TU München Fakultät für Sportwissenschaft Prof. Dr. Peter Spitzenpfeil Bewegungslernen – zwischen Instruktion und Intuition Gliederung • Bewegungslernen – Instruktion oder Intuition? • Grundlagen – Wie wir Lernen! – Aus neurophysiologischer Sicht – Aus trainingswissenschaftlicher Sicht • Bewegungslernen – traditionell • Bewegungslernen – „neue“ Ansätze • Konsequenzen für die Trainingspraxis Bewegungslernen – Instruktion oder Intuition Aufgabe: Schwingen mit größtmöglicher Amplitude und Frequenz Versuch: Eine Gruppe erhält Instruktion, die andere nicht 20 Versuche á 90s an 3 Tagen Wulf et al. Bewegungslernen – Instruktion oder Intuition Aufgabe: Schwingen mit größtmöglicher Amplitude und Frequenz Versuch: Teilnehmer trainierten 3 Tage ohne Instruktion Am 4. Tag erhielten sie eine Instruktion Wulf et al. 1996 BewegungsSTEUERUNG BewegungsREGULATION Zielvorgabe Erst Programmierung Steuerung Bewegungsausführung durch die Rückmeldung wird die Steuerung zur Regulation! Woher kommt die Rückmeldung? Analysatoren – Rezeptoren Informationsbereiche • Optisch – Auge (zentrales und peripheres Sehen) – – – – Räumlich-zeitliche Umweltveränderungen Körperbeziehung zum Raum Räumliche Beziehung zu einem Gerät und dessen Verlauf Bewegungsverhalten von Mit- und Gegenspieler – Eigener Bewegungsverlauf • Analysatoren – Rezeptoren Informationsbereiche Akustisch – Ohr – – – – – – Orientierungssignale („Hop“) Bewegungsbegleitende Hilfen (Rhythmusvorgaben) Bewegungsverhalten ( z.B. „schwerer Schritt“, „Rutschen“) Zuschauerverhalten Bewegungsverstärkungen Technische/taktische Absprachen Analysatoren – Rezeptoren Informationsbereiche • Taktil - Hautrezeptoren – – – – Druck (Gerät, Gegner, Fußsohle, Schienbein) Bewegungsbegleitende Umstände (Wind) Geschwindigkeit Beschleunigung Analysatoren – Rezeptoren Informationsbereiche • Vestibulär – Gleichgewichtsorgan (+entspr. Muskulatur) –Linearbeschleunigungen –Rotationsbeschleunigungen –Gleichgewichtssituation Quelle: de Marées, 2002 Analysatoren – Rezeptoren Informationsbereiche • Kinästhetisch – Muskelspindel, GolgiOrgan, Gelenkrezeptoren ... – Muskelspannung, Muskellänge – Gelenkwinkel „Gefühl“ für: Bewegung Gerät Untergrund ... Bildung von neuronalen Netzen Durch die Verknüpfung von sensorischen und motorischen Nervenzellen werden gezielte, regulierbare Bewegungen möglich! Grundlagen Motorisches Lernen - Physiologie • Bildung von neuronalen Netzen – Verknüpfung von sensorischer Wahrnehmung und motorischer Aktion Unser Gehirn hat ca. 1012 Nervenzellen! Jede davon kann von 10.000 anderen Informationen erhalten bzw. weitergeben! Zusammenfassung Physiologie • Je besser die Verknüpfung von Sensorik und Motorik funktioniert desto besser und stabiler wird die Bewegung! • Gehirn hat zentrale Bedeutung: – Variable/breite Bewegungserfahrung ist hilfreich aber – Wiederholen/üben ist für die dauerhafte Bildung von neuronalen Verknüpfungen nötig • Sensorik und Motorik sind natürlich auch stark abhängig von der Vorbelastung (vollständige/lohnende Pause) Grundlagen Motorisches Lernen - Lerntheorien • Unterschiedliche Modelle: – Bernstein 1967 Kritik – Schmidt 1975 • Speicherproblem prinzipiell nicht gelöst • Funktionieren der Koordination auch unter deafferentierten Bedingungen • Bewegungskorrektur auch bei unvorhergesehenen Störgrößen Trainingswissenschaftliche Grundlagen Stufen des Lernens Handlungsmodell Handlungsziel Programmierung Soll-IstwertVergleich Steuerung / Regelung Störgröße Motorisches Gedächtnis Bewegungsausführung Afferenzsynthese Umwelt (Meinel & Schnabel, 1998) Trainingswissenschaftliche Grundlagen Stufen des Lernens Erste Lernphase: Entwicklung der Grobkoordination Handlungsziel Programmierung Soll-IstwertVergleich Steuerung / Regelung Störgröße Motorisches Gedächtnis Bewegungsausführung Afferenzsynthese Umwelt (Meinel & Schnabel, 1998) Trainingswissenschaftliche Grundlagen Stufen des Lernens Zweite Lernphase: Entwicklung der Feinkoordination Handlungsziel Programmierung Soll-IstwertVergleich Steuerung / Regelung Störgröße Motorisches Gedächtnis Bewegungsausführung Afferenzsynthese Umwelt (Meinel & Schnabel, 1998) Trainingswissenschaftliche Grundlagen Stufen des Lernens Dritte Lernphase: Stabilisierung der Feinkoordination, Entwicklung der variablen Verfügbarkeit Steuerung / Regelung Störgröße Handlungsziel Programmierung Soll-IstwertVergleich Motorisches Gedächtnis Bewegungsausführung Afferenzsynthese Umwelt (Meinel & Schnabel, 1998) Die Rolle des Trainers im Prozess des Bewegungslernens? Handlungsmodell (Meinel & Schnabel, 1998) Handlungsziel Programmierung Soll-IstwertVergleich Trainer Steuerung / Regelung Störgröße Motorisches Gedächtnis Bewegungsausführung Afferenzsynthese Umwelt traditionelles Vorgehen • Erlernen der "richtigen" Technik durch – methodische Übungsreihen („vom Leichten zum Schweren“) – wiederholendes Üben der gleichen Technik – Rückmeldungen vorwiegend von außen „Einschleifen der richtigen Technik“ • Anwenden der Technik – variables Üben • Begleitendes Koordinationstraining – allg. Koordinationstraining – spez. Koordinationstraining Kritikpunkte • Fehler sollen vermieden werden Kenntnis der richtigen Lösung nötig!? • Bewegung einschleifen identische Bewegungen sind kaum möglich!? • Idealtechnik / Technikleitbild auch Weltklasseleistungen sind indiv. Ausprägungen einer Technik!? Allgemeine Probleme • • • • Gibt es die „richtige“ Technik? Was sind die wichtigen Parameter? Wer hat die „richtige“ Technik? Wovon hängt die „richtige“ Technik ab? Probleme im täglichen Training • • • • Gleicher Athlet immer andere Lösung! Gleicher Athlet immer gleicher Fehler! Korrekturbereich sehr klein! Extrem unterschiedliche anthropometrische, konditionelle und koordinative Voraussetzungen! • Rückfall in alte Fehler unter Belastung! akt. Theorien der Motorikforschung • Motor Approaches – informationstheoretischer Ansatz – zentral gespeicherte Bewegungsrepräsentation • • • • • Programme Engramme Bewegungspläne Schemata Spuren – Beispiele: • GMP und Schema-Theorie (Schmidt 1975, 1982, 1988) • ABC des Techniktrainings (Roth 1990) • mot. Kontrolle (Wiemeyer 1992) • Action Approaches – keine programorientierte Kontrolle – autonome neuronale Kontrollmechanismen • • • • heterarchisch selbstorganisiert aufgabenspezifisch invariante Kopplungen synergetisch arbeitender Muskeln – Beispiele • Synergetik (Lames 1992) • differenzielles Training (Schöllhorn 1999, 2001, 2003, 2004, 2005,2006, 2007) • self-organisation (Kelso 1988, 1999) Differenzielles Training • • Idee einer selbstorganisierenden, dynamischen Entwicklung von Bewegungsfertigkeiten Ziele: – weite Variation der Bewegungen abseits des Bewegungsideals – Fehler werden bewusst in Lernprozess integriert • Beispiele: – Fußball (Schöllhorn et al. 2004: Nie das Richtige trainieren um richtig zu spielen. Leistungssport 34, 5, S. 13-17) – Tennis (Schöllhorn 2003: Differenzielles Lehren und Lernen im Tennis. Schriften der DVS Band 131 / 1430-2225, S. 28-40 – Sprint (Lippold et. al 2003: Differenzielles Training im Leichtathletischen Sprint …. BISP-Jahrbuch 2003, S. 267-273 – Handball (Brunner et al. 2004: Systemdynamische oder programmorientierte Lernmethoden …. Leistungssport 34, 6, S. 54-62 – Volleyball (Römer et al. 2004: Differenzielles Lernen bei der Aufschlagannahme im Volleyball. DVS-Symposium Sportspiele Köln 2004) – Ski (Schöllhorn et al. 2007: Grundlagen des diff. Lernen beim alpinen Skifahren Leistungssport 37, 3+4, S. 36-42, 58-62) – Handball (Wagner et al. 2006: Wurftraining im Handball. Die unterschiedlichen Auswirkungen eines Trainings nach der Methode des diff. Lernens, des variablen Lernens bzw. des „klassischen“ programmorientierten Techniktrainings. DVSSportspiel-Symposium 2006 Flensburg) Unterschiedliche Betrachtungen von Variation (Schöllhorn 2003) Differenzielles Training – Beispiel Handball Ziele: – Diff. Training zur Maximierung der Zielpräzision – Diff. Training zur Maximierung der BallabflugGeschwindigkeit – Trad. Training zur Maximierung der BallabflugGeschwindigkeit – Diff. Training zur komplexes Kombinationstraining • Ergebnis: – vor allem hinsichtlich der Geschwindigkeitsmaximierung hoch signifikante Unterschiede zur trad. Trainingsmethode. Differenzielles Training – Beispiel Sprint Ziele: – 4 Übungen des Sprint-ABC – 5 alternative Koordinationsübungen – Die alternativen Übungen sind der Zielübung näher, weisen untereinander aber größere Differenz auf. • Ergebnis: – In Bezug auf die Sprintschnelligkeit größere Effekte bei den alternativen Übungen. Differenzielles Training – Beispiel Fußball Ziele: – Torschuss, Passspiel, Ballannahme – klass. Training <-> diff. Training • Ergebnis: – Torschuss: größere Leistungssteigerungen in der diff. Gruppe – Passspiel: • sig. Verbesserung bei den diff. trainierenden Senioren • bei den Junioren nur Verbesserungen bei der diff. Gruppe (trad. Gruppe: Verschlechterung) – Ballannahme: Verbesserung bei beiden Gruppen, sig. nur in der diff. Gruppe Differenzielles Training - Vorgehen • Notwendigkeit von Schwankungen im Lernprozess • Schwankungen = Abweichungen von einem Bezugspunkt • Aus den Differenzen dieser Schwankungen erhält unser biologisches System die nötigen Lern-Inputs ständiges Wiederholen der sog. Idealtechnik vermeiden bewusstes Schaffen von Differenzen – indiv. erkennen/lernen der richtigen Lösung durch Inter-/Extrapolation – Auslösen selbstorganisierender Prozesse bewusst Fehler einbeziehen vielfältigste Übungen Differenzielles Training Variationsmöglichkeiten • Unterschiede in der räumlichen Bewegungsausführung • Unterschiede in der raum-zeitlichen Bewegungsausführung • Unterschiede in der dynamischen Bewegungsausführung • Unterschiede im Rhythmus der bzw. in der zeitlichen Bewegungsausführung • Lenkung der Aufmerksamkeit auf einzelne Aspekte der Bewegung (nach Schöllhorn 2003) Differenzielles Training – Folgen und Anforderungen • Athlet/Mannschaft – – – – jeder Sportler kann sein indiv. Optimum finden Variationen sprechen unterschiedliche Typen an Motivation durch Abwechslung hohe Konzentration und Eigenverantwortlichkeit nötig • Trainer – Auswahl der Variationen genaues Beobachten – Hilfe bei Reflexion – Kompetenz schaffen! – weniger „Detailarbeit“ Konsequenzen für die Praxis • Wie im Konditionstraining gibt es auch im Techniktraining unterschiedliche Wege die zum Ziel führen! • Sowohl unterschiedliche Athleten-Typen, als auch unterschiedliche Trainer-Typen erfordern unterschiedliche Methoden! • Über das differenzielle Training könnten neue Reize gesetzt werden! • Zusätzliche Alternative, kein Ersatz für das herkömmliche Training!!!!! Schlechte Trainer machen immer die gleichen Fehler, gute immer neue! Fritz Zintl Handlungs- / Tätigkeitsansätze Erste Lernphase: • Schaffung des angemessenen motorischen Ausgangsniveaus • präzises und verständliches Stellen der Lernaufgabe • frühes praktisches Probieren • Korrekturen mit Bezug auf unvollkommene Vorstellung des Lernenden Zweite Lernphase: • Förderung einer hohen Lernaktivität • denkendes Lernen statt gedankenloser Wiederholung • Aufmerksamkeitslenkungen, u.a. auf Bewegungsempfindungen • Verbalisierung von Bewegungsvorstellungen Dritte Lernphase: • veränderte und wechselnde Übungsbedingungen • wettkampfbezogenes Üben • konzentriertes Arbeit an der Bewegungsausführung und Fehlerkorrektur • Nutzung zusätzlicher Informationen (z.B. ideomotorisches Training) Aufgabentypen Aufgabentyp 1: Relativ geschlossene Fertigkeiten mit stabiler Ausführungsstruktur (z.B. Laufen, Radfahren, Würfe in der Leichtathletik etc.) Aufgabentyp 2: Relativ geschlossene Fertigkeiten, die zu einer Gesamtleistung verbunden werden müssen (z.B. Wasserspringen, Turnkür etc.) Aufgabentyp 3: Relativ „offene“ Fertigkeiten, also Bewegungen, die unter sich verändernden Bedingungen ablaufen, aber insgesamt eine stabile (konstante) Grundstruktur aufweisen (z.B. Alpiner Skisport, Skispringen etc.) Aufgabentyp 4: „Offene“ Fertigkeiten, die bereits isoliert beherrscht sein sollen, die aber durch die von Gegnern oder Mitspielern hervorgerufenen Situationsveränderungen variabel eingesetzt werden (Beispiele: Zweikampfsportarten, Sportspiele) Zusammenfassung • Bewegungskompetenz der Athleten stärken – – – – Eigene Lösungen finden lassen! Zielorientiertes Vorgehen!!! Gemeinsame Bewegungsvorstellung schaffen! Keine Angst vor Fehlern! • Rückmeldung/Korrektur – Zielorientiertes Vorgehen!!! – Weniger ist manchmal mehr! – Sich trauen probieren zu lassen! Vielen Dank für die Aufmerksamkeit