Neurodegeneration oder psychische Störung? Sinnvolles diagnostisches Vorgehen im klinischen Alltag Sabine Bruchmann Diplom-Psychologin, Klinische Neuropsychologin (GNP) Funktionsbereich Neuropsychologie Klinik für Allgemeine Neurologie Westfälische Wilhelms-Universität Münster Neurodegeneration oder psychische Störung? Teil 1 Studienergebnisse zum Thema Teil 2 Klinisches Vorgehen zur Differentialdiagnostik Neurodegeneration oder psychische Störung? Angst/ Unsicherheit Perseveration/ zwanghaftes Verhalten Antriebsminderung Sozialer Rückzug Appetit-/ Gewichtsveränderungen Enthemmung Ermüdbarkeit Wahn Schlafstörungen Halluzinationen Reizbarkeit Überforderungsgefühle Verlust von Empathie Kognitive Störungen Neurodegeneration oder psychische Störung? Neurodegeneration • • • • • • • DAT bvFTD svPPA CBD ALS LBD … Psychische Störung ? Depression Bipolare Störung Schizophrenie Adulte ADHS Persönlichkeitsstörungen • Zwang • … • • • • • Neurodegeneration oder psychische Störung? Die wichtigsten psychiatrischen Differentialdiagnosen - - - - Late-onset bipolare Störung (1. Episode > 50 Jahre ~ 6-8 % d. Pat.) Late-onset Schizophrenie (> 40 Jahre ~ 23 % d. Pat.) Late-onset Depression (>65 Jahre ~ 2-30 % Prävalenz) ADHS über die Lebensspanne (Erwachsene ~ 4% Prävalenz) Sorgfältige Anamneseerhebung! Hinweise auf prämorbid bereits existierende, subklinische Manifestationen der Erkrankungen? Pose et al. 2013, International Review of Psychiatry Neurodegeneration oder psychische Störung? Unterschätzung von Neurodegeneration 30 % erhalten im Frühstadium eine psychiatrische Diagnose, meist Depression. Patienten > 40 Jahre mit neu einsetzender behavioraler, affektiver oder kognitiver Symptomatik zur Demenzdiagnostik überweisen. Woolley et al., 2011, Journal of Clinical Psychiatry Neurodegeneration oder psychische Störung? Überschätzung von bvFTD 60 % falsch-positive, 86 % korrekte ambulante Diagnosen Auf Kernsymptome wie Apathie, Veränderung im Essverhalten und Enthemmung achten! Shinagawa et al. 2016, Dementia and Geriatric Cognitive Disorders Neurodegeneration oder psychische Störung? Das Phänokopie-Syndrom der bvFTD - - - - - - - - Bildgebung bleibt auch im Verlauf unauffällig Keine kognitiven Störungen Erhaltene Selbständigkeit im Alltag Keine Symptomprogredienz Häufiger kritischer Lebensereignisse in den letzten 2 Jahren Häufiger Typ-C-Persönlichkeitsstruktur Häufiger junge und männliche Patienten Vermutlich Kombination aus Persönlichkeit, Lebensereignissen und Beziehungsstress. Verlauf kontrollieren! Kognitive Störungen objektivieren! Ausführliche psychosoziale und psychiatrische Anamnese! Gossink et al. 2015, Neuropsychiatry Neurodegeneration oder psychische Störung? Symptome, die für Neurodegeneration sprechen Hohes Alter Auffällige Bildgebung/ Demenzmarker Schleichender Beginn und stetiger Progress Positive Familienanamnese für bvFTD Schizophrenieforme Symptome > 30. Lebensjahr Stereotype Bewegungen oder Äußerungen Fehlen von Traurigkeit Tiefgreifender Empathieverlust Zwanghaftes, ritualisiertes Essverhalten Massive Gewichtsveränderung Kindliches Verhalten, Scherzen, gehobene Stimmung Distanzminderung, soziale Enthemmung Fehlende Einsicht nach Fehlverhalten Woolley et al., 2011, Journal of Clinical Psychiatry Neurodegeneration oder psychische Störung? Symptome, die für eine psychiatrische Genese sprechen Erstmanifestation im Alter von 15-30 Jahren Akutes/ subakutes Auftreten Positive Familienanamnese für affektive Störungen Affektive Episoden in der Vorgeschichte Psychiatrische Komorbiditäten (Angst, Substanzmißbrauch) Suizidgedanken/ -versuche Vollständige/ teilweise Erholung zwischen den Episoden Kognitive Auffälligkeiten nur während akuter Episode Besserung unter psychiatrischer/ psychotherapeutischer Behandlung Galimberti 2015, Biological Psychiatry Neurodegeneration oder psychische Störung? Fazit Teil 1 - Hinweise auf subklinische psychiatrische Vorerkrankungen? - Immer Demenzausschluss bei: - Neuen und objektivierbaren kognitiven Störungen - Patienten> 40 Jahre mit neuen behavioralen oder affektiven Symptomen - Bei Unklarheit: Verlaufskontrollen, Überweisung an spezialisierte Zentren! Neurodegeneration oder psychische Störung? Teil 2 3 Säulen der klinischen Differentialdiagnostik 1. Sorgfältige Eigen- und Fremdanamnese 2. Beobachtung des Patienten 3. Ergebnisse aus Testverfahren und Fragebögen Neurodegeneration oder psychische Störung? 1. Eigen- und Fremdanamnese OHNE den Patienten! Neurodegeneration oder psychische Störung? 1. Eigen- und Fremdanamnese Leistungsvermögen Neurodegeneration psychische Störung Untersuchungszeitpunkt Zeitverlauf Neurodegeneration oder psychische Störung? 1. Eigen- und Fremdanamnese Neurodegeneration Psychische Störung Stetige Progredienz Lang- und kurzfristige Schwankungen Initiales Symptom kognitiv Initiales Symptom psychisch Schleichender Beginn Subakuter Beginn Erste Symptome > 12 Monate Erste Symptome < 6 Monate Kein Auslöser identifizierbar Stress-/ belastungsabhängige Symptomausprägung Freunde, Nachbarn, Kollegen Keine Beobachtung von melden Symptome zurück Symptomen durch Dritte Neurodegeneration oder psychische Störung? 1. Eigen- und Fremdanamnese Neurodegeneration Psychische Störung Hilfsbedarf im Alltag Selbständigkeit im Alltag Antriebsschwäche durch externe Aktivierung überwindbar, ideenlos Antriebsschwäche trotz externer Aktivierung nur mühsam überwindbar, lustlos Positive Familienanamnese Demenzerkrankungen Positive Familienanamnese psychische Erkrankungen Erstmanifestation: >40 Jahre Erstmanifestation: 15-40 Jahre Neurodegeneration oder psychische Störung? 2. Beobachtung des Patienten Neurodegeneration oder psychische Störung? 2. Beobachtung des Patienten im Gespräch Neurodegeneration Psychische Störung Patient kommt in Begleitung Patient kommt allein Vernachlässigtes Erscheinungsbild Gepflegte äußere Erscheinung Hilfesuchen bei Angehörigen, Selbständig und sicher ratlos im Gespräch berichtend Bericht oberflächlich, lückenhaft, unstrukturiert, wortkarg Bericht detailreich, genau, stringent und eloquent Neurodegeneration oder psychische Störung? 2. Beobachtung des Patienten im Gespräch Neurodegeneration Psychische Störung Vermindertes Defizitbewusst- Fokussierung auf Defizite, sein Leidensdruck Sprache auffällig: Wortfindung, Paraphasien, Grammatik Sprechen auffällig: langsam, leise Abruf jüngerer autobiografischer Informationen problematisch, Orientierung unsicher Sicherer Abruf von Daten, Orientierung zögerlich, aber korrekt Neurodegeneration oder psychische Störung? 2. Beobachtung des Patienten im Testteil Neurodegeneration Psychische Störung Nichtwahrnehmen defizitärer Überkritische Bewertung der Leistungen, Bagatellisieren, eigenen Leistungen, häufiges Rationalisieren Rückversichern, Versagenserwartung Bemühte Mitarbeit, gute Belastbarkeit Ungenaues Vorgehen, Überforderungsgefühl, „black-out“-Erleben Gute Konzentration, normales Arbeitstempo Gedankliche Ablenkbarkeit, kognitive Verlangsamung Neurodegeneration oder psychische Störung? 3. Fragebogen- und Testergebnisse Neurodegeneration oder psychische Störung? 3. Testergebnisse: Generell Neurodegeneration Psychische Störung Häufiger Aphasie, Apraxie, Agnosie, visuokonstruktive Störung, Speicherstörung Häufiger Aufmerksamkeitsund exekutive Störungen, Abrufstörung Ohne Zeitdruck keine Leistungssteigerung Ohne Zeitdruck Leistungssteigerung Korrelation der Leistungen mit Aufgabenschwierigkeit Versagen auch in einfachen Aufgaben Korrelation Testleistung mit Alltagskompetenz Diskrepanz zw. Testleistung und Alltagskompetenz Neurodegeneration oder psychische Störung? 3. Testergebnisse: Gedächtnis Neurodegeneration Psychische Störung Eher stetige Leistungen beim Eher schwankender LernLernen verlauf Fast nur Recency-Effekt Primacy- und Recency-Effekt Neigung zu falsch-positiven Antworten, Raten Auslassungsfehler Störung auch in Wiedererkennensaufgaben Störung primär im freien Abruf ohne Hinweisreize Neurodegeneration oder psychische Störung? 3. Testergebnisse: Fragebogenverfahren Neurodegeneration Psychische Störung Patienten unterschätzen kognitive, behaviorale und alltagspraktische Auffälligkeiten. Patienten überschätzen kognitive und alltagspraktische Auffälligkeiten. Traurigkeit selten Traurigkeit häufig Auch Angehörige mit Fragebögen zu neuropsychiatrischen Auffälligkeiten und Alltagskompetenzen befragen! Ggf. genaue Analyse der Antworten wichtig! Neurodegeneration oder psychische Störung? 3. Testergebnisse: Fragebogenverfahren z.B. - Apathy Evaluation Scale (AES) - Bayer ADL (B-ADL) - Depression-im-Alter-Skala (DIA-S) - Frontal Behavioural Inventory (FBI) - Hospital Anxiety and Depression Scale (H-ADS) - Frontal Systems Behavior Scale (FrSBe) - Neuropsychiatric Inventory – Questionaire (NPI-Q) - Saarbrücker Persönlichkeitsfragebogen/ Interpersonal Reactivity Index (SPF-IRI) Neurodegeneration oder psychische Störung? Fazit Teil 2 1. Sorgfältige Eigen- und Fremdanamnese 2. Beobachtung des Patienten 3. Fragebogen- und Testergebnisse Informationen integrieren, Plausibilitäten prüfen! Es gibt nicht den einen Indikator! Verlaufskontrollen zur Diagnosesicherung! [email protected] Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! S. Bruchmann - Neurodegeneration oder psychische Störung? Neurodegeneration oder psychische Störung? 3. Testergebnisse: Fragebogenverfahren Verfahren Inhalt Adressat Apathy Evaluation Scale (AES) Apathie, Antriebsmangel Angehörige Bayer ADL (B-ADL) Alltagskompetenz Angehörige bei Vorliegen kognitiver Störungen Depression-im-Alter-Skala Depression spezifisch Patient (DIA-S) bei älteren Patienten Frontal Behavioural Inventory (FBI) bvFTD-typische Verhaltensauffälligkeiten Angehörige Neurodegeneration oder psychische Störung? 3. Testergebnisse: Fragebogenverfahren Verfahren Inhalt Adressat Hospital Anxiety and Angst und Depression Scale (H-ADS) Depression, ohne somatische Items Patient Frontal Systems Behavior bvFTD-typische Scale (FrSBe) Verhaltensauffälligkeiten Angehörige Neuropsychiatric Inventory – Questionaire (NPI-Q) Angehörige Psychische Auffälligkeiten bei Demenzpatienten Neurodegeneration oder psychische Störung? 3. Testergebnisse: Fragebogenverfahren Verfahren Inhalt Adressat Saarbrücker Persönlichkeitsfragebogen/ Interpersonal Reactivity Index (SPF-IRI) PerspektivüberPatient und nahme, Einfühlungs- Angehörige vermögen, Empathie Diagnosekriterien Demenzsyndrom Kognitive oder verhaltensbezogene Symptome, welche - die Alltagsaktivitäten beeinträchtigen - eine Verschlechterung darstellen - nicht durch ein Delir oder eine psychische Erkrankung erklärbar sind - eigen- oder fremdanamnestisch berichtet werden und objektivierbar sind - ≥ 2 der ff. Bereiche betreffen: - Gedächtnis - Exekutivfunktionen - räumlich-visuelle Funktionen - Sprachfunktionen S. Bruchmann - Neurodegeneration - Verhalten oder psychische Störung? NIA-AA 2011 Frau H., 51 Jahre, bvFTD Keine Depression! Genaue Analyse der Antworten ist wichtig! Gefahr falsch-positiver Klassifizierung aufgrund somatischer Items! S. Bruchmann - Neurodegeneration oder psychische Störung? Neurodegeneration oder psychische Störung? Sonderfall FTD Gemeinsame pathologische Basis mit Schizophrenie: Verwandte von FTD-Patienten erkranken häufiger an Schizophrenie als Verwandte von DAT-Patienten. Auch in Gehirnen von schizophrenen oder bipolaren Patienten finden sich posthum Tau-Pathologien. Schizophrenie und FTD weisen ähnliche Veränderungen in der Hirnkonnektivität auf, speziell zum Frontalhirn. Aber: Nur etwa 10 % der FTD-Patienten weisen psychotische Symptome auf. FTD und psychische Störungen als komorbide oder sich gegenseitig bedingende Erkrankungen sind denkbar. Galimberti 2015, Biological Psychiatry Frau E., 55 Jahre Subjektive kognitive Störung S. Bruchmann - Neurodegeneration oder psychische Störung? Psychopathologisches Screening Neuropsychiatrisches Interview – Questionaire (NPI-Q) • Zur Fremdbeurteilung psychopathologischer Symptome im letzten Monat bei Vorliegen einer Demenz • Anzahl vorhandener Symptome (max. 12 Punkte) • Schwere der Ausprägung (max. 36 Punkte) • Belastung der Angehörigen (max. 60 Punkte) • Dauer ca. 10 Minuten S. Bruchmann - Neurodegeneration oder psychische Störung? Kaufer et al. 2000 Depressionsscreening Hospital Anxiety and Depression Scale • Fokus auf den psychischen Aspekten von Angst und Depression • zur Anwendung im somatischklinischen Setting. • Pro Skala: 7 Items, 0-21 Punkte, CutOff ≥ 8 Punkte S. Bruchmann - Neurodegeneration Zigmond & Snaith, 1983 oder psychische Störung? Sonderfall bvFTD Die behaviorale Variante der fronto-temporalen Demenz Was sind die typischsten kognitiven und psychopathologischen Veränderungen in der Frühphase? – „Error Insensitivity“ (z.B. TMT-B, Farb-Wort-Test), reduzierte kognitive Flüssigkeit – Apathie/ emotionale Indifferenz, Enthemmung, abnormales Essverhalten, repetitive/ stereotype Verhaltensweisen – In der Testsituation frühes amotivationales Verhalten („Denkfaulheit“) Danach Ausschau halten! S. Bruchmann - Neurodegeneration Ranasinghe et al. 2016 oder psychische Störung? Neurodegeneration oder psychische Störung? Subjektive Gedächtnisstörungen hängen mehr mit Stimmung als mit tatsächlicher Gedächtnisleistung zusammen Patienten mit leichter kognitiver Störung (MCI) zeigen häufiger Symptome von Angst und Depression als gesunde Kontrollen. Davon zeigen diejenigen ohne subjektive Gedächtnisklagen weniger Angst und Depression. Angst und Depression sagen das Auftreten subjektiver Gedächtnisstörungen vorher, jedoch nicht das Auftreten objektiver Gedächtnisstörungen. Klagen Patienten über Gedächtnisstörungen, welche nicht objektivierbar sind, so sollten dringend auch affektive Störungen in Betracht gezogen und behandelt werden. Yates 2015, Ageing & Mental Health