Der Ganzkörperschmerz (Dr. Thomas Schwingenschlögl, Facharzt für Innere Medizin und Rheumatologie) Wer von uns kennt ihn nicht? Den brennenden Muskelschmerz, den dumpfen Knochenschmerz, den ziehenden Sehnenschmerz oder einfach viele berührungsempfindliche Punkte an Gelenken und Muskeln. Vielfach werden sich hinter diesen Beschwerden einfache Krankheitsbilder, die durch Über- oder Fehlbelastung der genannten Strukturen verursacht werden, verstecken. Doch recht häufig werden diese Beschwerden am ganzen Körper mit wechselnder Intensität und Ausdehnung vorkommen, durch einfache Maßnahmen wie das Auftragen von schmerzstillenden Salben oder Gelen nicht verschwinden und hartnäckig über einen längeren Zeitraum bestehen. Diese Patienten wandern dann von Arzt zu Arzt, erhalten eine Vielzahl von unterschiedlichen Therapien und werden dennoch nie beschwerdefrei. Da auch der Arzt diesem Krankheitsbild oft ratlos gegenübersteht, werden die Patienten als sogenannte „Psycherln“ eingestuft, denen man halt nicht helfen kann. Oder die Überweisung zum Nervenarzt oder Psychiater wird schnell ausgestellt. Mann kennt jedoch heutzutage ein solches Krankheitsbild, das mit wechselnden Muskel-, Gelenk- und Skelettschmerzen über Jahre verläuft. Weichteilrheumatismus Unter diesem Begriff werden Erkrankungen an Muskeln, Sehnen, Sehnenscheiden, Schleimbeuteln und anderen Bindegewebsstrukturen zusammengefasst. Die meisten dieser Strukturen liegen außerhalb der Gelenke, können vom Beschwerdebild aber ähnlich dem einer Gelenkentzündung oder Gelenkabnützung sein. Weichteilrheumatische Schmerzensyndrome können in jedem Lebensalter auftreten und sind sehr häufig. Die Ursachen der Beschwerden sind vielfältig. Falsche Haltung und Bewegung während Sport und Beruf, Überbelastung, angeborene Fehlstellungen oder immer wieder kehrende schon geringe Traumen können solche Beschwerden auslösen. Vielfach werden lokale Schmerzen im Bereich von Gelenken, Muskeln oder Sehnenansätzen geschildert. Besteht das Schmerzfeld über längere Zeit, kann es sich über die eigentliche Läsion hinaus ausdehnen. Die Schmerzintensität ist unterschiedlich. Von leichter Druckempfindlichkeit exponierter Stellen bis hin zum massiven Ganzkörperschmerz sind alle Varianten möglich. Die Diagnostik liegt in der klinischen Untersuchung. Durch die genaue Überprüfung von Gelenk- und Muskelspiel, sowie durch exaktes abtasten der schmerzhaften Strukturen kann die Diagnose meist rasch gestellt werden. Labortest liegen in den meisten Fällen völlig im Normalbereich. Standardröntgen dienen eher dem Ausschluss von Knochen- und Gelenkserkrankungen. Mit Hilfe von Ultraschalluntersuchungen oder Magnetresonanz können kleinste Kalkablagerungen oder Flüssigkeitsansammlungen in Schleimbeuteln und Sehnenscheiden dargestellt werden. Typische weichteilrheumatische Beschwerden • • • • • • • • Nacken-Schultergürtelregion: Muskelverspannungen in diesem Gebiet sind häufig durch Stress und Zugluft verursacht. Nacken- und Kopfschmerzen sowie das Gefühl "ein Gewicht lastet auf meinen Schultern" werden häufig geschildert. Die Schulter: Das Schultergelenk ist das beweglichste Gelenk des menschlichen Körpers und wird großteils durch Muskeln zusammengehalten. Durch eine ungeschickte Bewegung können Sehnenansätze nur allzu leicht gereizt werden. Die Beschwerden äußern sich in Schmerzen in der Schulter mit Ausstrahlung in den Oberarm, Bewegungseinschränkungen bis hin zur vollständigen Schultersteife. Das Liegen in der Nacht auf der betroffenen Schulter wird oft als sehr unangenehm empfunden. Die Schmerzen verstärken sich beim seitlichen Heben des Armes. Tennisellbogen: Dabei handelt es sich um schmerzhafte Muskelsprünge. Durch einseitige Bewegung oder Überbelastung werden diese Strukturen gereizt. Die Schmerzen werden brennend oder ziehend beschrieben, können in Unter- und Oberarm ausstrahlen. Bei Belastung durch z.B. tragen von Einkaufstaschen kommt es oft zu einer deutlichen Zunahme der Schmerzen. Handgelenkregion: Sehnenscheidentzündungen liegen an der Tagesordnung. Durch bestimmte stereotype Bewegungen wie tippen bei Sekretärinnen oder Haarschneiden bei Frisören werden die Sehnen schnell überlastet. Die meist ziehenden Schmerzen können bis in die Finger und den gesamten Unterarm ausstrahlen. Hüftregion: Seitlicher Hüftknochen, Beckenkamm und Gesäßmuskulatur sind extrem druckempfindlich. Meistens werden ziehende bis brennende Schmerzen im Hüftbereich angegeben, die man oft nicht näher lokalisieren kann. Das Hüftgelenk selbst zeigt meist keine Bewegungseinschränkung. Als Ursache kommt falsche Gangart, Überbelastungen oder Beinlängendifferenzen in Frage. Knieregion: Am häufigsten findet sich eine schmerzhafte Stelle an der Innenseite etwa 4 cm unterhalb vom Gelenkspalt. Dies ist eine Ansatzstellung mehrerer Muskeln die vom Oberschenkel kommen. Schlechte Gangart und Überbelastungen führen auch hier zu einer entzündlichen Reizung. Daneben ist oft die Kniescheibe selbst äußerst druckempfindlich. Manchmal kommt es zum Anschwellen eines Schleimbeutels in der Kniekehle, der bis zur Wade reichen kann. Knöchelregion: Gerade durch wiederholtes umknicken in den Sprunggelenken wird der Bandapparat überdehnt, was immer wieder zu Beschwerden führt. Daneben ist häufig der Ansatz der Achillessehne an der Ferse äußerst schmerzhaft. Vor allem unpassendes Schuhwerk, Verletzungen und Turnen nach mangelhaften aufwärmen führen zu diesen Beschwerden. Auch der Fersensporn mit Schmerzen bei jedem Auftreten gehört zu dieser Erkrankungsgruppe. Brustbein: Dieses und die angrenzenden Rippenansätze sind stark Druckschmerzhaft. Oft bestehen ausgedehnte brennende Schmerzen, die mit einem Herzinfarkt verwechselt werden können. Neben diesen doch eher nur lokalisiert auftretenden Schmerzsyndromen gibt es aber auch eine Krankheit, die an vielen Stellen des Körpers gleichzeitig oder abwechselnd Beschwerden auslöst. Erst in den letzten Jahren wurde dieses Syndrom medizinisch anerkannt. Das Fibromyalgie-Syndrom Dieses Syndrom ist ein eigenständiges Krankheitsbild, welches durch großflächige generalisierte Schmerzen mit zusätzlichen typischen Druckschmerzpunkten charakterisiert ist. Die Krankheit befällt vorwiegend Frauen, hauptsächlich im Alter zwischen 35 und 55 Jahren. Ausgedehnte Populationsstudien haben gezeigt, dass 10-20 % der Befragten über chronische, großflächige Muskelschmerzen klagten. Man darf also nicht übersehen, dass Schmerzen und Behinderungen weder vom Patienten eingebildet noch erfunden sind, sondern für den Betroffenen eine absolute Realität darstellen. Charakteristische Beschwerden • • • • • • • Großflächige Schmerzen: ausgedehnte, flächenhafte Muskelschmerzen mit oft wechselnder Lokalisation. Hauptsächlich an der Wirbelsäule und den Extremitäten. Manchmal "schmerzt es überall", oft durch Stress, Kälte und körperliche Betätigung beeinflusst und von Steifheit und subjektiv wahrgenommenem Anschwellen der Extremitäten begleitet. Typische Druckpunkte: durch mäßigen Fingerdruck an bestimmten Punkten wird eine Schmerzempfindung ausgelöst. Charakteristisch sind Punkte am Hinterhaupt und unterem Nackenbereich, an der Schultermitte, am Brustbein, an den vorstehenden Punkten am Ellbogengelenk, an der Gesäßmuskulatur, über dem Hüftknochen sowie im Bereich des Kniegelenkspaltes. Müdigkeit. Sie ist verschieden stark, oft extrem und tritt häufig bereits nach Minimalbelastungen auf. Schlechter Schlaf mit Schwierigkeiten beim Einschlafen, oftmaliges Aufwachen in der Nacht, sodass man am Morgen völlig erschöpft erwacht. Die Schmerzsymptome und die Müdigkeit sind oft sehr stark, dass sie zur Behinderung und Arbeitsunfähigkeit führen können. Viele Patienten können die normalen Arbeiten im Haushalt nicht mehr verrichten oder müssen ihren Job aufgeben. Psychische Störungen wie depressive Verstimmung, Angstgefühle, emotionale Labilität. Mannigfaltige Begleitsymptome: Kopfschmerzen, Reizdarm, kalte Extremitäten, trockener Mund, Herzklopfen, Zittern, Engegefühl beim Schlucken, Reizblase und Kreislaufschwierigkeiten. Fibromyalgie kann die Lebensqualität des Patienten in einem sehr hohen Maß beeinträchtigen. Schwierige Diagnose Das Tückische an der Fibromyalgie ist ihre schlechte Objektivierbarkeit. Das bedeutet, dass bei oft sehr ausgeprägten Beschwerden Labortests völlig unauffällig sind und im Röntgen häufig nur minimale Abnützungserscheinungen festgestellt werden, die von ihrer Ausprägung dem Beschwerdebild nicht zuzuordnen sind. Deshalb muss man sehr sorgfältig die festgestellten Befunde wie in einem Puzzle zusammenstellen um die Fibromyalgie diagnostizieren zu können. Natürlich müssen gewisse Untersuchungen durchgeführt werden, alleine um schon andere Erkrankungen auszuschließen. Dazu gehören Röntgenuntersuchungen der betroffenen Gelenke und der Wirbelsäule. Ebenso eine Knochendichtemessung, besonders bei Vorliegen einer familiären Osteoporose. Mittels Laboruntersuchungen müssen entzündlich-rheumatische Erkrankungen wie die chronische Polyarthritis mit positiven Entzündungs- und Rheumafaktoren im Blut ausgeschlossen werden. Aber auch Schilddrüsenerkrankungen, Virusinfektionen, versteckte Tumore und eine Reihe von Medikamenten können ähnliche Beschwerden verursachen und müssen natürlich ausgeschlossen werden. Dies klingt zwar alles sehr aufwendig, kann aber im Regelfall mit einigen wenigen Zusatzuntersuchungen abgeklärt werden. Prognose Man muss damit rechnen, dass die Beschwerden über einen längeren Zeitraum anhalten. Bis zum Vollbild des Fibromyalgie-Syndroms mit den ausgedehnten flächenhaften Muskelschmerzen und den zahlreichen Druckschmerzpunkten dauert es in der Regel 3 - 5 Jahre. Bereits die Information über die Ursache der mannigfaltigen Beschwerden des Patienten und die Erklärung des Wesens der Fibromyalgie stellt eine einfache aber äußerst wichtige Intervention dar: Sie verringert die Angst, an einer mysteriösen, vielleicht unheilbaren Krankheit zu leiden. Der Patient muss aktiv in das Krankheitsgeschehen einbezogen werden. Damit wird die Aussicht für eine erfolgreiche Intervention erheblich verbessert. Therapeutische Ansätze • • • • • Schmerztherapie Die Gabe von schmerzstillenden Medikamenten wie Antirheumatika sollte vorwiegend auf akute Schübe der Erkrankung beschränkt bleiben. Neben der oralen Applikation von Tabletten und der lokalen Applikation in Form von Salben und Gelees hat sich besonders die zyklische Gabe von Schmerzinfusionen, kombiniert mit hochdosiertem Vitaminkomplex, bewährt. Bei langfristiger Einnahme von Antirheumatika muss man den relativ häufig vorkommenden Nebenwirkungen am Magen-Darmtrakt Rechnung tragen und zusätzlich Magenschutzpräparate verordnen. Antidepressiva Besonders bei schwerwiegenden Schlafstörungen hat sich die Gabe von sedierenden Antidepressiva abends gut bewährt. Gleichzeitig kommt es durch die antidepressive Medikation zu einer Distanzierung vom Schmerzgeschehen mit einer deutlichen Erhöhung der Schmerzschwelle. Auch die Gabe von antriebssteigernden Antidepressiva morgens zur Wiederauffüllung von leeren Neurotransmitterspeichern im Gehirn findet zunehmend Anwendung. Lokale Infiltrationen mit Lokalanästhetika und/oder Cortisonpräparaten. Diese Therapie ist speziell bei ausgeprägten Druckschmerzpunkten äußerst effizient. Bewegung, Heilgymnastik Bewegung ist ein wichtiger Teil des Rehabilitationsprogramms. Verstärkte Bewegung erhöht die Muskelkraft und die Beweglichkeit. Sie hilft auch bei der Verbesserung der Körperhaltung, verhindert eine Abnahme der körperlichen Fitness und fördert das körperliche Wohlbefinden. Physikalische Therapien Lokale Wärmebehandlungen mit Peloiden, Galvanisation, Ultraschall und Massage können den Heilungsprozess erheblich beschleunigen. Kurbehandlungen haben bei der Fibromyalgie einen besonders hohen Stellenwert. Neben dem äußerst angenehmen Wärmeeffekt führen die im Heilwasser vorhandenen Kurelemente wie Schwefel, Kochsalz oder Jod zu einer Beruhigung schmerzhafter Strukturen. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist die Unterwassergymnastik, die auf schonende Weise abgeschwächte Muskeln aufzutrainieren vermag. • Stressbewältigung Stress kann in der Pathogenese der Krankheit eine Schlüsselrolle spielen. Den Patienten sollte empfohlen werden, selbst an der Bewältigung von Stress und anderen widrigen Umständen zu arbeiten. Oftmals ist es wichtig, auch die Familienmitglieder in die Therapie einzubeziehen. • Akupunktur Dieses seit Jahrtausenden bestehende Heilverfahren hat sich auch bei der Behandlung der Fibromyalgie hervorragend bewährt. Im Sinne der Ganzheitsmedizin wird ein Ausgleich im Gesamtenergiehaushalt des Körpers und damit eine Schmerzlinderung bewirkt. • Entspannungstechniken wie autogenes Training, Yoga und Meditation runden das Therapiekonzept ab. Zur Behandlung einer Fibromyalgie gibt es keine spezielle Einzeltherapie. In den meisten Fällen ist eine Kombination aus verschiedenen Therapien erforderlich und eine gute Arzt Patientenbeziehung von wesentlicher Bedeutung. Die Behandlung der Fibromyalgie erfordert Geduld bei Arzt und Patient. Blitzerfolge dürfen bei jahrelang bestehenden Beschwerden nicht erwartet werden. Abschließend sei nochmals darauf hingewiesen, dass die Diagnose des FibromyalgieSyndroms bei Ganzkörperschmerzen eine sehr schwierige ist und das Krankheitsbild oft jahrelang verkannt wird. Gerade bei Erfolglosigkeit herkömmlicher Therapien sollte man unbedingt an dieses Krankheitsbild denken. Ein Erfolg darf nur bei einem individuellen multidisziplinären Behandlungsprogramm erwartet werden.