Untitled - Die Onleihe

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Elektrisch aktiv
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Für fast 100 Jahre war die im Text erwähnte Golgi-Methode die einzige
Möglichkeit, einzelne Neurone vollständig anzufärben. Nach Behandlung
des Gewebes mit verschiedenen Salzlösungen bildet sich auf einzelnen Neuronen ein tiefdunkler, unlöslicher Silberniederschlag, der fast alle neuronalen Details im Mikroskop sichtbar werden lässt (Abb. 1B). Warum nur einzelne und nicht alle Neurone angefärbt werden, ist unklar.
Mitte der 1970er Jahre gelang es erstmals, einzelne Neurone zu färben,
indem die winzige Spitze einer flüssigkeitsgefüllten Glaskapillare ins Innere eines Neurons gestochen wurde. Durch Anlegen einer elektrischen
Spannung wird der in der Flüssigkeit gelöste, elektrisch geladene Farbstoff
in das Neuron transportiert und verteilt sich dort. Als Farbstoffe werden
beispielsweise Fluoreszenzfarbstoffe verwendet, etwa Lucifer Yellow
(«Teufelsgelb»), die einzelne Neurone direkt, ohne weitere Behandlung
unter dem Fluoreszenz-Mikroskop sichtbar werden lassen (Abb. 1C). Mit
feinen Glaskapillaren können auch andere Stoffe in einzelne Neurone injiziert werden, etwa bestimmte Enzyme, die wiederum eine Farbreaktion
bewirken.
Revolutioniert wurde die Färbung von Neuronen durch die 2008 mit dem
Nobelpreis gewürdigte Entdeckung des grün fluoreszierenden Proteins
(GFP). Nach Einfügung des GFP-Gens in die DNA eines Neurons beginnt dieses, das Protein zu synthetisieren, und wird so permanent angefärbt. Da es
möglich ist, Gene spezifisch nur zu bestimmten Zeiten und in bestimmten
Zelltypen zu aktivieren, haben Forscher eine recht gute Kontrolle darüber,
welche Neurone gefärbt werden. Mittlerweile gibt es eine große Zahl von
Farbvarianten des GFPs, so dass sich gleichzeitig viele Neurone mit unterschiedlichen Farben markieren lassen (Abb. 1D).
Bevor wir beschreiben, wie Neurone mithilfe ihrer Fortsätze Informationen aufnehmen, verarbeiten und über Synapsen an andere Neuronen
weiterleiten, sollten wir an dieser Stelle nicht vergessen, darauf hinzuweisen, dass das Gehirn keineswegs nur aus Neuronen besteht. Als zweite
wichtige und zahlenmäßig viel größere Zellklasse findet man im Gehirn
die Gliazellen. Ursprünglich ging man davon aus, dass Gliazellen im Wesentlichen Hilfsfunktionen im Gehirn haben und für die Ernährung und
den Schutz von Neuronen zuständig sind. Inzwischen wissen wir, dass
Gliazellen viele weitere Aufgaben wahrnehmen und zum Beispiel eine
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Mark Hübener und Rüdiger Klein
aktive Rolle bei der Signalverarbeitung und der Regulation des Blutflusses im Gehirn spielen. Gliazellen werden uns noch an einigen weiteren
Stellen dieses Kapitels begegnen.
Um nun aber wieder zu den Neuronen zurückzukommen: Was ist das
Besondere an diesen Zellen, und was macht sie so geeignet für die Verarbeitung von Informationen?
Neurone sind elektrisch aktiv
Basis für ihre Fähigkeit zur Informationsverarbeitung ist die elektrische
Erregbarkeit von Neuronen, eine Eigenschaft, die sie unter allen Zellen
des Körpers nur mit Muskelzellen teilen. Um die neuronale Erregungsentstehung und -weiterleitung näher zu verstehen, müssen wir uns kurz
mit einigen Grundlagen der Physiologie vertraut machen. Wie bei allen
Zellen besteht zwischen der Innen- und der Außenseite der neuronalen
Zellmembran eine elektrische Spannung: Das Zellinnere ist gegenüber
der Außenseite negativ geladen, die Größe dieses sogenannten Ruhepotenzials beträgt etwa –70 mV, also etwa ein Zwanzigstel einer Taschenlampenbatterie. Das Ruhepotenzial beruht auf der ungleichen Verteilung bestimmter Ionen zwischen Zellinnerem und -äußerem sowie der
selektiven Durchlässigkeit der Zellmembran für unterschiedliche Ionen.
Im Ruhezustand ist die Membran sehr gut für positiv geladene Kaliumionen durchlässig, nicht jedoch für die ebenfalls positiv geladenen
Natriumionen. Da die Konzentration von Kaliumionen im Inneren des
Neurons hoch, außen aber niedrig ist, werden diese Ionen entsprechend ihrem Konzentrationsgefälle die Zelle verlassen. Da jedes Kaliumion eine positive Ladung mit nach außen nimmt, lädt sich das Innere
der Zelle negativ auf.
Wie kommt es, dass die Zellmembran für bestimmte Ionen durchlässig
ist, für andere aber nicht? Verantwortlich dafür sind in die Membran eingelagerte komplexe Proteine, sogenannte Ionenkanäle, die einige Ionen
passieren lassen, andere jedoch nicht.
Was ist nun darunter zu verstehen, wenn ein Neuron elektrisch erregt
wird? Es kommt zu einer nur etwa eine tausendstel Sekunde dauernden
Änderung der elektrischen Spannung, die kurzzeitig auf +30 mV ansteigt, um dann sofort wieder auf den Ruhewert von –70 mV abzufallen.
Diese plötzliche Spannungsänderung in Neuronen wird als Aktionspotenzial bezeichnet und beruht auf der Fähigkeit vieler Ionenkanäle, ihre
Durchlässigkeit zu ändern. Für das Aktionspotenzial sind in erster Linie
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die sogenannten schnellen Natriumkanäle verantwortlich. Diese werden
vermehrt geöffnet, sobald das Ruhepotenzial zu etwas positiveren Werten verschoben wird. Dadurch strömen Natriumionen in die Zelle, treiben das Potenzial zu positiveren Werten, weitere Natriumkanäle werden
geöffnet, bis sich schließlich beim Überschreiten der sogenannten Feuerschwelle dieser Prozess explosionsartig beschleunigt und das Potenzial
nach oben schießt. Beendet wird das Aktionspotenzial dadurch, dass
sich der schnelle Natriumkanal sehr rasch wieder schließt und dass anschließend ein weiterer spannungsgesteuerter Kanal kurzzeitig geöffnet
wird. Durch diesen strömen positiv geladene Kaliumionen aus dem Neuron heraus, wodurch das Potenzial wieder auf den Ruhewert von
–70 mV abfällt. Ein guter Teil der Kunst der Neurophysiologie besteht
übrigens darin, diese kleinen und kurzen Spannungsschwankungen einzelner Neurone zuverlässig zu messen (siehe Box 2).
2 – Messung von Aktionspotenzialen
Der direkte Weg, das Feuern von Neuronen, also Aktionspotenziale, zu
messen, besteht darin, eine fein ausgezogene, mit Salzlösung gefüllte Glaskapillare durch die Zellmembran zu stoßen und Änderungen der Spannung
zwischen dem Inneren und Äußeren des Neurons mit empfindlichen elektronischen Verstärkern aufzuzeichnen. Bei der von den beiden Nobelpreisträgern Erwin Neher und Bert Sakmann entwickelten Patch-Clamp-Technik
wird eine Kapillare mit etwas größerer Öffnung (etwa ein tausendstel Millimeter) zunächst auf die Zellmembran aufgesetzt und durch Anlegen eines
leichten Unterdrucks festgesaugt. Wird der Sog verstärkt, bricht schließlich
die Membran auf, was den direkten elektrischen Zugang zum Inneren des
Neurons ermöglicht. Beide intrazellulären Ableitmethoden erfordern viel
Feingefühl. Bei Patch-Clamp-Ableitungen etwa wird der genau dosierte
Unterdruck dadurch erzeugt, dass der Experimentator einen mit der Glaskapillare verbundenen Schlauch im Mund hält und daran saugt.
Technisch etwas einfacher sind extrazelluläre Ableitungen: Hier wird die
feine Spitze einer Metallelektrode (oft aus Wolfram gefertigt) in die Nähe
eines Neurons gebracht. Feuert das Neuron ein Aktionspotenzial, führt das
auch außerhalb der Zelle zu einer Spannungsschwankung. Diese ist allerdings sehr klein, so dass deutlich mehr Aufwand betrieben werden muss, um
die Signale elektronisch zu verstärken und gegen Störungen, etwa von elektrischen Geräten, abzuschirmen.
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Mark Hübener und Rüdiger Klein
In jüngster Zeit benutzen Neurophysiologen zunehmend optische Methoden, um neuronale Aktivität darzustellen. Spezielle Fluoreszenzfarbstoffe
leuchten intensiver, wenn die Konzentration bestimmter Ionen ansteigt.
Bringt man zum Beispiel einen calciumsensitiven Farbstoff in ein Neuron, so
lässt jedes Aktionspotenzial das Neuron kurz aufleuchten, da neben Natrium
immer auch etwas Calcium in die Zelle einströmt. Mit empfindlichen Mikroskopen lassen sich diese Lichtblitze erfassen.
Entscheidend für die Informationsverarbeitung im Gehirn ist, dass Aktionspotenziale sehr schnell über das Axon eines Neurons weitergeleitet
werden. Ein Aktionspotenzial an einer Stelle des Axons führt zu einem
leichten Anstieg des Potenzials an einer benachbarten Stelle, an der
damit wiederum ein Aktionspotenzial ausgelöst wird usw. So «hüpft»
das Aktionspotenzial entlang des Axons, wobei sich mithilfe einiger
«Tricks» Leitungsgeschwindigkeiten von bis zu 120 m/s erreichen lassen. Das ist zwar im Vergleich zur Leitung von elektrischem Strom im
Kupferkabel zweieinhalb Millionen mal langsamer, aber doch so schnell,
dass ein Aktionspotenzial nur wenige tausendstel Sekunden benötigt,
um von einem Neuron im Rückenmark bis zum Muskel im Bein zu gelangen.
Synaptische Übertragung
Wie aber kann das Aktionspotenzial auf nachfolgende Neurone (oder
Muskelzellen) übertragen werden? Dies geschieht an den bereits erwähnten Synapsen, also den Kontaktstellen zwischen Neuronen. Synapsen spielen eine herausragende Rolle bei vielen Gehirnfunktionen; sie
sind nicht nur an der Informationsverarbeitung beteiligt, sie sind auch
die Stellen im neuronalen Netzwerk, an denen die Stärke der Kopplung
zwischen Neuronen sehr effizient verändert werden kann. Dies ist, wie
wir weiter unten zeigen werden, entscheidend für die Gehirnentwicklung und auch Grundlage für eine der wichtigsten Leistungen unseres
Gehirns, Lernen und Gedächtnis (vgl. Kap. 3). Da Synapsen außerdem
bevorzugte Wirkorte sehr vieler Substanzen zur Behandlung von Erkrankungen des Nervensystems sind, werden wir uns etwas genauer mit
diesen Kontaktstellen oder «protoplasmatischen Küssen», wie Ramón y
Cajal sie nannte, befassen.
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Die meisten Synapsen im Gehirn sind chemische Synapsen, an denen
biochemische Stoffe, sogenannte Neurotransmitter, Informationen von
einer Nervenzelle zur anderen weitergeben. In die Synapse einlaufende
Aktionspotenziale bewirken die Ausschüttung der Neurotransmitter aus
ihren Speicherorten, den synaptischen Vesikeln – kleinen, membranumhüllten Bläschen innerhalb des axonalen Boutons. Durch die Fusion der
Vesikel mit der Membran des Boutons gelangen die Transmittermoleküle in den synaptischen Spalt, durch den sie sich bis zum nachgeschalteten postsynaptischen Neuron ausbreiten und dort an ihre spezifischen
Rezeptoren (Antennen) binden. Dieser Vorgang spielt sich in Tausendstelsekunden ab. Neurotransmitter passen zu ihren Rezeptoren wie ein
Schlüssel ins Schlüsselloch, und ihre Bindung bewirkt, dass der Rezeptor
seine Form und infolgedessen seine Funktion verändert. Generell unterscheidet man zwei verschiedene Rezeptortypen. «Ionotrope» Rezeptoren sind Ionenkanäle, die sich bei Bindung des Transmitters in Sekundenbruchteilen öffnen, bestimmte Ionen durchlassen und dadurch das
Ruhepotenzial des nachgeschalteten Neurons etwas verändern. «Metabotrope» Rezeptoren haben keine Poren, sondern aktivieren eine Signalkaskade von sekundären Botenstoffen innerhalb der postsynaptischen
Zelle. «Metabotrop» ist von Metabolismus abgeleitet, da diese Mechanismen bestimmten Stoffwechselvorgängen in der Zelle ähneln. Die
Übertragungsstärke von Synapsen kann sich ändern, je nachdem, wie
viel Neurotransmitter vom präsynaptischen Neuron ausgeschüttet wird,
wie viele Rezeptoren sich in der postsynaptischen Membran befinden
oder wie effizient die Signale verarbeitet werden.
Bei den Neurotransmittern unterscheidet man entsprechend ihrer
Wirkung auf das nachgeschaltete Neuron erregende, hemmende und
modulierende Transmitter. Der wichtigste erregende Neurotransmitter
im zentralen Nervensystem von Wirbeltieren ist L-Glutamat, auch
L-Glutaminsäure oder einfach Glutamat genannt. Glutamat zählt zu den
Aminosäuren und ist daher ein wichtiger Baustein der Proteine. Im Zentralnervensystem wird Glutamat an Synapsen freigesetzt und bindet an
spezifische Glutamatrezeptoren, deren Dichte an der postsynaptischen
Membran dieser sogenannten «glutamatergen» Synapsen besonders hoch
ist. Glutamat findet sich in fast allen proteinhaltigen Lebensmitteln und
wird in Salzform auch als Geschmacksverstärker in Lebensmitteln eingesetzt. Eine glutamatreiche Ernährung hat allerdings keinen nennenswerten Einfluss auf die Glutamatkonzentration im Gehirn. Sollte es dennoch
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