Prof. Dr. Friedrich Juhnke, Fakultät für Mathematik, Universität Magdeburg Analysis I/II Vorlesung für Physiker und Lehramt, Gliederung/Inhaltsabriss, 2007/2008 1 Grundlagen 1.1 Mengen und Abbildungen Menge, Teilmenge, leere Menge ∅, Verknüpfungen von Mengen: Durchschnitt, Vereinigung, Komplement, Mengendifferenz, Disjunktheit, Produktmenge, Potenzmenge P (M ) N := {1, 2, 3, . . .} natürliche Zahlen N0 := {0, 1, 2, 3, . . . , } Z := {. . . ,−2, −1, 0, 1, 2,3, . . .} ganze Zahlen Q := pq p ∈ Z, q ∈ N rationale Zahlen R ∼ reelle Zahlen C ∼ komplexe Zahlen Abbildung f : X → Y (von X in Y ) b = f (a) ∼ b = das Bild von a, a = ein Urbild von b f (A) := {f (a) | a ∈ A ⊆ X} ∼ Bild der Menge A f −1 (B) := {a ∈ X | f (a) ∈ B ⊆ Y } ∼ vollständiges Urbild der Menge B f ist surjektiv, wenn f (X) = Y f ist injektiv, wenn für ∀b ∈ Y gilt: f −1 (b) einelementig oder leer f ist bijektiv, wenn f surjektiv und injektiv ist Komposition (= ”Zusammensetzung”, = ”Verkettung”, = ”Multiplikation”): h = f ◦ g ∼ h(x) = (f ◦ g)(x) := f (g(x)) Hintereinanderausführung Mächtigkeit |M | (oder ]M ) der Menge M gleichmächtig, größere Mächtigkeit, abzählbar Satz 1: |Q| = |N| (Cantorsches Diagonalverfahren) Satz 2: |R| > |N| Satz 3: |P (M )| > |M | 1.2 Natürliche Zahlen, Vollständige Induktion Induktionsprinzip: Aussage A(n) ist wahr für alle n ∈ N, wenn (I) A(1) ist wahr (II) A(m) ist wahr =⇒ A(m + 1) ist wahr Anwendungsbeispiele: • n P k=1 • n P k=1 • n P k=0 k= n(n+1) 2 k2 = 1 6 n (n + 1)(2n + 1) qk = 1 + q + q2 + . . . + qn = 1−q n+1 1−q • Bernoullische Ungleichung: (1 + h)n > 1 + nh für n ≥ 2, h 6= 0, 1 + h > 0. bzw.: (1 + h)n ≥ 1 + nh für n ≥ 1, 1 + h ≥ 0 1 Permutationen, Binomialkoeffizienten, n = Anzahl der k-elementigen Teilmengen einer n-elementigen Menge k n P n n−k k Binomischer Satz: (a + b)n = b k a k=0 1.3 Reelle Zahlen √ Unvollständigkeit von Q: Inkommensurabilität, 2 ∈ / Q. Historisches: Pythagoräer, Hippasos von Metapont [5. Jh. v. Chr.]: Seitenlänge und Diagonale im regelmäßigen Fünfeck sind inkommensurabel. Axiomatik: Körperaxiome, Anordnungsaxiome, Vollständigkeitsaxiom, obere/untere Schranke, obere/untere Grenze, Supremum/Infimum, Wurzelexistenzsatz. 1.4 Ungleichungen und Beträge Lösen von Ungleichungen ∼ Fallunterscheidung: Testintervall, Lösungsmenge a, wenn a ≥ 0 1, wenn a > 0 Definition: |a| := , sign a := −a, wenn a < 0 −1, wenn a < 0 Eigenschaften: Für alle a, b ∈ R gelten 1. |a| ≥ 0 2. |a| ≥ a und |a| ≥ −a 3. | − a| = |a|, also |a − b| = |b − a| 4. |ab| = |a||b| 5. ab = |a| |b| (b 6= 0) 6. |x| = |a| √ ⇔ x = a oder x = −a ⇔ x2 = a2 Beachte: a2 = |a| 7. |a| = a · sign a und a = |a| · sign a 8. |a| < ε ⇔ −ε < a < ε |x − a| < ε ⇔ a − ε < x < a + ε 9. |a ± b| ≤ |a| + |b| 10. |a ± b| ≥ ||a| − |b|| 1.5 Komplexe Zahlen Historisches: Cardano, Bombelli, Descartes, Leibniz, Euler, Gauss, Hamilton Körper C := (x, y) ∈ R2 , +, · , z = x + iy ∈ C, i2 = −1, Realteil Re z = x, Imaginärteil Im z = y, konjugiert komplexe Zahl z := x − iy, komplexe p Zahlenebene, Polarkoordinaten z = x + iy = r(cos ϕ + i sin ϕ), Betrag r := |z| := x2 + y 2 , Argument arg z = ϕ = arctan xy , Multiplikation/Division in C ∼ Drehstreckung (cos ϕ + i sin ϕ)n = cos nϕ + i sin nϕ, n ∈ N - de Moivre (1667 - 1754) Eigenschaften: |z| ≥ 0, ∀z ∈ C; |z| = 0 ⇔ z = 0 z + u = z + u, zu = z u z + z = 2Re z, z − z = 2i Im z z = z ⇔ z ist reell |z| = |z| |Re z| ≤ |z|, |Im z| ≤ |z| 2 |z| |zu| = |z||u|, uz = |u| arg (zu) = arg z + arg u, arg uz = arg z − arg u |z + u| ≤ |z| + |u|, |z + u| ≥ ||z| − |u|| 1, n ≡ 0 (4) d.h. n = 4k i, n ≡ 1 (4) n = 4k + 1 Potenzen von i: in = −1, n ≡ 2 (4) n = 4k + 2 −i, n ≡ 3 (4) n = 4k + 3 n-te Wurzeln w1 , . . . , wn aus der komplexen Zahl z = r(cos α + i sin α): √ α 2π α 2π + (k − 1) + i sin + (k − 1) , k = 1, . . . , n. wk = n r cos n n n n Im Körper C lässt sich keine Anordnung definieren, die den Anordnungsaxiomen von R genügt. 2 2.1 Zahlenfolgen, Grenzwerte, Konvergenz Allgemeines ∞ Zahlenfolge (ZF ) {xn } , {xn }n=1 : Abb. N → C bzw. R o n ∞ n−1 , n+1 Beispiele: n1 , {2n } , (−1)n−1 , (−1)n , a2k−1 = k+1 n k , a2k = −1 k=1 , n n o n ∞ −1 √ , {a0 = 0, a1 = 1, an := an−1 + an−2 }n=2 , 1 + n1 2 nach oben/nach unten beschränkte ZF, monotone ZF Beispiel: n ) 0 < 1 + n1 < 3 für ∀n ∈ N n n+1 ist streng monoton wachsend und beschränkt =⇒ 1 + n1 1 1 n 1 + n < 1 + n+1 2.2 Konvergenz von Zahlenfolgen Definition: {an } heißt konvergent mit Grenzwert g, wenn ∀ε > 0 ∃n0 (ε) derart, dass {n ≥ n0 (ε) ⇒ |an − g| < ε} offene/abgeschlossene ε-Umgebung Uε (g), bestimmte/unbestimmte Divergenz, Teilfolge, Nullfolge Eigenschaften konvergenter ZF: G1) Grenzwert einer konvergenten ZF ist eindeutig bestimmt G2) Jede konvergente ZF ist beschränkt G3) Aus an → g folgt ank → g für jede Teilfolge {ank } von {an } G4) Aus lim an = g folgt lim |an | = |g| n→∞ n→∞ G5) Ist {an } bestimmt divergent, so ist n 1 an o eine Nullfolge G6) Das Hinzufügen, Streichen oder Abändern endlich vieler Glieder einer ZF ändert nichts an deren Konvergenzverhalten G7) Sandwich-Theorem: Sind {an } , {bn } konvergente ZF mit demselben Grenzwert g und gilt an ≤ xn ≤ bn für n ≥ n1 , so konvergiert auch {xn } gegen g. 3 G8) Aus lim an = a und lim bn = b folgen n→∞ n→∞ (1) lim(an + bn ) = a + b (2) lim(an − bn ) = a − b (3) lim(an bn ) = a · b (4) lim abnn = ab , falls b 6= 0 √ √ (5) lim k an = k a, falls a ≥ 0 √ Aus an → ∞ folgt k an → ∞ Erweiterung: (1) bis (4) gelten für beliebig (endlich) viele Summanden/Faktoren. Monotonie-Kriterium: Jede beschränkte monotone Folge ist konvergent. 2.3 Intervallschachteln def In = [an , bn ], {In } Intervallschachtel ⇐ = ⇒ In+1 ⊆ In , 0 < bn − an → 0 Satz: Jede Intervallschachtel bestimmt genau eine reelle Zahl s mit s ∈ In für ∀n ∈ N. Schreibweise: (an /bn) =: s n+1 n Beispiel: = e = 2, 718 281 828 . . . 1 + n1 , 1 + n1 2.4 Spezielle Zahlenfolgen 0, |a| < 1 1, a = 1 n 1. lim a = ∞, a > 1 n→∞ unbest. div. für a ≤ −1 √ 2. n a → 1 für jedes reelle a > 0 √ 3. n n → 1 4. 2.5 nk an →0 für ∀a > 1, ∀k ∈ N Häufungspunkte Definition: h ∈ C heißt Häufungspunkt (HP) der unendlichen Teilmenge A ⊆ R oder A ⊆ C, wenn in jeder ε-Umgebung von h unendlich viele Elemente aus A liegen. n n Beispiel: A = (−1) n+1 n ∈ N hat HP 1 und -1 Satz (Bolzano-Weierstraß) Jede beschränkte unendliche Teilmenge A ⊆ C besitzt mindestens einen HP. Ist h ein HP von A, so lässt sich aus A eine ZF aussondern, die gegen h konvergiert: ∃ {an } ⊆ A, an → h. Satz Q liegt dicht in R, Folgerung: d. h.: a, b ∈ R, a < b ⇒ ∃r ∈ Q mit a < r < b Jedes a ∈ R ist als Grenzwert einer rationalen ZF {rn } darstellbar. Dabei kann {rn } (streng) monoton fallend oder auch (streng) monoton wachsend gewählt werden. 4 2.6 Cauchysches Konvergenzkriterium Satz (Cauchy): {an } ⊆ C ist konvergent ⇐ = ⇒ ∀ε > 0 ∃n0 (ε) : n, m ≥ n0 (ε) ⇒ |am − an | < ε (K) ⇐ = ⇒ ∀ε > 0 ∃n0 (ε) : n ≥ n0 (ε), p ∈ N ⇒ |an+p − an | < ε Eine Folge mit der Eigenschaft (K) heißt Cauchy-Folge (CF), auch Fundamentalfolge oder in-sich-konvergente Folge. 3 Unendliche Reihen 3.1 ∞ P k=0 ∞ P k=0 ∞ P Grundlagen ak ∼ Symbol der ZF {sn }, sn := n P ak (”Partialsumme”), ak ∼ Glied der Reihe, k=0 ak heißt konvergent mit Summe s, wenn lim sn =: s ∼ existiert, n→∞ s ∼ Reihensumme, ak heißt (bestimmt) divergent, wenn {sn } (bestimmt) divergiert. k=0 Schreibweise im Konvergenzfall: ∞ P ak = s, rn := k=0 ∞ P Beispiele: k=0 ∞ P k=1 3.2 qk = 1 kα 1 1−q für |q| < 1, ∞ P ak ”Reihenrest” k=n+1 ∞ P k=0 1 k! , ∞ P k=1 1 k =∞ ∼ allgemeine harmonische Reihe (konvergiert genau dann, wenn α > 1) Konvergenz Notwendiges Konvergenzkriterium: Ist ∞ P ak konvergent, so gilt lim ak = 0 k=0 k→∞ Cauchysches Konvergenzkriterium: ∞ P ak konvergiert ⇐ = ⇒ ∀ε > 0 ∃n0 (ε), so dass: {n, m ≥ n0 (ε) ⇒ |sn − sm | < ε} k=0 ⇐ = ⇒ 3.3 ∀ε > 0 ∃n0 (ε), so dass: {n ≥ n0 (ε) ⇒ |sn+p − sn | < ε für ∀p ∈ N} Rechnen mit unendlichen Reihen; absolute und bedingte Konvergenz R1) Aus ∞ P ak = s und k=0 ∞ P k=0 bk = t folgt ∞ P (αak + βbk ) = αs + βt. k=0 R2) Das Hinzufügen, Weglassen oder Abändern endlich vieler Glieder einer Reihe ändert nichts an deren Konvergenzverhalten. R3) In konvergenten Reihen können beliebig Klammern gesetzt, jedoch i. a. nicht weggelassen werden: ∞ X ak = s ⇒ (a0 + . . . + an1 ) + (an1 +1 + . . . + an2 ) + (an2 +1 + . . .) + . . . = s k=0 R4) Konvergenzkriterium für Reihen mit nichtnegativen Gliedern: (”Monotoniekriterium” für Reihen) Eine Reihe mit nichtnegativen Gliedern ist genau dann konvergent, wenn die Folge ihrer Partialsummen beschränkt ist. 5 R5) (Folgerung aus R4)): Eine Reihe mit nichtnegativen Gliedern ist entweder beschränkt oder bestimmt divergent. ∞ P R6) Die Reihe bk entstehe aus ∞ P ak dadurch, dass alle (oder einige) ”Nullglieder” P P (Glieder ai mit ai = 0) gestrichen werden. Dann sind ak und bk entweder gleichzeitig konvergent (mit übereinstimmender Reihensumme) oder gleichzeitig bestimmt divergent oder gleichzeitig unbestimmt divergent. k=0 R7) Konvergiert k=0 ∞ P k=0 Def. ∞ P ∞ P |ak |, dann konvergiert auch ak . k=0 ak heißt absolut konvergent, wenn k=0 ∞ P |ak | konvergiert. k=0 ∞ P Def. Die Reihe bk heißt Umordnung der Reihe ∞ P ak , wenn es eine bijektive k=0 k=0 Abbildung ϕ : N0 → N0 (Permutation) gibt, so dass bk = aϕ(k) , k = 0, 1, 2, . . .. Def. Eine konvergente Reihe Umordnung von ∞ P andernfalls heißt k=0 ∞ P ∞ P ak = s heißt unbedingt konvergent, wenn jede k=0 ak ebenfalls konvergiert mit der gleichen Summe s; ak bedingt konvergent. k=0 Satz 1 (Dirichlet 1837): Sei ak ∈ C (oder ak ∈ Cd , d ∈ N). ∞ ∞ P P ak ist absolut konvergent ⇐ = ⇒ ak ist unbedingt konvergent. k=0 k=0 Satz 2 (Umordnungssatz, Bernhard Riemann 1826 - 1866) ∞ P Ist ak eine bedingt konvergente Reihe reeller Zahlen, so gibt es zu jedem w ∈ R k=0 eine Umordnung der Reihe, die gegen w konvergiert. Ferner gibt es Umordnungen ∞ P von ak , die bestimmt divergent sind gegen ∞ bzw. −∞. k=0 Satz 3 (Multiplikationssatz) ∞ ∞ P P Seien ai = s und bj = t zwei absolut konvergente Reihen. Dann gilt i=0 j=0 für jede Anordnung der einzelnen Produkte ai bj (i, j = 0, 1, 2, 3, . . .) zu einer Folge ∞ P ∞ {dk }k=0 , dk = aik bjk , dass auch die Reihe dk absolut konvergiert mit ∞ P k=0 dk = s · t. Insbesondere ist die Cauchysche Produktreihe k=0 ∞ X n=0 cn := ∞ n X X n=0 ! ak bn−k =s·t k=0 absolut konvergent. 3.4 Konvergenz- und Divergenzkriterien Die vorgelegte Reihe P ak ist auf Konvergenz zu untersuchen. (I) Vergleichskriterien (Majoranten/Minoranten-Kriterium): P P Seien ck ∼ konvergente R., dk ∼ divergente R., ak , bk ≥ 0. P (1) Gilt 0 ≤ ak ≤ ck für k ≥ k0 , so ist ak konvergent. P (2) Gilt ak ≥ dk für k ≥ k0 , so ist ak divergent. 6 (II) Quotientenkriterium P P (a) Gilt aan+1 ≤ q < 1 für n ≥ n0 , so ist |ak | und folglich auch ak konvergent. n P (b) Gilt aan+1 ak divergent. ≥ 1 für n ≥ n0 , so ist n Folgerung: Existiert der Grenzwert lim aak+1 =: g, so gilt: k k→∞ P g < 1 ⇒ P ak konvergent g>1 ⇒ ak divergent (g = 1 gestattet keine Konvergenzaussage) (III) Wurzelkriterium p P P (a) Gilt n |an | ≤ q < 1 für n ≥ n0 , so ist |ak | und folglich auch ak konvergent. p P ak divergent. (b) Gilt n |an | ≥ 1 für n ≥ n0 , so ist p Folgerung: Existiert der Grenzwert lim k |ak | =: w, so gilt: k→∞ P w < 1 ⇒ P ak konvergent w>1 ⇒ ak divergent (w = 1 gestattet keine Konvergenzaussage) (IV) Leibnizsches Konvergenzkriterium für alternierende Reihen: Sei {an } eine monoton fallende Nullfolge. Dann gilt (a) ∞ P (−1)k ak ist konvergent. k=0 (b) Für die Reihensumme s gilt: |s − sn | ≤ an+1 (Bei Abbruch der Reihe ist der entstehende Fehler höchstens gleich dem Betrag des ersten vernachlässigten Gliedes.) 3.5 Potenzreihen Konvergenzsatz: Konvergiert die Potenzreihe ∞ P an xn (an , x ∈ C) für ein x = ξ 6= 0, so n=0 ist sie für jedes x ∈ C mit |x| < |ξ| absolut konvergent. Folgerung: Ist P an xn für x = x̃ divergent, so divergiert sie für jedes x ∈ C mit |x| > |x̃|. Konvergenzradius r := obere Grenze der Beträge aller Konvergenzpunkte. p n 1 n Es gilt: r = lim 1an+1 = lim aan+1 |a| . , r = lim | | n→∞ an n→∞ n→∞ ∞ P xk Exponentialreihe: k! =: exp (x); besitzt Konvergenzradius r = ∞. k=0 7