnte dem als Konstruktivist vielleicht auch zustimmen, wenn der Satz, zumindest von Kritikern, nicht in einem pejorativen Sinn verstanden und im Kontext einer nicht selten vehement-allergischen 18 In Anlehnung an den ethischen Imperativ bei von Foerster: Handle so, daß du die Anzahl deiner Möglichkeiten vergrößerst! 9 (und deshalb ironisch-sarkastischen?) Reaktion gebraucht würde, wie sie beispielsweise erst kürzlich von Wolfgang Krischke in der FAZ vorgelegt wurde.19 Wenn man einmal von der, wie ich meine, gut konstruktivistischen Vorannahme ausgeht, daß die Bedeutung einer Kommunikation in der Reaktion besteht, die sie unabhängig von der Absicht des Kommunikators bei der betreffenden Person hervorruft, und wenn man dann noch die oben aufgeführten Postulate eines maieutischen Vorgehens berücksichtigt, dann sollten vermeintlich kritisch-allergische Reaktionen im Hinblick auf eine Optimierung der Kommunikation utilisiert werden: Was genau löst denn diese Reaktion beim anderen aus? Wie hat er verstanden und wahrgenommen? Welchen Wert verteidigt er mit seiner ablehnenden Kritik? Und: Stimme ich darin vielleicht sogar mit ihm in seinem Anliegen überein, d.h. sind unsere Ziele, d.h. das, was sichergestellt werden soll, möglicherweise eine Gemeinsamkeit, die Anschlußfähigkeit erlaubt? Solche und ähnliche Fragen, die sich auf den Selbstvollzug des Gegenübers beziehen, führen in einen ganz anderen Kommunikationsprozeß als die leidlichen Diskussionen darüber, wer denn nun Recht habe und worin der eine oder andere sich irre. Prima vista besteht der Unterschied wohl darin, daß dann nicht Sachfragen aus einer dissoziierten Position heraus diskutiert werden, wodurch sich nicht selten der wörtliche Sinn von 'discutere' (zerschlagen, beschädigen, zerteilen etc.) auf der Beziehungsebene ereignet, ohne jedoch in der Sache weiterzubringen, sondern daß dann der Selbstvollzugsprozeß der jeweiligen Gesprächspartner auf seine erkenntnisanthropologische Tiefenstruktur20 hin befragt und in den dort aufscheinenden Bedürfnissen, Anliegen, Zielen und auch Ressourcen ernstgenomen wird. Im Hinblick auf mögliche Gemeinsamkeiten mit externen Kritikern ist in der Literatur, und mehr noch und ungenierter - weil nicht öffentlich - in persönlichen Gesprächen, nicht zu übersehen oder zu überhören, daß auch viele Autoren, welche die Möglichkeit konstruktivistisch zu denken für sich entdeckt haben21, ganz ähnliche Probleme äußern, Mißverständnisse beklagen und sich in der Auseinandersetzung mit Kritik auf die Ebene von Apologiestrategien begeben, die mit dem eigenen Ansatz nicht kongruent sind.22 Das Folgende will anhand eines Beispiels der vorsichtige und kursorische Versuch sein, die Frage danach, wie die oben genannten Einwände und Probleme in einem maieutischen Sinne aufgegriffen, befragt und für eine mögliche Antwort utilisiert werden könnten, zu beantworten. Zunächst: Die immer wieder zu erlebende Emotionalität in der Ablehnung dessen, was für die Essenz des Konstruktivismus gehalten wird, spricht dafür, daß hier vermeintlich ein hohes Gut, ein großer Wert in Frage gestellt zu werden scheint: Vitale Interessen und psychische Bedürfnisse kommen im anscheinend wissenschaftlichen Diskurs, auf einer Meta- oder Beobachterebene also, zum Vorschein, nach denen genauer zu fragen sich lohnt. Axel Wrede hat in seinem lesenswerten Artikel "Über meine Bereitschaft, gewisse Dinge zu glauben"23darauf hingewiesen, wie massiv sich in der Auseinandersetzung mit dem Konstruktivismus die Frage nach der Verläßlichkeit und Gültigkeit von Erkenntnis für Konstruktivisten selbst stellen kann. Begriffe wie 'Wahrheit' und 'Gewißheit' reflektieren anscheinend Grundbedürfnisse des Menschen, 19 20 Krischke, W. (1994) Radikale Konstruktivisten. Pailletten-Glanz. In: FAZ (21.12.1994 / Nr. 296) S. N 5. Vgl. hierzu und zu dem entsprechenden Ethikverständnis: Müssen, P. (1991) Ethik als handlungsleitende Sinnwissenschaft und der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, in: F. Furger (Hrsg.), Ethische Theorie praktisch. Der fundamental-moraltheologische Ansatz in sozialethischer Entfaltung. Festschrift für Klaus Demmer MSC von seinen Schülern. Münster. S. 36-65 21 Ich wähle bewußt diese Umschreibung, um eine Definition auf der Identitätsebene zu vermeiden, wie sie etwa in der Aussage "Ich bin ein Konstruktivist" gegeben ist. Es erscheint mir nützlicher, konstruktivistisches Prozessieren als eine von vielen Möglichkeiten zu begreifen, die Sinn- und bedeutungsgenerierenden Systemen beobachtbar zur Verfügung steht. Zu leicht werden Identitätsaussagen mit Aussagen über Wirklichkeit / Realität verwechselt. 22 Vgl. hierzu Schmidt, S.J. (1994) S. 13-47. 23 In: Z.system.Ther. 8 (2), 1990. S. 94-102. 10 über die er sich auch als konstruktivistisch aufgeklärter Wissenschaftler nicht so leicht hinwegsetzen kann, weil er, das gesteht Wrede offen ein, der "Versuchung der Gewißheit" nicht nur erliegt, sondern auch gerne nachgibt. Von der Frage Wittgensteins "worauf kann ich mich (dann)24 verlassen?" kann man sich nicht so leicht dispensieren, denn die "Wahrheit gewisser Erfahrungssätze gehört zu unserem Bezugssystem"25. Schmidt weist darauf hin, daß sich die Frage der Realität im Vollzug von Erkenntnisoperationen, d.h. für mich in assoziierten Position, gar nicht stellt.26Im alltäglichen Lebensvollzug hat, so Wittgenstein, der vernünftige Mensch gewisse Zweifel eben nicht, denn es scheint zu den Möglichkeitsbedingungen konkreten Handelns zu gehören, mit der Unterstellung von Realität, Gewißheit und Objektivität zu operieren. Psychologisch handelt es sich dabei keineswegs um eine Trivialität: Die Angst vor einem Wirklichkeits- und Gewißheitsverlust ist meiner Meinung nach ernstzunehmen und das zugrundeliegende Bedürfnis zu respektieren. Die Richtung einer möglichen Antwort auf diesen Problem- und Fragenbereich deutet Wrede an, wenn er Wittgenstein mit dem Bekenntnis zitiert: "Ich kann nicht umhin zu glauben." Als Beleg für die Legitimität solcher 'Bereitschaft gewisse Dinge zu glauben' möchte ich weiterführend auf den Artikel "Ethik und Kybernetik zweiter Ordnung" Heinz von Foersters27 hinweisen, in dem er sich zu Fragen der Ethik, Metaphysik und Dialogik äußert: Wie Gödel nachgewiesen habe, seien auch noch so sorgfältig konstruierte logische Systeme niemals gegen Unentscheidbarkeiten immun. "In der Tat gibt es unter Propositionen, Problemen, Vorschlägen, Fragen, solche, die entscheidbar, und solche die prinzipiell unentscheidbar sind."28 Auch in anderen Lebensbereichen begegnen uns solche unentscheidbaren Fragen, wie z.B. die über den Ursprung des Universums. Unentscheidbare Fragen, sind solche, die durch die Regeln des Kontextes oder Rahmens in dem sie gestellt werden nicht schon von vornherein definitiv entschieden sind. Deshalb gilt nach von Foerster: 1. "Nur die Fragen, die im Prinzip unentscheidbar sind, können wir entscheiden."29 2. Mit der Wahrnehmung dieser Wahlfreiheit durch Entscheidungen werden wir zu Metaphysikern: "Ich sage, wir werden zu Metaphysikern, ob wir uns so nennen oder nicht, wenn wir Fragen entscheiden, die prinzipiell unentscheidbar sind."30 Und damit sind wir verantwortlich für unsere Entscheidungen! Zwei der maßgeblichen Fragen, die entschieden werden müssen und faktisch immer entschieden werden, lauten nach von Foerster: "(a) ... Befinde ich mich außerhalb des Universums? (Das heißt: Immer, wenn ich meine Augen darauf richte, sehe ich wie durch ein Guckloch ein sich vor mir ausbreitendes Universum.) Oder: Bin ich Teil des Universums? (Das heißt: Immer wenn ich etwas tue, verändere ich sowohl mich als auch das Universum.) (b) ... Ist die Welt primäre Ursache? (Das heißt: Meine Erfahrung wird von der Welt bewirkt.) Oder: Ist meine Erfahrung die primäre Ursache? (Das heißt: Die Welt ist Ergebnis meiner Erfahrung.)"31 Meiner Meinung nach handelt es sich bei den Inhalten von Glaubensfragen im oben genannten Sinne um Antworten auf prinzipiell unentscheidbare Fragen, die aber - ob bewußt oder unbewußt - für den 24 D.h. wenn ich die Überzeugung teile, daß es keine gewisse Erkenntnis gibt. 25 Vgl. zu diesen Wittgensteinzitaten die Nachweise bei Wrede, A. (1990)! 26 Schmidt, S.J. (1994) S. 26-27. 27 In: Foerster, H. von (1993a) S. 60-83. 28 ebd. 70. 29 ebd. 73. 30 ebd. 70. 31 Foerster, H. von (1993b) Wissen und Gewissen, Schmidt, S.J. (Hrsg.), Frankfurt a.M. S. 352. 11 konkreten Lebensvollzug entschieden werden müssen und faktisch immer auch entschieden worden sind. Daß solche Entscheidungen im Kontext bestimmter Kulturen und im Verlauf von Sozialisationsprozessen meist unbewußt gefällt oder übernommen werden, ist unbestritten. Das verhindert aber nicht die prinzipielle Möglichkeit, durch Fragen zur Bewußtwerdung des freiheitlichen und damit zu verantwortenden Charakters dieser Entscheidung grundsätzlich unentscheidbarer Fragen zu führen. Von Foerster bemerkt, daß er "immer von neuem von der Tatsache beeindruckt" sei, daß in Diskussionen darum, ob wir nun Entdecker oder Erfinder der Wirklichkeit seien, keiner der Beteiligten erkenne, "jemals eine derartige Entscheidung getroffen zu haben. Wenn sie überdies herausgefordert werden, ihre Position zu rechtfertigen, bedienen sie sich eines Begriffssystems, das nachweislich auf einer Entscheidung über eine prinzipiell unentscheidbare Frage basiert. ... Ich betone nochmals, es geht hierbei nicht um die Frage 'Wer hat recht und wer hat unrecht". Dies ist prinzipiell eine unentscheidbare Frage. Es geht hier um die Freiheit; die Freiheit der Wahl"32 Die Entscheidung unentscheidbarer Fragen führt demnach zur Metaphysik und zur Ethik. Ethik ist in diesem Sinne ohne Metaphysik nicht möglich, d.h. sie verweist immer auf die Entscheidung unentscheidbarer Fragen und beruht somit auf Optionen und dem durch sie gegebenen Glaubenswissen. Es mag möglich erscheinen, mit einem Gesprächspartner, der durch die Irritation des Konstruktivismus aus der Selbstverständlichkeit seiner vorreflexen Metaphysik herausgefallen ist, im Prozeß fragender Maieutik leichter einen Konsens bezüglich dieser freiheitlichen Implikate seines Lebensvollzuges zu erzeugen und so einen Ansatzpunkt für Ethik zu finden.33 Die gelebte Entschiedenheit in prinzipiell unentscheidbaren Fragen als Gewißheit kann sich nach dem Gesagten als conditio humana erweisen - auch für 'Konstruktivisten', die den Verlust von Gewißheit mit Gewißheit vertreten - denn, so Wrede "es scheint doch so, daß man Gewißheit nur negieren kann, wenn man sie paradoxerweise gleichzeitig als Bezugsrahmen verwendet! ... Dies ist eine verrückte Situation, in der der Konstruktivist die 'absolute Relativität' (!) unserer Bezugspunkte zu bedenken gibt, und dies nur tun kann, wenn er die Prämissen, die ihn zu dieser Aussage geführt haben, selbst als verläßliche Bezugsgrößen voraussetzt. ... Immer und überall soll deutlich werden, jede Aussage steht in einem Rahmen, der besagt: 'Ich kann nicht umhin zu glauben'..., daß es so ist, wie ich sage; ich kann als Beobachter und Sprecher nicht umhin an Prämissen zu glauben, die meinem Urteil oder Erkennen vorausgehen."34 Die Befolgung der sokratischen Maxime "Erkenne dich selbst!", bzw. "Kümmere dich um dich selbst!", durch einen maieutischen Prozeß des Befragens der Möglichkeitsbedingungen des aktuellassoziierten Selbstvollzuges, auf welcher Ebene auch immer, könnte meines Erachtens über die Anerkennung der Notwendigkeit und des metaphysischen Ursprungs der eigenen Gewißheit zu einem ethisch vertretbaren Umgang mit Andersdenkenden und Andersentscheidenden führen, mit denen man durch eben diesen metaphysischen Charakter der die jeweils eigene Gewißheit fundierenden freiheitlich-verantworteten Entscheidung von Unentscheidbarem als Gemeinsamkeit verbunden ist. Die Erkenntnis unentscheidbarer Fragen und deren freiheitlicher Beantwortung kann über deren unterschiedlichen Ebenen hinweg weiter befragt werden auf ihre immanente Zielrichtung: Was ist das in allen unentscheidbaren Fragen letztlich Gefragte und zu Entscheidende? Oder: Was ist das im Vollzug der Frage als Möglichkeitsbedingung ihrer selbst unterstellte und gewollte? Oder auch: In welcher Entscheidung einer unentscheidbaren Frage geschieht die in der Problemstellung Wredes gesuchte Selbstvergewisserung des fragenden Selbstvollzuges? 32 Von Foerster (1993a) S. 75-76. 33 Es bleibt meiner Meinung nach dabei zu bedenken, daß es sich auch bei der Frage ob es unentscheidbare Fragen gibt, durch deren Entscheidung wir zu Metaphysikern werden, um eine unentscheidbare Frage handelt. Die Maieutik erhöht jedoch die Wahrscheinlichkeit, in dieser Entscheidung zu einem Konsens zu finden. 34 Wrede, A. (1990) S. 98-99. 12 Ich möchte die gesuchte Entscheidung in Anlehnung an Maurice Blondel den Akt der 'ontologischen Affirmation'35 nennen, ohne jedoch an dieser Stelle den begonnenen Gedankengang im Detail weiter verfolgen zu können. Es mag genügen, hier darauf hinzuweisen, daß der Satz Wittgensteins "Das Wissen gründet sich am Schluß auf der Anerkennung."36in der Philosophie der Aktion bei Blondel37 durch eine Phänomenologie des menschlichen Willens eine tiefgreifende erkenntnisanthropologische Begründung erfährt. Diese Phänomenologie des Willens, die immer wieder und konsequent danach fragt, was der Mensch in allem Wollen denn wirklich will,38 kommt nach Blondel zu dem Ergebnis: "Es gibt im Erkennen eine notwendige Gegenwart der Wirklichkeit, ohne daß die Wirklichkeit notwendig im Erkennen wäre, ... und unser Sein ändert sich gänzlich danach, ob wir das Wirken der Wahrheit in uns annehmen oder ablehnen. ... Die Erkenntnis ist selbst lebendig oder tot, je nachdem ob das Sein, dessen notwendige Gegenwart sie in sich trägt, nur eine tote Last ist oder darin herrscht kraft einer freien Zustimmung."39 Die Erkenntnis bedarf nach Blondel im aktuellen Vollzug einer erfüllenden Vervollkommnung durch freie Zustimmung, d.h. der ontologischen Affirmation, um zu ihrer vollen Tragweite zu gelangen.40 Die transzendentale Reflexion der Möglichkeitsbedingungen von Wollen und Erkennen, in der sich beide Akte über ihren eigenen Vollzug beugen, ergibt demnach die Notwendigkeit einer Entscheidung für oder gegen diese Affirmation. Die Erkenntnis des Seins - und 'Sein' mag hier stehen für das, was das zuvor mit Begriffen wie 'Wahrheit' und 'Gewißheit' Bezeichnete erst ermöglicht, für das, wie Blondel sagt, 'Eine Notwendige' -, die "Erkenntnis des Seins hat das Sein im Erkennen erst nach dem Akt, der das Sein selbst bejaht. 'Das Sein ist im Erkennen nicht vor, sondern nach der Freiheit der Wahl.'"41Der Akt der ontologischen Affirmation ist nach Blondel das ursprünglich Praktische; so sehr, daß "der Sinn des Seins ... an die Entscheidung des Willens gebunden ist"42. Blondel vergleicht das hier Gemeinte und vielleicht recht abstrakt Erscheinende im letzten Kapitel von 'L'Action' mit der Erfahrung von Liebe, deren Gewißheit sich auch nur durch die wechselseitige Bejahung, Hingabe und Offenheit für den anderen ergibt und an den Akt einer fundamentalen Bejahung gebunden bleibt. Das sich in und durch die Entscheidung Zeigende, ist zugleich das, was die Entscheidung verlangt. Hier liegt meiner Meinung nach die im eigentlichsten Sinne unentscheidbare Frage, die den freiheitlichen Willensakt einer Entscheidung verlangt und darin den Raum der Metaphysik, den Raum des Seins, den Raum der Ethik und den Raum der Liebe eröffnet. 35 Ich möchte dazu einladen, das erste möglicherweise ablehnende Erstaunen beim Lesen solcher Terminologie im konstruktivistischen Diskurs versuchsweise zu überwinden. 36 Vgl. Wrede, A. (1990) S. 97. 37 Blondel, M. (1893) L'Action. Essai d'une critique de la vie et d'une science de la pratique, Paris. Deutsche Übersetzung durch Robert Scherer (1965) Die Aktion, Freiburg-München. Vgl. zum Begriff der Action bei Blondel auch Hommes, U. (1972) Transzendenz und Personalität. Zum Begriff der Action bei Maurice Blondel, Frankfurt a.M. 38 Durch seine sogen. 'indirekte Methode' will Blondel das aufdecken, was den Erscheinungen menschlichen Wollens und Tuns zugrunde liegt, und er benutzt zur Bezeichnung dieser "dublicité de la volonté" die Unterscheidung "la volonté voulante et la volonté voulue" (Blondel, M. (1893) S. 42. Im 'Lettre sur les exigences de la penseé contemporaine' gibt Blondel an, daß seine philosophische Methode darin bestehe, "das, was wir zu denken, zu wollen und zu tun scheinen, mit dem zur Gleichung zu bringen, was wir in Wirklichkeit tun, wollen und denken: so daß noch in den künstlichen Negationen und den ausgesuchtesten Zielen sich die tiefen Affirmationen und die unbezwingbaren Bedürfnisse wiederfinden, die sie enthalten". Zitiert nach Hommes (1972) S. 107. Darin finde ich die Anliegen einer Erkenntnisanthropologie und ihrer Berücksichtigung des Leibapriori als Grundlage für eine motivationale Ethik aufgehoben. 39 Blondel, zitiert nach Hommes, U. (1972) S. 231. 40 Vgl. Blondel, M. (1893) S. 440. 41 Hommes, U. (1972) S. 232. 42 Blondel, zitiert nach Hommes, U. (1972) S. 235. 13 Die 'ontologische Affirmation', die den Inhalt ihrer Anerkennung aus eigenem Erkennen nicht erreicht und erst durch eine subjektive, freiheitliche Entscheidung 'objektive' Gewißheit metaphysischer Art erhält, aus der heraus auch die Ungewißheit unseres Erkennens behauptet werden kann, stellt als notwendige Entscheidung von Unentscheidbarem meiner Meinung nach einen Attraktor nicht nur des konstruktivistischen Diskurses, sondern eines jeden Versuches dar, sich reflexiv-transzendental der Möglichkeitsbedingungen und der Tiefenstruktur des menschlichen Selbstvollzuges und seines Wollens zu vergewissern.43 Die Art der Entscheidung, die hier, auf welche Weise auch immer, individuell oder sozial, thematisch oder unthematisch, reflex oder vorreflex, getroffen wird, bestimmt die Qualität der Sinneinsicht, aus der heraus sich eine entsprechende Ethik als Operationalisierung ergibt, sie bestimmt die Qualität des Selbstvollzuges. Es bliebe jetzt zu zeigen, wie sich aus dieser Selbst-vergewisserung durch Anerkennung auch die Anerkennung des 'Anderen seiner selbst' (sachhaft und personal) ergibt, wie die substantielle Ontologie eines Subjekt-Objekt-Dualismus aufgehoben wird in die relationale Ontologie einer Wir-Dialogik und daß unter Voraussetzung dieser affirmativen Entscheidung kommunikativ gemeinsame Wirklichkeitskonsense im Ausgang vom jeweils erreichten und anerkannten Erkenntnis- bzw. Wissensstand erreicht werden können. Das Problem hat sich damit verlagert: Es besteht nicht mehr in der 'Wahrheit', verstanden als Übereinstimmung mit der 'Wirklichkeit' und als - durch angeblich wissenschaftliche Fakten belegbare - Antwort auf die Frage 'Wer hat recht?', sondern im Vertrauen. So berichtet Von Foerster als Ergebnis eines Gespräches mit einem Freund aus Marakesch: "Ich hatte verstanden: das Problem ist das einander Verstehen; das Problem liegt im Verstehen des Verstehens; das Problem besteht darin, Entscheidungen über prinzipiell unentscheidbare Fragen zu treffen."44 Meine Meinung ist, daß der Konstruktivismus in neuer Weise kommunikabel und anschlußfähig werden könnte, wenn er die Gewißheit seiner Behauptung der Ungewißheit, und damit die Ungewißheit jeder gewissen Erkenntnis auf die Unentscheidbarkeit und damit Freiheitlichkeit von Sinnfragen, die immer beantwortet werden müssen und faktisch beantwortet sind, zurückführt. In diesem Abschnitt habe ich versucht, den Horizont möglicher Fragen im Hinblick auf die aversiven Reaktionen gegen den Konstruktivismus, die der von Kritikern und Konstruktivisten selbst befürchtete Realitätsverlust und die damit verbundene fundamentale Verunsicherung provozieren, zu skizzieren. Die Methode der gemeinsamen Befragung des eigenen Vollzugs und seiner Möglichkeitsbedingungen, des in ihm durchklingenden Wollens und der darin spürbaren Bedürfnisse und Emotionen, kann meiner Meinung nach zu einem Konvergenzpunkt führen, der in der 'ontologischen Affirmation' zu finden ist und der zugleich den Freiheitsraum eröffnet, in dem sich Ethik erschließt. Diese Methode einer maieutischen Befragung auf die eigene immanente Logik empfiehlt sich meiner Meinung nach auch im interdisziplinären Umgang mit den verschiedenen Wissenschaftsbereichen, die als Zugangsweisen zum Konstruktivismus betrachtet werden und ebenso bei einer 'argumentatio 43 Wie sich z.B. durch die Frage nach der Frage, d.h. nach den Bedingungen der Möglichkeit ihres Vollzuges als eines Seinsvollzuges, systematisch deren 'Vorwissen', deren 'Vorgriff auf Seiendes überhaupt', und damit auf 'das Sein im ganzen', ja selbst die 'Differenz in der Identität' von Sein und Wissen, von Subjekt und Objekt, und somit eine ganze Metaphysik ergeben, kann an diesem Ort nicht gezeigt werden. Vgl. hierzu aber Coreth, E. (3. Aufl. 1980) Metaphysik. Eine methodisch-systematische Grundlegung. Innsbruck-Wien-München. Viele Probleme im konstruktivistischen Diskurs entstehen meiner Meinung nach dadurch, daß der entscheidende Unterschied zwischen erkenntniskritischen und erkenntnismetaphysischen Fragen, zwischen objektiv-intentionaler und transzendentaler Methode nicht gesehen wird. Der transzendentale Ansatz betreibt eine Akt-Metaphysik, derzufolge sich eine Einheit von Seins-Gewißheit und transzendentaler Selbst-Gewißheit ergibt. Vgl. zu diesem Hintergrund meiner Ausführungen Demmer, K. (1971) Sein und Gebot. Die Bedeutsamkeit des transzendentalphilosophischen Denkansatzes in der Scholastik der Gegenwart für den formalen Aufriß der Fundamentalmoral. Paderborn. Hier vor allem S. 8-56. 44 Von Foerster, H. von (1993a) S. 77. 14 ad extra', bei der deren Forschungsergebnisse gebraucht werden. Es kann sich dabei, wenn man sich der Unentscheidbarkeit zentraler Fragen des menschlichen Erkennens und Handelns, sowie der kulturgeschichtlich-kontextuellen Konstruktivität jeder Wirklichkeitsrepräsentation bewußt ist, jedoch immer nur um Plausibilitätsargumente und nicht um Beweise etwa empirischer Art handeln, die einen naturalistischen Fehlschluß darstellen würden. So ist es ein Fehler, die konstruktivistische Erkenntnistheorie etwa mit neurobiologischen Forschungsergebnissen oder geisteswissenschaftlichen Argumenten beweisen zu wollen.45 Statt dessen sollte versucht werden, durch Fragen nach dem immanenten Duktus empirischer Forschung Indikatoren dafür zu finden, daß die Option des Konstruktivismus als vernünftige und als aus dem eigenen Forschungskontext heraus vertretbare Position in den Blick gerät. Bei dem Versuch, den Konstruktivismus zu vertreten, empfiehlt es sich so meiner Meinung nach, jeweils die immanente Logik der verschiedenen Zugangsweisen wie z.B. der Neurobiologie, der philosophischen Erkenntnistheorie und der Kybernetik, der Systemtheorie, der Soziologie und Psychologie so zu rekonstruieren, daß der Konstruktivismus als möglicher Konvergenzpunkt aufscheint, in dem die Ergebnisse der verschiedenen Forschungsbereiche konsistent integrierbar sind und in dem sich Aporien, die sich beispielsweise aus der Subjekt-Objekt-Dichotomie ergeben, auflösen.46 4 MAIEUTIK UND DIE FRAGE NACH DEM 'WIE' DER ETHIK AUS KONSTRUKTIVISTISCHER SICHT Am Beginn dieses Abschnittes möchte ich kurz auf die Frage nach dem Wie des Gebrauchs zentraler Begriffe in der Ethik eingehen: 'Ethik' leitet sich aus dem griechischen Wort εϑος ab und bezeichnet einmal die herrschenden Sitten, Gebräuche und Gewohnheiten. Durch die pädagogisch vermittelte Einübung dieser Gebräuche wird aus diesem εϑος ein Tugendhabitus, das ηϑος, d.h. ein Charakter. Das lateinische Wort 'mos', die sprachliche Wurzel unseres Begriffes 'Moral' und seines Synonym 'Sitte', bezeichnet beide Aspekte dieses ethos-Begriffs, wobei jedoch die genauere Entsprechung zum griechischen ηϑος in dem gegeben ist, was wir etwas abstrakter unter 'Moralität' verstehen. Auch wenn die Adjektive 'ethisch' und 'moralisch' häufig synonym gebraucht werden, empfiehlt es sich doch um der Genauigkeit willen, unter 'Ethik' diejenige Wissenschaft zu verstehen, die Moral (Sitte) und Moralität (Sittlichkeit) zu ihrem Gegenstand hat. Es handelt sich um eine dissoziierte Beobachter- oder Metaposition. Wendet sich die Ethik in einer zweiten Dissoziation, quasi von einer Meta-Meta-Position aus, auf ihren eigenen Vollzug zurück, dann ist das gegeben, was man neuerdings unter 'Meta-Ethik' versteht: hier hinterfragt die Ethik ihre eigenen Prinzipien und Möglichkeitsbedingungen. Dabei untersucht sie nach W.K. Frankena47 vor allem die Bedeutung ethischer Begriffe und die Frage, ob und wie ethische Urteile begründet werden können, wie z.B. die Entscheidung, daß es überhaupt sinnvoll sei, moralisch zu handeln. Insgesamt ergeben sich also im Hinblick folgende ethikrelevante Aussageebenen, bzw. Reflexionsniveaus:48 • Moralische Aussagen, d.h. normative Sätze 1. Ordnung nach dem Muster "Du sollst ..."; 45 Vgl. hierzu Schmidt, S.J. (1994) S. 17-19, und Roth, G. (1994) Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt a.M. 46 Vgl. hierzu Müssen, P. (1995b) Der Beitrag der Human- und Gesellschaftswissenschaften zur christlichen Sozialethik gezeigt am Beispiel (sozial-) psychologischer Fragen. In: Heimbach-Steins, M. / Lienkamp, A. / Wiemeyer, J. (Hrsg.) Brennpunkt Sozialethik. Theorien - Aufgaben - Methoden. Freiburg. 47 Vgl. Frankena, W.K. (4. Aufl. 1986) Analytische Ethik. München. 48 Vgl. Pieper, A. (1985) Ethik und Moral. Eine Einführung in die praktische Philosophie. München. S. 55. 15 • Metamoralische Aussagen, d.h. deskriptive Sätze 1. Ordnung, die moralische, bzw. moralisch relevante Verhaltensweisen beschreiben und analysieren; • Ethische Aussagen, d.h. normative Sätze zweiter Ordnung, die Beurteilungsmaßstäbe bzgl. der Moralität von Handlungen liefern, etwa nach dem Muster des kategorischen Imperativs bei Kant; • Metaethische Aussagen, d.h. deskriptive Sätze zweiter Ordnung, durch die ethische Theorien beschrieben und analysiert werden. Diese Schematik erleichtert eine Verortung konstruktivistischer Beiträge zur Ethik, wie z.B. des ethischen Imperativs Heinz von Foersters "Handle stets so, daß die Anzahl der Möglichkeiten wächst."49. Es wird deutlich, zumal wenn man die Meinung teilt, Ethik stelle operationalisierte Sinneinsicht dar, daß Aussagen des Konstruktivismus zum Bereich menschlicher Wahrnehmung und ihrer Konstruktivität zunächst einmal auf einer metaethischen Ebene relevant sind. Da diese aber in essentiellen Bereichen, wie dargestellt, auf Entscheidungen unentscheidbarer Fragen basieren, kann man die Position des Konstruktivismus im Hinblick auf Ethik als nonkognitivistisch-dezisionistische charakterisieren, was freilich nicht bedeutet, daß eine derartige Position nicht mit guten Gründen belegbar sei. Als ein gutes Beispiel für eine ethische Operationalisierung konstruktivistischer Sinneinsicht und deren normative Sätze zweiter Ordnung möchte ich auf den Artikel "Systemisches Denken und Ethik" von Marianne Krüll verweisen.50 Krüll legt darin den gelungenen Entwurf eines rekursiven Ethikansatzes vor, der aus dem Kontext der erkenntnistheoretischen Implikationen des Konstruktivismus heraus entwickelt wird.51 49 50 Foerster, H. von (1993b) S. 49. Krüll, M. (1987) Systemisches Denken und Ethik. Politische Implikationen des systemischen Perspektive. In: Z.system.Ther. 5 (4) S. 250-255. 51 Krüll gelingt es in ihrem konstruktivistischen Entwurf einer Metaethik, einen naturalistischen Fehlschluß zu vermeiden, was meiner Meinung nach bei Humberto Maturana nicht immer der Fall ist. Vgl. hierzu Maturana, H. (2. Aufl. 1985) Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig / Wiesbaden, S. 29-31; 79-80; und Maturana, H. (3. Aufl. 1987) Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. München. S. 257-270. 16 Die Überlegungen Krülls lassen sich folgendermaßen mit Hilfe der von mir vorgeschlagenen Unterscheidung von Assoziation und Dissoziation schematisieren: Auf der Objekt- oder Null-Ebene leben Menschen assoziiert und meist unbewußt kultur- und kontextspezifische Moralen, die für sie in ihren Normen und deren Begründungen verbindlich und plausibel sind. Auf Ebene 1 werden dann dissoziiert die eigene und andere Moralen durch metaethische Aus- Rekursion: (Krüll: Ebene 3) Assoziation: (Krüll: Ebene 0) meta-meta-ethische Aussage moralische und metamoralische Aussagen: "Du sollst ..." "Du sollst nicht, weil ..." "Meta-ethische Aussagen 2. Ordnung basieren auf Moral." * 2. Dissoziation: (Krüll: Ebene 2) 1. Dissoziation: (Krüll: Ebene 1) meta-ethische Aussagen 2. Ordnung: (normativ) meta-ethische Aussagen 1. Ordnung: (deskriptiv) "Keine Ethik ist absolut gültig." "Es gibt viele Ethiken" sagen beschrieben. Es kann dabei zur der Beobachtung kommen, daß es in pluralistischen Gesellschaften und global nicht einfach das 'Universum' einer Moral52 gibt, sondern daß vielmehr von den 'Multiversa' vieler Moralen und von deren kulturellen Kontextualität auszugehen ist. Auf Ebene 2 kommt es im Hinblick auf die deskriptiven metaethischen Aussagen von Ebene 1 zu einer Bewertung, die jeder einzelnen Moral und den dazugehörigen Ethiken ihre eigene 'Wahrheit' zuspricht, so daß keine von ihnen für sich, möglicherweise sogar mit Macht einen Absolutheitsanspruch erheben darf. An dieser Stelle erhebe sich, so berichtet Krüll von ihren Studenten/innen, meist ein "verzweifeltempörter Aufschrei"53 der - für mich ganz analog zu dem von Wrede geschilderten Bedürfnis - nach der Gewißheit von etwas Absolutem verlange. Hier ist nun "eine entscheidende Wendung vonnöten: Ich behaupte, daß die Kritik des Objektivitätsanspruchs, die mir auf der Ebene 2 möglich wird, ihrerseits auf inhaltlichen Prämissen basiert, die selbst eine Ethik implizieren."54 Der Übergang zur Ebene 3 ist in seiner Möglichkeit von der Entscheidung abhängig, ob die Betroffenen eine Rekursion (im Sinne des "Kümmere dich um dich selbst!") mitvollziehen können.55 Das bedeutet aus meiner Sicht, daß dieser Schritt davon abhängig ist, ob sie ihren eigenen moralischen Vollzug, aus dessen immanenter Logik heraus sich ja die meta-ethische Aussage 2. Ordnung ergeben 52 Wenn Krüll hier von 'Ethiken' spricht, dann meint sie Ethiken und Moralen. 53 Krüll, M. (1987) S. 252. 54 Ebd. 55 'Rekursion' bedeutet in diesem ethischen Kontext also, daß die moralisch-ethischen Anteile meta-ethischer Positionen erkannt und anerkannt werden, bzw. anders formuliert, daß man sich ganz bewußt dem eigenen, assoziierten Vollzug des Einnehmens einer solchen meta-(meta-)ethischen Position widmet. 17 hat, in seiner letztlichen Unbegründetheit und Freiheit - es handelt sich um eine Entscheidung unentscheidbarer Fragen - akzeptieren und affirmieren können. Die Gewißheit des Absoluten, und die wird ja z.B. um der Gerechtigkeit willen mit großem emotionalen Engagement reklamiert, ist aber meiner Meinung nach nur vermittels der höchst subjektiven ontologischen Affirmation zu finden. Erst die ontologische Anerkennung des eigenen Vollzuges und des darin aufscheinenden Absoluten (Seins), vermag dieses 'einzig Notwendige' aus konstruktivistischer Sicht zu vermitteln. Dies ist übrigens letztlich auch die Begründung von Absolutheit in allen religiösen Systemen: sie ergibt sich immer erst aus der freiheitlichen Deutung des eigenen Seinsvollzuges als eines von Transzendenz (= absolutem Sein oder, religiös formuliert: Gott) abhängigen, beispielsweise 'kreatürlichen' Vollzuges. Objektivität beruht demnach folglich immer auf transzendentaler Subjektivität, und Gewißheit entsteht aus dieser Perspektive immer erst auf der Grundlage der freiheitlichen Selbst-Vergewisserung im eigenen, aktuellen Seinsvollzug. Erst wenn diese ontologische Affirmation geleistet ist, kann dieser Selbstvollzug mit Gewißheit in sich ruhen und mit Gelassenheit von sich selbst als Anfang ausgehen. Damit verändert sich auch das Verhältnis zu anderen, vor allem dann, wenn diese Meinungen, Moralen, Sinneinsichten vertreten, welche die eigenen radikal in Frage stellen. Wenn die eigene Gewißheit sich der Affirmation des eigenen Vollzuges verdankt, und nicht einer Korrespondenz mit dem 'Objektiven' einer absolut wahren Erkenntnis, dann kann ich durch andere, die meine Grundlegung mit angeblich absoluten und objektiven Gründen bestreiten, nicht radikal verunsichert werden. Letztbegründungsdiskussionen haben ihren Sinn verloren und weichen der Bereitschaft, vom jeweils aktuellen Selbstvollzug z.B. in einer Moral bei mir selbst und beim anderen auszugehen und einen maieutischen Dialog zu beginnen, der dann, wieder auf der assoziierten Ebene, zu neuen gemeinsam erzeugten Sinneinsichten und deren Handlungsverbindlichkeiten zu finden versucht. Die wichtige Entscheidung fällt mithin beim Übergang zur Ebene 3: "Sobald ich also bei der Betrachtung der ethischen Bewertung und Begründung meines Verhaltens mich selbst rekursiv einbeziehe, ergibt sich ein Zirkel, aus dem ich nicht entrinnen kann, weil - wie auch in anderen Bereichen sprachlicher Rekursivität - die Reflexion über die Prämissen meines Reflektierens von eben diesen Prämissen ausgehen muß."56 Die Entscheidung zur Rekursivität verhindert einen infiniten Regress in immer neue Meta-Positionen, bzw. einen mit Absolutheit vertretenen und zur Machtausübung neigenden Wahrheitsanspruch auf einer der unteren Ebenen, und eröffnet den Eintritt in eine hermeneutische Spirale, die sich über die Zeitachse hinweg auf jeweils neuem Niveau (Ebenen 0', 0'', 0''' ...) vollzieht. Wenn der in unserem Schema dargestellte Prozeß mit seinen Entscheidungen als Selbstvergewisserung durchlaufen ist, dann beginnt er, möglicherweise im Dialog, auf einer neuen Ebene, jedoch unter veränderten Voraussetzungen, Einsichten und Wertungen. Darin besteht für mich der originäre Beitrag des Konstruktivismus zur Ethik. Und wen wird es wundern, wenn beim Dialogpartner ganz ähnliche Einsichten gefunden werden, so daß aus dieser Gemeinsamkeit, die nicht einmal mehr auf Originalität zur eigenen Selbstbestätigung bestehen muß, Allianzen erwachsen können, die den verbindend-verbindlichen Werten und Zielen dienen, d.h. hier dem Anliegen von Ethik. Ich habe versucht, durch Beschreibung dieses Prozesses aus der Perspektive einer Unterscheidung von Assoziation und Dissoziation zu verdeutlichen, daß es sich bei dem mit einem * gekennzeichneten Punkt um den entschiedenen Wiedereintritt in die assoziierte Position einer konkreten Moral handelt, bzw. der Anerkenntnis der Einsicht, daß jede Ebene von ihr und von allen anderen Ingredienzen des menschlichen Selbstvollzuges imprägniert ist. Die verschiedenen Dissoziationen vollziehen sich ja immer in assoziierten Vollzügen der entsprechenden Meta-position. Und das kann zu massiven Widerständen führen, durch die sich in unserem Fall Ethiker gegen die Ungewißheit und Kontextualität 56 Ebd. 18 einer 'Ethik in Klammern' wehren. An dieser Stelle ist meiner Meinung nach die Kraft für eine 'ontologische Affirmation' des eigenen, moralischen Selbstvollzuges gefordert. Es handelt sich, wie oben dargestellt, um die Bejahung des eigenen Vollzuges, der seiner selbst bedarf, um sich vollziehen zu können und deshalb als ein Akt freier Wahl, einer Präferenz erscheint, für den es keine zwingenden Gründe geben kann, eben die Entscheidung einer unentscheidbaren Frage.57 Es mag sein, daß die Kraft für eine solche Affirmation, für diese Selbstannahme, die das andere seiner selbst, d.h. letztlich der Lebenswirklichkeit, mit einschließt, vor allem im Vertrauen von Gemeinschaft gefunden wird, in der einer dem anderen diese Affirmation gleichsam als Voraus-gabe respektvoll entgegenbringt 'Wirklichkeit = Gemeinschaft'. Das aber ist erneut der Weg, den ich in der sokratischen Maieutik zu erkennen glaube. Damit komme ich zum letzten Punkt meiner Ausführungen, nämlich der Frage nach dem Wie des Konstruktivismus im gesellschaftlichen Diskurs der Ethik unter dem Horizont der 'Multiversa' vieler Moralen und Ethiken, d.h. auch im Dialog mit Nicht-Konstruktivisten, bzw. mit Kognitivisten oder letztlich wem auch immer. Es versteht sich, nach dem eher im Hinblick auf interne Diskussionen Gesagten von selbst, daß Diskussionen um die Frage nach metaethischen Ausgangsprämissen, die, mit einem Wahrheitsanspruch verbunden, stringente Beweisgänge rekonstruieren wollen, unfruchtbar und wenig hilfreich sein werden. Ich möchte vielmehr die Gelegenheit nutzen, um auf den maieutischen Ansatz des Kommunitarismus hinzuweisen, wie er in den Vereinigten Staaten etwa von Michael Walzer58 vertreten wird. Die Rekonstruktion seiner Grundpositionen ergibt im Hinblick auf Ethik große Übereinstimmungen mit der konstruktivistischen Position, wie ich sie hier dargestellt habe: Da Letztbegründungen im ethischen Diskurs nicht zu erreichen sind, bleibt nur der kontinuierliche Dialog und Streit zwischen den verschiedenen Interpretationen als letzter Instanz. Solche konkreten Dialoge und Diskurse sind von entscheidender Bedeutung für Grundlegungsfragen; Diskurspraxis ist das eigentliche Terrain von Ethik. Zu einer Verständigung zwischen den verschiedenen Interpretationen und Moralen kommt es dabei nicht durch dissoziierte Abstraktionen von den jeweiligen moralischen Vollzügen und deren impliziten Auffassungen, sondern vielmehr durch Prozesse gegenseitigen Verstehens ("Vertrauen ist das Problem!"). Konsensualität, d.h. Wahrheit, und evtl. Universalität einer gemeinsamen Moral können, und darin stimme ich mit Walzer völlig überein, am besten in den durch eine Maieutik des fragend-interessierten Dialogs entdeckten Analogien und Gemeinsamkeiten an Zielen, Motivationen etc. erreicht werden. Das bedeutet auch, daß ethische Positionen nicht heteronom in Form von Ansprüchen von außen an die Betroffenen herangetragen werden können, sondern vielmehr immanent-interpretativ aus der bereits gegebenen Moral der Betroffenen heraus entwickelt werden müssen. Selbstvollzüge und deren impliziten Sinneinsichten, bzw. Selbstverständnisse, werden befragt und in ihrem kritischen Potential im Hinblick auf eine rekursive Anwendung erhellt. Das Motto könnte dabei etwas plakativ lauten: "Erkenne dich selbst!", "Entdecke, was in dir steckt an wirklichem Wollen und an festen Überzeugungen, und bleibe dir selbstkritisch darin treu." 57 Ganz ähnlich beschreibt von Foerster die Erscheinung von Sprache, die "sich gegen Erklärung schützt, in dem sie immer über sich selbst spricht. ... Demzufolge befinden wir uns dort, wo wir begonnen haben. Zirkularität: A impliziert A. ... In ihrer Erscheinung ist die Sprache, die ich spreche, meine Sprache. Durch sie werde ich meiner bewußt: dies ist die Wurzel des Bewußtseins." Foerster, H. von (1993a) S. 80-82. 58 Vgl. hier besonders: Walzer, M. (1993) Kritik und Gemeinsinn. Drei Wege der Gesellschaftskritik. Frankfurt a.M. 19 Es mag sein, daß es bei einem solch respektvollen Umgang mit den Überzeugungen des anderen zu einem guten Rapport, zu einem Vertrauen, zu einer Gemeinsamkeit kommt, aus der heraus dann auch wechselseitig die Erlaubnis gegeben wird, für Verstörungen und Fragen, die dem jeweils anderen einen möglichen Weg zeigen, den gegebenen Selbstvollzug im Sinne einer Optimierung zu erweitern, zu verändern und zu transzendieren. Hermeneutik erweist so, gegen alle Unterstellungen, ihr kritisches Potential, indem sie in konkreten Situationen die internen Brüche, Inkongruenzen, Probleme und Schwächen herausarbeitet, und dafür dann praxisnahe Lösungswege sucht, die sich aus den vorhandenen Ressourcen der Beteiligten ergeben und die sich möglicherweise in anderen Kontexten bereits bewährt haben. Walzer grenzt dieses Vorgehen, das ziemlich genau beschreibt, was ich mit dem sokratischen Weg der Maieutik gemeint habe, von zwei anderen, häufig gewählten Wegen moralphilosophisch-ethischer Argumentation ab: Wer den "Pfad der Entdeckung"59geht - wie in der Religionsgeschichte z.B. Moses, der das göttliche Gesetz durch Offenbarung empfängt, oder wie solche Philosophen, die wahre Erkenntnisse über die Natur zu besitzen glauben -, der meint, ein göttliches Gesetz oder ein Naturrecht gefunden zu haben, auf das alle verpflichtet seien. Die Durchsetzung erfolge dann durch die "Arbeit der Exekutive"60, d.h. auf dem Weg von Macht und tendenziell sogar auch von Gewalt. Der zweite Weg ist der "Pfad der Erfindung", den Walzer mit der Arbeit einer verfassunggebenden Versammlung vergleicht, und für den er als 'bekanntestes und elegantestes' Beispiel die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls benennt.61Von Motivationsproblemen, die sich bei diesen beiden Wegen ergeben, einmal abgesehen, lassen sich die Pfade der Erfindung und der Entdeckung durch Befragung ihrer immanenten Logik als "Fluchtwege"62 enttarnen, die zu äußeren Instanzen ihre Zuflucht nehmen, weil sie der vorhandenen Moral, "die einfach da ist, die sich als Produkt von Zeit, von Zufällen, äußeren Einflüssen sowie als Ergebnis politischer Kompromisse, fehlbarer und partikularistischer Absichten herausgebildet hat"63, keine Verpflichtungskraft und Autorität zutrauen. Auch hier wird wieder eine Gewißheit gesucht, die sich nicht aus der Selbstvergewisserung des eigenen Vollzuges nährt, sondern aus heteronomer 'Objektivität'. Dieses Unternehmen muß aber aus konstruktivistischer Sicht prinzipiell und erfahrungsgemäß im Pluralismus differenzierter moderner Gesellschaften scheitern. So bleibt nur der "Pfad der Interpretation", der eine Bestandsaufnahme der vorhandenen Moral versucht und sich in eine ständige Diskussion begibt. "Die Kritik des Bestehenden beginnt - oder kann doch beginnen - mit Grundsätzen, die dem Bestehenden bereits innewohnen."64 Der 'Pfad der Interpretation', meiner Meinung nach der Weg der Maieutik, setzt also nicht bei der Diskussion der Entscheidung der unentscheidbaren Frage ein, ob wir nun im Sinne von Foersters 'Erfinder' oder 'Entdecker' der Wirklichkeit seien. Er beginnt mit einer Affirmation dieser Entscheidung, geht vom faktisch gegebenen Selbstvollzug in der Entscheidung solcher Fragen aus und vollzieht damit so etwas wie eine ontologische Affirmation der aktuellen Kommunikationssituation, ihrer Partner und deren Voraussetzungen. 59 Ebd. S. 11. 60 Ebd. S. 27. 61 Ebd. S. 19. 62 Ebd. S. 30-31. 63 Ebd. S. 30. 64 Ebd. S. 31. 20 Das hat Konsequenzen für die Art und Weise, wie sich Ethik nach Walzer als individuelle und gesellschaftliche Kritik vollziehen sollte, für die Beantwortung der Frage nach ihrem 'Wie': In der Auseinandersetzung mit verschiedenen Gesellschaftskritikern kommt Walzer - er ist Jude - zur Beschreibung eines kritischen Ethikertypus, der für ihn beispielhaft im Prophetentum des alten Israel repräsentiert wird. Demnach ist der Kritiker kein Außenseiter, keine kritische Instanz von außen, die über universelle Prinzipien verfügt. Vielmehr herrscht bei den Betroffenen der Eindruck: "Dieser Kritiker ist einer von uns. Doch vielleicht hat er Reisen gemacht und im Ausland studiert, doch er beruft sich auf örtliche und vor Ort geltende Grundsätze; wenn er auf seinen Reisen neue Ideen gewonnen hat, so versucht er, diese mit der heimischen Kultur zu verknüpfen, wobei er sich auf seine ureigene Kenntnis stützen kann; er steht seiner Gesellschaft nicht mit intellektuellem Abstand gegenüber. Ebensowenig steht er im emotionalen Abstand zu ihr; er will nicht das Beste für die Einheimischen, sondern bemüht sich, ihr gemeinsames Unterfangen zum Erfolg zu führen."65 Warum sollte nicht die Beschäftigung mit dem Konstruktivismus einer solchen Reise vergleichbar sein, auf der man neue Ideen gewinnt? Und, mit Verlaub, Walzer liefert hier eine ziemlich genaue Beschreibung der maieutischen Methode des Sokrates, der mich immer noch von meiner Fensterbank aus ansieht und mich aufzufordern scheint: "Erkenne dich selbst in dem, was du tust! Und stell die richtigen Fragen - dir selbst und anderen!" 65 Ebd. S. 49.