P O L I T I K PP Stammzellforschung Das Argument des Sokrates oder: Die Frage nach dem therapeutischen Gebrauch menschlicher embryonaler Stammzellen D as Denken des modernen Menschen ist geprägt von den Abläufen der Technik. In der Rationalität der Technik ist das Verhältnis von Mittel und Ziel für alle klar. Gut ist ein technisches Mittel, wenn es effizient ist. Gut ist eine Druckmaschine, wenn sie schnell und kostengünstig Papier bedruckt, und besser ist ihr Nachfolgemodell, wenn es diese Effizienz zu erhöhen vermag. Kein technisches Mittel hat einen Wert in sich, sondern es definiert sich allein über seine funktionale Brauchbarkeit. Die Allgegenwart technischer und wirtschaftlicher Rationalität der Gegenwart stellt eine Herausforderung für das philosophische Nachdenken über menschliches Handeln dar, das Ethik genannt wird. Auch menschliches Handeln kennt Ziele ebenso wie Mittel zum Ziel. Die Frage drängt sich auf: Ist es nicht auch in der Ethik so, dass mit der Festlegung eines Zieles die Auswahl der Mittel nur noch eine Frage der Zweckmäßigkeit darstellt? Wenn ein Ziel gut ist – kann es dann überhaupt noch ein anderes Kriterium für das Gutsein der Mittel geben als die Effizienz? Alfred Sonnenfeld* * Dr. med. Dr. theol. Alfred Sonnenfeld ist Lehrbeauftragter für Bioethik und Mitglied der Ethikkommission an der Charité, Humboldt-Universität, zu Berlin. Mittel zu solchem Zweck rechtfertigen soll. Man würde heute sagen: Kriton arallem dadurch geworden, dass seine öf- gumentiert „teleologisch“ oder „verantfentliche Moral zu einer gesellschaftli- wortungsethisch“. Auf einen anderen chen Konvention degeneriert war. Einen Standpunkt stellt sich Sokrates. Für ihn sichtbaren Beleg dafür bot die überragen- zählt nur die Frage, ob die Handlung de Stelle der Sophisten, die Rhetorik und selbst, die zur Debatte steht, also die Manipulation an die Stelle objektiver Flucht, als solche gerecht ist. Für ihn gilt Wahrheit gesetzt hatten. Durch sein kom- das unumstößliche Axiom: Man darf auf promissloses, ja herausforderndes Ver- keine Weise Unrecht tun. Kein übergehalten gegen deren These von der bloßen ordneter guter Zweck kann zur LegitiKonventionalität der Moral galt Sokrates mation eines Verhaltens dienen, das in als unerhörter Provokateur. Sokrates sich betrachtet schlecht und ungerecht wagte es, die scheinbar gesellschaftlich ist. Denn, so gibt der Philosoph seinem allgemein akzeptierte und gut legitimier- Freund Kriton zu bedenken: „Man soll te Polis-Sittlichkeit der Athener freimütig nicht einfach dem Leben den größten im Namen allgemeingültiger Wahrheiten Wert beimessen, sondern dem Rechtund Werte infrage zu stellen. Dies brach- Leben“1. Darum entscheidet sich Sokrates dafür, den Gesette ihm den Tod ein. zen nicht zu entflieFrüh hat man erKein übergeordneter hen und lieber den kannt, dass der Tod des guter Zweck kann zu erleiden, als Sokrates mehr ist als zur Legitimation eines Tod ein Unrecht zu tun. einer der vielen bedauVerhaltens dienen, Sokrates ist zutiefst erlichen Justizirrtümer das in sich betrachtet davon überzeugt, dass der Geschichte. Er ist ein bis heute gültiges schlecht und ungerecht ist. es in einer Entscheidungssituation für den Paradigma für eine Grundentscheidung in der Beurteilung Handelnden allemal besser ist, „Unrecht sittlichen Handelns. Platon hat dies in zu leiden, als Unrecht zu tun“. Nicht ein seinem Dialog „Kriton“ zum Ausdruck Pragmatismus, der alles in Kauf nimmt, zu bringen versucht. Dieser Dialog zwi- um seine Ziele und Interessen durchzuschen dem gleichnamigen Freund des setzen, ist das höchste Gut für den MenSokrates und dem Meister spielt in des- schen, sondern das umfassendere Gutsen Gefängniszelle, morgens vor Son- Sein der Seele. Die moralische Integrität nenaufgang, zwei Tage vor der Hinrich- einer menschlichen Handlung wird also tung. Im letzten möglichen Augenblick durch das Erleiden eines Unrechts nicht sucht Kriton seinen Freund auf, um ihn beeinträchtigt, wohl aber durch jedes zur Flucht ins Ausland zu überreden; al- Unrechttun – auch wenn es scheinbar nur les Notwendige dafür hat er schon in die den Bereich der Mittel betrifft. Das Unrechttun ist nicht nur deshalb schlecht, Wege geleitet. Doch Sokrates lehnt ab. In den unterschiedlichen Argumenta- wenn der Handelnde sich dadurch an eitionen des Kriton und des Sokrates an- ner anderen Person vergeht, sondern es gesichts des Problems „Fliehen oder ist abzulehnen, weil der Handelnde sich bleiben?“ begegnen uns zwei grundsätz- selbst, sofern er ein zur Sittlichkeit beliche, konträre Sichtweisen für die Beur- fähigtes Wesen ist, damit schädigt. Diese teilung menschlichen Verhaltens. Kriton Sittlichkeit orientiert sich an Handlungsargumentiert ganz vom übergeordneten (guten) Zweck her, der die Flucht als 1 Platon, Kriton, 47 d–48 b (Stuttgart 1998), S. 46. PP Heft 2 Februar 2002 Deutsches Ärzteblatt 59 Das umfassende Gut-Sein Um die Bedeutung der Thematik zu begreifen, empfiehlt es sich, einen Blick auf den berühmtesten Justizmord der Geschichte zu werfen, der im Jahr 399 v. Chr. stattfand. Sein prominentes Opfer: der griechische Philosoph Sokrates. Der tragische Urteilsspruch gegen ihn beruhte auf vielerlei Gründen, zu denen das allgemeine Klima weltanschaulicher Unsicherheit und eine gewisse Unbeholfenheit der attischen Gesetze gehörten. Orientierungslos war Athen nach der Niederlage im Peloponnesischen Krieg vor PP P O L I T I K normen, die absolut und allgemein gelten, ohne dass übergeordnete Zwecke diese Geltung relativieren könnten. Darum gibt es konkrete Handlungsforderungen und -verbote, die sich jeglicher Abwägung entziehen. Solche Verbotsnormen zeigen Grenzen menschlichen Handelns an, die nicht überschritten werden dürfen. Ebenfalls wie für Sokrates sind für Aristoteles2 absolute Handlungsverbote menschliche Handlungen, die immer gelten. Weil sie objektiv schlecht sind, das heißt: sie sind unter allen Umständen sittlich verdorben, deshalb sollen sie immer und für jeden Fall unterlassen werden. Das gilt auch dann, wenn solche Handlungen durch hinzukommende, gut gemeinte Absichten beeinflusst werden. Die moralische Identität der absoluten Handlungsverbote kann durch keine dazukommende Absicht oder Folgenabschätzung neu beschrieben oder neu definiert werden. Sie bleibt resistent gegenüber allen hinzukommenden, gut gemeinten Überlegungen. Tugend der Gerechtigkeit Absolute Handlungsverbote beziehen sich auf bestimmte Handlungsweisen, die einen konkreten ethischen Kontext ausdrücken, die, wenn sie dennoch begangen werden, einen schweren Verstoß gegen eine oder mehrere Tugenden implizieren3. Ein absolutes Handlungsverbot wählen bedeutet, sich gegen eine bestimmte Tugend zu entscheiden. So wird etwa durch die gezielte Tötung eines Embryos zu Forschungszwecken die Tugend der Gerechtigkeit empfindlich getroffen. Mit der Entfernung der inneren Zellmasse des Embryos im Blastozystenstadium wählt der Arzt den Tod eines Menschen. Dieser Handlungsvollzug fällt immer unter die Intention des Tötens und prägt den Willen des Arztes. Er ist in sich betrachtet ein Akt der Un2 Aristoteles, Nikomachische Ethik, II, 61107 a 9–18. M: Die Perspektiven der Moral. Philosophische Grundlagen der Tugendethik (Berlin 2001), S. 303–321. 4 Vgl.: Sonnenfeld A: Selbstverwirklichung oder Selbstvernichtung. Gewissen und ethisches Handeln im ärztlichen Beruf, in: Dtsch Arztebl, 1990; 87: A 1507–1515 [Heft 19]. 5 Vgl.: Röm, 3,8, in abgewandelter From: „Man darf nie etwas Schlechtes tun, um ein Gut zu erwirken.“ 3 Vgl.: Rhonheimer 60 gerechtigkeit, weil er die Entscheidung für den Tod eines unschuldigen Menschen impliziert. Die Tugend der Gerechtigkeit bedeutet ja vor allem, dass ich den anderen als mir Ebenbürtigen anerkenne. Die goldene Regel aber verbietet mir, dass ich dem Nächsten seine Existenz aberkenne: „Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem anderen zu.“ Dieses Lebensrecht jeder Person ist die Grenze aller Güterabwägungen. Die Folgen einer solchen Handlung führen an erster Stelle zu einer Verformung im Willen des Handelnden selbst. Sollte sich diese Handlung wiederholen, bliebe eine dauernde Verformung des Gewissens nicht aus4. Um diese Gefahr zu vermeiden, sollte eine bioethische Debatte stattfinden, die nicht fragt, wie sich die Menschen faktisch verhalten, sondern wie sie sich verhalten sollen. Medizinische Ethik zielt nicht darauf ab, ob eine Handlungsweise für richtig gehalten wird, sondern ob sie richtig ist, das heißt also, ob sie tatsächlich der menschlichen Würde dient. Das Argument des Sokrates bleibt aktuell. In der bioethischen Debatte geht es im Wesentlichen um dasselbe Problem wie damals: Es geht um die Frage nach der Absolutheit und Allgemeingültigkeit von Handlungsnormen angesichts von übergeordneten Zielsetzungen, die diese Normen scheinbar relativieren. Und ganz konkret geht es um die Frage, ob der Grundsatz, „dass man niemals die Tötung eines Unschuldigen als Mittel zu einem anderen Zweck anstreben oder wählen darf“5, zu diesen unantastbaren ethischen Grundsätzen zählt. Das Ziel medizinischer Ethik zu formulieren scheint einfach zu sein: Es handelt sich, so lautet ein überzeugender Vorschlag, um eine „Ethik des Heilens“. Die Formel klingt überzeugend. Niemand wird bezweifeln, dass etwa im Blick auf einen Parkinson-Kranken die Heilung genau dieses Leidens für den Arzt eine ethisch gute Tat ist. Nun aber muss auch über die konkrete Umsetzung des ethischen Leitsatzes nachgedacht werden. Damit steht man vor dem entscheidenden Schritt in der aktuellen Stammzelldiskussion. Beim Umgang mit Embryonen hat man es mit einer Handlung zu tun, die in sich selbst beurteilt werden muss, weil sie ein Objekt betrifft, das stets in sich, in sei- nem Eigenwert, und niemals bloß als Mittel fremder Zwecke zu betrachten ist. Denn mit der Vereinigung der beiden Vorkerne von Ei- und Samenzelle ist die genetische Identität des neu entstandenen menschlichen Lebens fixiert. Damit ist seine Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies festgelegt. Seine Sonderstellung liegt im einzigartigen Chromosomensatz begründet, der das inhärierende Potenzial einer kontinuierlichen Entwicklung in sich vereint. Somit kommt dem Embryo in vollem Umfang Menschenwürde zu. Jede andere Position würde eine Instrumentalisierung der Menschenwürde bedeuten. Die Würde des Menschen Erst in der ganzheitlichen, Ziel und Mittel in ihrem untrennbaren Zusammenhang berücksichtigenden Betrachtung wird medizinische Ethik ihrem Anspruch gerecht, „Ethik des Heilens“ zu sein. Denn auch der Heilungswille darf den Arzt nicht dazu veranlassen, die ethische Betrachtung einer Handlung am Maßstab einer aspekthaften, am Paradigma der Technik ausgerichteten Zweckrationalität vorzunehmen. In der Technik kann das Mittel zur reinen Funktion erklärt werden, ohne dass man den Gesamtprozess falsch einschätzt. Menschliches Handeln dagegen ist nur dann gut, wenn das gute Ziel auch durch solche Mittel verwirklicht wird, die in sich der Würde des Menschen, den man behandelt, nicht widersprechen. Behandelt wird aber nicht nur der Patient, sondern auch der ungeborene Mensch, dessen Körpermaterial man benutzen will. Therapeutisches Handeln ist wie jedes Handeln nur dann „gut“ im umfassenden Sinne, wenn darin der Mensch in jedem Stadium seiner Existenz davor geschützt wird, zum bloßen Mittel erklärt und damit als Person negiert zu werden. Nur wenn der Arzt in diesem größeren Sinne „gut“ handeln will, tut er etwas, das ihn selbst erfüllen kann. ❚ Zitierweise dieses Beitrags: Dtsch Arztebl 2002; 99: A 271–272 [Heft 5]. Anschrift des Verfassers: Dr. med. Dr. theol. Alfred Sonnenfeld Universitätsklinikum Charité Ethik-Kommission des Virchow-Klinikums. Lehrgebäude Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin PP Heft 2 Februar 2002 Deutsches Ärzteblatt