Abschlussarbeiten am Institut für Europäische Studien (AIES-online) Nr. 9 Zur heutigen Bedeutung der Europäischen Union als transatlantischer Partner der USA – unter Berücksichtigung des Friedensprozesses im Nahen Osten von Anika Meister August 2012 Anika Meister ist Absolventin des Studienganges Europa-Studien. Der hier vorliegende Text stellt die gekürzte Fassung ihrer Bachelorarbeit dar, die an der Professur für Europäische Integration erarbeitet und von Prof. Dr. Matthias Niedobitek betreut wurde. Impressum Herausgeber: Institut für Europäische Studien Anschrift: TU Chemnitz, Institut für Europäische Studien, Thüringer Weg 9, 09126 Chemnitz Erscheinungsort: Chemnitz Inhaltsverzeichnis 1 Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis ........................................................................................................... 3 I EU, USA und die Bedeutung der transatlantischen Beziehungen ............................ 4 II Europäische Union und Vereinigten Staaten als Akteure im Nahostkonflikt ........... 7 1. Kurzer historischer Abriss des israelisch-palästinensischen Konflikts .................... 7 2. Vom Geldgeber zum Vermittler – EU-Initiativen im Nahen Osten ....................... 11 2.1 Verschiedene europäische Nahostansätze bis zum Jahr 2000 .................... 12 a) Barcelona-Prozess .................................................................................. 13 2.2 Spezifisches Nahost-Engagement der EU im neuen Jahrtausend ................ 15 b) Europäische Nachbarschaftspolitik ........................................................ 15 c) Union für das Mittelmeer ....................................................................... 16 d) EUBAM Rafah ......................................................................................... 18 e) EUPOL COPPS.......................................................................................... 19 2.3 Positive Entwicklungen und Rückschläge ..................................................... 21 3. Die USA als Hauptakteur im Nahostkonflikt .......................................................... 22 3.1 Policy of balance und special relationship – das Engagement amerikanischer Präsidenten im Nahen Osten bis 1990 ............................... 23 3.2 Verhandlungsführung im Friedensprozess und war on terrorism – amerikanische Nahostpolitik 1990-2008...................................................... 24 4. Transatlantische Zusammenarbeit im Nahen Osten - Asymmetrien und Arbeitsteilung ........................................................................................................ 25 III EU: Aufstieg der europäischen Wirtschaftsmacht zum globalen politischen Akteur ............................................................................................... 27 1. Außenpolitische Kompetenzen der EU – bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ............................................................................................ 29 1.1 Die Entwicklung der EU-Außenkompetenzen .............................................. 29 1.2 Deklaratorisch, zivil-humanitär, militärisch – das Handlungsspektrum europäischer Außenpolitik ........................................................................... 31 1.3 Außenpolitische Gesichter und Akteure der EU........................................... 32 1.4 Erfolge und Grenzen einer einheitlichen europäischen Außenpolitik ......... 33 2. Vertragliche Veränderungen durch Lissabon: Außenpolitik besser koordinieren .......................................................................................................... 34 2.1 Weiterentwicklung der EU-Außenkompetenzen durch den Vertrag von Lissabon .................................................................................... 35 Inhaltsverzeichnis 2 2.2 Hoher Vertreter, gewählter Ratspräsident – neue Gesichter des auswärtigen Handelns der EU ...................................................................... 36 2.3 Der Europäische Auswärtige Dienst und weitere institutionelle Neuerungen .................................................................................................. 37 2.4 Die EU als erfolgreicher außenpolitischer Akteur dank Vertrag von Lissabon? .................................................................................. 39 3. Vernachlässigung des Nahen Ostens im Zuge der Vertragsreform ...................... 40 IV Amerikanische EU-Politik der Administration Obama – Quo vadis, Europa? ......... 40 1. Die transatlantische Außenpolitik der USA vor Präsident Obama ........................ 41 1.1 Die USA als Großmacht in der bipolaren Welt des Kalten Kriegs................. 41 1.2 Die USA als einzig verbliebene Großmacht: Multilateralismusansätze und war on terrorism .................................................................................... 42 2. Obamas multilaterale Versprechen....................................................................... 45 2.1 Neues Bild der USA, neuer Politikstil, Wandel – und Kontinuität ................ 45 2.2 Pragmatismus statt Change we can believe in ............................................. 49 3. Dialog im Nahen Osten – Obamas Offerten und Forderungen an Israelis, Palästinenser und Araber ...................................................................................... 50 4. Einbindung und burden sharing – Obamas Europapolitik..................................... 52 V Das Schicksal der transatlantischen Partnerschaft ............................................... 53 1. Die transatlantischen Beziehungen gestern und heute ........................................ 54 2.1 Transatlantische Sicherheitspartnerschaft als Mittelpunkt des Kalten Kriegs ................................................................................................. 54 2.2 Neuausrichtung und Institutionalisierung seit dem Ende des Ost-West-Konflikts ................................................................................. 55 2.3 G20, Ad-hoc-Gruppen, Vereinte Nationen – die Bedeutung der transatlantischen Kooperation für Präsident Obama .................................. 57 2. Gemeinsamkeiten und Unterschiede – was begründet die transatlantischen Beziehungen? ........................................................................................................ 60 2.1 Soft power vs. hard power vs. smart power ................................................. 60 2.2 Pazifischer Präsident Barack Obama ............................................................ 62 3. Neue transatlantische Zusammenarbeit im Nahen Osten – Quartett und Querelen .......................................................................................... 64 4. Bedeutende transatlantische Beziehungen mit abnehmender Bedeutung der Europäischen Union ..................................................................... 66 Quellen- und Literaturverzeichnis ........................................................................................ 70 Abkürzungsverzeichnis 3 Abkürzungsverzeichnis AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union a.F. alte Fassung EAD Europäischer Auswärtiger Dienst EEA Einheitliche Europäische Akte EG Europäische Gemeinschaft ENP Europäische Nachbarschaftspolitik EMP Euromediterrane Partnerschaft EPZ Europäische Politische Zusammenarbeit ESS Europäische Sicherheitsstrategie ESVP, GSVP Europäische/Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik EU Europäische Union EUBAM Rafah EU-Grenzbeobachtermission (European Union Border Assistance Mission for the Rafah Crossing Point) EuGH Gerichtshof der Europäischen Union EUPOL COPPS EU-Polizeimission (European Union Police Mission for the Palestinian Territories) EUV Vertrag über die Europäische Union EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft GASP Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik GATT Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen (General Agreement on Tariffs and Trade) HV Hoher Vertreter (der Union für Außen- und Sicherheitspolitik) IStGH Internationaler Strafgerichtshof LAS Arabische Liga (League of Arab States) MDL Mittelmeerdrittländer NAFTA Nordamerikanisches Freihandelsabkommen (North American Free Trade Agreement) NATO Organisation des Nordatlantikvertrags (North Atlantic Treaty Organization) NTA Neue Transatlantische Agenda NSS Nationale Sicherheitsstrategie (National Security Strategy) SU Sowjetunion PA Palästinensische Autonomiebehörde (Palestinian Authority) PLO Palästinensische Freiheitsorganisation (Palestine Liberation Organization) TEC Transatlantischer Wirtschaftsrat (Transatlantic Economic Council) TEP Transatlantische Wirtschaftspartnerschaft (Transatlantic Economic Partnership) UfM Union für das Mittelmeer UK Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland (United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland) UN, UNO Vereinte Nationen (United Nations Organization) USA Vereinigte Staaten von Amerika (United States of America) I EU, USA und die Bedeutung der transatlantischen Beziehungen I 4 EU, USA und die Bedeutung der transatlantischen Beziehungen "Europa war gestern, der Mittlere Osten ist heute, Asien ist morgen."1 – das sei die außenpolitische Prioritätensetzung der amerikanischen2 Regierung seit dem Ende des Kalten Kriegs. Es zeige sich eine Abkehr von Europa; die Bedeutung der Europäischen Union (EU) als Partner der Vereinigten Staaten nimmt ab. Diesen Trend hat auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel erkannt: "Die Welt wartet nicht auf Europa.", warnte sie als EU-Ratspräsidentin im März 2007 bei der 50-Jahr-Feier der Gründung der Europäischen Gemeinschaften durch die Römischen Verträge.3 Europa muss sich wandeln, um in der Welt bedeutend zu bleiben. Inhaltliche Reformen und Änderungen rechtlicher Natur hat der Vertrag von Lissabon mit sich gebracht, der im Dezember 2007 von den 27 Mitgliedstaaten der Union unterzeichnet wurde und am 1. Dezember 2009 in Kraft trat. Der Vertrag zielt vor allem auf eine verbessere außenpolitische Handlungsfähigkeit der EU. Neue Akteure wie der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik (HV) sowie der für 2,5 Jahre gewählte Präsident des Europäischen Rats sollen der Union ein Gesicht in der Welt geben. Noch wichtiger als ein Gesicht ist jedoch eine gemeinsame europäische Stimme, um als effektiver global player auftreten zu können. Mit dem Vertragswerk sollte die EU-Außenpolitik insgesamt kohärenter werden. Im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) wurde jedoch das Abstimmungsverfahren im Konsens beibehalten – dies stärkt die Rolle der Mitgliedstaaten und hindert eine kraftvolle europäische Außenpolitik. Der wichtigste internationale Partner der Europäischen Union sind die Vereinigten Staaten von Amerika (USA). Nach dem Zweiten Weltkrieg förderten sie den wirtschaftlichen Aufschwung des Kontinents und sorgten im Kalten Krieg für Sicherheit vor der Sowjetunion (SU), dem gemeinsamen Gegner. Nachdem der Ost-West-Konflikt 1990 endete, blieben die engen transatlantischen Beziehungen bestehen. Sie sind von starken wirtschaftlichen Interdependenzen geprägt. In den 1990er-Jahren traten Meinungsverschiedenheiten zwischen dem seit dem Vertrag von Maastricht 1993 auch politisch erstarktem Europa und seinem amerikanischen Mentor zutage. Die transatlantische Kooperation wurde in der Folge durch verschiedene Abkommen institutionalisiert; die Partner verpflichteten sich weiterhin gemeinsamer Werte und dem Fortbestehen enger 1 Bierling 2007: 8 Die Autorin verwendet die Bezeichnungen "amerikanisch" und "Amerika" synonym mit "US-amerikanisch" bzw. "Vereinigte Staaten". 3 Merkel 2007: 3 2 I EU, USA und die Bedeutung der transatlantischen Beziehungen 5 sicherheitspolitischer Beziehungen. Ihren Tiefpunkt erreichte die Partnerschaft mit dem Irak-Krieg 2003, in den der amerikanische Präsident George W. Bush ohne Mandat der Vereinten Nationen (UNO) unilateral bzw. mit einer "Koalition der Willigen" zog. Die divergierenden Ansichten hinsichtlich des Einsatzes militärischer Macht, der Nutzung internationaler Organisationen und der Achtung des Völkerrechts spaltete die transatlantischen Partner. Die Beziehungen blieben während der gesamten Amtszeit von Bush angespannt. Verbesserungen erhofften sich die Europäer durch die Wahl Barack Obamas zum neuen amerikanischen Präsidenten. Der charismatische Demokrat versprach einen multilateralen Neuanfang der amerikanischen Außenpolitik, eine Rückbesinnung auf wichtige Verbündete und echte Arbeitsteilung – inklusive der Teilung von Lasten und Kosten. Präsident Obama sieht sich jedoch nicht nur dem transatlantischen Bündnis verpflichtet, sein Ansatz ist global. Als "Amerikas erster pazifischer Präsident" wendet er sich vor allem Asien, insbesondere China, zu. "Europa war gestern, der Mittlere Osten ist heute, Asien ist morgen." – Dieses Zitat stammt von 2007, zur Zeit des amerikanischen Engagements im Irak, Afghanistan und Pakistan. Sollte das "morgen" mit Präsident Obama begonnen haben, hat Asien die EU als wichtigsten Partner der USA überholt? Internationale Akteure, darunter die Vereinigten Staaten, bemängeln häufig die schwierige Zusammenarbeit mit der Europäischen Union in globalen Fragen: Die EU wird als zu schwerfällig, zu vielstimmig und zu unmilitärisch kritisiert. Diese Mängel suchte die EU durch die Reformen im Vertrag von Lissabon zu überkommen. Schnelle Einsatztruppen, die Übertragung von Missionen an kleinere Gruppen von Mitgliedstaaten, klar definierte außenpolitische Repräsentanten sowie die Ausweitung der Gemeinsamen Sicherheitsund Verteidigungspolitik (GSVP) sollen die Defizite beseitigen und somit die Union als sicherheitspolitischen Partner in der Welt und besonders für die USA attraktiver gestalten. In dieser Arbeit soll untersucht werden, ob die verbesserte außenpolitische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union deren Bedeutung als transatlantischer Partner der USA stärkt, oder ob die amerikanischen Beziehungen zu Asien die traditionelle Kooperation mit Europa ablösen. I EU, USA und die Bedeutung der transatlantischen Beziehungen 6 Von Belang für die transatlantischen Beziehungen ist der Nahostkonflikt4, die wohl bedeutendste internationale Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Die USA agierten seit der Staatsgründung Israels 1949 als Vermittler zwischen den Konfliktparteien. Auch die Europäische Union bzw. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) engagierten sich zeitig, um zu einer Konfliktlösung beizutragen. Waren sie noch in den 1990er-Jahren hauptsächlich Geldgeber, verstärkte sich der politische Einfluss der Europäer vor allem durch die Integration in das 2002 gegründete Nahost-Quartett. Die USA bezweifelten zunächst den Erfolg europäischen Engagements, halten jedoch mittlerweile die EU an, vermehrt aktiv zu werden. Inwieweit die Zusammenarbeit von Europäischer Union und Vereinigten Staaten im nahöstlichen Friedensprozess den transatlantischen Beziehungen förderlich ist, soll ebenfalls untersucht werden. Die Bedeutung des Konflikts ist enorm: The Israeli-Palestinian arena will either serve as a way to mend the transatlantic relationship, or it will turn into a new source of discord.5 Die Arbeit untersucht drei Schwerpunkte, um die aktuelle Bedeutung der transatlantischen Beziehungen zu klären. In Kapitel III geht es zunächst um die Europäische Union als globaler Akteur und Partner der Vereinigten Staaten. Um ihre Entwicklung von einer europäischen Wirtschaftsmacht zu einem wichtigen politischen player der Internationalen Politik nachzuvollziehen, werden die außenpolitischen Kompetenzen der EU sowie das historische Umfeld, durch das die Union sie erhalten hat, aufgezeigt. Im Mittelpunkt des Kapitels stehen die Veränderungen europäischer Außenpolitik durch den Vertrag von Lissabon. Bei der Untersuchung der außenpolitischen Akteure, Institutionen und Handlungsformen soll herausgestellt werden, ob die Europäische Union sich zu einem fähigen und attraktiven Partner zur Bearbeitung globaler Herausforderungen entwickelt hat. Kapitel IV wirft anschließend einen Blick über den Atlantik und untersucht die EU-Politik der Amerikaner. Auch da geht es zentral um den Wandel, den die amerikanische Politik durch Barack Obama erfuhr. Die Ankündigungen und tatsächlichen Aktionen des Präsidenten werden verglichen, und seine Kooperationen sowohl im atlantischen als auch im pazifischen Raum werden analysiert und gewichtet. Das V. Kapitel ist dann den transatlantischen Beziehungen selbst gewidmet. Unter Berücksichtigung der Veränderungen auf beiden Seiten des Atlantiks, der gemeinsamen Werte und Interessen sowie unterschiedli- 4 In dieser Arbeit bezeichnet der Begriff "Nahostkonflikt" einzig die Auseinandersetzungen zwischen Israel und den Palästinensern. 5 Lasensky 2004: 30 II Europäische Union und Vereinigte Staaten als Akteure im Nahostkonflikt 7 cher Prioritäten und Methoden der ungleichen Partner soll die Frage der Bedeutung der EU und der transatlantischen Kooperation für die USA beantwortet werden. Die drei Kapitel sind ähnlich strukturiert. Um die jeweiligen Veränderungen verdeutlichen zu können, widmet sich der erste Abschnitt stets der Situation vor der Neuerung, also vor Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags und vor der Amtseinführung Barack Obamas. Abschnitt zwei Kapitels untersucht die jeweiligen Neuerungen umfangreich. Im vierten Abschnitt wird dann dargelegt, welchen Einfluss sie auf die Beziehungen von EU und USA haben. Der dritte Teil widmet sich den Aktivitäten von Union und Vereinigten Staaten im Nahen Osten. Dabei soll ebenfalls gezeigt werden, welche Änderungen Lissabon und der neue Präsident veranlassten. Zur besseren Einordnung und für den nötigen Hintergrund zum nahöstlichen Friedensprozess, behandelt bereits Kapitel II dieses Thema. Neben einem kurzen historischen Abriss sind dort die Aktivitäten und Initiativen von EU und USA dargelegt. Dies dient ebenfalls dem späteren Vergleich der Ansätze vor und nach der Zäsur durch die Vertragsreform und den neuen Präsidenten. Wird in der Arbeit Bezug auf die europäischen Verträge genommen, beziehen sich die Artikel stets auf die aktuelle Fassung, die mit dem Vertrag von Lissabon am 1.12.2009 in Kraft getreten ist. Sollten Formulierungen vorangegangener Fassungen von Bedeutung sein, um Veränderungen herauszustellen, wird die Quellenangabe "EUV" (Vertrag über die Europäische Union) um "a.F." (alte Fassung) ergänzt und bezieht sich auf die durch den Vertrag von Nizza 2003 geänderte Fassung. II Europäische Union und Vereinigte Staaten als Akteure im Nahostkonflikt Um die Untersuchungen anhand des Friedensprozesses im Nahen Osten nachvollziehen zu machen, soll dieses Kapitel zunächst einen knappen Überblick über den israelischpalästinensischen Konflikt und das Engagement der Europäischen Union sowie der Vereinigten Staaten geben. Zunächst wird die Geschichte der Ereignisse dargestellt, um den Konflikt und die verschiedenen Maßnahmen zur Konfliktlösung historisch einordnen zu können. Anschließend werden die europäischen und amerikanischen Aktivitäten in der Region erläutert, um in den folgenden Kapiteln die Veränderungen aufzeigen zu können. 1. Kurzer historischer Abriss des israelisch-palästinensischen Konflikts Als im späten 19. Jahrhundert in Europa der Antisemitismus erstarkte, wanderten vermehrt europäische und russische Juden nach Palästina aus. Theodor Herzl gründete 1897 8 II Europäische Union und Vereinigte Staaten als Akteure im Nahostkonflikt die zionistische Bewegung, die einen Nationalstaat als Heimstätte aller Juden forderte. Während der zweiten Einwanderungswelle 1904-1914, vor allem aus Russland und Polen, wurde das Land im Nahen Osten systematisch besiedelt, mit dem Ziel, einen jüdischen Staat zu errichten. Es entstanden landwirtschaftliche Kommunen (hebräisch: Kibbuzim), jüdische Städte wie Tel Aviv sowie Institutionen wie "Polizei, Militär, Justiz, Schulen, Banken, Parteien, Gewerkschaften etc."6 Nach der Kapitulation des Omanischen Reiches im Ersten Weltkrieg besetzte das Vereinigte Königreich (UK) Palästina. 1922 erhielt es vom Völkerbund das Mandat für Palästina7 mit dem Ziel, die Balfour-Deklaration umzusetzen. Es handelte sich dabei um einen Brief des britischen Außenministers A. J. Balfour an den Unterstützer der zionistischen Bewegung Lord Rothschild, in dem die britische Regierung der "Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina"8 zustimmte. Dabei solle "nichts geschehen …, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nicht-jüdischen Gemeinschaften in Palästina oder die Rechte und den politischen Status der Juden in anderen Ländern in Frage stellen könnte"9. Schon während der Mandatszeit kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den ansässigen Arabern und der jüdischen Bevölkerung, die rasch zunahm.10 Nachdem das Vereinigte Königreich 1946 die Verantwortung über Palästina an die Vereinten Nationen als Nachfolgeorganisation des Völkerbundes zurückgab, entwickelten diese einen Teilungsplan, welcher in der UN-Resolution 181 vom 29.11.1947 niedergeschrieben ist. Auf dieser Grundlage sollten in Palästina ein jüdischer und ein palästinensischer Staat entstehen. Daraufhin begann im Nahen Osten eine Welle von Gewalt, da die arabische Seite empört über die aus ihren Augen ungerechte Teilung war und die Umsetzung der Resolution zu verhindern versuchte.11 Unmittelbar nachdem Israel am 14. Mai 1948 die eigene Staatlichkeit ausrief, griffen die arabischen Nachbarstaaten Ägypten, Transjordanien12, Syrien, Irak und der Libanon Israel an, um die Entstehung des jüdischen Staates rückgängig zu machen.13 Damit begann der erste Nahost-Krieg, in Israel als Unabhängigkeitskrieg bekannt, der bis zum 7. Januar 1949 andauerte und den jüdischen Staat als Sieger hervorbrachte. 6 In der Folge vergrößerte Israel sein Staatsgebiet bis an die Johannsen 2006: 15f. Das damalige Palästina bestand aus dem heutigen Israel, den palästinensischen Gebieten und Jordanien. 8 Balfour-Erklärung 1917 9 Ebd. 10 Vgl. Johannsen 2006: 19 11 Vgl. Weber 1991: 53 12 heute Jordanien 13 Vgl. Timm 2008: 12 7 II Europäische Union und Vereinigte Staaten als Akteure im Nahostkonflikt 9 Waffenstillstandslinien14, die mit den Anrainerstaaten in Waffenstillstandsabkommen festgelegt wurden.15 Neben der Staatsgründung Israels fand die Gründung eines palästinensischen Teilstaates, wie ebenfalls von der UNO vorgeschlagen, nie statt. Der Gazastreifen wurde fortan von Ägypten verwaltet und die Westbank von Jordanien annektiert. Jerusalem wurde geteilt.16 1967 startete Israel seinen ersten Präventivschlag gegen Ägypten, Jordanien und Syrien, der zu einem sechstägigen Kurzkrieg führte. Dem voraus gegangen waren Provokationen der Ägypter und Syrier, insbesondere die erneute Schließung des Golfs von Akaba durch Ägypten, wodurch Israel der Zugang zum Roten Meer verwehrt wurde.17 Am 9. Juni 1967 endete der Krieg mit einem Waffenstillstand. Statt eines Rückzugs Israels an die Grenzlinien von 1956 wurden die durch die Militäraktion entstandenen Grenzen beibehalten. Israel konnte den Sinai, die Golanhöhen, den Gazastreifen sowie die West Bank einschließlich Ost-Jerusalem erobern. Im Zuge des Krieges verabschiedete der UNSicherheitsrat die Resolution 242, in der Israels Rückzug aus den besetzen Gebieten im Gegenzug für Friedensverträge mit den Nachbarstaaten gefordert wurde. Israel wurde am 6. Oktober 1973 im Yom-Kippur-Krieg von den Nachbarstaaten Ägypten und Syrien angegriffen, die ihre im Sechstagekrieg an Israel verlorenen Gebiete zurückerobern wollten.18 Die Kampfhandlungen wurden auf beiden Seiten von den Supermächten USA und Sowjetunion militärisch unterstützt, was zu einer direkten Konfrontation der atomar bewaffneten Rivalen hätte führen können. Die USA deeskalierten allerdings den Konflikt, indem sie nach 20 Tagen einen Waffenstillstand zwischen Ägypten und Israel erzwangen, dem sich Syrien anschloss.19 In der Folge kam es 1978 durch die Vermittlung des amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter zum Camp David-Abkommen, was 1979 einen Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel ermöglichte, in dem auch die Rückgabe der Sinai-Halbinsel an Ägypten geregelt wurde.20 In den Folgejahren startete die national-konservative Likud-Regierung Israels eine Siedlungswelle in der Westbank, um den israelischen Anspruch auf die Gebiete geltend zu machen und die Entstehung eines palästinensischen Staates zu verhindern. Dabei kam es zu Auseinandersetzungen und gewaltsamen Zusammenstößen mit der Palästinensischen 14 unter Green Line bekannt Vgl. Johannsen 2006: 23 16 Vgl. ebd.: 24 17 Vgl. Shannon 2003: 63 18 Vgl. Johannsen 2006: 29 19 Vgl. ebd. 20 Vgl. ebd.: 29f., Weber 1991: 112 15 II Europäische Union und Vereinigte Staaten als Akteure im Nahostkonflikt 10 Befreiungsorganisation (PLO), der Interessensvertretung der Palästinenser, welche bereits 1964 gegründet wurde. Am 6. Juni 1982 marschierte die israelische Armee in den Libanon ein, wo die PLO mit ihren gewaltbereiten Kämpfern ihr Hauptquartier eingerichtet hatte. Durch Vermittlung der USA zog sich die PLO nach wochenlangen Kämpfen aus dem Libanon zurück, Israel 1985. Die Situation im Südlibanon und Nordisrael blieb jedoch angespannt; die PLO, die israelische Armee und die libanesisch-schiitische Hisbollah lieferten sich bis in die 1990er-Jahre hinein Kämpfe, Angriffe und Vergeltungsschläge.21 1987 bis 1993 fand die Intifada statt, eine Kampagne des zivilen Ungehorsams und des gewaltsamen Aufbäumens von Teilen der palästinensischen Bevölkerung gegen die Besatzung ihrer Gebiete durch Israel.22 Während der (ersten) Intifada gründete sich die national-religiöse Islamische Widerstandsbewegung Hamas, die seit 2006 die palästinensische Regierung im Gaza-Streifen stellt.23 In den 1990er Jahren begann der Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern. Angestoßen wurde dies vor allem von US-Präsident Bill Clinton, der der Lösung des Nahostkonflikts eine hohe Priorität einräumte.24 Das Ende des Kalten Krieges 1990, das zur Auflösung der SU führte eröffnete den USA als nunmehr alleinige Supermacht außerdem neue Handlungsspielräume.25 Zudem erkannte die 1992 gewählte sozialdemokratische Regierung Israels die PLO als Verhandlungspartnerin für die Palästinenser an, und sah sie nicht mehr als kriminelle Vereinigung. Die PLO billigte weiterhin 1993 das Existenzrecht Israels in Frieden und Sicherheit und entsagte sich Terror und Gewalt.26 Auf mehreren Friedenskonferenzen, bi- und multilateralen Gesprächen unter anderem in Madrid (1991) und Oslo (1993), die von den Vereinigten Staaten und anderen Ländern moderiert wurden, erzielten die Beteiligten Fortschritte in verschiedenen Bereichen: die Etablierung zweier Palästinensischer Autonomiegebiete (Westbank und Gaza-Streifen) mit der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) als international anerkannte Führung, einen Friedensvertrag zwischen Israel und Jordanien (1994), Friedensgespräche zwischen Israel und Syrien (1995) sowie ein weiteres Abkommen zwischen Israel und den Palästinensern, Oslo II genannt (ebenfalls 1995).27 21 Vgl. Johannsen 2006: 30f. Vgl. ebd.: 34 23 Vgl. ebd.: 35 24 Vgl. Reich 2007: 217 25 Vgl. Johannsen 2006: 37f. 26 Vgl. ebd.: 39, 41f. 27 Vgl. ebd.: 40-43, 45, Pressman 2007: 262 22 II Europäische Union und Vereinigte Staaten als Akteure im Nahostkonflikt 11 Trotz der zahlreichen Gespräche konnte jedoch kein Endstatus verhandelt und die Osloer Abkommen nicht vollständig implementiert werden. Das Auseinanderbrechen der israelischen Regierungskoalition von Premierminister Ehud Barak im Jahr 2000 und die Rückkehr der Gewalt zwischen Israelis und Palästinenser legten den Friedensprozess vorerst auf Eis.28 Die Zweite Intifada, auch Al-Aqsa-Intifada, begann 2000 und war geprägt von Terrorakten und einer großen Anzahl ziviler Opfer auf beiden Seiten. Offiziell endete sie 2005 mit dem Waffenstillstandsabkommen von Scharm al-Scheich.29 Doch auch in den Folgejahren ebbte die Gewalt kaum ab; 2006 griffen israelische Streitkräfte erneut den Libanon30 an, Ende 2008 den Gaza-Streifen31. In der Zwischenzeit war das 2002 gegründete Nahostquartett, bestehend aus den USA, Russland, der Europäischen Union und den Vereinten Nationen, mit der Ausarbeitung einer Road Map für die Beilegung des Nahostkonfliktes beschäftigt, die 2003 vorgelegt wurde. Sie wurde sowohl von Israel als auch von den Palästinensern als Friedensplan akzeptiert.32 Der UN-Sicherheitsrat verabschiedete zudem Resolution 1397, die eine ZweiStaaten-Lösung zum Ziel hatte. Im Juni 2009 sprach Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu zum ersten mal von einem palästinensischen Staat: "… two free peoples living side by side …, each with its flag, anthem and government…". Die Gründung eines solchen Staates jedoch band er an strenge Auflagen: Er müsse Israel als das Heimatland des jüdischen Volkes anerkennen, demilitarisiert sein, keine Kontrolle über seinen Luftraum erhalten sowie den Einfluss der Hamas beseitigen.33 Mit all den Auflagen, welche die Palästinenser so nicht akzeptierten, konnte die Offerte nicht dem Fortschritt des Friedensprozesses dienen.34 Die fortwährende aktive Siedlungspolitik Netanjahus bestätigt, dass er eine Annäherung der Positionen nicht ernsthaft anstrebt. 2. Vom Geldgeber zum Vermittler – EU-Initiativen im Nahen Osten Aufgrund ihrer geografischen Nähe zum Nahen Osten haben die europäischen Staaten ein "gemeinsames Interesse"35 an einer friedlichen Konfliktbeilegung. Der Europäische Rat 28 Vgl. Johannsen 2006: 48f., Pressman 2007: 271 Vgl. Johannsen 2006: 49 30 Vgl. o.A. 2006 31 Vgl. Dahne 2008 32 Vgl. Freedman 2007: 291, 293, Müller 2009: 7 33 Vgl. o.A. 2009 34 Vgl. Herden 2009 35 Johannsen 2006: 120 29 II Europäische Union und Vereinigte Staaten als Akteure im Nahostkonflikt 12 formulierte dazu in der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS) von 2003: "Die Lösung des israelisch-arabischen Konflikts ist für Europa eine strategische Priorität."36 Verschiedene Aktivitäten der Union seit 1970 bekräftigen das. 2.1 Verschiedene europäische Nahostansätze bis zum Jahr 2000 Im November 1970, drei Jahre nach Israels erstem präventivem Krieg gegen seine arabischen Nachbarstaaten, trafen sich die sechs Außenminister der Gründungsstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in München, um eine abgestimmte europäische Außenpolitik zu erörtern. Auch wenn es sich dabei eher um eine Koordinierung der nationalen Positionen handelte, statt einer wahrhaft gemeinsamen Außenpolitik, war dies die Geburtsstunde der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ). Die Außenminister wählen den israelisch-palästinensischen Konflikt als ihr erstes zentrales Thema. 1973 veröffentlichte die EWG ihre erste gemeinsame Erklärung zum Nahostkonflikt. 37 Die Erklärung von Venedig im Jahr 1980 sollte der mittlerweile aus neun Staaten bestehenden EWG ein eigenständiges Profil im Konflikt geben. Sie propagierte, das "Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes anzuerkennen"38 und damit die PLO an Friedensgesprächen zu beteiligen, erkannte gleichzeitig aber auch Israels Recht auf eine Existenz Frieden und sicheren Grenzen an. Damit unterstützten die EWG-Staaten indirekt die Zwei-Staaten-Lösung.39 1993 fand eine "Zäsur in der europäischen Nahostpolitik"40 statt. Dies hatte zwei Hauptgründe. Zum einen veränderte der in jenem Jahr in Kraft getretene Vertrag von Maastricht die Situation in Europa: Die Europäische Union wurde gegründet41, und mit ihr die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Damit hat die EU den Anspruch, außenpolitisch mit einer Stimme zu sprechen.42 Der externe Grund für einen Wandel in der europäischen Nahostpolitik war der nahöstliche Friedensprozess, der 1993 in Oslo einen viel versprechenden Anfang nahm. In bilateralen Gesprächen sowie auf multilateralen Konferenzen konnte sich die Europäische Union als internationaler Akteur in den Prozess mit einbringen, wodurch es zu einer "Europäisierung der Nahostpolitik" kam.43 Die EU betei- 36 ESS 2003: 8 Vgl. Gaedtke 2009: 222, Johannsen 2006: 118f., Erklärung der neun Außenminister, 6.11.1973 38 Johannsen 2006: 119 39 Vgl. Ahlswede 2009: 40, Gaedtke 2009: 222 40 Johannsen 2006: 119 41 Zudem wurde die EWG in Europäische Gemeinschaft (EG) umbenannt. 42 Vgl. Johannsen 2006: 119 43 Vgl. Schäfer 2004: 46 37 13 II Europäische Union und Vereinigte Staaten als Akteure im Nahostkonflikt ligte sich vor allem finanziell und unterstützte die Palästinenser, Regierungs- und Ordnungsstrukturen zu etablieren, was den Aufbau eines palästinensischen Staates befähigen sollte.44 Neben finanziellen Direkthilfen engagierte sich die Europäische Union in den 1990er Jahren auf weiteren Ebenen, etwa im Rahmen der GASP, ihrer Außenwirtschaftspolitik, durch humanitäre Hilfe, internationale Diplomatie auf Friedenskonferenzen sowie im Rahmen des Barcelona-Prozesses:45 a) Barcelona-Prozess 1995 wurde in Barcelona die Euromediterrane Partnerschaft (EMP) gegründet. Mitglieder wurden die damals 15 EU-Staaten46 sowie 12 südliche Anrainerstaaten47 (Mittelmeerdrittländer, MDL). Die Zusammenarbeit in der Mittelmeerregion, die direkt an die EU angrenzt und die Kontinente Europa, Afrika und Asien miteinander verbindet, war sowohl für die Union als auch für die MDL für große Bedeutung. Im Vorfeld der Konferenz von Barcelona bestanden bereits bilaterale Verbindungen zwischen afrikanischen und EU- Mitgliedstaaten. Die EMP, auch Barcelona-Prozess genannt, sollte diese Beziehungen nun vereinheitlichen und ausbauen, und auf multilateraler Ebene effektiver gemeinsame Probleme zu bewältigen.48 Der Barcelona-Prozess wurde komplementär zum Nahost-Friedensprozess angelegt und hatte nicht zum Ziel, den Konflikt zu lösen. Allerdings wurde seine Arbeit immer wieder davon gelähmt, was beweist, dass sich die Prozesse kaum voneinander trennen lassen. 49 Mit einer gemeinsamen Aktion50 im Rahmen der GASP ernannte der Rat der EU 1996 einen Sonderbotschafter für den Nahen Osten. Miguel Angel Moratinos, spanischer Botschafter in Israel, nahm diesen Posten als erster wahr.51 Als Experte im NahostFriedensprozess konnte er der EU kompetent "Gesicht und Stimme" in der Region verleihen. Die Union profitierte von seiner ständigen Präsenz im Nahen Osten, seiner Funktion als Beobachter und Sprachrohr. Mit dieser neuen Institution "nahm die GASP im Nahen 44 Vgl. Asseburg 2009: 92 Vgl. Schäfer 2004: 47 46 Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Portugal, Schweden, Spanien 47 Ägypten, Algerien, Israel, Jordanien, Libanon, Malta, Marokko, Palästinensische Autonomiegebiete, Syrien, Tunesien, Türkei, Zypern 48 Vgl. Heese 2009: 22 f. 49 Vgl. Schäfer 2004: 51 50 Gemeinsame Aktion 96/676/GASP 51 Vgl. Ahlswede 2009: 98 45 II Europäische Union und Vereinigte Staaten als Akteure im Nahostkonflikt 14 Osten erstmals konkrete Gestalt an".52 Israel zeigte sich jedoch nicht erfreut darüber: Obwohl der israelische Außenminister David Levy den Austausch mit der Europäischen Union sowie die EU-Hilfen für die Palästinenser begrüßte, wünschte er keine europäische Einmischung in die Friedensverhandlungen. Auch zeigte er kein Interesse, Moratinos zu treffen.53 Es stellte sich jedoch heraus, dass Israel die Bedeutung des Sonderbeauftragten überschätzte. Sein Mandat war sehr eingeschränkt, er war weniger ein Verhandlungsführer als viel mehr ein Botschafter in der Region, der die Prozesse beobachtet und dem Rat der Europäischen Union Bericht erstattet. Sein Aufgabenfeld beschränkte sich auf Kommunikation statt aktiver Mediation zwischen den Konfliktparteien. In den darauf folgenden Jahren wurde der Sonderbeauftragte jedoch als Akteur der Friedensgespräche sehr geschätzt.54 Mit der Ernennung Javier Solanas als Hohen Vertreter der Außen- und Sicherheitspolitik im Jahr 1999 sollte die Präsenz der EU auf der internationalen Ebene noch verstärkt werden. Nach wie vor handelte es sich jedoch lediglich um eine koordinierte Außenpolitik der Mitgliedstaaten statt einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik.55 1999 verkündeten die EU-Staaten die Berliner Erklärung, in der wie sich, wie schon in der Erklärung von Venedig, sehr deutlich für eine Zwei-Staaten-Lösung im Nahostkonflikt aussprachen.56 Lange Zeit hatte Europa lediglich die "Rolle eines Zaungastes in der nahöstlichen Diplomatie"57 inne. Obwohl seit den 1970er-Jahren eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Israel und der EWG/EG stattfand, war der politische Einfluss der europäischen Staaten in der Region nur marginal. Auf der Nahost-Friedenskonferenz in Madrid 1991 kam der EWG nur ein untergeordneter Posten zu, zudem fühlte sie58 sich im Friedensprozess der 1990er-Jahre von Israel ignoriert.59 Während die USA die zentrale Vermittlerrolle in den politischen Verhandlungen zwischen Israel und der arabischen Seite innehatte, unterstützte Europa den palästinensischen Staatswerdungsprozess finanziell und ideell. 52 Dietl 2005: 12 Vgl. Ahlswede 2009: 99 54 Vgl. ebd.: 100 55 Vgl. Johannsen 2006: 119, Schäfer 2004: 49 56 Vgl. Gaedtke 2009: 225f. 57 Johannsen 2006: 118 58 bzw. die EU 59 Vgl. Ahlswede 2009: 40, 99 53 II Europäische Union und Vereinigte Staaten als Akteure im Nahostkonflikt 15 Trotz des geringen politischen Gewichts der EU hatte sie damit eine nicht zu unterschätzende wirtschaftliche Bedeutung im Nahen Osten.60 2.2 Spezifisches Nahost-Engagement der EU im neuen Jahrtausend Im Jahr 2002 wurde auf Anregung des EU-Sonderbotschafters für den Nahen Osten das Nahostquartett, bestehend aus den internationalen Akteuren USA, Russland, EU und UNO, ins Leben gerufen.61 Als Erfolg galt die Ausarbeitung der Road Map 2003, ein von allen Beteiligten akzeptierter Friedensfahrplan. Im neuen Jahrtausend entwickelte die Europäische Union zudem den Barcelona-Prozess weiter und beschloss neue Initiativen zu und mit ihren Nachbarstaaten, was auch Einfluss auf den Nahen Osten nahm: b) Europäische Nachbarschaftspolitik Die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) wurde im Mai 2004 durch ein ausführliches Strategiepapier der Europäischen Kommission62 begründet. Sie hat zum Ziel, die Zusammenarbeit mit den Ländern an den Außengrenzen der Union zu vertiefen und einen "Ring befreundeter Staaten"63 um die EU zu schaffen. Die ENP ist mit dem Vertrag von Lissabon in den Vertrag über die Europäische Union aufgenommen worden (Art. 8 EUV) und damit primärrechtlich als eine der Unionsaufgaben festgeschrieben.64 Kernelemente der ENP sind bilaterale Aktionspläne, die zusammen mit den jeweiligen Staaten ausgearbeitet und so speziell an die Bedingungen der unterschiedlichen Länder angepasst werden.65 Die EMP wurde, wie andere bereits existierende regionale Abkommen, in die ENP integriert, wobei die "bilaterale ENP die multilaterale EMP ergänzt und nicht ablöst"66. "Die ENP soll den Beitrag der EU zur Förderung der Beilegung regionale Konflikte stärken."67 – Mithilfe der Europäischen Nachbarschaftspolitik möchte die Europäische Union ihre Bemühungen, den Nahostkonflikt zu beenden, verstärken und spezifizieren. Jedoch konnte die EU keinen bedeutenden Beitrag zur Konfliktbeilegung leisten und die ENP hat versagt, ihren Verpflichtungen in der Region nachzukommen: 68 "Zur Lösung 60 Vgl. Gaedtke 2009: 224, Müller 2009: 7 Vgl. Ahlswede 2009: 100 62 Mitteilung KOM 2004/373 endg. 63 Gaedtke 2009: 160 64 Vgl. Vobruba 2010: 49 65 Vgl. Fröhlich 2008: 240 f., Vobruba 2010: 49 66 Jünemann 2005: 33 67 Mitteilung KOM 2004/373 endg.: 6 61 II Europäische Union und Vereinigte Staaten als Akteure im Nahostkonflikt 16 festgefahrener Konflikte in der Region hat die ENP wenig beitragen können. Die EU muss sich stärker einbringen und mehr Präsenz zeigen."69 c) Union für das Mittelmeer Der französische Präsident Nicolas Sarkozy schlug 2007 die Gründung einer Mittelmeerunion vor. Diese sollte eine neue Institution neben dem nur mäßig erfolgreichen Barcelona-Prozess werden. Anders als der EMP würden ihr nur Mittelmeeranrainerstaaten beitreten, nicht die gesamte Europäische Union. Diese Idee fand nicht bei allen Mitgliedstaaten Zustimmung, da ein Zerfall der EU befürchtet wurde, wenn sich ein Teil in der neuen Mittelmeerunion engagiere, ein anderer jedoch nicht.70 Um den Plan dennoch zu verwirklichen, wurden zwischen den EU-Staaten und den MDL Kompromisse ausgehandelt, und am 13. Juli 2008 wurde die Union für das Mittelmeer (UfM) aus der Taufe gehoben. Schon die Namensänderung deutet auf die Modifikationen und Umgestaltungen der Ursprungsidee hin: Die UfM stellt keine neue Institution dar, sondern führt den Barcelona-Prozess fort. Auch sind, wie bei der EMP, alle (nunmehr 27) EU-Mitgliedstaaten daran beteiligt. Des weiteren kamen noch die Küstenstaaten Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Mauretanien, Monaco und Montenegro hinzu, wodurch das Gewicht der MDL gegenüber der EU verstärkt wurde.71 Die euromediterrane Partnerschaft ist eng mit dem Nahostkonflikt verbunden. Die Spannungen belasten das Vertrauen der Akteure; Fort- und Rückschritte im NahostFriedensprozess sind die maßgeblichen Determinanten für den (Miss-)Erfolg des Barcelona-Prozesses. Die beiden Prozesse lassen sich nicht voneinander trennen, daher haben Rückschläge im Friedensprozess stets negative Auswirkung auf den Verlauf der EMP.72 Das Ziel der Europäischen Union war und ist die Beendigung des Konfliktes mit einer dauerhaften Zwei-Staaten-Lösung. Diese Absicht findet sich jedoch nicht in den Erklärungen der EMP oder der UfM wieder – hier wird versucht, den Nahostkonflikt auszuklammern.73 Dennoch haben die Spannungen zwischen Israel und den arabischen Staaten die Gründung der Union für das Mittelmeer sowie ihre bisherige Arbeit sehr beeinflusst. 68 Vgl. Wolff/Whitman 2008: 9 Mitteilung KOM 2006/726 endg.: 4 70 Vgl. Heese 2009: 45-47 71 Vgl. ebd.: 50-52, Jünemann 2009: 51 72 Vgl. Jünemann 2009: 51, Weiss 2002 73 Vgl. Fenko 2009: 194 69 II Europäische Union und Vereinigte Staaten als Akteure im Nahostkonflikt 17 Während der Aushandlung der UfM kam es zu Kontroversen um die Arabische Liga (LAS), deren Mitgliedschaft Israel nicht zustimmen wollte. Hierfür wurde der Kompromiss gefunden, dass die LAS an allen Treffen teilnehmen kann, jedoch nicht stimmberechtigt ist. Weitere Probleme werden sich auftun, wenn Israel für die MDL den Vorsitz in der CoPräsidentschaft übernimmt.74 Durch Boykotte arabischer Staaten nach dem Gaza-Krieg im Winter 2008/09 und die schwierige Regierungsfindung nach den Wahlen in Israel im Februar 2009 konnte die UfM erst verspätet ihre Arbeit aufnehmen. So verurteilte der Nahostkonflikt die Union für das Mittelmeer beinahe zum Scheitern, noch bevor sie vollständig implementiert werden konnte.75 Die euromediterrane Zusammenarbeit eröffnet jedoch auch Chancen für eine Entspannung zwischen Israel und den Palästinensern. Die Konferenzen etwa bieten den Rahmen für informelle Gespräche zwischen den Konfliktparteien auf administrativer Ebene, die von der Europäischen Union gefördert werden.76 Zudem verfolgte die EU noch vor der Gründung der UfM die Absicht, aktiver und direkt am Friedensprozess mitzuwirken. Hauptziel war dabei, die Palästinensische Autonomiebehörde zu befähigen, ihren Road Map-Verpflichtungen nachzukommen. Insbesondere sollte die PA unterstützt werden, in den so genannten A-Gebieten, die unter palästinensischer Sicherheitsverantwortung stehen, Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Die EU erließ dazu im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) auf Grundlage des Art. 14 EUV a.F. zwei neue Missionen, die European Union Border Assistance Mission for the Rafah Crossing Point (EUBAM Rafah) sowie die European Union Police Mission for the Palestinian Territories (EUPOL COPPS).77 Die Gemeinsamen Aktionen für "spezifische Situationen, in denen eine operative Aktion der Union für notwendig erachtet wird" (Art. 14 (1) Satz 2 EUV a.F.) wurde vom Rat wie in Art. 14 (1) Satz 1 EUV a.F. festgelegt, angenommen. Ebenso wurden "ihre Ziele, ihr Umfang, …, die Bedingungen und … der Zeitraum" (Art. 14 (1), Satz 3 EUV a.F.) festgelegt. 74 Vgl. Jünemann 2009: 51, Schwarzer/Werenfels 2008: 4 Vgl. Reiterer 2009: 320 76 Vgl. Schäfer 2004: 51 77 Vgl. Asseburg 2009: 92, Gaedtke 2009: 227f. 75 II Europäische Union und Vereinigte Staaten als Akteure im Nahostkonflikt 18 Die EU zielt mit ihren Instrumenten auf den ownership-Ansatz, d.h. alle Reformen und Veränderungen müssen aus der Region selbst kommen und den dortigen Verhältnissen angepasst sein:78 d) EUBAM Rafah Die EU-Beobachtermission hatte ihren Ursprung in Israels Abzug aus dem Gaza-Streifen im Spätsommer 2005. Die Fragen der Grenzkontrolle wurden mit dem israelischpalästinensischen Abkommen Agreement on Movement and Access sowie den Principles for the Rafah Crossing geklärt: Der Grenzübergang Rafah zwischen dem Gaza-Streifen und Ägypten sollte unter PA-Kontrolle regelmäßig geöffnet werden. Dabei wurde der EU als Drittpartei die Aufgabe zuteil, zwischen der PA und der israelischen Regierung Vertrauen zu schaffen, indem sie die Arbeit der palästinensischen Grenzbeamten unterstützt und überwacht.79 Der Rat der EU beschloss im November 2005 die Entsendung der EUBAM Rafah80, und nur vier Tage später konnte der Grenzübergang geöffnet werden. Die Mission war zunächst auf ein Jahr befristet, wurde danach mehrfach verlängert, zuletzt im Mai 2010 bis Mai 201181. Auf ihrer Website beschreibt die Mission ihre Aufgabe folgendermaßen: The aim of EUBAM Rafah is to provide a Third-Party presence at the Rafah Crossing Point in order to contribute, in cooperation with the Community's institution building efforts, to the opening of the Rafah Crossing Point and to build up confidence between the Government of Israel and the Palestinian Authority.82 Die Europäische Union besitzt am Grenzübergang keine exekutiven Befugnisse und kann keine selbstständigen Kontrollen durchführen, sondern als reine Beobachtermission ausschließlich die Grenzkontrolle überwachen. Zudem unternimmt sie allerdings auch Trainingsprogramme für die lokalen Sicherheitskräfte.83 Mit der Entführung des israelischen Soldats Gilad Shalit durch palästinensische Gruppen im Juni 2006 ließ Israel den normalen Grenzverkehr einstellen und eine Blockade über den Gaza-Streifen verhängen; der Grenzübergang wurde nur noch in Ausnahmefällen geöffnet. Obwohl die Palästinenser mit Unterstützung der EU die Verantwortung für den Grenzübergang Rafah besitzen, obliegt es der israelischen Regierung, über dessen Öffnung bzw. Schließung zu entscheiden. Als im Juni 2007 die Hamas die Macht im Gaza- 78 Vgl. Asseburg 2004: 3 Vgl. Asseburg 2009: 96 80 Gemeinsame Aktion 2005/889/GASP 81 Beschluss 2010/274/GASP 82 EUBAM Rafah (Hrsg.) 2010 83 Vgl. Asseburg 2009: 97, 103 79 II Europäische Union und Vereinigte Staaten als Akteure im Nahostkonflikt 19 Streifen übernahm, wurde der Übergang vollständig geschlossen. Seitdem ist die Mission suspendiert, die Einsatzfähigkeit wird jedoch aufrechterhalten, um im Falle einer Wiedereröffnung des Grenzüberganges wieder vor Ort sein zu können. EUBAM Rafah ist jedoch de facto gescheitert.84 Für die Europäische Union bedeutete die Grenzmission, sich vor Ort präsent zu zeigen und als aktiver Spieler im Nahen Osten aufzutreten. Zudem arbeitete sie darauf hin, die Rolle des Zahlmeisters durch eine konstruktive Rolle im Friedensprozess zu ersetzen. Da die EU aufgrund ihrer langjährigen Unterstützung der Palästinenser zum Teil als parteiisch wahrgenommen wurden, wollte sie mit dieser vertrauensbildenden Mission auch ihre Unvoreingenommenheit unter Beweis stellen.85 Durch die Kontaktsperre mit der Hamas, die von der EU und den USA als terroristische Vereinigung geführt wird 86, ist der politische Einfluss Europas im Konflikt und bzgl. des Handelns der Regierung im Gaza-Streifen jedoch stark begrenzt.87 e) EUPOL COPPS Auf Betreiben des Sonderbotschafters der EU eröffnete die Union im Januar 2005 in Ramallah das European Coordinating Office for Palestinian Police Support (EU COPPS), ein Büro, um die Beratung und Reform der palästinensischen Polizei voranzutreiben. 88 Um EU COPPS aufzuwerten und die lokale zivile Polizei noch effektiver unterstützen zu können, entsandte der Rat der EU die ESVP-Mission EUPOL COPPS89. Ihr Ziel ist die Verbesserung der operativen Kapazität der Polizei in den Autonomiegebieten, eine Reform des Justizwesens sowie langfristig die Reform des gesamten Sicherheitssektors. Durch Trainingsprogramme, Beratung, finanzielle und technische Ausstattungshilfe soll die Polizeiarbeit in palästinensischer Eigenverantwortung gefördert werden, mit internationalen Standards und in Kooperation mit der Europäische Kommission und anderen internationalen Akteuren.90 Die Absicht der Mission ist es, die "Verwirklichung einer Zwei-Staaten-Regelung (zu) befördern"91. 84 Vgl. ebd.: 103f. Vgl. ebd.: 97 86 Vgl. Müller 2009: 8 87 Vgl. Asseburg 2009: 106 88 Vgl. ebd.: 94 89 Gemeinsame Aktion 2005/797/GASP 90 Vgl. Asseburg 2009: 92, 94 91 Ebd.: 95 85 II Europäische Union und Vereinigte Staaten als Akteure im Nahostkonflikt 20 EUPOL COPPS startete im Januar 2006 und war zunächst auf drei Jahre befristet, später wurde sie mehrfach verlängert, aktuell bis Ende 201192. Die Mission war jedoch von Beginn an mit politischen Schwierigkeiten konfrontiert. Als im März 2006, nur zwei Monate nach ihrem Beginn, die Hamas in die palästinensische Regierung gewählt wurde, stellte die EU ihre Unterstützung aufgrund der Kontaktsperre zur Hamas zunächst ein. Erst als der Palästinenserpräsident Mahmud Abbas im Juni 2007 in der West Bank eine Übergangsregierung ohne Hamas einsetzte, konnte EUPOL COPPS de facto erst ihre Arbeit aufnehmen. Sie ist damit auf die West Bank beschränkt und kann nur etwa ein Drittel der palästinensischen Polizei erreichen.93 Durch ihre Trainingsmaßnahmen konnte die EU bereits einige Erfolge erzielen, jedoch gleichen alle "bisherigen Aktivitäten eher einem Sammelsurium von Einzelmaßnahmen" statt einem strategischem Aufbauplan.94 So konnten kaum langfristige Strukturreformen bei Polizei, Recht oder Justiz durchgeführt werden.95 Als positiv an der Mission sind die engen Absprachen mit den USA und Israel hervorzuheben: Während die USA die Präsidialgarde und die Nationalen Sicherheitskräfte der Palästinenser ausbilden, ist die EU arbeitsteilig ausschließlich für die zivile Polizei und den Justizbereich zuständig. Insgesamt wurden die palästinensischen Kapazitäten gestärkt. Die mangelnde Umsetzung grundlegender Reformen ließ jedoch die palästinensische Eigenverantwortung in den Hintergrund rücken, welche zu stärken die Hauptaufgabe von EUPOL COPPS war.96 Die beiden ESVP-Missionen weisen unterschiedliche Erfolgsbilanzen auf. Während die Grenzbeobachtermission faktisch als gescheitert gilt, ist die Unterstützung der palästinensischen Polizei noch aktiv. Trotz einzelner Erfolge sind jedoch auch dort noch keine umfassenden Reformen erzielt wurden. Da die Europäische Union nicht mit den Hamas zusammenarbeitet, wird der Handlungsspielraum der beiden Missionen stark eingeschränkt, was zudem deren Legitimität beeinträchtigt.97 Die Isolierung der Hamas wird als kontraproduktiv für die langfristige Zielsetzung der Europäischen Union gesehen, die zudem mit Gefahren verbunden ist, da sich die EU der Möglichkeit beraubt, "Einfluss auf die die palästinensische Regierung zu nehmen"98. 92 Beschluss 2010/796/GASP Vgl. Asseburg 2009: 93, 96, 98f. 94 Ebd.: 100 95 Vgl. ebd. 96 Vgl. Asseburg 2009: 95, 101, 106 97 Vgl. ebd.: 107 98 Müller 2009: 8, vgl. auch Müller 2009: 5f., Asseburg 2009: 106f. 93 II Europäische Union und Vereinigte Staaten als Akteure im Nahostkonflikt 21 Insgesamt konnte die Union ihr Engagement im Nahen Osten seit dem Beginn des Osloer Friedensprozesses 1993 kontinuierlich ausbauen. Seit Beginn der Zweiten Intifada im Jahr 2000, verbunden mit der Schaffung des Hohen Vertreters der GASP 1999 sowie des Nahostquartetts 2002, wurde die EU zudem stärker diplomatisch aktiv.99 Dort, wo sich die USA zudem temporär aus den Vermittlungsbemühungen zurückgezogen haben, konnte sich die Europäische Union verstärkt einbringen.100 Im Nahostquartett kam 2002 auch der EU die Rolle des Vermittlers zu, die bisher die Vereinigten Staaten für sich beansprucht hatten. Diese Vermittlerfunktion konnte die Union auf der Nahostkonferenz in Annapolis 2007 als Teil des Quartetts wahrnehmen. 101 Mit der Einbindung der EU in das Quartett fand die "gewachsene europäische Rolle Anerkennung" bei den anderen Akteuren102. 2.3 Positive Entwicklungen und Rückschläge Lange Zeit wurde die europäische Nahostpolitik als "Politik der Deklarationen"103 kritisiert, da die EU nicht über die militärischen Handlungsmöglichkeiten und das nötige politische Gewicht verfügte, um ihre Erklärungen und Standpunkte durchzusetzen. Zudem bestehen, trotz des "gemeinsamen Interesses an Stabilität in der Nachbarregion"104, noch immer Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten über die europäischen Interessen in Nahost. Als Vermittler zwischen Israel und den Palästinensern kann die Union noch immer nicht in einen Wettbewerb mit den USA treten, da einerseits die militärischen Ressourcen nicht vorhanden sind, und andererseits die EU es nicht vermag, mit einer gemeinsamen Stimme zu sprechen. Zudem lehnt Israel eine europäische Vermittlerrolle oft ab.105 Der Mangel an Einstimmigkeit wurde vor allem nach dem Gaza-Krieg im Winter 2008/09 deutlich, als die europäische Reaktion "als zu vielstimmig und zu schwerfällig kritisiert" wurde106. Nationale Egoismen spielen noch immer eine große Rolle, weshalb etwa der französische Präsident im Januar 2009 parallel zu und unabhängig von einer EUDelegation in die Region reiste. Auch die oben angesprochene Isolierungspolitik gegenüber der Hamas erschwert ein konstruktives europäisches Vorgehen im Friedensprozess. 99 Vgl. Müller 2009: 7 Vgl. Schäfer 2004: 46 101 Vgl. Gaedtke 2009: 229, Johannsen 2006: 118 102 Gaedtke 2009: 226 103 Schäfer 2004: 49 104 Johannsen 2006: 120 105 Vgl. ebd.: 120f., Schäfer 2004: 49 106 Gaedtke 2009: 230 100 II Europäische Union und Vereinigte Staaten als Akteure im Nahostkonflikt 22 Allgemein wird die Entwicklung des europäischen Engagements in nahöstlichen Friedensprozess jedoch positiv bewertet. Die EU wurde von einem "Newcomer auf der politischen Bühne" mit zunächst ausschließlich beobachtender Funktion "zu einem integralen Bestandteil und einer treibenden Kraft internationaler Friedensbemühungen", Dank ihrer Integration im Nahostquartett107. Dass in der europäischen Nahostpolitik noch immer Defizite vorhanden sind, wurde oben bereits erläutert. Dennoch hat sie "im Verlauf der letzten vierzig Jahre erheblich an Profil gewonnen"108. Während ihr in den 1970er- und 1980er-Jahren noch die politischen Instrumente fehlten, entwickelte sich die EU zum finanziell und später auch politisch wichtigen, unverzichtbaren Akteur im Friedensprozess.109 3. Die USA als Hauptakteur im Nahostkonflikt Die USA waren seit dem Aufkeimen des modernen arabisch-israelischen Konfliktes in der Region präsent. Schon nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zeigte sich die Bedeutung des Nahen Ostens in der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik: Das Öl spielte eine enorme Rolle.110 Auch der zionistischen Bewegung zeigten sich die Vereinigten Staaten zugeneigt. Während des Zweiten Weltkriegs und später im Kalten Krieg kam eine dritte, geopolitische Bedeutung der Region für die USA hinzu: Den Gegnern sollte keine Kontrolle des Nahen und Mittleren Ostens möglich sein.111 Heute sind die Vereinigten Staaten der "dominierende extra-regionale Akteur im israelisch-palästinensischen Konflikt"112. Zudem existiert eine special relationship, eine QuasiAllianz zwischen den USA und dem jüdischen Staat. Die drei Hauptgründe dafür sind kulturelle Gemeinsamkeiten, also eine emotional-moralische Ebene der Beziehungen, eine starke Israel-Lobby in Amerika sowie ein gewisser strategischer Wert Israels für die USA in der Region.113 Israel als Land der Einwanderer und Pioniere spiegelt klassische amerikanische Werte wider, zudem ist es die einzige westliche Demokratie in einem Meer aus autokratischen Staaten. Die Amerikaner sympathisieren mit dem underdog, dem Außenseiter. Die pro-israelische Lobby in den Vereinigten Staaten beruht vor allem auf der großen jüdischen Bevölkerung im Land. Deren Einfluss wird jedoch oft überbewertet, 107 Dietl 2005: 13 Gaedtke 2009: 231 109 Vgl. ebd. 110 Vgl. Shannon 2003: 32, Weber 1991: 45 111 Vgl. Shannon 2003: 35, 38 112 Johannsen 2006: 114 113 Vgl. Ahlswede 2009: 37 108 II Europäische Union und Vereinigte Staaten als Akteure im Nahostkonflikt 23 da die amerikanische Regierung trotz ihres Widerstandes mitunter Israel-kritische Beschlüsse erlässt.114 Israel wurde oft als strategic asset, als strategischer Posten der USA bezeichnet, der amerikanischen Interessen in der Region diene. Dies sei aber nicht wirklich belegbar, da die Weltmacht ihre Ziele im Nahen und Mittleren Osten auch ohne israelische Unterstützung verwirklichen kann; die Nutzung von Israels Häfen durch die USMarine sei nicht essentiell für die Vereinigten Staaten.115 Die strategische Bedeutung Israels für die USA lässt sich wie folgt zusammenfassen: There is not a lot. The US supports Israel because the US simply supports Israel. The argument for a strategic reason behind US support of Israel turns out to be just another way of describing the moral-emotional rationale for the closeness of US-Israel relations. In fact, Israel has never really been much of a strategic asset to the United States.116 3.1 Policy of balance und special relationship – das Engagement amerikanischer Präsidenten im Nahen Osten bis 1990 Als Israel am 14. Mai 1948 die eigene Staatlichkeit ausrief, war US-Präsident Harry S. Truman das erste Staatsoberhaupt, der den neuen Staat de facto anerkannte.117 Allerdings stand bis in den 1960er-Jahren Israel nicht im Mittelpunkt der amerikanischen Nahostpolitik. Das Ziel der US-Präsidenten war, durch eine policy of balance ihre Interessen in der gesamten Region durchsetzen zu können. Die Unterstützung Israels war dabei stets von "beruhigenden Erklärungen an die Araber"118 begleitet. Unter Lyndon B. Johnson veränderte sich diese Einstellung. Schon während John F. Kennedys Amtszeit erhielt die amerikanische Nahostpolitik einen positive spin für Israel. Die bilateralen Beziehungen bezeichnete Johnson bereitwillig als special relationship; der jüdische Staat wurde der wichtigste Partner der Vereinigten Staaten im Nahen Osten. Nach dem Sechs-Tage-Krieg hatte sich eine "intensive Sicherheitspartnerschaft"119 zwischen den beiden Staaten entwickelt.120 In der Folgezeit nahm die Beziehung zu Israel eine unterschiedlich hohe Priorität in der amerikanischen Außenpolitik ein – dies hing meist von der Einstellung des jeweiligen Präsidenten ab. Es gab Staatsoberhäupter, die persönliche Neigungen für Israel zeigten (z.B. Ronald Reagan), und andere, die den jüdischen Staat auch unter Druck setzten (z.B. 114 Vgl. ebd.: 37f., Keller 2010b: 23 Vgl. Ahlswede 2009: 38f. 116 Ebd.: 39 117 Vgl. Shannon 2003: 42 118 Weber 1991: 48 119 Koch-Joisten 2001: 6 120 Vgl. Johannsen 2006: 114, Shannon 2003: 55 115 II Europäische Union und Vereinigte Staaten als Akteure im Nahostkonflikt 24 Richard Nixon), wo sich die Grenzen der amerikanischen Beziehungen mit Israel zeigten. Diese Unterschiede konnten jedoch nicht das allgemein gute Verhältnis der beiden Staaten zueinander verändern.121 Präsident Jimmy Carter erzielte 1978 einen Meilenstein im Friedensprozess: In Camp David trafen sich der ägyptische Präsident Sadat und Israels Ministerpräsident Menachem Begin zu zweiwöchigen Verhandlungen, die Carter, der der "Nahostdiplomatie höchste Priorität" gab, persönlich moderierte und einen Friedensvertrag zwischen den beiden Ländern hervorbrachten.122 3.2 Verhandlungsführung im Friedensprozess und war on terrorism – amerikanische Nahostpolitik 1990-2008 Auf bei der Friedenskonferenz in Madrid 1991 konnten die USA bereits erfolgreich als facilitator auftreten. Der 1992 gewählte Präsident Bill Clinton arbeitete intensiv daran, den Friedensprozess im Nahen Osten voranzubringen. In seiner Amtszeit gab es zahllose Treffen zwischen israelischen, palästinensischen und anderen arabischen Vertretern. Die USA begrüßten die Fortschritte im 1993 in Oslo begonnenen Friedensprozess, den sie unterstützen und sich für beide Parteien einsetzten.123 Die US-Regierung unter Clinton galt als "so Israel-freundlich wie kaum eine andere zuvor"124, der Präsident brachte sich sehr stark in den Friedensprozess ein. Trotz dieser persönlichen Beteiligung zeigte sich auch in seiner Amtszeit der traditionelle Charakter der bilateralen Beziehung der beiden Staaten: Übereinstimmung im Streben nach Frieden und Sicherheit Israels, jedoch zeitweise Uneinigkeit und gegenseitige Kritik in der Wahl der Methoden.125 Die positive Einstellung änderte sich stark mit dem Amtsantritt von George W. Bush, der es ablehnte, sich persönlich im Friedensprozess zu engagieren. Nach den Anschlägen am 11. September 2001 wurde der Kampf gegen den internationalen Terrorismus zur außenpolitischen Maxime des Präsidenten. Dadurch entstand dann eine besondere Beziehung zu Israels Ministerpräsident Ariel Sharon: Beide lehnten Terror strikt ab, und die USA unterstützte daher Israels Recht zur Verteidigung gegen die Angriffe der Palästinenser.126 Sharon schätzte Bush und bezeichnete ihn als wahren Freund Israels, der wie kein ande- 121 Vgl. Shannon 2003: 90 Weber 1991: 112 123 Vgl. Reich 2007: 212, 217, Shannon 2003: 94-95 124 Wolffsohn 2007: 213 125 Vgl. Reich 2007: 217 126 Vgl. Reich 2007: 221 122 II Europäische Union und Vereinigte Staaten als Akteure im Nahostkonflikt 25 rer zuvor für dessen Freiheit von Terror kämpfe.127 Die persönliche Anti-Terror-Einstellung Bushs hatte ebenfalls Einfluss auf das Verhältnis zu den Palästinensern und ihrem Präsidenten Jassir Arafat, deren nicht endende Gewaltakte von den USA scharf verurteilt wurden.128 Anderthalb Jahre vor Ende seiner Amtszeit wertete Präsident Bush den NahostFriedensprozess zu "einer der höchsten außenpolitischen Prioritäten"129 Amerikas auf, womit der Konflikt wieder eine zentrale Stellung für die Vereinigten Staaten einnahm. Mit dem Ziel, den Friedensprozess wiederzubeleben, wurde für Ende November eine NahostKonferenz in Annapolis (Maryland) geplant. Von palästinensischer Seite wurden lediglich Präsident Abbas und der Premierminister Salam Fayyad geladen, die Hamas bewusst ignoriert. Gemäß dem West Bank first-Ansatz beabsichtigten die Amerikaner, Absprachen mit der PA zu erreichen, die der Einigung mit Israel förderlich sind, um dies dann zu gegebener Zeit auf den von Hamas regierten Gaza-Streifen übertragen zu können. Zudem sollte der Palästinenserpräsident gestärkt und seine Rolle als "positive und konstruktive Alternative zur islamistischen Hamas" gefestigt werden130. Ein Erfolg von Annapolis waren die seit 2001 erstmals wieder aufgenommenen Gespräche auf höchster Ebene zwischen den beiden Parteien, bereits in Vorbereitung auf die Konferenz. Ergebnisse der Verhandlungen waren unter anderem die Verständigung auf die Zwei-Staaten-Lösung und auf einen groben Zeitplan für die Regelung substantielle Fragen des Nahost-Konfliktes.131 4. Transatlantische Zusammenarbeit im Nahen Osten - Asymmetrien und Arbeitsteilung Von Anfang an befanden sich die Europäer in Bezug auf ihre Aktivitäten im Nahen Osten im Schatten der USA. Lange Zeit war das Motto "Die EU im Dienste der US-Diplomatie"132 gültig. Während die USA die zentrale Rolle bei Verhandlungen und Konferenzen innehatte, war der Einfluss der Europäer stets bescheiden. Allerdings lag die Bedeutung der Europäischen Union in der Entwicklung langfristiger Konzepte, der Unterstützung diplomatischer Initiativen sowie der finanziellen Unterstützung der Konfliktparteien.133 Vor allem im 21. Jahrhundert wurde es zum Ziel der EU, als ernstzunehmender Akteur aufzutreten und nicht mehr nur als Zahlmeister. Als solcher möchte sie von den USA auch 127 Vgl. Freedman 2007: 299 Vgl. Shannon 2003: 126 129 Müller 2007: 1 130 Ebd.: 2 131 Vgl. ebd.: 1f., Müller 2008 132 Schäfer 2004: 52 133 Vgl. Johannsen 2006: 117, Schäfer 2004: 52 128 II Europäische Union und Vereinigte Staaten als Akteure im Nahostkonflikt 26 anerkannt werden und sich zudem in gewissem Maße schrittweise von den Vereinigten Staaten emanzipieren. Amerika begrüßt das steigende Engagement der Europäer zunehmend. Allerdings wurde der multilaterale Ansatz der EU, der sich immer sowohl an Israel als auch an die Palästinenser richtete, von ihnen bisweilen kritisch beäugt.134 In gewissem Maße versucht Europa, sich als "Anwalt der palästinensischen Sache" im Gegensatz zur "amerikanisch-israelischen Allianz" im Nahen Osten hervorheben135. Wichtig für die EU ist jedoch, dass sich ihre Außenpolitik in der Region nicht "gegen die USA definiert"136. Um ihre Bemühungen im Friedensprozess zum Erfolg zu führen, sollten sie durch eine enge Kooperation mit Amerika verstärkt sowie mit amerikanischen Initiativen effektiv koordiniert werden.137 Das Nahostquartett ist für die Europäische Union bedeutsam, da sie in diesem Rahmen einerseits direkten Einfluss auf den Konfliktausgang nehmen kann, und sich andererseits eng mit den anderen Partnern, vor allem den USA, abstimmen kann. Die Amerikaner können dort auch zu mehr Engagement gedrängt werden, andererseits werden sie in ihrer führenden Rolle als Vermittler bestärkt.138 Das gestiegene Gewicht der Europäischen Union im israelisch-palästinensischen Konflikt wurde auch in der Kritik am Vorgehen der Amerikaner deutlich. 2004 präsentierten die USA eine Greater Middle East Initiative mit dem übergeordneten Ziel der Demokratisierung, Liberalisierung und vor allem der Terrorismusbekämpfung. Die Europäer rügten sowohl den Ansatz des "demokratischen Friedens" als unangemessene- one size fits allVorstoß als auch den unilateralen Ansatz und die mangelnde Abstimmung mit internationalen Partnern.139 Aufgrund der engen Beziehungen der Vereinigten Staaten zu Israel sowie ihre Möglichkeit, Sicherheitsgarantien zu geben, wird Amerika weiterhin "die dominierende Rolle im Friedensprozess zukommen"140. Die EU zeichnet sich hingegen gerade wegen ihrer Kontakte zur Palästinensischen Autonomiebehörde als wichtiger Partner der USA im Nahostkonflikt aus. 134 Vgl. Asseburg 2009: 106, Dietl 2005: 123, Schäfer 2004: 52 Johannsen 2006: 118 136 Schäfer 2004: 52 137 Vgl. Dietl 2005: 122, 124 138 Vgl. ebd.: 138, Müller 2009: 8f. 139 Vgl. Asseburg 2004: 3f. 140 Gaedtke 2009: 231 135 III EU: Aufstieg der europäischen Wirtschaftsmacht zum globalen politischen Akteur 27 Ziehen sich die USA temporär aus den Friedensverhandlungen zurück, wie etwa unter Präsident George W. Bush, muss die Europa bereit sein, das "diplomatische Vakuum im Nahen Osten zu füllen"141. Mit der Wahl Barack Obamas als neuer amerikanischer Präsident im Herbst 2008 eröffnete sich für die EU die Möglichkeit, die Kooperation mit den Vereinigten Staaten im Nahen Osten weiter zu intensivieren und sich für die Wiederaufnahme der Friedensgespräche einzusetzen (siehe Teil IV und V).142 III EU: Aufstieg der europäischen Wirtschaftsmacht zum globalen politischen Akteur Nach klassischer Auffassung ist "Außenpolitik untrennbar mit Staatlichkeit verbunden"143, weshalb eine Außenpolitik der Europäischen Union nicht existieren könne. Durch den intergouvernementalen Charakter der GASP wurde von der Gesamtheit der Mitgliedstaaten, die außenpolitisch aktiv sind, gesprochen, nicht jedoch von der EU selbst. Die außenpolitischen Kompetenzen der Union erstrecken sich jedoch auf weit mehr Politikfelder als nur die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, darunter auch vergemeinschaftete Bereiche wie die Außenhandelspolitik. Zudem erhielt die EU mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Rechtspersönlichkeit (Art. 47 EUV). In der Literatur wurde daher mehrheitlich das Konzept Außenpolitik auch für den Akteur EU geöffnet.144 Europäische Außenpolitik145 bezeichnet die Vertretung der Interessen und Werte der EU gegenüber ihrem internationalen Umfeld.146 Die Außenpolitik der Europäischen Union soll sich nicht nur an Interessen orientieren, sondern auch wertorientiert sein. Ihre außenpolitischen Zielvorstellungen inklusive der Werte der EU sind daher primärrechtlich verankert. Dies galt schon vor Lissabon; jetzt findet sich ein noch umfassender und ambitionierter Grundsatzkatalog in den Verträgen. Die sich aus den Gründungsideen der Union ergebende Wertorientierung wird somit von der Binnenpolitik auf das gesamte auswärtige Handeln übertragen.147 141 Dietl 2005: 236 Vgl. Müller 2009: 23 143 Gaedtke 2009: 14 144 Vgl. ebd.: 12, 14 145 "Europäische Außenpolitik", "EU-Außenpolitik" und "Außenpolitik der EU" werden von der Autorin synonym verwendet. 146 Ebd.: 14 147 Vgl. ebd.: 49f., Streinz/Ohler/Herrmann 2010: 132f. 142 III EU: Aufstieg der europäischen Wirtschaftsmacht zum globalen politischen Akteur 28 Grundsätze der EU sind nach Art. 21 (1) EUV unter anderem Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die Achtung der Menschenwürde, Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Grundsätze der Charter der Vereinten Nationen und des Völkerrechts. Die Zielvorstellungen in Art. 21 (2) EUV umfassen auch Umwelt- und Katastrophenschutz, nachhaltige Entwicklung sowie den Kampf gegen Armut. Art. 3 (5) EUV konkretisiert die außenpolitischen Pflichten der Union als Förderung von Frieden, Sicherheit und globaler nachhaltiger Entwicklung, freiem und gerechtem Handel, Beseitigung der Armut sowie die Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts. Speziell der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik kommt die Aufgabe der "Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit" (Art. 42 (1) EUV) zu. Im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union werden zudem Zielsetzungen etwa zur Handelspolitik (Art. 206 AEUV), Entwicklungszusammenarbeit (Art. 208 AEUV) und humanitärer Hilfe (Art. 214 (1) AEUV) konkretisiert. Das Selbstverständnis der Europäischen Union ist das einer Zivil- oder Friedensmacht. Die herausragende "außenpolitische Doktrin"148 ist der Interregionalismus; auch Interdependenz sowie die Herstellung von positiven Anreizen und Vertrauen zählen zum Wesen europäischer Außenpolitik. Das Leitbild der soft power mit dem Primat der Diplomatie formt den typisch europäischen Charakter der Außenpolitik.149 Einen ersten strategischen Orientierungsrahmen gab sich die EU 2003 mit der "Europäischen Sicherheitsstrategie: Ein sicheres Europa in einer besseren Welt"150 des Europäischen Rats. Durch die Terroranschläge in den USA 2001 entstand eine neue Bedrohungslage, auf die die Union mit der ESS reagierte: Ein festgeschriebenes Ziel ist die Abwehr von Bedrohungen wie das Erstarken der Terrornetzwerke, regionale Konflikte oder Staatszerfall. Außerdem liegt ein Schwerpunkt auf dem Engagement in der Nachbarschaft der EU sowie, als strategische Priorität, auf der Lösung des israelisch-arabischen Konflikts.151 Mit der Sicherheitsstrategie definiert die Europäische Union ihr Selbstverständnis als globaler Akteur, der Verantwortung für die internationale Sicherheit übernehmen muss. Im Mittelpunkt steht ein effektiver Multilateralismus. Die EU versucht ihre Ziele in internationalen Organisationen und in Partnerschaften mit wichtigen Akteuren zu verwirklichen; die Vereinten Nationen, der die Hauptrolle zuteil wird, versucht sie daher 148 Bendiek 2006: 3 Vgl. Gaedtke 2009: 42f., Jopp/Schlotter 2008: 381, 390 150 ESS 2003 151 Vgl. Algieri 2008: 468, 470, Gaedtke 2009: 50, 52 149 III EU: Aufstieg der europäischen Wirtschaftsmacht zum globalen politischen Akteur 29 zu stärken. Auch der Einsatz von Gewalt wird in der ESS nicht ausgeschlossen, allerdings gilt sie als allerletzte Maßnahme, die zudem der Legitimierung durch die UNO bedarf. Die Sicherheitsstrategie erwähnt auch die transatlantischen Beziehungen, die trotz mancher Unstimmigkeiten zwischen der EU und der Regierung in Washington als unersetzlich bezeichnet werden.152 Dieses Kapitel zeichnet die zunehmende Politisierung der EU einschließlich ihres auswärtigen Tätigwerdens nach. Der erste Abschnitt behandelt die Situation vor, der zweite nach Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags. Jeweils werden die gewonnen Kompetenzen erläutert und die Akteure und Maßnahmen dargestellt. Das Kapitel konzentriert sich dabei auf die Veränderungen durch das neue Vertragswerk. Anschließend wird das Tätigwerden der Union im Nahen Osten nach dem Reformvertrag – bzw. dessen Vernachlässigung – beleuchtet. 1. Außenpolitische Kompetenzen der EU – bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Das außenpolitische Handeln der Union ist nicht auf die GASP und damit auf die "Zweite Säule der EU"153 beschränkt. Auch Politikbereiche der ehemaligen EG wirken zum Teil nach außen. Diese pfeilerüberwölbende Politik oder cross-pillarisation154 führte zu einer Komplexität der außenpolitischen Kompetenzen der Union, die sowohl intergouvernementale als auch supranationale Politikfelder umfasst.155 1.1 Die Entwicklung der EU-Außenkompetenzen Den Außenbeziehungen wurde bei der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957 wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Hauptziel war die wirtschaftliche Integration innerhalb Europas; Außenpolitik galt als Teil der Souveränität der Mitgliedstaaten. Dennoch wurden bereits einige außenpolitische Teilbereiche in den Vertrag integriert: Der Außenhandel (Art. 206f. AEUV), für den die EWG mit Vollendung der Zollunion 1970 die alleinige Kompetenz erhielt; die Assoziierungskompetenz (Art. 198-204, 217 AEUV), welche der EWG erlaubte, zunächst mit den Kolonien ihrer Mitgliedstaaten, nach deren 152 Vgl. Algieri 2008: 468f., 470, Gaedtke 2009: 52f. Das "Säulenmodell der EU" wurde 1992 mit dem Vertrag über die Europäische Union geschaffen. (Vgl. Borchardt 2002: 11f.) Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wird die EU alleinige Rechtsnachfolgerin der Europäischen Gemeinschaften (Art. 1 (3) EUV), womit dieses Modell seine Gültigkeit verliert. 154 Jopp/Schlotter 2008: 383 155 Vgl. Gaedtke 2009: 15 153 III EU: Aufstieg der europäischen Wirtschaftsmacht zum globalen politischen Akteur 30 Unabhängigkeit mit diesen neuen Staaten Assoziierungsabkommen zu schließen; sowie die Vertragsabrundungskompetenz (Art. 352 AEUV), durch welche die Gemeinschaft grundsätzlich für einen Bereich Rechtsvorschriften erlassen konnte, für den sie keine Rechtssetzungskompetenz besaß.156 1970 wurde die Europäische Politische Zusammenarbeit aus der Taufe gehoben. Nachdem die EWG eine wirtschaftliche Bedeutung in der Welt erzielt hatte, hielten die Mitgliedstaaten es für wichtig, ihre außenpolitischen Haltungen abzustimmen. Das Resultat der intergouvernementalen EPZ war keine gemeinsame Außenpolitik, wohl aber eine "Harmonisierung der Standpunkte"157. Auf ihrem ersten Treffen in München wählten die Außenminister den Nahostkonflikt zum Hauptthema und erließen, wie oben erwähnt, eine erste gemeinsame Erklärung dazu. Mit dem Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) 1987 wurde die EPZ vertragsrechtlich fixiert und damit die strikte Trennung zwischen EWG und der Politischen Zusammenarbeit aufgehoben.158 Ebenfalls mit der EEA erhielt die EWG die Umweltkompetenz (Art. 191-193 AEUV) zur Förderung von "Maßnahmen auf internationaler Ebene zur Bewältigung regionaler und globaler Umweltprobleme" (Art. 191 (1) AEUV). Mit der Unterzeichnung des Vertrags über die Europäische Union 1992 in Maastricht wurde die EU gegründet, die in Europäische Gemeinschaft (EG) umbenannte EWG wurde als erste Säule Teil davon. Durch diesen Vertrag erhielt die EU drei weitere Außenkompetenzen: Die Entwicklungszusammenarbeit (Art. 208-211 AEUV)159, schon in den 1970erJahren entwickelt und nun kodifiziert; die Kompetenz, mit internationalen Organisationen oder Drittländern Abkommen zu schließen (Art. 211, 220 AEUV); als auch die Währungsunion (Art. 138, 219 AEUV), die der EU unter anderem die Verantwortlichkeit für die Wechselkursfestlegung nach außen übertrug. Mit Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam 1999 erhielt die Europäische Union Außenkompetenzen im Bereich der Einwanderungs-, Visa- und Asylpolitik (Art. 77-79 AEUV). Der Vertrag von Nizza, der 2003 in Kraft trat, verlieh der EU mit Art. 212 AEUV die Kompetenz, mit Drittstaaten, "die keine Entwicklungsländer sind", zusammen zu arbeiten. Die intergouvernementale GASP wurde durch den Vertrag von Maastricht zweite Säule der Europäischen Union geschaffen. Während die EPZ einen rein deklaratorischen Charak- 156 Vgl. ebd.: 29f., Arnauld 2009: 19, Kadelbach 2006: 13 Gaedtke 2009: 31 158 Vgl. ebd.: 31f. 159 Vgl. ebd.: 30 157 III EU: Aufstieg der europäischen Wirtschaftsmacht zum globalen politischen Akteur 31 ter besaß, erhielt die GASP ein eigenes Handlungsinstrumentarium, um ihre Beschlüsse auch operativ durchsetzen zu können. Kritisiert wurde die geringe Sichtbarkeit der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik nach außen, was durch die Ernennung eines Hohen Vertreters für die GASP mit dem Vertrag von Amsterdam 1999 verbessert werden sollte.160 Integraler Bestandteil der GASP ist ferner die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die 1999 durch den Europäischen Rat beschlossen wurde. Die EU erhielt dadurch Operationsfähigkeit, gestützt auf zivile und militärische Mittel (Art. 42 EUV). Im Vertrag von Nizza wurden die Ratsbeschlüsse vertraglich festgeschrieben, sodass Anfang 2003 die operative Phase der ESVP beginnen konnte. Das Handlungsfeld der Sicherheits- und Verteidigungspolitik beschreiben die so genannten Petersberger Aufgaben. Sie umfassen Rettungseinsätze, humanitäre und friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich Maßnahmen zur Wiederherstellung des Friedens.161 1.2 Deklaratorisch, zivil-humanitär, militärisch – das Handlungsspektrum europäischer Außenpolitik Die Außenpolitik der EU verfügt über ein umfangreiches Handlungsspektrum. Gemäß dem Vorrang der Diplomatie gibt die Union Erklärungen und Démarchen ab, die zu Zeiten der EPZ noch rein deklaratorisch waren, heute auch operativen Charakter haben können. Zudem zählt der politische Dialog mit Drittstaaten zur hauptsächlichen außenpolitischen Tätigkeit der EU. Dieser Dialog, etwa im Rahmen von Assoziierungs- oder Partnerschaftsund Kooperationsabkommen sind in hohem Maße institutionalisiert und dient der Vertrauen- und Netzwerkbildung sowie der politischen Einflussnahme.162 Insbesondere Abkommen mit Entwicklungsländern werden oft konditioniert und an Menschenrechts- und Demokratieklauseln oder die Verpflichtung zur Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen, zur Terrorismusbekämpfung oder zur Stärkung des Internationalen Strafgerichtshofs geknüpft.163 Ihr ökonomisches Gewicht ermöglicht der Union, ihr außenpolitisches Handeln mit Anreizen und Sanktionen zu versehen. Seit 2003 entwickelte die EU wichtige Grundsatzdokumente zu restriktiven Maßnahmen. Grundsätzlich wird unterschieden zwischen rein 160 Vgl. Algieri 2008: 457 Vgl. Gaedtke 2009: 35f. 162 Vgl. ebd.: 61-64, Regelsberger 2008: 77, 80 163 Vgl. Gaedtke 2009: 67 161 III EU: Aufstieg der europäischen Wirtschaftsmacht zum globalen politischen Akteur 32 europäischen Sanktionen und der Unterstützung bzw. Umsetzung von vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erlassenen Sanktionen, welchen Vorrang eingeräumt wird.164 Im Rahmen der GASP kann unter anderem der Europäische Rat gemeinsame Strategien beschließen (Art. 13 (2) EUV a.F.) und der Rat gemeinsame Aktionen annehmen (Art. 14 EUV a.F.). Damit können zivile oder militärische Initiativen im Rahmen der ESVP veranlasst werden. Der zivile Teilbereich, der eigentliche Erfolg der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, umfasst etwa den Polizeiaufbau, die Schaffung rechtsstaatlicher Strukturen oder den Schutz der Bevölkerung in Post-Konflikt-Regionen. Im Rahmen der militärischen ESVP existiert keine europäische Armee, sondern lediglich ein Pool nationaler Streitkräfte, auf die bei europäischen Missionen zurückgegriffen werden kann.165 1.3 Außenpolitische Gesichter und Akteure der EU Die Mitgliedstaaten stellen innerhalb der intergouvernementalen GASP die Herren des Geschehens dar. Der Rat als Vertretung der Mitglieder ist das zentrale Entscheidungsgremium für die Außen- und Sicherheitspolitik. Die Beschlüsse der GASP werden im Konsensverfahren gefasst (Art. 23 (1) EUV a.F.), was die hohe Bedeutung der Mitgliedstaaten widerspiegelt. Außerdem werden die Leitlinien der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik vom Europäischen Rat, also den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, festgelegt (Art. 13 (1) EUV a.F.).166 Speziell für die europäische Außenpolitik wurde 1999 mit dem Vertrag von Amsterdam das Amt des Hohen Vertreters für die GASP geschaffen (Art. 18 (3) EUV a.F.). Er soll Ansprechpartner für Drittstaaten sein und der EU ein Gesicht verleihen, um so die Sichtbarkeit der EU-Außenpolitik zu erhöhen und die Konturen der GASP zu schärfen. Der Hohe Vertreter Javier Solana vermochte durch seine große internationale Anerkennung das Amt aufwerten und die EU als kollektiven Akteur nach außen darstellen.167 Eine ähnliche Aufgabe haben die Sonderbeauftragten, die der Rat nach Art. 18 (5) EUV a.F. für bestimmte Felder des außenpolitischen Engagements der EU ernennen kann. Auch sie geben der Union durch ihre Präsenz vor Ort ein Gesicht und eine Stimme, was positiv gewertet wird, wie im Falle von Moratinos als Sonderbeauftragter für Naher Osten (siehe Teil II). 164 Vgl. ebd.: 71, 79 Vgl. ebd.: 88, 92 166 Vgl. Jopp/Schlotter 2008: 382 167 Vgl. ebd., Gaedtke 2009: 34, Regelsberger 2008: 85 165 III EU: Aufstieg der europäischen Wirtschaftsmacht zum globalen politischen Akteur 33 Die Kommission ist allgemeiner Impulsgeber für die Politiken der Union und damit auch für das außenpolitische Handeln. Insbesondere bezieht sich ihr Einfluss aber auf die vergemeinschafteten Felder der ersten Säule, etwa die Außenhandelspolitik.168 Auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) ist in gewisser Weise ein Akteur des auswärtigen Handelns der EU, da er durch "integrationsfreundliche Rechtsauslegung" die Teilzuständigkeiten von EWG/EU erweitert hat. So stellte er 1971 in der Rechtssache AETR169 implizite Außenkompetenzen der Gemeinschaft fest, und zwar für diejenigen Politikbereiche, für welchen die EWG im Inneren Kompetenzen besitzt und zu deren erfolgreichen Ausübung das Tätigwerden nach Außen erforderlich ist.170 1.4 Erfolge und Grenzen einer einheitlichen europäischen Außenpolitik Die EU hat im außenpolitischen Bereich die Entwicklung von einem aggregierten Akteur hin zu einem weitgehend kollektiven Akteur durchlaufen. Ein Grund dafür ist die immer effektiver operierende Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die zu mehr Kohärenz der europäischen Außenpolitik führte und für die Mitgliedstaaten einen hohen Stellenwert einnimmt. Es fand eine Europäisierung oder "Brüsselisierung" nationaler Außenpolitiken statt, d.h. die Mitgliedstaaten passten ihr auswärtiges Handeln an europäische Strukturen und Prozesse an. Auch der Hohe Vertreter für die GASP, dem immer mehr Befugnisse im Entscheidungsprozess gewährt wurden, hat zu ihrer positiven Weiterentwicklung beigetragen und repräsentiert die EU erfolgreich nach außen.171 Kritisch gesehen wird hingegen das Unvermögen der Union, zur Lösung regionale Konflikte effektiv beizutragen. Der EU mangelt es sowohl an militärischer Durchsetzungskraft als auch an Anreizen: Wenn nicht wenigstens einer Konfliktpartei der Unionsbeitritt in Aussicht gestellt werden kann, kann sie nicht viel erreichen. Wie am nahöstlichen Friedensprozess erkennbar ist, reicht die europäische Assoziierungspolitik oft nicht aus.172 Zudem bergen die teilweise ungeklärten Zuständigkeiten innerhalb der europäischen Außenpolitik und dem hohen Potential der Inkohärenz die Gefahr einer widersprüchlichen EUStimme nach außen. Auch fallen der Union dadurch schnelle kollektive Reaktionen auf aktuelle Geschehnisse schwer.173 Einen weiteren Kritikpunkt stellt das geringe Gewicht von Europäischem Parlament und Kommission in der GASP dar. Der Rat ist Hauptakteur, 168 Vgl. Gaedtke 2009: 29, Jopp/Schlotter 2008: 382 Urteil des Gerichtshofs, Rechtssache 22/70 (AETR) 170 Vgl. Gaedtke 2009: 29f. 171 Vgl. Bendiek 2006: 2, Gaedtke 2009: 18, Jopp/Schlotter 2008: 381, Regelsberger 2008: 87 172 Vgl. Bendiek 2006: 2f. 173 Vgl. Gaedtke 2009: 17, 53, Jopp/Schlotter 2008: 381 169 III EU: Aufstieg der europäischen Wirtschaftsmacht zum globalen politischen Akteur 34 und durch die Beschlussfassung per Konsens können die Mitgliedstaaten die europäische Außenpolitik leicht blockieren. Daher fällt es der Union auch nicht immer leicht, große Mitgliedstaaten in kollektive Handlungen einzubinden, da diese teils eigene außenpolitische Ziele verfolgen.174 Kleine Mitgliedstaaten und Mittelmächte haben hingegen ein großes Interesse an einer europäischen Außenpolitik, da sie sich so effektiver in das Weltgeschehen einbringen können. Auch dank ihres Einsatzes entsteht innerhalb der EU vermehrt Konsens und eine Tendenz zur Kollektivität im auswärtigen Handeln. Dies ist auch auf den steigenden aquis politique der Außenbeziehungen und der Abnahme Intergouvernementalismus zurückzuführen.175 Ein Hauptkritikpunkt an der Zivilmacht EU ist der Mangel an europäischer hard power zur Durchsetzung ihrer Ziele. Allerdings nimmt die Bedeutung von Militär in der globalisierten Welt stetig ab, soft power wird hingegen immer wichtiger zur Durchsetzung eigener Interessen. Durch ihr umfangreiches politisches Netzwerk vermag es die Europäische Union, mit nahezu beispiellosen diplomatischen Initiativen in das Weltgeschehen einzugreifen.176 2. Vertragliche Veränderungen durch Lissabon: Außenpolitik besser koordinieren Der Vertrag von Lissabon als Reformvertrag des zuvor an Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheiterten Vertrags über eine Verfassung für Europa wurde im Dezember 2007 unterzeichnet und trat am 1. Dezember 2009 in Kraft. Die Außenpolitik spielt in diesem Vertragswerk eine größere Rolle als in den vorherigen Abkommen. Nachdem die wirtschaftliche Einigung Europas, das Ziel der Gründung der Europäischen Gemeinschaften, bereits weit vorangeschritten ist, steht nun vor allem die politische Integration und damit auch das auswärtige Handeln im Mittelpunkt. Die Union ist bemüht, ihr außenpolitisches Profil zu stärken.177 Die Europäische Gemeinschaft sowie die Säulen-Struktur der EU existieren seit Inkrafttreten des neuen Vertrags nicht mehr; alle drei Bereiche wurden in eine einheitliche Union umgewandelt. Diese ist die Rechtsnachfolgerin der EG und besitzt damit Rechtspersönlichkeit (vgl. Art. 1, 47 EUV). Aus diesem Grund ist die Europäische Union jetzt alleiniger 174 Vgl. Jopp/Schlotter 2008: 386f., Regelsberger 2008: 86 Vgl. Jopp/Schlotter 2008: 389, 94 176 Vgl. ebd.: 390, Gaedtke 2009: 45 177 Vgl. Zepter 2009: 24 175 III EU: Aufstieg der europäischen Wirtschaftsmacht zum globalen politischen Akteur 35 Akteur gegenüber Drittländern und internationalen Organisationen und kann so völkerrechtliche Verträge schließen und Organisationen oder Übereinkommen beitreten.178 Die Außenbeziehungen der Europäischen Union gehören zu den Politikbereichen, die von Veränderungen durch den Vertrag von Lissabon am meisten betroffen sind. 179 Die außenpolitischen Kompetenzen wurden besser zusammengefasst als in den vorangegangenen Verträgen und stellen so den Umfang der europäischen Außenpolitik klar, die mehr als nur die GASP beinhaltet: Titel V des Vertrages über die Europäische Union behandelt "Allgemeine Bestimmungen über das auswärtige Handeln der Union und besondere Bestimmungen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik", und Teil fünf des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union widmet sich dem "Auswärtigen Handeln der Union". Grundsätzlich wurde das Einstimmigkeitsprinzip in der GASP beibehalten, was den Intergouvernementalen Charakter und damit den starken Einfluss der Mitgliedstaaten beim auswärtigen Handeln der Union nicht verändert.180 Insgesamt erreichte der Vertrag von Lissabon eine bessere Koordinierung und Kohärenz der europäischen Außenpolitik, zudem können Synergien zwischen den verschiedenen Aspekten erwartet werden, etwa innerhalb der GSVP zwischen den zivilen und den militärischen Ansätzen.181 2.1 Weiterentwicklung der EU-Außenkompetenzen durch den Vertrag von Lissabon Mit dem Vertrag von Lissabon erhielt die Union zwei weitere Außenkompetenzen. Die bereits 2004 durch ein Strategiepapier entwickelte Nachbarschaftspolitik fand mit Art. 8 EUV nun primärrechtliche Verankerung. Außerdem wurde die Humanitäre Hilfe in Art. 214 AEUV als Kompetenz der EU festgeschrieben. Art. 214 (1) AEUV bestimmt, dass die Union "von Naturkatastrophen oder von vom Menschen verursachten Katastrophen" betroffenen Einwohnern von Drittländern "gezielt Hilfe, Rettung und Schutz" gewährt. Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die durch den Vertrag von Lissabon in "Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik" (GSVP) umbenannt wurde, wurde im Rahmen der GASP nun erstmals detailliert kodifiziert (Titel V, Kapitel 2, Abschnitt 2: "Bestimmungen über die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik"). Die so 178 Vgl. Ferrero-Waldner 2008: 7 Vgl. Zepter 2009: 21 180 Vgl. Gaedtke 2009: 98, Kietz/von Ondarza 2010: 2 181 Vgl. EPC, CEPS, EGMONT (Hrsg.): 158 179 III EU: Aufstieg der europäischen Wirtschaftsmacht zum globalen politischen Akteur 36 genannten Petersberg-Aufgaben, der Einsetzbereich für GSVP-Missionen mit zivilen und militärischen Mitteln, wurde um gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten erweitert (Art. 43 (1) EUV). Zudem existieren für die GSVP drei weitere Handlungsformen. Erstmals wurde eine politische Beistandsklausel für die Mitgliedstaaten formuliert, wonach sie einem anderen Mitgliedstaat im Falle eines bewaffneten Angriffs auf sein Hoheitsgebiet "alle in ihrer Macht stehenden Hilfe und Unterstützung" schulden (Art. 42 (7) EUV). Überdies kann der Rat die Durchführung von Missionen einer Gruppe von Mitgliedstaaten übertragen (Art. 42 (5) und 44 EUV). Es existiert ebenfalls die Möglichkeit einer Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit zwischen Mitgliedstaaten, die sich vor allem auf militärische Mission bezieht (Art. 42 (6) und 46 EUV).182 2.2 Hoher Vertreter, gewählter Ratspräsident – neue Gesichter des auswärtigen Handelns der EU Neben der allgemeinen Fortentwicklung des institutionellen Gefüges der EU-Außenpolitik erschuf der Vertrag von Lissabon auch neue Akteure.183 Die bedeutsamste und symbolträchtigste Neuerung ist die Schaffung des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik (Art. 18 und 27 EUV). Er ist die "zentrale Figur des auswärtigen Handelns der EU, insbesondere der GASP"184. Durch eine Neudefinition des Amts umfasst der Aufgabenbereich jedoch nicht mehr nur die GASP, sondern auch die vergemeinschafteten außenpolitischen Kompetenzen der Union, was das Gewicht des Hohen Vertreters stärkt.185 Anstelle der Troika aus Ratspräsident, dem Außenkommissar und dem Hohen Vertreter für die GASP nimmt nun der neue Hohe Vertreter die Repräsentierung der EU nach außen wahr, er soll das "Gesicht Europas" sein. Er ist verantwortlich für den politischen Dialog mit Drittstaaten und die Vertretung europäischer Standpunkte in internationalen Organisationen und Konferenzen (Art. 27 (2) EUV).186 Neben der Leitung der GASP (Art. 18 (2) EUV) führt der HV gleichzeitig den Vorsitz im Rat "Auswärtige Angelegenheiten" (Art. 18 (3) EUV) und ist einer der Vizepräsidenten der Kommission (Art. 18 (4) EUV). Durch diese Doppelhut-Struktur werden die GASP (im Rat) und die vergemeinschafteten Bereiche auswärtigen Handelns (in der Kommissi182 Vgl. Bauer 2008: 42f., Gaedtke 2009: 39f., Streinz/Ohler/Herrmann 2010: 147 Vgl. Gaedtke 2009: 37 184 Ebd.: 112 185 Vgl. Gaedtke 2009: 38, 97 186 Vgl. Kietz/von Ondarza 2010: 2 183 III EU: Aufstieg der europäischen Wirtschaftsmacht zum globalen politischen Akteur 37 on) verknüpft, was zu mehr Kohärenz und Synergien der europäischen Außenpolitik führen soll.187 Als "Diener mehrerer Herren"188 können jedoch auch Loyalitätskonflikte auftreten. Zudem muss die Frage der genauen Abgrenzung zum Präsident des Europäischen Rats beantwortet werden.189 Der Rat kann weiterhin Sonderbeauftragte "für besondere politische Fragen" (Art. 33 EUV) ernennen, die unter Verantwortung des Hohen Vertreters stehen. Sie verbessern die Sichtbarkeit der Union im Ausland, und sind gleichzeitig "Gesicht und Stimme" sowie "Auge und Ohr" der EU. Außerdem dienen sie als wichtige Informanten für Mitgliedstaaten, die keine Vertreter in die jeweilige Region entsandt haben. Die Sonderbeauftragten sollen EU-Aktivitäten koordinieren und fungieren daher als bedeutende Mittler zwischen Kommission und Rat, womit die Säulenstruktur der alten EU nicht nur juristisch, sondern auch praktisch überwunden wird.190 Die zweite Neuerung ist die Schaffung eines für 2,5 Jahre vom Europäischen Rat gewählten Präsidenten ebendieses Organs (Art. 15 (6) EUV). Er repräsentiert die EU auf Ebene der Staats- und Regierungschefs in Angelegenheiten der GASP und soll für eine größere Sichtbarkeit des Europäischen Rats sorgen.191 Ob Manager, Wegbereiter von Kompromissen oder Repräsentant - der Gestaltungsradius des Präsidenten hängt von der Unterstützung des Europäischen Rats ab, der meist im Konsens entscheidet. Herman van Rompuy, der erste gewählte Ratspräsident, der sein Amt "zügig und strategisch geschickt" 192 etablierte, hat zum Ziel, den Europäischen Rat im Verhältnis zur Kommission und zum Rat zu stärken. Dabei sieht er sich eher als Vermittler (facilitator) statt als ein Führer (leader).193 Für Drittstaaten wurde die Kommunikation mit dem Europäischen Rat erleichtert, indem sein Präsident ihm jetzt 2,5 Jahre statt nur sechs Monate (im Zuge der rotierenden Ratspräsidentschaft) vorsteht. 2.3 Der Europäische Auswärtige Dienst und weitere institutionelle Neuerungen Neben der Schaffung neuer Akteure wurden auch die bestehenden Institutionen zum Teil verändert und weiterentwickelt. 187 Vgl. Gaedtke 2009: 113f., Lieb/Kremer 2010: 1 Kietz/von Ondarza 2010: 2010 189 Vgl. Streinz/Ohler/Herrmann 2010: 143 190 Vgl. Gaedtke 2009: 123-125, Zepter 2009: 21 191 Vgl. Gaedtke 2009: 39 192 Kietz/von Ondarza 2010: 3 193 Vgl. ebd.: 2, 4, Kaczyński et al. 2010: 1 188 III EU: Aufstieg der europäischen Wirtschaftsmacht zum globalen politischen Akteur 38 In Verbindung mit dem neuen Hohen Vertreter der EU wurde auf Grundlage von Art. 27 (3) EUV per Ratsbeschluss194 ein dem HV unterstehender Europäischer Auswärtiger Dienst (EAD) geschaffen, der am 1. Dezember 2010 seine Arbeit aufnahm. Er unterstützt den hohen Vertreter bei der Ausübung seiner Aufgaben und existiert als Dienststelle sui generis zwischen Rat und Kommission.195 Damit setzt sich die auch durch den HV existierende Verknüpfung der intergouvernementalen und supranationalen Aspekte des auswärtigen Handelns fort. Seine Mitarbeiter werden zu zwei Dritteln von Rat und Kommission und zu einem Drittel von den Mitgliedstaaten gestellt. Damit sind die Staaten weiterhin bedeutende Akteure in der europäischen Außenpolitik, und obwohl der EAD eine der größten Innovation der Reform darstellt, ist es zugleich auch die größte Herausforderung.196 Teil des EAD sind die Delegationen der Europäischen Union in Drittstaaten und bei internationalen Organisationen, die vorher als Delegationen der Kommission fungierten und nun unter der Leitung des Hohen Vertreters stehen (Art. 221 AEUV). Auch hier wiederholt sich der Brückenschlag zwischen der ehemaligen ersten und zweiten Säule, was die Außenpolitik der EU umfassender und kohärenter machen soll.197 Schon seit längerem gewann der Europäische Rat an Bedeutung; er trifft politische Grundsatzentscheidungen, gibt Ziele vor und besitzt die zentrale Steuerungskompetenz der EU. Seine Befugnis zur Festlegung strategischer Interessen wurde von der GASP auf das gesamte außenpolitische Handlungsspektrum der Union ausgeweitet.198 Der Rat nimmt nach wie vor die zentrale Rolle der GASP wahr, indem er Beschlüsse zur Durchführung der Außenpolitik verabschiedet. Als Instrumente dienen ihm nach dem Vertrag von Lissabon Aktionen zum operativen Vergehen innerhalb der GASP oder GSVP (Art. 28 EUV) und Standpunkte zu Fragen geographischer oder thematischer Natur (Art. 29 EUV).199 Der Einfluss der Kommission in der Außen- und Sicherheitspolitik der Union ist nach wie vor begrenzt, während sie in den anderen Aspekten des auswärtigen Handelns durch ihr Initiativmonopol für Gesetze eine starke Stellung einnimmt. Zudem obliegt ihr die Außenvertretung der EU außerhalb der GASP. Durch die Doppelhut-Struktur des Hohen Vertre- 194 Beschluss 2010/427/EU Vgl. Gaedtke 2009: 120, Lieb/Kremer 2010: 2 196 Vgl. EPC, CEPS, EGMONT (Hrsg.): 156, 158 197 Vgl. Gaedtke 2009: 121, Lieb/Kremer 2010: 3 198 Vgl. Gaedtke 2009: 99, Kietz/von Ondarza 2010: 1, Streinz/Ohler/Herrmann 2010: 133 199 Vgl. Gaedtke 2009: 102f. 195 III EU: Aufstieg der europäischen Wirtschaftsmacht zum globalen politischen Akteur 39 ters ist die Kommission jedoch auch enger in den intergouvernementalen Bereich eingebunden.200 2.4 Die EU als erfolgreicher außenpolitischer Akteur dank Vertrag von Lissabon? Mit dem Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, dem Präsidenten des Europäischen Rats, dem Kommissionspräsiden sowie den Sonderbeauftragten und EU- Delegationen als Außenrepräsentanten der Union erhält man den Eindruck, dass die Zahl der Ansprechpartner für Drittländer sich nicht verkleinert, sonder vielmehr vergrößert hat. Die aktuelle europäische Außenpolitik sei eine "Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners zwischen den Mitgliedstaaten"201. Durch das Prinzip der flexiblen Integration und der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit entstünden informelle "Koalitionen der Willigen", und das außenpolitische Handeln der EU sei bald lediglich eine Ansammlung von Minikooperationen statt kohärent und einstimmig. Während die Gefahr der fortlaufenden Fragmentierung und Minilateralisierung der GASP besteht, bietet sich jedoch auch die Chance für mehr Effizienz in ihrer Arbeitsweise.202 Eine umfassende Bewertung der Reformen durch den Vertrag von Lissabon ist noch nicht möglich. Es wird sich beispielsweise zeigen müssen, ob die Präsidenten von Europäischem Rat und Kommission sowie der Hoher Vertreter persönlich gut zusammenarbeiten können und einen modus vivendi für die Aufgabenteilung bei der Repräsentierung der Union finden, der nachhaltig und der EU förderlich ist. Zudem wird der Erfolg auch von externen Entwicklungen und Herausforderungen abhängig sein, etwa den Fortschritten im nahöstlichen Friedensprozess.203 Die EU sollte sich des sui generis-Charakters ihres auswärtigen Handelns bewusst sein und der Versuchung widerstehen, eine staatsähnliche Außenpolitik schaffen zu wollen, was aufgrund der zum Teil divergierenden nationalen Interessen der Mitgliedstaaten unweigerlich scheitern würde.204 Muss die EU wirklich dem Beispiel großer Mächte folgen und eine eigene Rolle als globale Ordnungsmacht in Anspruch nehmen? Ist ihre Beschränkung auf die praktischen Probleme im Leben und im Verhältnis zu anderen Völkern nicht gerade ihre Stärke? 205 Die europäische humanitäre und Wideraufbauhilfe sowie Entwicklungspolitik genießen "weltweit einen hervorragenden Ruf" – darauf solle aufgebaut werden206. 200 Vgl. Gaedtke 2009: 106-108 Bendiek 2010: 2 202 Vgl. ebd.: 2, 4, Kietz/von Ondarza 2010: 3 203 Vgl. EPC, CEPS, EGMONT (Hrsg.): 158, Zepter 2009: 21 204 Vgl. Zepter 2009: 22 205 Ebd.: 25 201 IV Amerikanische EU-Politik der Administration Obama – Quo vadis, Europa? 40 Noch immer gibt es ein patchwork Europe, zudem "too many Europeans, too little EU"207. Die europäische Außenrepräsentierung muss rationalisiert werden, vor allem in internationalen Organisationen, in denen die EU entweder nur Beobachter ist, neben den Mitgliedstaaten ein Vollmitglied oder auch anstelle ihrer Mitgliedstaaten einen Sitz inne hat – die Union wird klarer mit einer Stimme müssen. Der Europäische Auswärtige Dienst eröffnet die Chance, das außenpolitische Handeln der EU kohärenter und wirkungsvoller zu machen.208 Die Europäische Union besitzt noch immer keine einzelne Telefonnummer in Brüssel, jedoch bestehen mit dem Hohen Vertreter als "Schaltzentrale" bessere Voraussetzungen für ein gemeinsames, einheitliches Handeln.209 3. Vernachlässigung des Nahen Ostens im Zuge der Vertragsreform Da die Europäische Union seit dem Herbst 2009 mit dem institutionellen Neubeginn durch den Vertrag von Lissabon beschäftigt war, erhielt ihre Mittelmeer- und Nahostpolitik keine hohe Priorität. Selbst Spanien als wichtiger Impulsgeber in der südlichen Nachbarschaftspolitik konnte dies während seiner Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2010 nicht ändern.210 Die europäischen Institutionen gewinnen jedoch an Profil. Eine ihrer ersten Auslandsreisen unternahm Catherine Ashton, die Hohe Vertreterin der Union, in den Nahen Osten. Ihre enge Abstimmung mit dem Nahostquartett unterstreicht dessen Bedeutung. Die Europäische Union ist von dem Gremium zur Konfliktlösung überzeugt, auch weil sie sich in diesem Rahmen aktiv einbringen kann.211 IV Amerikanische EU-Politik der Administration Obama – Quo vadis, Europa? Europa bejubelte Barack Obama schon als Präsidentschaftskandidat und ersehnte den Wandel der amerikanischen Politik, den er versprach. Bald jedoch mussten die europäischen Verbündeten erkennen, dass Multilateralismus auch Kosten- und Lastenteilung bedeutet. Außerdem bestimmt nicht nur Wandel, sondern auch Kontinuität Obamas Politik – und das in größerem Maße, als von der EU erhofft. 206 Zepter 2009: 24 EPC, CEPS, EGMONT (Hrsg.): 159f. 208 Vgl. Lieb/Kremer 2010: 3 209 Vgl. EPC, CEPS, EGMONT (Hrsg.): 162 210 Vgl. Möller 2011: 271 211 Vgl. ebd.: 274 207 IV Amerikanische EU-Politik der Administration Obama – Quo vadis, Europa? 41 Präsident Obamas pragmatische Europapolitik soll in diesem Kapitel beleuchtet werden. Um die Veränderungen der amerikanischen Außenpolitik seit dem Amtsantritt von Präsident Barack Obama nachvollziehen zu können, wird auch hier zunächst ein Überblick über die außenpolitischen Ziele und Handlungsformen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegeben. Dies ist der ähnliche zeitliche Rahmen der Entstehung der EWG und der Entwicklung ihrer ersten außenpolitischen Kompetenzen. Dieser Abschnitt ist in zwei Kapitel untergliedert, deren Zäsur das Ende des Kalten Krieges darstellt, da sich das thematische Umfeld amerikanischer Europapolitik damit dramatisch wandelte. Anschließend werden Obamas Ankündigung und die tatsächliche Umsetzung untersucht, um den Präsidenten nicht nur an seinen Worten, sondern auch Taten messen zu können. Die veränderte, dem Dialog gewidmete Nahostpolitik Barack Obamas wird anschließend aufgezeigt und sein Ansatz gegenüber seiner europäischen Verbündeten untersucht. Daraus wird sich die zukünftige Bedeutung der Europäischen Union für die Vereinigten Staaten schließen lassen. 1. Die transatlantische Außenpolitik der USA vor Präsident Obama Die Vereinigten Staaten sind seit Beginn des 20. Jahrhunderts von einer Regional- zu einer Weltmacht geworden: Von der "uneingeschränkten Vormacht in der eigenen Hemisphäre" über einen "wichtigen Akteur in Europa" während des Ersten Weltkriegs und die "dominierende Kraft in Westeuropa und Ostasien" nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten sie sich im Kalten Krieg zum "unangefochtenen Führer des Westens", der heute, im Kampf gegen Terrorismus, "globale Ordnungsambitionen" besitzt212. Als Weltmacht vermögen die USA "auf Entwicklungen fernab ihrer Grenzen Einfluss zu nehmen"213. 1.1 Die USA als Großmacht in der bipolaren Welt des Kalten Kriegs Vor allem in der Nachkriegszeit mangelte es amerikanischer Außenpolitik, die im Unterschied zu anderen westlichen Demokratien ungewöhnlich stark vom Präsidenten gestaltet und geleitet wird, an Stabilität und Berechenbarkeit, da jeder Präsident eigene außenpolitische Ziele und Vision verfolgte. Auch bestimmte die Innenpolitik im hohen Maße den außenpolitischen Handlungsradius und Prioritäten. So war auch das Verhältnis der USA zu seinen Partnern und Verbündeten von einem "widersprüchlichen Nebeneinander von 212 213 Bierling 2003: 253 Hartmann 2001: 79 IV Amerikanische EU-Politik der Administration Obama – Quo vadis, Europa? 42 Interessenharmonie und Konflikten" geprägt214. Dennoch gab es über viele Dekaden hin kontinuierliche Absichten und Instrumentarien. Dazu gehörte das Ziel, die machtpolitische Überlegenheit der USA zu bewahren und eine führende Rolle in der Welt als "wohlwollender Hegemon" zu übernehmen.215 Obwohl das Land schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Großmacht war, haben sich die USA vor ihrem Kriegseintritt 1941 in Europa oder der Welt nicht dauerhaft politisch engagiert. Die Politik des Isolationismus gaben sie in der Nachkriegszeit jedoch auf, da sie sich nicht mehr aus der Rolle einer Weltführungsmacht zurückziehen konnten.216 Während des Kalten Kriegs war containment, die Eindämmung der Sowjetunion und das Verhindern einer Ausbreitung des Kommunismus auf andere Länder, oberste amerikanische Priorität.217 Die Truman-Doktrin, die Staaten, deren Freiheit bedroht ist, Beistand zusichert und damit die Containment-Politik einschließt, sowie der Marshall-Plan für die wirtschaftliche Entwicklung Westeuropas und der NATO-Vertrag charakterisierten die transatlantische Politik der Vereinigten Staaten.218 Von der Vorstellung einer multilateralen Ordnung geleitet, förderten die USA den Aufbau von Institutionen mit internationalen Regeln für alle Mitgliedstaaten. Allerdings wusste Washington solche Organisationen oft für eigene Interessen zu nutzen.219 Anfang der 1970er-Jahre setzte eine amerikanische Entspannungspolitik zur Sowjetunion ein, die auf Rüstungskontrollabkommen und politischer sowie wirtschaftlicher Kooperation gründete. Allerdings endete diese Phase mit der starken Aufrüstung der SU und ihrem Expansionismus in Afrika Mitte der 1970er-Jahre bald wieder.220 In den 1980er-Jahren rüsteten auch die Vereinigten Staaten weiter auf, um die "Handlungsfreiheit der USA wiederherzustellen" und den sowjetischen Rivalen zu übertreffen221. 1.2 Die USA als einzig verbliebene Großmacht: Multilateralismusansätze und war on terrorism Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes waren die wichtigsten außenpolitischen Handlungsmaximen verschwunden und die Außenpolitik der USA musste an die neue Situation 214 Medick-Krakau/Robel/Brand 2004: 93 Vgl. Medick-Krakau/Robel/Brand 2004: 93f., Rudolf 2007: 42f. 216 Vgl. Medick-Krakau/Robel/Brand 2004: 97, 99 217 Ebd.: 93 218 Vgl. ebd.: 99 219 Vgl. Rudolf 2007: 38 220 Vgl. Medick-Krakau/Robel/Brand 2004: 100 221 Ebd.: 101 215 IV Amerikanische EU-Politik der Administration Obama – Quo vadis, Europa? 43 einer politisch unipolaren, wirtschaftlich gesehen multipolaren Welt angepasst werden.222 Zu Beginn der 1990er-Jahre war sie vor allem durch Pragmatismus und flexible Anpassungsfähigkeit geprägt, was auch als muddling through223 gesehen werden kann. Mit einer neuen NATO-Strategie von 1991 und der Einbindung ehemaliger Warschauer PaktStaaten in den NATO-Kooperationsrat passten die USA die Sicherheitsstrukturen an die veränderten Bedingungen an. Die NATO blieb dabei die wichtigste Institution der transatlantischen Zusammenarbeit.224 Eine neue konzeptionelle Grundlage amerikanischer Außenpolitik konnte unter George Bush Sr. nicht entwickelt werden; die weltpolitische Rolle der einzig verbliebenen Supermacht musste noch gefunden werden. Der Wegfall der sowjetischen Bedrohung eröffnete den USA mehr Handlungsfreiheit, allerdings wurde das Handeln durch die Unübersichtlichkeit in der nicht mehr bipolaren Welt gleichsam erschwert.225 Unter Präsident Clinton orientierte sich die US-Außenpolitik hin zu Multilateralisierung und Ökonomisierung, d.h. die Kosten des amerikanischen Engagements in der Welt durch die Einbeziehung von Partnern zu verringern. Unter Multilateralismus wird eine regel- und prinzipiengeleitete Politikkoordination zwischen drei und mehr Staaten verstanden, die im Unterschied zu Ad-hoc-Verhandlungen auf vereinbarten Normen beruht und zu einem gewissen Maße die Entscheidungsautonomie aller Beteiligten einschränkt.226 Den amerikanischen Führungsanspruch vermochte Clinton trotz der notwendigen Selbstbindung und Einschnitte bei der außenpolitischen Handlungsfreiheit durchzusetzen.227 Er definierte jedoch auch die Grenzen des amerikanischen, pragmatischen Multilateralismus: "Together where we can, on our own when we must."228 Clinton setzte insbesondere auf die Vereinten Nationen und die NATO, aber auch auf Kooperationen mit Russland, weiteren Staaten des ehemaligen Ostblocks und der EU sowie Handelsabkommen wie das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) oder die Uruguay-Runde des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT). Zudem sollte die Außenpolitik der Vereinig- 222 Vgl. Nye 2006: 79f. Medick-Krakau/Robel/Brand 2004: 94 224 Vgl. Bierling 2003: 205, Medick-Krakau/Robel/Brand 2004: 101f. 225 Vgl. Bierling 2003: 212, Medick-Krakau/Robel/Brand 2004: 102 226 Rudolf 2007: 52 227 Vgl. Medick-Krakau/Robel/Brand 2004: 103 228 Ebd. 223 IV Amerikanische EU-Politik der Administration Obama – Quo vadis, Europa? 44 ten Staaten nicht allein an Interessen, sondern auch an Idealen und Werten ausgerichtet sein.229 Die zu Beginn der Amtszeit von Präsident George W. Bush Jr. stattgefundenen Terroranschläge des 11. September 2001 wurden zu einem transformative moment230 der amerikanischen Außenpolitik. Schon vor den Anschlägen zeichnete sich ein neuer Unilateralismus ab, etwa durch die Nichtunterzeichnung des Kyoto-Protokolls und die Ablehnung der Einrichtung eines permanenten Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH).231 Nach dem 11. September begründete eine neue umfassende Sicherheitsstrategie dann den war on terrorism als neue außenpolitische Maxime, was "eine der dramatischsten außenpolitischen Kurswechsel in der amerikanischen Geschichte"232 darstellte. Im Kern beinhaltete sie größtmögliche amerikanische Handlungsfreiheit durch selektiven Multilateralismus. Erfolge sollten durch Ad-hoc-Koalitionen erzielt werden, die sich je nach Zielstellung zusammenfinden. "Die Mission bestimmt die Koalition"233, so definierte Verteidigungsminister Donald Rumsfeld den neuen Ansatz.234 Im Gegensatz zu Clintons außenpolitischem Vorgehen ließ sich die Methode von Bush wie folgt beschreiben: "Unilateral, soweit wie möglich, multilateral, wo unbedingt notwendig."235 Die Bush-Doktrin begründete außerdem die Option der präemptiven Verteidigung, also militärischen Präventivschlägen gegen Staaten der axis of evil, wenn Annahme zur Bedrohung Amerikas bestehe. Im Notfall würden sogar Verstöße gegen das Völkerrecht und die Charta der Vereinten Nationen in Kauf genommen.236 Unilateralismus lässt sich problemlos mit weltweiter Intervention und Engagement verbinden. Er bemisst seine Ziele und Aktionen aber allein nach dem Nutzen für amerikanische Interessen, unabhängig davon, ob sie von den Adressaten oder Verbündeten goutiert werden oder nicht.237 Der Unilateralismus bzw. selektive Multilateralismus wurde 2003 deutlich, als die BushAdministration zusammen mit der britischen Regierung, jedoch ohne Mandat des UNSicherheitsrats, einen Krieg gegen den Irak beschloss.238 Während die Weltgemeinschaft 229 Vgl. Bierling 2003: 216, 223, 228 Rudolf 2007: 7 231 Vgl. Bierling 2003: 238, 244 232 Bierling 2003: 239 233 Ebd.: 244 234 Vgl. Medick-Krakau/Robel/Brand 2004: 106f. 235 Rudolf 2007: 50 236 Vgl. ebd.: 37, Bierling 2003: 245 237 Hartmann 2001: 92f. 238 Vgl. Bierling 2003: 243f., Medick-Krakau/Robel/Brand 2004: 122 230 IV Amerikanische EU-Politik der Administration Obama – Quo vadis, Europa? 45 inklusive der europäischen Staaten den USA 2001 ihre Solidarität bei der Bekämpfung des Terrorismus zusicherte, gab es zusehends Meinungsverschiedenheiten über die Vorgehensweise der Bush-Regierung und Ablehnung der Pax Americana, sodass der Irak-Krieg nur noch von einzelnen Partnern befürwortet wurde. Neben der Arbeit im Sicherheitsrat wurden damit die transatlantischen Beziehungen stark belastet und der Zusammenhalt von NATO und EU gefährdet.239 2. Obamas multilaterale Versprechen Der neue US-Präsident Barack Obama wandte sich rigoros von der unilateralen Machtpolitik seines Vorgängers George W. Bush ab und erteilte der Bush-Doktrin eine Absage. Diese deutliche Abkehr fand vor allem auf der deklaratorischen Ebene statt: In Reden und Erklärungen kommunizierte der wortgewandte Präsident einen Neuanfang der amerikanischen Politik.240 Das außenpolitische Spektrum Obamas ist vielfältig, es umfasst unter anderem das Thema Klimaschutz, die globale Finanz- und Wirtschaftskrise, nukleare Proliferation, das Fordern von mehr europäischer Unterstützung in Afghanistan und Pakistan, die Schließung des Gefangenenlagers in Guantánamo, die Beziehungen zu Russland sowie China und Indien, die Abneigung der USA gegenüber dem Internationalen Strafgerichtshof sowie die Erweiterung der EU um die Türkei.241 Hinsichtlich der Thematik dieser Arbeit wird hier ausschließlich auf Themen, die die transatlantische Zusammenarbeit betreffen, sowie auf allgemeine Besonderheiten der US-Außenpolitik unter Obama eingegangen. 2.1 Neues Bild der USA, neuer Politikstil, Wandel – und Kontinuität Schon im Wahlkampf propagierte Barack Obama eine grundlegende Wende der amerikanischen Politik mit dem Slogan Change we can believe in, und dieser politische Neuanfang sollte sich vor allem auf die Außenpolitik und das Bild Amerikas in der Welt beziehen. Das "Ansehen der Vereinigten Staaten in der Welt wiederherzustellen"242 wurde zu Obamas Kernziel der Außenpolitik, welches er mithilfe seines Charismas und internationalen Popularität zu verwirklichen suchte. Es gelang ihm, die globale Rolle der USA neu zu definieren.243 239 Vgl. Bierling 2003: 240f., 245f., 250 Vgl. Lemke 2011: 115, 131, Rudolf 2010: 39 241 Vgl. Bruton 2009: 31, Hamilton/Foster 2009: 39-41, 51f., 55f., Vasconcelos 2009: 12 242 Lemke 2011: 116 243 Vgl. Kleine-Brockhoff 2010: 3, Rudolf 2010: 72 240 IV Amerikanische EU-Politik der Administration Obama – Quo vadis, Europa? 46 Obama schaffte einen neuen diskursiven Rahmen der außenpolitischen Grundorientierung Amerikas, allerdings war sein Handlungsrahmen von Beginn an eingeschränkt. Obama, den die meisten außenpolitischen Herausforderungen eines neu gewählten Präsidenten seit mehr als 40 Jahren erwarteten, darunter die "Legitimitätskrise des amerikanischen Führungsanspruchs" nach achtjähriger Amtszeit von Präsident Bush, wurde auch von bedeutenden innenpolitischen Aufgaben eingespannt. Dazu zählten die Finanzund Wirtschaftskrise, eine Reform des Sozial- und Gesundheitssystems sowie ein steigendes Haushaltsdefizit. Zudem schränkt auch der Kongress die Handlungsfähigkeit von Präsidenten ein, da er den meisten präsidialen Handlungen zustimmen muss.244 Im Mai 2010 legte Präsident Obama dem Kongress seine Nationale Sicherheitsstrategie245 (NSS) vor. Sie war die erste umfassende außenpolitische Erklärung Obamas, die allerdings sehr wage formuliert ist und daher eher Absichtserklärungen statt explizite Handlungsvorgaben enthält. Zwar grenzt der Präsident auch hier seine Außenpolitik von der Administration Bush ab, jedoch geschieht das vor allem symbolisch und deklaratorisch; neben Wandel und neuen Akzenten beinhaltet die NSS auch ein gewisses Maß an Kontinuität.246 Im Gegensatz zur Ansicht von Bush befinden sich die USA nun nicht mehr im Krieg, sondern in einer Phase des Übergangs, wie auch das gesamte internationale System. Diesen Wandel gilt es zu gestalten.247 Obama ist entschlossen, den neuen "weltpolitischen Herausforderungen" mit "multilateralem Engagement" zu begegnen248. Er bezeichnet die Wiederkehr des Multilateralismus als "neue Ära der Verantwortlichkeit"249, in der die Gemeinschaft von Staaten alle Rechte genießen und Pflichten besitzen. Die Abstimmung und Verständigung mit Verbündeten soll verbessert werden, jedoch wird Obama seine Partner auch stärker in die Pflicht nehmen und vor allem von den Europäern mehr Einsatz in globalen Fragen fordern.250 Eine weitere Neuerung in Obamas Sicherheitsstrategie ist die Rückbesinnung auf weitere Stärken der USA, nicht ausschließlich ihrer militärischen Macht. Der Macht der Wirtschaft sowie diplomatischen und kommunikativen Mitteln werden ebenso eine hohe Bedeutung zugewiesen. Obama ist bereit, diese soft power einzusetzen. Die Administration favorisiert insbesondere die so genannte smart power – 244 Vgl. Calleo 2009: 1f., Pfiffner 2010: 10, Rudolf 2010: 12, 15, 34 NSS 2010 246 Vgl. Keller 2010a: 1, 5 247 Vgl. ebd.: 3 248 Lemke 2011: 115 249 Kleine-Brockhoff 2010: 4 250 Vgl. Lemke 2011: 122, Rudolf 2010: 57 245 IV Amerikanische EU-Politik der Administration Obama – Quo vadis, Europa? 47 eine Verknüpfung von als hard power bezeichnete militärischer Macht und soft power.251 Um die von Obama angestrebte moralische Führungsrolle in der Welt glaubhaft zu gestalten, untersagt er jede Art von Folter und kündigt bereits zu Beginn seiner Amtszeit an, das Gefangenenlager in Guantánamo zu schließen. Diese Entscheidung gilt als besonders symbolkräftiger Bruch mit der Bush-Administration. Durch mangelnde Kooperation europäischer Verbündete hinsichtlich der Aufnahme von Gefangenen konnte dieses Vorhaben jedoch bisher nicht verwirklicht werden.252 Im Zuge seines multilateralen Ansatzes setzt Präsident Obama auch auf internationale Institutionen und Organisationen. Diese zu reformieren und somit an die Verhältnisse und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts anzupassen, ist eines seiner außenpolitischen Ziele. Die USA kehren in den UNMenschenrechtsrat zurück und schreiben den Vereinten Nationen allgemein eine größere Bedeutung zu. Durch das Einhalten internationalen Rechts sollen Entscheidungen legitimiert und für andere internationale Akteure nachvollziehbar werden.253 Das Kalkül der US-Regierung ist jedoch auch, mithilfe solcher Institutionen eigene Interessen durchsetzen und Kosten auf andere Staaten verteilen zu können. Bei der Mitgliedschaft in Organisationen nehmen die USA keinen Souveränitätsverlust in Kauf. Obama setzt daher auch verstärkt auf kleinere Gremien wie die G8254 oder die G20255. Er hat hier mehr Handlungsspielraum, da die Vereinbarungen, die völkerrechtlich nicht bindend sind, keine Zustimmung des amerikanischen Kongresses benötigen.256 Eine allgemeine Veränderung der neuen Sicherheitsstrategie ist ihre Sprache und ihr Stil, der sich von vorhergehenden enorm unterscheidet. Auf Zahlen und Fakten wird größtenteils verzichtet, und der besänftigende Sprachstil lässt sie nicht wie ein Strategiedokument wirken, sondern vielmehr wie eine "typische Rede Obamas – erhebend und hochfliegend, aber unbestimmt in der Zielrichtung"257. Neben diesen neuen Akzenten beleuchtet die NSS auch Kontinuitäten der amerikanischen Außenpolitik – wenn diese auch sprachlich "neu verpackt" sind, verraten die Inhalte gewisse Beständigkeiten. Das Selbstbild der USA entspricht noch immer dem einer globalen 251 Vgl. Keller 2010a: 4, Lemke 2011: 119, Rudolf 2010: 65 Vgl. Keller 2010a: 4, Rudolf 2010: 50 253 Vgl. Keller 2010a: 4, Lemke 2011: 116, Rudolf 2010: 56 254 G8: Gruppe der sieben größten Industrienationen und Russland: Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Kanada, Russland, UK, USA 255 G20: Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer: Argentinien, Australien, Brasilien, China, Deutschland, Frankreich, Kanada, Indien, Indonesien, Italien, Japan, Mexiko, Russland, SaudiArabien, Südafrika, Südkorea, Türkei, UK, USA und die Europäische Union 256 Vgl. Rudolf 2010: 56, Thimm 2010: 3 257 Keller 2010a: 4 252 IV Amerikanische EU-Politik der Administration Obama – Quo vadis, Europa? 48 Ordnungsmacht mit der moralischen Verpflichtung, die Führungsrolle im internationalen Geschehen einzunehmen. Allerdings wollen sie die Führung nicht als Patron, sondern als Partner oder "wohlwollender Hegemon"258 wahrnehmen. Dabei soll die amerikanische Führungsrolle "in Einklang mit den eigenen Ressourcen"259 gebracht werden.260 Die USA behaupten zudem die unangefochtene militärische Vormachtstellung mit den meisten Machtressourcen, und werden diese hard power wenn nötig auch unilateral einsetzen, etwa wenn sie keine Gefolgschaft für ihre außenpolitischen Ziele finden.261 Vizepräsident Joe Biden erläuterte den multilateralen Ansatz Obamas, der dennoch eine strategische Unabhängigkeit der USA beinhaltet, auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2009: "We will work in partnership whenever we can, alone only when we must."262 Das Ziel amerikanischer Außenpolitik ist die Schaffung und Wahrung von Frieden und Sicherheit in der Welt; vor allem in der Abrüstungspolitik beanspruchten die USA eine konstruktive Rolle. Die Sicherheitsstrategie weist der transatlantischen Partnerschaft, vor allem der Kooperation innerhalb der NATO und bilateral mit europäischen Staaten, eine übergeordnete Rolle zu.263 Es sei sehr wichtig, die Kooperationen zu revitalisieren, wie Außenminister Hillary Clinton betonte, denn "in most global issues, the US has no closer allies than the Europeans"264. Die außenpolitischen Ziele der Obama-Administration, wie sie sich in der Sicherheitsstrategie zeigt, sind ehrgeizig und zukunftsweisend. Mit dem Leitmotiv der ausgestreckten Hand sucht er den Dialog mit anderen Staaten und Organisationen, setzt auf Diplomatie und internationale Verhandlungen. Die Beziehungen zu anderen Mächten wie China oder Russland sollen durch gemeinsame Interessen statt durch Differenzen definiert sein.265 Insgesamt gilt die neue außenpolitische Strategie als multidimensional und flexibel; je nach Anforderungen können unterschiedliche Mittel eingesetzt werden. Das widerspiegelt den pragmatischen Ansatz der Administration. Als oberstes Credo setzt Präsident Obama auf Engagement statt Konfrontation in den Internationalen Beziehungen. Dies ist selbstverständlich auch für die transatlantische Partnerschaft zutreffend.266 258 Rudolf 2010: 51 Lemke 2010: 121 260 Vgl. Keller 2010a: 4, Rudolf 2010: 36f. 261 Vgl. Bruton 2009: 29, Keller 2010a: 4, Rudolf 2010: 16, 37f. 262 Biden 2009 263 Vgl. Keller 2010a: 5 264 Clinton in Hamilton/Foster 2009: 39 265 Vgl. Keller 2010b: 24, Lemke 2011: 116, Rudolf 2010: 60, Kleine-Brockhoff 2010: 4 266 Vgl. Lemke 2011: 120, 131, Vasconcelos 2009: 13 259 IV Amerikanische EU-Politik der Administration Obama – Quo vadis, Europa? 49 2.2 Pragmatismus statt Change we can believe in Präsident Obama als "Messias der Moderne" ist schon kurz nach Amtsantritt in den "Niederungen der Politik" angekommen und musste erkennen, dass er bisher nicht alle seine Ziele durchsetzen konnte267. Er hat sein Charisma und seinen Enthusiasmus nicht verloren, jedoch nicht nur er selbst, sondern auch andere innenpolitischen Institutionen und internationalen Partner beeinflussen seinen Handlungsspielraum. Dazu zählt vor allem die die Gewaltenteilung, die den Kongress mit vielen Themenbereichen der Außenpolitik betraut und ihm die Kontrolle der präsidialen Tätigkeiten zuschreibt. Außerdem ist die Außenpolitik oft stark mit der Innenpolitik verknüpft; der Präsident ist stets bemüht, durch sein außenpolitisches Handeln keine Wählergruppen zu verlieren. Auch die Verbündeten Amerikas können das Ergebnis von Obamas Außenpolitik beeinflussen, von ihrer Zuversicht in die Führungsrolle der USA ist der Erfolg des Präsidenten abhängig.268 Barack Obamas grundlegendes Problem war die Anzahl und der Umfang seiner innenund außenpolitischen Großprojekte, wodurch er nicht die nötige "Kraft, Konzentration und Konsistenz"269 für die Umsetzung eines jeden einzelnen aufbringen konnte. Hinzu kamen übersteigerte Erwartungen, unübersichtliche Zeitpläne und mangelnde Konzeptionen; erst im Mai 2010 legte Obama mit seiner Sicherheitsstrategie konkrete Ziele und Instrumente seiner Außenpolitik vor. Akute innenpolitische Probleme wie die Finanz- und Wirtschaftskrise, die das Engagement des Präsidenten erforderten, ließen die Außenpolitik zunächst etwas in den Hintergrund geraten und daher konkrete Ergebnisse vermissen.270 Ein weiterer Kritikpunkt an der neuen Außenpolitik der USA ist ihr Mangel an Wandel. In vielerlei Hinsicht sei sie vielmehr eine "Fortsetzung der in der Bush-Ära begonnenen verfehlten Machtpolitik"271, wie etwa die Gruppenverstärkung in Afghanistan verdeutlicht. Deklaratorisch setzt sich Obamas Außenpolitik stark von der seines Vorgängers ab, allerdings sind die Veränderungen vor allem verglichen mit dem Ende der zweiten Amtszeit von Präsident Bush relativ gering.272 Auch der viel beschworene multilaterale Ansatz wird von Kritikern in Frage gestellt. Agiert der Präsident wirklich multilateral? 267 Kleine-Brockhoff 2010: 3 Vgl. ebd., Bruton 2009: 32f., Lemke 2010: 131 269 Keller 2010b: 23 270 Vgl. Keller 2010b: 23f., Lemke 2010: 115 271 Lemke 2011: 10f. 272 Vgl. ebd., Rudolf 2010: 50 268 IV Amerikanische EU-Politik der Administration Obama – Quo vadis, Europa? 50 Wenn als Maßstab für Multilateralismus ein Flickenteppich aus pragmatischen und selektiven Formen der Kooperation mit einer grundsätzlichen Präferenz für gemeinsames Handeln ausreicht, heißt die Antwort ja.273 Obamas Multilateralismus ist kein Selbstzweck, sondern nur eine Möglichkeit des außenpolitischen Handelns unter vielen.274 3. Dialog im Nahen Osten – Obamas Offerten und Forderungen an Israelis, Palästinenser und Araber Unter Präsident Bush waren die USA acht Jahre lang sehr inaktiv im israelischpalästinensischen Konflikt. George W. Bush mangelte es an persönlichem Interesse, und aufgrund nur halbherzigen Engagements konnten kaum Fortschritte erzielt werden.275 Vom ersten Tag seiner Amtszeit an machte Barack Obama hingegen deutlich, dass er sich aktiv mit neuen Initiativen im nahöstlichen Friedensprozess engagieren wird. Analog zu anderen außenpolitischen Bereichen veränderte er vor allem die deklaratorische Nahostpolitik: Obama sucht ein "rhetorisches Kontrastprogramm"276 zu seinem Vorgänger mit einem neuen paradigmatischen Ansatz.277 Die grundlegenden Interessenlage der USA im Nahen Osten hat sich auch unter Präsident Obama nicht verändert: Das amerikanische Kerninteresse in der Region ist Energiesicherheit, die Existenz Israels in Frieden und sicheren Grenzen und damit verbunden allgemeine globale Stabilität.278 Anders als die BushAdministration, die den Nahen Osten stets durch den war on terror in Afghanistan und Irak wahrgenommen hat, sieht Obamas Regierung den israelisch-palästinensischen Konflikt im Zentrum aller Ereignisse im Greater Middle East, und stellt einen Zusammenhang zwischen der Konfliktlösung und der Terrorbekämpfung her.279 Mit der Ernennung des erfahrenen "Macher" George Mitchell als Sonderbeauftragten für den Nahen Osten, der von durchsetzungsfähigen Beratern unterstützt wird, unterstreicht der Präsident die Priorität der Region in seiner Außenpolitik.280 Der Neubeginn Obamas manifestiert sich im Dialog mit der muslimischen Welt, was er in seiner Rede in Kairo im Juni 2009281 verlauten lassen hat. Die USA wollen sich der arabi- 273 Thimm 2010: 4 Vgl. ebd.: 5 275 Vgl. Rudolf 2010: 98f. 276 Ebd.: 116 277 Vgl. Hänsel 2009: 22, Lemke 2011: 8 278 Vgl. Keller 2010b: 23, Rudolf 2010: 93, 96 279 Vgl. Hänsel 2009: 24, Rudolf 2010: 95 280 Vgl. Keller 2010b: 23f., Lemke 2011: 122 281 Obama 2009 274 IV Amerikanische EU-Politik der Administration Obama – Quo vadis, Europa? 51 schen Welt wieder öffnen und neue Akzente in den Beziehungen setzen.282 Indem er auf beide Konfliktparteien zugeht, fordert er auch beide Seiten. Um das Vertrauen der Palästinenser bemüht, ist sein Ziel, dass die USA als ehrlicher Makler im Nahostkonflikt wahrgenommen werden.283 Während dieser policy of balance ließ er Israel jedoch wissen, dass die USA den jüdischen Staat, mit dem sie kulturell und historisch verbunden sind, weiterhin unterstützen werden: "This bond is unbreakable."284 Allerdings lässt sich Obamas Beziehungen zu Israel treffend als tough love285 bezeichnen. Die Außenpolitik der USA ist klar auf eine Zwei-Staaten-Lösung aus. Um dieses Ziel zu erreichen, erwartet Obama mehr Engagement von allen Beteiligten. Von den Palästinensern verlangte er, dass die Gewalt gestoppt wird und Institutionen für eine Selbstverwaltung und -Regierung entwickelt werden. Die arabischen Nachbarstaaten sollen den Friedensprozess anerkennen und unterstützen. Die Israelis forderte er auf, den Siedlungsausbau abzubrechen. Er vertritt dabei die harte Linie eines rigorosen Baustopps, auch das natürliche Wachstum bereits existierender Siedlungen in palästinensischen Gebieten soll eingestellt werden.286 Durch Obamas Druck auf Israels Premier Netanjahu sprach dieser in einer Rede im Juni 2009 erstmals von einem palästinensischen Staat und stimmte somit einer Zwei-Staaten-Lösung zu. Er forderte allerdings zahlreiche Auflagen für solch einen Staat, welche die Palästinenser nicht akzeptieren werden; somit kann die Offerte kaum dem Fortschritt des Friedensprozesses dienen, sondern soll lediglich ein Entgegenkommen Israels vortäuschen.287 In Israel verband man mit dem Amtsantritt Obamas zunächst Hoffnungen auf einen Neuanfang in den bilateralen Beziehungen, wurde jedoch schnell enttäuscht. Die Israelis sind von der ausgeglichenen Nahostpolitik Amerikas und der Zuwendung zu den Palästinensern irritiert, zudem bestehen Spannungen im persönlichen Verhältnis zwischen Obama und Netanjahu.288 Thomas Friedman, ein Kolumnist der New York Times, stellte im Februar 2009 fest: "Obama has three priorities: banks, banks, banks – and none of them are the West 282 Vgl. Lemke 2011: 8, 113, 116 Vgl. Keller 2010b: 25, Rudolf 2010: 96 284 Obama 2009 285 Rudolf 2010: 108 286 Vgl. ebd.: 104, Bruton 2009: 29, Obama 2009 287 Vgl. Rudolf 2010: 105, Hänsel 2009: 24 288 Vgl. Hänsel 2009: 23, 25, 27 283 52 IV Amerikanische EU-Politik der Administration Obama – Quo vadis, Europa? Bank."289 Der amerikanische Präsident sah sich seit Beginn seiner Amtszeit mit innenpolitischen Problemen, insbesondere der Finanzkrise, konfrontiert, was ihn daran hinderte, sich in außenpolitischen Bereichen mit der angekündigten Intensität zu engagieren. In den ersten Jahren seiner Amtszeit vermochte er kaum positive Ergebnisse erzielen und die hohen Erwartungen, in den USA, der Region an sich und der Weltgemeinschaft, sind Ernüchterung gewichen.290 In seiner viel beachteten Rede in Kairo konnte Präsident Obama keine konkreten Schritte für den Friedensprozess aufzeigen. Auch der von ihm initiierte Handschlag zwischen Netanjahu und Palästinenserpräsident Abbas im September 2009, der in sich selbst einen Erfolg darstellte, führte nicht zu einer Wiederaufnahme der Verhandlungen zwischen beiden Parteien. Insgesamt treten die USA unbestimmt auf, ihre Politik wirkt ideenlos und es existieren Zweifel an der Fähigkeit Amerikas, den Konflikt lösen zu können.291 Durch seine widersprüchliche Haltung in der Siedlungsfrage verspielte Obama Vertrauen und Respekt in Israel, den Palästinensern und den arabischen Staaten: Nachdem er zunächst einen Umfassenden Baustopp verlangte, wurden seine Forderungen nur wenige Monate später zurückhaltender und er akzeptierte das von der israelischen Regierung erlassene zehnmonatige Moratorium, welches natürliches Siedlungswachstum jedoch ausschließt. Das Rückrudern Obamas brüskierte vor allem Abbas und die Palästinenser, die das Vertrauen in die Amerikaner verlieren. Es wurde deutlich, dass der beide Seiten fordernde Ansatz Amerikas, der auf das Entgegenkommen beider Parteien angewiesen ist, keine Erfolge verzeichnen konnte.292 Der Einfluss der Vereinigten Staaten im Nahen Osten schwindet. Diesen Moment sollte die Europäische Union nutzen, um sich stärker in der Region einzubringen. Ein aktives Engagement der EU wird auch von der amerikanischen Regierung gefordert.293 4. Einbindung und burden sharing – Obamas Europapolitik Nach der achtjährigen Amtszeit von Präsident Bush, in der die Europäer keine große Rolle in der amerikanischen Außenpolitik spielten, geht Obama nun erneut auf seine europäischen Verbündeten zu. Er hat erkannt, dass eine Partnerschaft mit Europa für die Lösung vieler internationaler Probleme unerlässlich ist. Basierend auf gemeinsamen Ziele und Werten sollen enge transatlantische Beziehungen revitalisiert werden. Obama profitiert 289 Friedman 2009 Vgl. Asseburg 2010: 2, Keller 2010b: 26 291 Vgl. Asseburg 2010: 2, Hänsel 2009: 24, 28, Keller 2010b: 28 292 Vgl. Hänsel 2009: 26, 32, Keller 2010b, 25f. 293 Vgl. Kalin 2009: 180, Keller 2010b: 28 290 V Das Schicksal der transatlantischen Partnerschaft 53 dabei vom europäischen Enthusiasmus über seine Wahl, der sich mit dem Wandel amerikanischer Politik und der Ähnlichkeit der Ansichten des neuen Präsidenten und der Europäer erklären lässt.294 Die Einbindung Europas ist jedoch auch mit der Erwartung verknüpft, dass sich die europäischen Regierungen wieder verstärkt an internationalen Einsätzen beteiligten und ein ausgeglichenes burden sharing stattfindet. Bisher zeigte sich der Präsident enttäuscht vom Engagement der Europäer, insbesondere in Bezug auf Unterstützung in Afghanistan und bei der Schließung von Guantánamo.295 Obama hält die Europäische Union besonders dazu an, im nahöstlichen Friedensprozess aktiver zu werden. Allerdings ist er nicht überzeugt davon, dass die EU eine konstruktive Rolle im Konflikt spielen und nachhaltige Erfolge erzielen kann.296 In Europa löste die Wahl Barack Obamas große Hoffnungen aus; der politische Neuanfang wurde in hohem Maße begrüßt. Die Europäer wünschten sich den populären amerikanischen Präsidenten als leader der internationalen Politik und setzten höhere Erwartungen in ihn als in seine Vorgänger: "Obama ist zwar Amerikaner, und doch so wunderbar europäisch, dass ihm auf dem 'alten Kontinent' die Herzen zufliegen."297 Der Präsident stand für die ersehnte Zäsur der transatlantischen Sicherheitsbeziehungen und für ein neues, kooperatives Herangehen an globale Probleme. Die EU erwartete multilaterales Engagement vor allem in der Sicherheits-, Energie- und Klimapolitik.298 Allerdings bedeutet die Rückkehr zum Multilateralismus vor allem für die europäischen NATO-Mitglieder, dass sie sich sowohl materiell als auch ideell mehr beteiligen und einbringen müssen, um für gemeinsame Aktionen Vorschläge zu liefern und Ressourcen zu Verfügung zu stellen.299 V Das Schicksal der transatlantischen Partnerschaft Die transatlantischen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Europäischen Union, bzw. den einzelnen Staaten Europas, gelten als die zentrale Kooperation in den internationalen Beziehungen und als "Schlüsselvoraussetzung für weltweite Stabilität und Sicherheit"300. Sie umfassen politische, wirtschaftliche, sicher- 294 Vgl. Bruton 2009: 30, Hamilton/Forster 2009: 40, Lemke 2011: 7f., 113 Vgl. Zaborowski 2009: 230f. 296 Vgl. Kalin 2009: 180, Vasconcelos 2009: 16f. 297 Kleine-Brockhoff 2010: 5 298 Vgl. Grand 2009: 5, Kaim 2009: 1, Lemke 2011: 11, 115, Zaborowski 2009: 230 299 Vgl. Kaim 2009: 7f., Rudolf 2010: 17 300 Varwick 2006: 522 295 V Das Schicksal der transatlantischen Partnerschaft 54 heitspolitische und kulturelle Aspekte und gründen sich auf Interdependenzen der beiden Akteure auf allen Ebenen. USA und EU sind füreinander der jeweils wichtigste internationale Partner. Die transatlantische Partnerschaft ist daher in den Außenpolitiken von USA und EU stark verstrickt.301 Inwieweit die Kooperation über den Atlantik auch heute, unter Präsident Obama, noch immer höchste außenpolitische Priorität einnimmt, soll in diesem Kapitel überprüft werden. Um das aktuelle Verhältnis einordnen und mit früheren Epochen vergleichen zu können, wird zunächst ein historischer Überblick über die Entwicklung der Partnerschaft gegeben. Auch hier stellt das Ende des Ost-West-Konflikts 1990 die Zäsur dar, anschließend wird Obamas Sicht der transatlantischen Beziehungen untersucht. Im Mittelpunkt des Kapitels steht die derzeitige Bedeutung der Allianz. Definiert sie sich über die zahlreichen Gemeinsamkeiten, oder stehen die Differenzen und Unstimmigkeiten im Mittelpunkt? In diesem Zuge wird auch Präsident Obamas Hinwendung nach Asien beachtet. Schließlich soll die Forschungsfrage beantwortet werden, ob sich die amerikanische Außenpolitik von Europa abwendet und mehr nach Asien orientiert, oder ob die Transatlantischen Beziehungen weiterhin die wichtigste amerikanische Allianz bleiben. 1. Die transatlantischen Beziehungen gestern und heute 2.1 Transatlantische Sicherheitspartnerschaft als Mittelpunkt des Kalten Kriegs Nach dem zweiten Weltkrieg banden die USA Europa durch wirtschaftliche Hilfen und sicherheitspolitische Kooperation im Rahmen der 1949 gegründeten NATO an sich. Ein starkes Europa sollte Schutz vor sowjetischer Aggressionen bieten; die amerikanische Europapolitik war somit Teil der containment-Politik gegenüber der Sowjetunion. Im Kalten Krieg stellten die transatlantischen Beziehungen das Herzstück der internationalen Ordnung dar, die SU als gemeinsamer Feind fungierte als einender Faktor. Dass die Vereinigten Staaten die äußere Sicherheit Europas garantierten, ermöglichte die europäische Integration nach innen, weshalb Amerika als "Geburtshelfer Europas"302 gilt.303 Seit den 1950er-Jahren waren die asymmetrischen Partner durch gemeinsamen Handel und Finanzwirtschaft eng miteinander verbunden. Dennoch bildeten sich erste Unstimmigkeiten. Die ökonomische Entwicklung der EWG ließ die USA Konkurrenz im wirtschaftlichen Bereich befürchten. Auch die 1970 mit der EPZ beginnende politische Integration 301 Vgl. Jones 2009: 65, 68, Varwick 2006: 516 Neuss 2000 303 Vgl. Busse 2003: 11, Jones 2009: 63, 66, Varwick 2006: 516 302 V Das Schicksal der transatlantischen Partnerschaft 55 Europas rief kritische Reaktionen Amerikas hervor und unterschiedliche Konfrontationsbzw. Entspannungsansätze gegenüber der Sowjetunion führten zu transatlantischen Auseinandersetzungen. Sie vermochten die enge Kooperation zwischen USA und Europa jedoch nicht grundsätzlich schwächen.304 2.2 Neuausrichtung und Institutionalisierung seit dem Ende des Ost-West-Konflikts Mit Ende des Kalten Kriegs und des Ost-West-Konflikts zu Beginn der 1990er-Jahre begann eine neue Zeitepoche der Transatlantischen Beziehungen. Indem mit dem Zerfall der Sowjetunion die einigende Bedrohung weggefallen ist, wurde Amerika nicht mehr als "Beschützer Europas" benötigt und Europa hatte nicht mehr die zentrale Bedeutung für die USA. Dennoch waren die Vereinigten Staaten daran interessiert, ihren Einfluss auf dem Alten Kontinent nicht zu verlieren, wobei sie nach 1990 nicht mehr als Mentor sondern viel mehr als Partner auftraten. Die transatlantische Zusammenarbeit war weiterhin für beide Seiten wichtig. In einem veränderten globalen Umfeld mit neuen aufstrebenden Mächten, vor allem im asiatischen Raum, musste die Partnerschaft zwischen Europa und Amerika jedoch modifiziert werden. Dazu dienten verschiedene politische Initiativen, die eine stärkere Institutionalisierung der Beziehungen zum Ziel hatte.305 Die Transatlantische Erklärung von 1990 entsprang dem "Wunsch nach enger Konsultation in außenpolitischen Fragen"306 und der fortdauernden Verpflichtung zu gemeinsamen Werten. Auf jährlichen Gipfeltreffen zwischen dem amerikanischen Präsidenten und der Präsidentschaft des Europäischen Rats sowie dem Kommissionspräsident sollten Informationen ausgetauscht und sich mit den Vorstellungen der Partner auseinandergesetzt werden. Trotz dieser erfolgreichen Institutionalisierung zeigten sich bald die Defizite eines reinen Konsultationsforums und vermehrt Unstimmigkeiten zwischen den Partnern.307 Deshalb wurde 1995 die Neue Transatlantische Agenda (NTA) geschaffen. Mit ihr sollte neuer Schwung in die transatlantische Kooperation gebracht und die Angst vor dem Auseinanderdriften der beiden Partner, etwa durch die Hinwendung der USA nach Asien, besänftigt werden. Bei regelmäßigen Treffen auf allen Ebenen (Präsidenten, Außenministern, Botschaftern, Experten, auf europäischer Seite sowohl in Vertretung der EU als auch der einzelnen Mitgliedstaaten) werden in der NTA festgelegte Themenbereiche behandelt. 304 Vgl. Busse 2003: 12, Smith/Steffenson 2011: 405, Varwick 2006: 516f. Vgl. Bierling 2003: 231, Bierling 2007: 15, Busse 2003: 12, 15f., Varwick 2006: 517 306 Gaedtke 2009: 178 307 Vgl. ebd., Busse 2003: 26, Varwick 2006: 517f. 305 V Das Schicksal der transatlantischen Partnerschaft 56 Dazu zählen die Förderung von Frieden, Stabilität, Demokratie und Entwicklung sowie die Reaktion auf globale Herausforderungen, die Forcierung von Kontakten zwischen Zivilgesellschaften, die Ausweitung des Welthandels und engere Wirtschaftsbeziehungen.308 Zudem wurden die transatlantischen Handelsbeziehungen immer weiter verfeinert und 1998 die Transatlantische Wirtschaftspartnerschaft (TEP) gegründet, die sich mit technischen Übereinkünften, Handel und Wettbewerb befasst. 2007 folgte die Schaffung des Transatlantischen Wirtschaftsrats (TEC). Auch die bilateralen Beziehungen zwischen den USA und europäischen Staaten intensivierten sich in den 1990er-Jahren. Ein alle Aspekte umfassendes EU-USA-Partnerschaftsangebot, wie von der Europäischen Union gewünscht, wird von den Vereinigten Staaten jedoch nicht für nötig gehalten. 309 Während der Amtszeit von Präsident Clinton entwickelten sich Spannungen und erste Euroskepsis im transatlantischen Verhältnis. Die Zeit war geprägt von Konflikten auf dem Balkan, die von Europäern und Amerikanern zunächst als ureigenste europäische Angelegenheiten gesehen wurden. Als sich jedoch kein Erfolg europäischer Ansätze abzeichnete, griffen die Vereinigten Staaten militärisch ein und führten eine Lösung herbei. Die Clinton-Administration zeigte sich jedoch enttäuscht über das Unvermögen der Europäer hinsichtlich Konfliktlösung. Auf europäischer Seite hingegen wurde das späte Eingreifen Amerikas kritisiert.310 Unter Clinton fand eine gewisse Neuorientierung amerikanischer Außenpolitik statt, deren Zukunft laut Außenminister Warren Christopher im pazifischen Raum liege. Trotz diesen Unstimmigkeiten und Skepsis waren die transatlantischen Beziehungen jedoch von relativer Harmonie geprägt, was auch am Personal der Administration lag, wo es große Bewunderer des erfolgreichen Projekts der europäischen Integration gab.311 Im Kontrast zu der Harmonie der 1990er-Jahre erlitt die transatlantische Kooperation unter Präsident Bush Jr. ihr größtes "Trauma"312. Nach einer kurzen Phase transatlantischer Solidarität infolge der Terroranschläge am 11. September 2001 und der prinzipiellen Befürwortung des Kriegs in Afghanistan, änderte sich schnell das politische Klima. Europa missbilligte das unilaterale und militärische Vorgehen des Präsidenten; Eliten und Außenpolitiker der EU wenden sich von den USA ab und stattdessen den Vereinten Nationen 308 Vgl. Busse 2003: 30, 37, Gaedtke 2009: 177, 179 Vgl. Gaedtke 2009: 65f., 177, 179f., Smith/Steffenson 2011: 415 310 Vgl. Jones 2009: 65 311 Vgl. ebd., Bierling 2003: 231, Forsberg/Herd 2006: 121 312 Forsberg/Herd 2006: 121 309 V Das Schicksal der transatlantischen Partnerschaft 57 zu.313 Der 2003 beginnende Krieg gegen den Irak entwickelte sich zum Tiefpunkt der Transatlantischen Beziehungen; er spaltete sowohl die transatlantischen Partner als auch die Europäische Union: "Somewhere between Kabul and Baghdad, the United States and Europe lost each other."314 In Europa verbreitete sich Antiamerikanismus, in den USA wurde Misstrauen gegenüber einer schwachen EU ohne einheitlichen politischen Wille gehegt.315 Unklar ist, inwieweit die transatlantischen Beziehungen das Zerwürfnis über den Irakkrieg ohne bleibende Schäden überlebt haben316, oder aber das Verhältnis in der Folge des Kriegs nicht umfassend erneuert werden konnte317. Präsident Bush bemühte sich in seiner zweiten Amtszeit durch weichere Rhetorik und die Hinwendung zum Sicherheitsrat der Vereinten Nationen um eine Verbesserung der Beziehungen zur EU. Mit Besuchen des Präsidenten und der Außenministern Condoleezza Rice in Brüssel sollte die neue Phase der Zusammenarbeit mit einem "starken Europa als einen starken Partner"318 der USA beginnen. 2.3 G20, Ad-hoc-Gruppen, Vereinte Nationen – die Bedeutung der transatlantischen Kooperation für Präsident Obama Trotz der Annäherungsversuche von Präsident Bush vermochte erst der neu gewählte Präsident Obama den transatlantischen Beziehungen einen neuen Geist einverleiben und einen neuen Ton anschlagen. Die EU setzt große Hoffnungen in Barack Obama und akzeptiert mit ihm die amerikanische Führungsrolle in der Welt. Schon in seiner Rede in Berlin im Juli 2008, noch als Präsidentschaftskandidat, kündigte Obama an, die transatlantischen Beziehungen zu erneuern und durch formelle, engere Zusammenarbeit aufwerten zu wollen.319 Europa bietet er damit die einmalige Chance, eine atlantische Partnerschaft zu schmieden, die besser gewappnet ist, den Möglichkeiten und Herausforderungen einer neuen Mächteverteilung auf der Welt zu begegnen.320 Obama misst der Neubelebung der transatlantischen Beziehungen größte Bedeutung zu, um den globalen Herausforderungen in Partnerschaft zu begegnen. In vielen Bereichen nähern sich die Ansichten von USA und EU wieder an, etwa in Bezug auf Menschenrechte, 313 Vgl. Jones 2009: 68, Vasconcelos 2009: 12f. Forsberg/Herd 2006: 121 315 Vgl. ebd.: 4f. 316 Vgl. Jones 2009: 68 317 Vgl. Bauer 2008: 39 318 Gaedtke 2009: 184 319 Vgl. Gärtner 2009: 177, Hamilton/Foster 2009: 57, Kaim 2009: 2, Zaborowski 2009: 230 320 Lemke 2011: 128 314 V Das Schicksal der transatlantischen Partnerschaft 58 den Umgang mit Iran, das Vorgehen im Nahost-Friedensprozess oder im Klimaschutz, wo ein Zugehen Obamas auf die Europäer verzeichnet wurde.321 Obama ist auch im transatlantischen Verhältnis an einem multilateralen Vorgehen interessiert. Lautete das Motto der Bush-Administration "entweder ihr seid mit uns, oder gegen uns", entsteht unter dem neuen Präsident eine multilaterale gleichberechtigte Partnerschaft. Vizepräsident Biden verdeutlichte das in seiner Rede in München 2009: "We will engage. We will listen. We will consult."322 Die Rückkehr zum Multilateralismus bedeutet für die europäischen NATOMitglieder mehr Einflussmöglichkeiten in die amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik. Allerdings stellen die USA auch höhere Erwartungen an die Europäer, sich aktiv und kreativ und vor allem einstimmig einzubringen:323 Europa entscheidet letztlich selbst, ob Washington in ihm auch weiter einen oder sogar den primären Partner für Weltordnungsfragen sehen wird.324 Eine Ursache für Obamas Zugehen auf Europa sind Europa-freudliche Mitarbeiter seiner Regierung, dieselben, die bereits Teil von Clintons Administration waren und "a deep sense of admiration for the European project"325 entwickelt hatten. Neben personellen Gründen ist auch die Erkenntnis, dass es für die USA keinen besseren Partner als Europa gibt, eine weitere Ursache. Joe Biden bemerkte in München, dass Europäer und Amerikaner immer zuerst aufeinander schauen, bevor sie jemand anderen anschauen. Er erklärte zudem Amerikas Bedarf an starken internationalen Partnern: "America needs the world, just as I believe the world needs America."326 Die EU muss die Chance nutzen, sich als wichtiger Partner der USA zu bestätigen, denn als Zivilmacht ist sie auf internationale Führung durch die Vereinigten Staaten angewiesen.327 Wie seine gesamte Außenpolitik beinhaltet auch die transatlantische Politik Obamas ein hohes Maß an Pragmatismus. Amerikanischer Multilateralismus ist eine Konsequenz der Veränderungen in der Welt. Die transatlantische Zusammenarbeit stellt für den Präsidenten nur eine von vielen internationalen Kooperationen dar. Obama besitzt keinen "eurozentrischen Blick", wie die noch vom Kalten Krieg geprägten Präsidenten, sondern ist global eingestellt.328 In seiner Sicherheitsstrategie werden die transatlantischen Bezie- 321 Vgl. ebd.: 123, Jones 2009: 71, Zaborowski 2009: 232 Biden 2009 323 Vgl. Gärtner: 153, Ferrero-Waldner 2009, Kaim 2009: 3, Lemke 2011: 116 324 Perthes 2009 325 Jones 2009: 71 326 Biden 2009 327 Vgl. Bierling/Groitl 2010: 291, Ferrero-Waldner 2009, Gärtner 2009: 178 328 Vgl. Jones 2009: 64, 73, Lemke 2011: 128, Perthes 2009 322 V Das Schicksal der transatlantischen Partnerschaft 59 hungen zwar erwähnt, jedoch handelt es sich hauptsächlich um rhetorische Bekenntnisse statt klarer Definition gemeinsamer Projekte. Der Präsident weiß die Vorteile der Kooperation mit der EU zu schätzen. Als Realist ist er sich jedoch auch der Kosten bewusst, die durch die geringe militärische Macht Europas und die oft fehlende Einstimmigkeit des europäischen Partners entstehen.329 Präsident Obamas kooperativer Realismus bevorzugt themenspezifische Zusammenarbeit statt großer Institutionalisierung. Wichtiger als übereinstimmende Werte und Einstellungen sind dabei gemeinsame Ziele, wirtschaftliche Interessen oder finanzielle Interdependenzen. Die USA suchen sich Partner, die effektiv zur Problemlösung beitragen können, weshalb Problembewusstsein und vorhandene Ressourcen im Mittelpunkt stehen. Dieser Ansatz spiegelt sich wider in der Hinwendung zu Asien sowie der Nutzung der G20 statt der etablierten G8 oder der Vereinten Nationen als internationales Forum, dessen Beschlüsse völkerrechtlich nicht bindend sind und Amerika den Vorsitz innehat. Europa muss also liefern, um in der Gunst des amerikanischen Präsidenten zu bleiben.330 Obwohl sich Ton und Stil der transatlantischen Zusammenarbeit verbessert haben, existieren weiterhin Uneinigkeiten, sowohl zwischen EU und USA als auch innerhalb der Europäischen Union. Hier zeigen sich die Grenzen von Charisma auf, von dem sich die Europäer zu Beginn von Obamas Amtszeit umgarnen lassen haben. Obwohl beide Partner ähnliche oder gemeinsame Ziele verfolgen, behindern unkoordinierte Herangehensweisen transatlantischen Erfolg.331 Bilaterale Streitpunkte, die noch aus der Bush-Administration stammen, bleiben bestehen: Militäreinsätze, der Umgang mit Iran, die Energieabhängigkeit Europas von Russland, der Krieg in Afghanistan oder Klimaschutz, ein Bereich, in dem Obama einen Wandel versprochen hatte, die Europäer von den bisherigen Ergebnissen allerdings enttäuscht sind.332 Obwohl die EU und die USA gemeinsame Ansichten vertreten, sind dies oft nur prinzipielle Übereinstimmungen und die transatlantischen Beziehungen daher von Dissens geprägt. Zudem ist die regionale Perspektive Europas nicht kongruent mit der globalen Sichtweise Obamas. Insgesamt sickerte Ernüchterung in die transatlantischen Beziehungen: Statt dem erhofften Neuanfang findet eine Entfremdung der Partner statt. Europa vermag es 329 Vgl. Jones 2009: 73, Keller 2010a: 6 Vgl. Jones 2009: 69f., 75, Perthes 2009 331 Vgl. Hamilton/Foster 2009: 42, Zaborowski 2009: 230 332 Vgl. Bierling/Groitl 2010: 289, Jones 2009: 74, Zaborowski 2009: 231 330 V Das Schicksal der transatlantischen Partnerschaft 60 nicht, das Interesse Obamas am Alten Kontinent wach zu halten: Es ist zu stabil und friedlich, um eine Sorge für die USA zu sein, aber auch zu schwach für einen wichtigen Partner in globaler Führungsrolle.333 2. Gemeinsamkeiten und Unterschiede – was begründet die transatlantischen Beziehungen? 2.1 Soft power vs. hard power vs. smart power Keine zwei "Nationen" der Welt ähneln sich mehr als die USA und die Europäische Union.334 Die unterschiedliche Schwerpunktsetzung auf zivile (EU) bzw. militärische (USA) Macht bedingt gegenseitige Abhängigkeit: "Europa benötigt die amerikanische militärische Macht; Amerika benötigt die europäische Zivilmacht."335 Nicht nur die transatlantischen Partner bedürfen des jeweils anderen; die gesamte Internationale Politik bedarf der beiden unterschiedlichen Machtansätze: "Amerika, das die Welt nicht entbehren kann" und "Europa, das die Welt nicht entbehren möchte"336. Die effektive Kombination von amerikanischer hard und europäischer soft power begründen die transatlantische Stärke. Die Zivilmacht ist bei der Problemlösung und Durchsetzung auf militärische Macht angewiesen, kann im Umkehrschluss den Einsatz von hard power legitimieren.337 Während auf der politischen Ebene weiterhin Asymmetrien existieren, bewirkt die wirtschaftliche Interdependenz der beiden Partner eine partnership of equals im wirtschaftlichen Bereich.338 Die transatlantischen Verbündeten einen zudem gemeinsame Werte und grundlegende Interessen wie Demokratie, Menschenrechte, offene Märkte, ein gewisses Maß an sozialer Gerechtigkeit sowie gemeinsame Bedrohungen durch internationalen Terrorismus, radikalen Islamismus und die Proliferation von Massenvernichtungswaffen.339 Die gemeinsame Basis ist allerdings nicht länger ausreichend für eine besondere Partnerschaft in Weltordnungsfragen – hier muss die EU mehr bieten. Auch lassen sich die gemeinsamen Werte der transatlantischen Beziehungen zwar als Kitt dieser Kooperation sehen, nicht aber als Baustein, um sie fortzuentwickeln.340 333 Vgl. Bierling/Groitl 2010: 294, Bierling/Groitl 2011: 299, 304 Vgl. Borchert/Sloan 2005: 534, Nye 2006: 79 335 Moravcsik 2005: 511 336 Bahr 2005: 492 337 Vgl. Borchert/Sloan 2005: 524, 535, Moravcsik 2005: 511 338 Vgl. Smith/Steffenson 2011: 406f. 339 Vgl. Moravcsik 2005: 500 340 Vgl. Perthes 2009 334 V Das Schicksal der transatlantischen Partnerschaft 61 Der größte Unterschied zwischen den transatlantischen Partnern ist die oben angesprochene Präferenz verschiedener Machtinstrumente. Die Europäische Union sieht sich in der "Tradition des Gewaltverzichts"341 und ist eine Zivilmacht, was die spezifisch europäische Außenpolitik charakterisiert. Soft power nutzt das Primat der Diplomatie, Gesetze, Regelungen, transnationaler Verhandlungen und wirtschaftliche Instrumente, um Frieden zu erlangen und zu erhalten.342 Soft power bezeichnet die Fähigkeit eines Staates (oder einer Gruppe von Staaten), Ereignisse aufgrund seiner kulturellen Anziehungskraft, seiner Ideologie und mit Hilfe internationaler Institutionen zu beeinflussen.343 Soft power is the ability to attract rather than merely coerce others.344 Die Bedeutung ziviler Macht in der internationalen Politik nimmt zu. Sie ist zugleich "Voraussetzung für Vertrauen zwischen Menschen und Staaten"345 und "entscheidendes Mittel zur Interessendurchsetzung"346. Militärische Macht ist dabei nur Reserveinstrument. Die Europäische Union nutzt ökonomische Anreize und Integration, Hilfsprogramme und die Verrechtlichung zwischenstaatlicher Beziehungen durch bilaterale Abkommen und multilaterale Institutionen, um Überzeugungskraft und sanften Druck auszuüben und Konflikte friedlich zu lösen. Der Ursprung europäischer soft power liegt in ihrer Überzeugung, allerdings auch im offensichtlichen Mangel militärischer Macht.347 Die Vereinigten Staaten hingegen messen militärischer Macht ein großes Gewicht zu, sie besitzen sehr fähige, moderne Streitkräfte und den höchsten Verteidigungsetat der Welt. Nach amerikanischer Weltsicht ist auf Völkerrecht nicht immer Verlass, weshalb die Möglichkeit bestehen muss, Sicherheit mit hard power durchzusetzen, notfalls unilateral. Diese Macht dient neben dem Gewinnen von Kriegen auch der Machtprojektion, also der Abschreckung und Glaubwürdigkeit strategischer Entscheidungen. Das Misstrauen in multilaterale Institutionen resultiert aus Aktionen der Vereinten Nationen, die nicht immer im Sinne der USA waren.348 341 Bahr 2005: 492 Vgl. Borchert/Sloan 2005: 523f., Gaedtke 2009: 42, Varwick 2006: 516 343 Borchert/Sloan 2005: 523f. 344 Nye 2006: 80 345 Borchert/Sloan 2005: 524 346 Gaedtke 2009: 45 347 Vgl. Gaedtke 2009: 42f., 45, Moravcsik 2005: 499 348 Vgl. Borchert/Sloan 2005: 523f., Hartmann 2001: 99, Varwick 2006: 516, 521 342 V Das Schicksal der transatlantischen Partnerschaft 62 Die den Machtdifferenzen entstammende unterschiedliche Handlungsfähigkeit der transatlantischen Akteure wurde mehrfach karikaturisiert: "The US fights, the UN feeds, the EU funds."349 Obwohl die Europäische Union vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten an politischer Macht und Einfluss gewonnen hat, bleibt sie – neben einer Zivilmacht – eine Wirtschaftsmacht, und damit als Geldgeber ein wichtiger Akteur der internationalen Politik, mit jedoch stark beschränkten Einflussmöglichkeiten. Stets betonen die USA und die EU ihre gemeinsamen Werte. In den jeweiligen Gesellschaften und der Politik existieren jedoch auch viele divergierende Einstellungen. Diese politisch-kulturellen Unterschiede wurden besonders während der Finanzkrise 2008/09 sichtbar.350 Auch in der Bedrohungswahrnehmung, insbesondere durch Terrorismus, und in Zukunftsfragen der internationalen Politik weichen die Partner voneinander ab.351 Spezielle Konfliktthemen in den transatlantischen Beziehungen sind die US-Politik hinsichtlich der Vereinten Nationen, eine geplante amerikanische Raketenabwehr in Mittelund Osteuropa, die Blockade des Internationalen Strafgerichtshofs durch die USA, die Nichtanerkennung des Kyoto-Protokolls, das Verhältnis zu Israel sowie der unilaterale Einsatz von militärischer Gewalt.352 2.2 Pazifischer Präsident Barack Obama Im Präsidentschaftswahlkampf erklärte Hillary Clinton, dass die Beziehungen zu China zu den wichtigsten internationalen Kooperationen der USA gehören. Als Obamas Außenministerin verkündete sie bei mehreren Gelegenheiten: "Wir sind zurück in Asien."353 Ein zentrales Anliegen der Obama-Administration ist die Erneuerung und Intensivierung der Beziehungen zu Asien, insbesondere zu China. Barack Obama sieht sich als "Amerikas erster pazifischer Präsident"354 und beabsichtigt, die Führungsrolle der Vereinigten Staaten in Asien auszubauen. Die große Bedeutung, welche die amerikanische Regierung Asien beimisst, zeigte sich bei der ersten Auslandsreise der Außenministerin, die sie nicht traditionell nach Europa, sondern in vier asiatische Staaten führte. Der erste Staatsgast, den Präsident Obama in Washington empfing, war zudem der japanische Premierminister.355 349 Bierling 2003: 243 Vgl. ebd.: 233, Lemke 2011: 125 351 Vgl. Moravcik 2005: 499, Varwick 2006: 515 352 Vgl. Geipel 2004: 201, Varwick 2006: 521 353 Hofmeister 2010: 8 354 Hofmeister 2010: 1 355 Vgl. ebd., Rudolf 2010: 62 350 V Das Schicksal der transatlantischen Partnerschaft 63 Schon mit dem Koreakrieg 1950-53 verlagerte sich der amerikanische Interessenschwerpunkt von Europa, dem Ort der Entstehung des Kalten Krieges, auf Asien, wo es zu akuten Konflikten und Stellvertreterkriegen kam. Das wirtschaftliche Interesse Amerikas verlagert sich seit dem Ende des Ost-West-Konflikts ebenfalls in den asiatisch-pazifischen Raum und insbesondere nach China. Das amerikanisch-chinesische Verhältnis ist von großen wirtschaftlichen und monetären Interdependenzen geprägt, wie während der Wirtschaftskrise 2008/09 deutlich wurde. Außerdem nimmt neben der wirtschaftlichen auch die politische und militärische Macht Chinas stetig zu und könnte zu Konkurrenz und Herausforderung der Vereinigten Staaten werden. Mit seiner Hinwendung zu China strebt Barack Obama gute Beziehungen mit einem potentiellen Rivalen an.356 Die USA wurden von der Finanz- und Schuldenkrise seit 2008 geschwächt und werden ihr Engagement in der Welt zurückfahren müssen. Sie werden sich daher weniger der EU und vermehrt China und anderen aufstrebenden Mächten im mittleren Osten und pazifischen Raum zuwenden. Während im befriedeten Europa ohne ernsthafte Feine die amerikanische Sicherheit nicht gefährdet ist, steht in Asien Amerikas Einfluss und wirtschaftliche sowie politische Vormachtstellung in der Welt auf dem Spiel.357 Kernpunkt der neuen amerikanischen Asienstrategie ist die Zusammenarbeit mit China. Da eine amerikanisch-chinesische Kooperation jedoch nicht fähig sein wird, auf alle globalen Fragen und Herausforderungen angemessen zu reagieren, dürfen bei der Annäherung an die Volksrepublik die anderen asiatischen Verbündeten der USA nicht brüskiert werden. Die Sicherheitsallianzen mit Japan, Südkorea, Thailand und den Philippinen garantieren Amerikas Einfluss und Sicherheit im pazifischen Raum und haben neben der ChinaPolitik oberste außenpolitische Priorität. Auf ihrer Asienreise besuchte Außenministerin Clinton zuerst Japan, den wichtigsten asiatischen Partner der Vereinigten Staaten.358 Wie in allen außenpolitischen Bereichen geht Präsident Obama auch in seiner Asienpolitik pragmatisch vor. Indem er eine enge Kooperation mit Amerika bietet, sucht er die asiatischen Staaten auch in die Bearbeitung globaler Fragen einzubinden, um sich einerseits militärische, finanzielle und ideelle Unterstützung für seine Vorhaben zu sichern und andererseits eigenständige Initiativen der Asiaten, die amerikanischen Interessen zuwiderlaufen könnten, zu verhindern. Der Höhepunkt amerikanisch-chinesischer Beziehun- 356 Vgl. Bierling 2007: 81, Lemke 2011: 124, Medick-Krakau/Robel/Brand 2004: 100 Vgl. Bierling 2007: 80, Fischer 2011, Smith/Steffenson 2011: 428 358 Vgl. Hofmeister 2010: 1-4 357 V Das Schicksal der transatlantischen Partnerschaft 64 gen war der Besuch Barack Obamas in Peking und Shanghai im November 2009. Inhaltlich behandelte das Treffen verschiedene Sachthemen; Kontroversen wie die Achtung der Menschenrechte oder den Status von Tibet sprach der Präsident nicht an. Dafür wurde er in westlichen Medien scharf kritisiert, in China wurde diese Art der Zusammenarbeit positiv aufgenommen – das beste Beispiel für amerikanischen Pragmatismus, der zu Erfolg führt. Die Beziehungen zu China haben also seit seinem Amtsantritt an Bedeutung gewonnen, allerdings existieren noch viele Kontroversen die insbesondere die wirtschaftliche Abhängigkeit voneinander betreffen. Diese werden einer weitere Vertiefung der Zusammenarbeit jedoch nicht im Wege stehen.359 Obwohl sich die Vereinigten Staaten offensichtlich Asien verstärkt zuwenden, bleibt unklar, ob die Präsenz im pazifisch-asiatischen Raum Substanz hat oder nur Symbolkraft besitzt. Auf jeden Fall ist und bleib Amerika der wichtigste Sicherheitsgarant in Ost- und Südostasien. In Präsident Obamas Sicherheitsstrategie erhielten die Beziehungen zu Asien jedoch erstaunlich wenig Aufmerksamkeit, vor allem verglichen mit der hohen Bedeutung, die der Kontinent zumindest rhetorisch von Obama zuteil wird. Es verstärkt sich der Eindruck, dass Asien Europa (noch?) nicht ersetzen kann und deshalb auch für den "pazifischen Präsident" Barack Obama die transatlantischen Beziehungen "von übergeordneter Bedeutung für die Außen- und Sicherheitspolitik der USA"360 bleiben.361 3. Neue transatlantische Zusammenarbeit im Nahen Osten – Quartett und Querelen Das Vorgehen der transatlantischen Partner EU und USA im Nahen Osten war lange Zeit von asymmetrischer Macht, unterschiedlichen Methoden und Vorgehensweisen sowie verschiedenen Prioritäten und politischen Orientierungen, aber gemeinsamen Interessen und Zielen geprägt. Beide Akteure streben die Zwei-Staaten-Lösung im israelischpalästinensischen Konflikt an, und sorgen sich außerdem um den Zugang zu nahöstlichen Ölreserven.362 Die divergierende Einstellung und Fähigkeit zum Einsatz von militärischer Macht hat wiederholt zu transatlantischen Dissonanzen geführt und abstruse Situationen geschaffen: 359 Vgl. Hofmeister 2010: 3, 5 Keller 2010a: 5 361 Vgl. ebd.: 6, Hofmeister 2010: 8 362 Vgl. Kaim 2004: 39, Kalin 2009: 179 360 65 V Das Schicksal der transatlantischen Partnerschaft The repeated pattern has been the use of European soft power to rebuild what the USbacked Israeli hard-military power has destroyed in the occupied territories.363 Der Nahost-Ansatz der Bush-Regierung verärgerte die europäischen Verbündeten. Auch war bisher der Einfluss der EU im Friedensprozess durch das enorme, allumfassende Engagement der Vereinigten Staaten eingeschränkt. Unter Präsident Obama, der das Aktivwerden seiner Verbündeten fordert, kann und muss die EU die Lösung des Konflikts zu ihrer eigenen Priorität machen.364 Die USA begrüßen den Ausbau der EU-Aktivitäten. Die Europäer fordern jedoch auch die Amerikaner auf, vor allem im Rahmen des Nahostquartetts aktiver zu werden. Um die transatlantischen Initiativen besser zu koordinieren und Fortschritte im Friedensprozess zu erzielen, betont die Europäische Union die Notwendigkeit einer engeren Zusammenarbeit und eines intensiven europäisch- amerikanischen Dialogs. Bisher stellten die USA die treibende politische Kraft dar, der EU oblagen die wirtschaftliche Unterstützung der Konfliktparteien und die Finanzierung der Initiativen. Durch eine engere transatlantische Kooperation versuchen die Europäer nun, ihren politischen Einfluss im Nahen Osten zu stärken.365 Die EU kann und wird die amerikanische Führungsrolle im Friedensprozess nicht in Frage stellen. Für eine effektive Zusammenarbeit sollten die Aufgaben unter den beiden Akteuren aufgeteilt werden. Dies sollte aber nicht, wie bisher, nach wirtschaftlichem und politischem Bereich erfolgen, und auch nicht, dass die Vereinigten Staaten Israel und Europa die Palästinenser unterstützen und die jeweiligen Ziele verteidigen. In gewisser Weise kann die EU die Einseitigkeit des amerikanischen Ansatzes ausgleichen und sollte alle Beteiligten – USA, Israel, Palästinenser und arabische Staaten – unter Druck setzen, einen Zeitplan auszuarbeiten und eine endgültige Lösung zu finden. Dabei sollten die jeweiligen Positionen und Vorgehensweisen respektiert, aber insgesamt zu mehr Kooperation hingearbeitet werden.366 Eine erfolgreich Zusammenarbeit von EU und USA im Nahen Osten gilt als notwendig, sowohl für die Konfliktlösung als auch für die transatlantischen Beziehungen selbst. Wenn sich die Partner uneinig über die wohl bedeutendste internationale Herausforderung des 21. Jahrhunderts sind, wird es zu negativen Auswirkungen auf das transatlantische Verhältnis kommen:367 363 Kalin 2009: 180 Vgl. Asseburg 2010: 8, Geipel 2004: 199, Kaim 2004: 39 365 Vgl. Dietl 2005: 122-124, 233, Ferrero-Waldner 2009 366 Vgl. Bierling/Strobel 2009: 297, Dietl 2005: 123, Kalin 2009: 180 367 Vgl. Geipel 2004: 199 364 V Das Schicksal der transatlantischen Partnerschaft 66 The Israeli-Palestinian arena will either serve as a way to mend the transatlantic relationship, or it will turn into a new source of discord.368 4. Bedeutende transatlantische Beziehungen mit abnehmender Bedeutung der Europäischen Union Die Aufgabe dieser Arbeit war es, zu untersuchen, welche Bedeutung die EU als transatlantischer Partner heute spielt oder auch in Zukunft spielen wird. Besonderes Augenmerk wurde dabei einerseits auf die verbesserte außenpolitische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union in Folge der Reformierungen durch den Vertrag von Lissabon gelegt. Auf der anderen Seite wurde die Europapolitik von Präsident Obama untersucht, der Wandel und die Rückbesinnung auf Multilateralismus versprach, sich jedoch auch dem pazifischen Raum öffnete. Die Untersuchung der außenpolitischen Reformen der EU in Kapitel III ließ neue Ansätze gemeinsamer Außenpolitik erkennen, insbesondere durch den neu geschaffenen Europäischen Auswärtigen Dienst. Von besonderer Bedeutung ist die Überwindung der ehemaligen Säulenstruktur und damit eine Verbindung der intergouvernementalen und supranationalen Aspekte des Auswärtigen Handelns, sowohl durch den EAD als auch durch den neuen Hohen Vertreter der EU als Vizepräsident der Europäischen Kommission und Vorsitzender des Rats für Auswärtige Angelegenheiten. Die Gemeinsame Sicherheitsund Verteidigungspolitik wurde ebenfalls aufgewertet, was der Union mehr Gewicht im hard power-Bereich verschaffen soll. Im Vergleich zu ihrem transatlantischen Verbündeten ist die militärische Kraft der EU jedoch noch immer zu vernachlässigen. Im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wurde das Prinzip der Einstimmigkeit grundsätzlich beibehalten – die Mitgliedstaaten können damit nationale Präferenzen leichter durchsetzen und europäisches Tätigwerden verhindern. Hier zeigen sich die Grenzen europäischer Außenpolitik und die weiter bestehenden nationalen Eigenheiten, was auswärtiges Handeln betrifft. Mit dem Hohen Vertreter und dem Ratspräsident bietet der globale Akteur nun Ansprechpartner. Die Kompetenzverteilung zwischen beiden Positionen sowie dem Kommissionspräsident wurde jedoch nicht abschließend geklärt, was weiterhin zur Verwirrung internationaler Partner führen kann. Im Vertragswerk sind der Wille und die Tendenzen zu einer einheitlicheren europäischen Außenpolitik erkennbar, mit einer Stimme spricht die EU jedoch noch nicht. 368 Lasensky 2004: 30 V Das Schicksal der transatlantischen Partnerschaft 67 Die amerikanische Außenpolitik von Präsident Barack Obama, wie in Kapitel IV untersucht, ist von Wandel, neuen Ansätzen und einem neuen Stil gekennzeichnet. Allerdings finden sich die Veränderungen oft nur auf der deklaratorischen Ebene, inhaltlich führt er in vielen Bereichen die Politik seines Vorgängers fort. Wie versprochen wendet sich der Präsident vermehrt internationalen Organisationen und Partnern zu, jedoch hält auch er sich die Option unilateralen Handelns offen. Bezeichnend für Obama und seine Außenpolitik ist Pragmatismus. Als Realpolitiker schätzt er Kooperationen stets nach Kosten und Nutzen ein. Wenn er sich auch gewissen Werten verpflichtet fühlt, bestimmen grundsätzlich Problembewusstsein, gemeinsame Ziele und wichtige Ressourcen seine Kooperationspartner. Beziehungen, die ausschließlich auf einer breiten Basis gleicher Interessen und Traditionen beruht, meidet er. Daraus folgt Obamas Hinwendung nach Asien und China. Pragmatisch wird er mit den asiatischen Staaten zusammenarbeiten, wenn er die Notwendigkeit sieht. Sein Selbstverständnis als "pazifischer Präsident" scheint vor diesem Hintergrund jedoch auch mehr Rhetorik als commitment. Sowohl die Europäische Union als auch Amerika sind bemüht, durch ihr Engagement im Nahost-Friedensprozess Lösungen zu erzielen. Neue Versuche und Initiativen brachten bisher allerdings keine Erfolge. Die EU war durch den langwierigen Ratifizierungsprozess des Lissabonner Vertrags und die Umsetzung der Reformen zu beschäftigt, um sich intensiv um die Region zu kümmern. Zwar bereiste die Hohe Vertreterin Ashton den Nahen Osten und bekräftigte den Einsatz der Union im Nahost-Quartett, den Friedensprozess vermochte sie bisher jedoch nicht voranbringen. Die Erfolgsbilanz Barack Obamas ähnelt der europäischen. Sein verkündeter Dialog mit der muslimischen Welt wurde zwar wohlwollend aufgenommen, hat jedoch wenig erreichen können. In seinem ausgeglichenen Ansatz, der beide Konfliktparteien fördert, aber auch fordert, rief er Israel zu einem umfassenden Stopp des Siedlungsbaus auf. Der an eine special relationship mit den USA gewöhnte jüdische Staat war verärgert über Obamas tough love-Ansatz. Allerdings konnte der amerikanische Präsident seine harte Linie nicht verfolgen und gab Israels Regierung in der Siedlungsfrage nach, indem er ein Baumoratorium unterstützte, das natürliches Wachstum der Städte nicht mit einschloss. Erfolg versprechend für den Nahen Osten ist ein gemeinsames Agieren der transatlantischen Partner in echter Arbeitsteilung. Die EU und die USA können ihre soft und hard power-Ansätze kombinieren, um Fortschritte im Friedensprozess zu erzielen. Die enge Verbindung der USA zu Israel und die vor allem wirtschaftlichen Beziehungen der EU zu den Palästinensern ermöglichen einen geeinten Dialog zu beiden Konfliktparteien. Bisher hat Präsident Obama das europäische Engagement gelobt, fordert jedoch, es zu verstär- V Das Schicksal der transatlantischen Partnerschaft 68 ken. Die Europäische Union verlangt nach einer starken Führungsrolle der Amerikaner. Beides geeint könnte den Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern voranbringen. Die transatlantischen Beziehungen sind für beide Parteien nach wie vor sehr wichtig, da insbesondere im wirtschaftlichen Bereich viele gegenseitige Abhängigkeiten bestehen. Auch brauchen die EU als Zivil- und die USA als Militärmacht einander, um die Vorzüge beider Ansätze für die erfolgreiche Bearbeitung globaler Herausforderungen zu nutzen. Eine komplementäre Arbeitsteilung würde die transatlantischen Beziehungen nachhaltig verbessern und bedeutet einen "globalen Zugewinn an Sicherheit und Wohlstand"369. Obama erkennt die Wichtigkeit der Europäischen Union durchaus an. In seinem pragmatischen Ansatz sieht er jedoch auch die Defizite der transatlantischen Zusammenarbeit, etwa die Abneigung der Europäer gegenüber dem Einsatz militärischer Macht sowie die Uneinigkeit zwischen den Mitgliedstaaten. Er wendet sich daher vermehrt wenig institutionalisierten Gremien wie den G20 zu. Die Ankündigung des Präsidenten und der Außenministerin, sich verstärkt in Asien zu engagieren manifestiert sich vor allem in der Zusammenarbeit mit China. Mit dem Erstärken der Volksrepublik stehen amerikanische Interessen und Sicherheitsbedürfnisse auf dem Spiel, während Amerikas Sicherheit in Europa nicht gefährdet ist. Dennoch kann die Beziehung zu Asien die transatlantische Zusammenarbeit nicht ablösen. Deren Traditionen und Institutionen, insbesondere die NATO, sind weiterhin wichtiges Kapital amerikanischer Außen- und Sicherheitspolitik. Nach wie vor gilt für die transatlantischen Partner: There is so much more that unites us than divides us.370 Allerdings muss sich die EU bewusst werden, dass ihre Bedeutung für die USA dennoch abnimmt. In seinem pragmatischen Ansatz wird Obama die Europäer nur einbeziehen, wenn der Nutzen die Kosten übersteigt. Die Union hat eine umfassende Reform europäischer Außenpolitik durch den Vertrag von Lissabon versäumt und die Chance, der transatlantischen Partnerschaft mehr Gewicht zu verleihen, verspielt. Die bilateralen Beziehungen der USA zu europäischen Staaten spielen für den Präsidenten auch künftig eine große Rolle, und sucht er einen multilateralen Partner, präferiert er die NATO. Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass die Europäische Union den wichtigsten außenpolitischen Partner der USA darstellt. Mit dem Aufstreben Chinas und weiterer 369 370 Lemke 2011: 128 Nye 2006: 81 V Das Schicksal der transatlantischen Partnerschaft 69 Nationen verlagert sich jedoch das Interesse Richtung Osten, sodass die Bedeutung der EU abnimmt. Soll dieser Trend gestoppt werden, muss die Union attraktiver für die USA werden, etwa durch flexiblere Handlungsmöglichkeiten und der Bereitschaft, Lasten und Kosten gemeinsamer Aktionen zu übernehmen. When it comes to the new world rising, transatlantic partnership is indispensable – but also insufficient.371 371 Vasconcelos 2009: 21 Quellen- und Literaturverzeichnis 70 Quellen- und Literaturverzeichnis Primärquellen Balfour-Deklaration, 02.11.1917. Online verfügbar: http://www.bpb.de/popup/popup_quellen text.html?guid=4TZAPY (Zugriff am 07.09.2011). Beschluss 2010/274/GASP vom 12.05.2010: Änderung und Verlängerung der Gemeinsamen Aktion 2005/889/GASP. 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