Therapeutische Verstrickungen

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Die Behandlungscouch im SigmundFreud-Museum in
London
PSYCHOANALYSE
Therapeutische Verstrickungen
Die Gründe für das Festhalten an einer überdehnten, destruktiv gewordenen
Psychoanalyse oder Therapie sind vielschichtig. Bei Patienten kann die Loyalität
wie die Trennungsangst so umfassend sein, dass sie es dem Therapeuten
nicht antun wollen, an ihm zu zweifeln oder die Beziehung zu beenden.
Tilmann Moser
ine wichtige Einsicht nach
Konsultationen in verfahrenen oder schmerzlich abgebrochenen Psychoanalysen und Therapien
war die: Sie wurden begonnen aufgrund einer nicht stimmigen Diagnose. Eine Fülle von Publikationen
zeigt inzwischen auf, wie oft sich
Traumata an der Wurzel bestimmter
Störungen finden lassen.
Eine der Hauptquellen für ein
überlanges Festhalten an einer überdehnten, unfruchtbar oder schädigend gewordenen Therapie ist das
Ausmaß der Idealisierung des Therapeuten. Diese hat verschiedene
Gründe: Für viele Patienten ist der
Therapeut oft die erste Person, die
sich mit Geduld, Verständniswillen
und Zuverlässigkeit ihm zuwendet.
Man könnte die dadurch zustande kommende Verklärung als eine
Kontrast-Idealisierung bezeichnen.
Beide verfallen oft einem gemeinsamen Bedürfnis nach Harmonie
und Wohlbefinden. Konflikte und
Defekte werden nicht mehr thema-
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tisiert, und Zweifel oder Aufbegehren oder gar die Konsultation eines
Dritten erscheinen dem Patienten
als Untreue oder Verrat an einem
kostbaren Verhältnis. Der amerikanische Psychoanalytiker Robert
Langs nannte dies die „therapeutische Verschwörung“, die er – maßlos übertreibend – in über 90 Prozent der Behandlungen am Werk
sieht.
Jede Lockerung der Bindung
kann Panik hervorrufen
Traumatisierte Patienten neigen dazu, Erlösungshoffnungen zu entwickeln: Der innere Abgrund droht
immer wieder vernichtend zu werden. Dagegen setzen sie einen irrationalen Glauben, dass der Retter
gekommen sei, er wird als der Fachmann, der Spezialist, der Erlöser angesehen. Wenn die Beziehung zur
frühen Mutter destruktiv war, entsteht eine symbiotische Rettungsfantasie, aber es ist keine heilsame
Symbiose, sondern sie kann durch-
aus negativ werden, wenn böse Introjekte hinzukommen, zu deren
Abwehr der Patient die Idealisierung verstärkt. Da mir der Begriff
symbiotisch oft nicht ausreichend
scheint, verwende ich den Ausdruck
einer „siamesischen“ Übertragung
oder Verstrickung, bei der quasi ein
gemeinsamer psychischer Blutkreislauf besteht und jede Lockerung der Bindung Panik hervorruft.
In der Gegenübertragung mag
der Analytiker spüren, dass der Patient ihn umklammert, gar im Griff
hat und doch sich in erbarmungswürdiger Dauernot befindet, die zu
unangemessener Verwöhnung führen kann. Es scheint aber auch Therapeuten zu geben, die aus eigenen
Bedürfnissen heraus das siamesische Einheits- oder Verschmelzungsgefühl brauchen.
Da beim Patienten neben der
Verklärung seiner Abhängigkeit
und der therapeutischen Zuwendung auch Angst und Enttäuschungsgroll bei langer Stagnation
Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 10 | Oktober 2015
THEMEN DER ZEIT
entstehen, müssen diese abgewehrt
werden, was die Unechtheit der Beziehung verstärkt. Manche Kollegen trauen sich dann nicht mehr, ihren „Fall“ in der Intervision oder Supervision vorzustellen, weil sie in resignierte Zweifel am Sinn der Arbeit
geraten sind oder gar vernichtende
Kritik erwarten.
In dieser Situation kommt es vor,
dass der Therapeut anfängt, aus
Schuld- und Versagensgefühlen den
Patienten zu verwöhnen oder gar zu
bestechen durch kleine Vergünstigungen. Der Patient erlebt es wiederum,
inmitten einer erkaltenden Beziehung, als besondere menschliche Zuwendung. Besonders in kühl-klassisch verlaufenden Analysen, deren
Strenge der Patient durchaus mitidealisieren kann, werden solche „kleinen
Schritte vom Wege“ als durchhaltefördernde Seelennahrung verzehrt.
In dem Therapiebericht von Regine Alegiani, „Die späte Suche nach
Grund. Eine analytische Psychotherapie im höheren Alter“ (Göttingen
2009), finde ich eine Stelle, die illustriert, was ich meine, wenn ich von
der Idealisierung kleiner menschlicher Gesten des Therapeuten spreche, die zur Festigung, aber auch zu
destruktiver Verlängerung der Bindung führen können. Alegianis Analytiker, so nimmt sie an, wird nur
durch die Regeln der Zunft gehindert, warmherziger, zugewandter
und aktiv einfühlsamer zu sein. Ich
nenne die Szene das „WasserglasWunder“ in ihrer Analyse: „Ich war,
als der Hustenanfall begann, gerade
noch imstande, die aufsteigende
Angst in Sprache, in die Bitte um ein
Glas Wasser zu kleiden, also um Hilfe zu bitten, auf die Gefahr hin, abgewiesen zu werden.“ Es kam jedoch etwas anderes hinzu: „Einen
Augenblick hatte ich den Analytiker
unsicher (also menschlich, tm) gesehen, wie auf meine unerwartete Bitte
zu antworten sei. Ich erfuhr ihn in
dieser nur Sekunden andauernden
Zeitspanne als authentisch und
menschlich, als jemanden, der auf
eine ungewohnte Lage rasch reagieren muss und kann. Als meiner Bitte
dann entsprochen wurde, erlebte ich
dies als mutig, glaubte darin auch eine Bereitschaft zu erkennen, ein therapeutisches Risiko einzugehen. Er
Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 10 | Oktober 2015
holte ‚und überbrachte verlegen sein
Glas Wasser.‘ … Zum einen war es
sicher die Erfahrung, dass ich nicht
zurückgewiesen worden war, der
Verzicht auf Vorwurf und Kritik. …
ich hatte mich schuldig gefühlt, als
hätte ich etwas im Grunde Unvertretbares, Unannehmbares verlangt.“
Der hochbegabten Patientin reicht
diese einzige Geste angeblich zur
Ausheilung ihrer lebenslangen „oralen Gier“, weil sie die Symbolkraft
erkennt und auf begnadete Weise
verinnerlichen kann. Der bewunderte
Held hat die Kühnheit überstanden.
Es wurde nicht mehr darüber geredet, die Szene verblieb in der wortlo-
keit Freud vermutlich belächelt hätte. Er hat seinen Patienten ganz andere Vergünstigungen zukommen
lassen: essen, aufwärmen, Geld geben oder leihen.
Im Lauf der Jahre habe ich viele
Erlebnisberichte, Rückblicke, Danksagungen und literarische Bilanzen
von noch laufenden oder beendeten
Analysen erhalten, meist mit der Bitte der Kenntnisnahme, des Verstehens, der Lektorierung und der Suche nach einem passenden Verlag.
Mein Text ist kein Plädoyer gegen
ein therapeutisch wohldosiertes Zeigen von Mitgefühl und begrenzten
Hilfestellungen, etwa bei der Vorbe-
„Ich
füttere ihn narzisstisch mit Lob und kleinen stimmungshaften Erfolgsberichten. Ich spüre, dass er das braucht.
“
Eine Patientin
sen Andacht. „Handeln und Reagieren vollzogen sich schweigend, und
beides war wechselseitig eng aufeinander bezogen.“ Die Szene „schuf
ein Gefühl des Vertrauens und Angenommenseins, das ich danach nicht
mehr jenen fundamentalen Zweifeln
auszusetzen brauchte, die die Arbeit
so sehr belasten können.“ Die Wunderheilung scheint geglückt. Sie war
dann angeblich bald auch den „Neid
auf die Fülle des Analytikers“ los,
und den auf seine „analytische Kompetenz und Macht “.
Traumatisierte können eine
große Loyalität entwickeln
In schädlich oder destruktiv verlaufenden Analysen, die eigentlich beendet gehörten, hätte die abwehrende Idealisierung eine Beendigung
auf quälende Weise erschweren können. Ihr Analytiker versäumte es
nicht, die Bindung weiter zu festigen
durch die eitle Auskunft: „Als wir in
der nächsten Stunde über diese Episode sprachen, wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass orthodoxe
Kollegen mir wahrscheinlich nicht
in dieser Weise entgegengekommen
wären.“
Die Autorin verrät uns nicht den
Ausgang der Geschichte, die geschrieben wurde im Zustand der Begeisterung über eine Geste, deren
überhöhte symbolische Bedeutsam-
reitung eines drohenden schwierigen
Gesprächs mit einem Vorgesetzten,
erst recht nicht bei einem durstlöschenden Glas Wasser in der Sommerhitze. Sondern es geht um die
realistische Einschätzung eines abhängig machenden Missverstehens
eines Trostes, nach dem der Patient
süchtig werden kann, um seine unbefragte Dauermotivation für eine
möglicherweise immer falscher werdende Beziehung neu aufzuladen.
Traumatisierte Patienten entwickeln,
besonders wenn eine Parentifizierung vorliegt, eine ungeheure Loyalität, die auch von unendlichem Leiden nicht infrage gestellt wird.
Die Loyalität wie die Trennungsangst vor dem Fall ins Leere kann so
umfassend sein, dass sie es dem
Analytiker nicht antun wollen, an
ihm zu zweifeln oder gar die Beziehung zu beenden. Sie wiederholen in
der Übertragung die Erinnerung an
die Kränkbarkeit ihrer Eltern, die sie
vor deren Selbstwertzweifeln oder
depressiven Instabilität beschützen
mussten. Eine Patientin nannte das
in einer Beratung einmal: „Ich füttere ihn narzisstisch mit Lob und kleinen stimmungshaften Erfolgsberichten. Ich spüre, dass er das braucht.“
Die dahinterliegende Geringschätzung, ja Verachtung und das Verlassenheitsgefühl sind dann sehr
schwer anzugehen.
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Manchmal gelingt es, das beinahe sinkende Schiff wieder flott zu
machen. Für mich hat es sich sehr
bewährt, den Patienten zum Therapeuten/Analytiker auf einem leeren
Stuhl kritisch sprechen zu lassen,
mit der Bitte, ihm die Bilanz seiner
Gefühle möglichst unzensiert mitzuteilen. Gelegentlich muss man
helfen, wenn man spürt, es werden
vor allem aggressive Emotionen
ausgespart. Es ist immer wieder erstaunlich, wie tief die Differenz
zwischen Ausgesprochenem und
Unausgesprochenem sein kann.
Gegen dessen reale Kränkbarkeit ist
allerdings kaum ein Kraut gewachsen, und sein schädliches aggressives Gegenagieren kann die Folge
sein. Angestrengte Rechtfertigungen
sind jedoch das Letzte, was der Patient brauchen kann.
Man kann aber auch beobachten
oder vermuten, dass wichtige Übertragungen des Patienten außen vor
geblieben sind, aus welchem Grund
auch immer. Ich greife nur eine der
wichtigsten heraus: es ist die Enttäuschungswut an der Mutter, die nicht
in die Übertragung kommen darf,
Die schwierigsten Therapieverstrickungen ergeben sich dann,
wenn der Therapeut oder Analytiker mit einem Neurosekonzept
an eine traumatische Störung herangeht.
„Aber das kann ich ihm doch nicht
sagen!“, lautet die gängigste Entschuldigung. „Was würde passieren?“, lautet die Nachfrage, und
dann erhält man, mit einiger Geduld
und auch Ermutigung, die Katastrophenfantasien der Trennung.
Wenn sich zu viel an Ungesagtem angehäuft hat, möge man das
Dosieren üben: Wie viel kann er auf
einmal ertragen? An der Angst oder
der Befangenheit oder den abwehrenden Verrenkungen vor gefährlichen kritischen Mitteilungen kann
man ermessen, wie viel Material
gar nicht in den Raum der Therapie
eingegangen ist. „Ja darf man so etwa überhaupt denken oder gar sagen in einer Therapie?“, kann eine
erstaunte Frage lauten.
Geübteren Patienten kann man
einen Rollenwechsel vorschlagen:
„Wollen Sie sich einmal auf den
Platz des Therapeuten setzen und
mitteilen, was sie an seiner Stelle
fühlen?“ Von Stupor, Hilflosigkeit
und erstaunlichem Wissen über dessen analytisches Innenleben erfährt
man viel über die inneren Blockaden. Oft ist es eben auch der untergründig angestaute Hass, der die
Kommunikation schon seit langem
austrocknen ließ. Ich höre dann oft,
wenn dosierte neue kritische Mitteilungen kommen, es sei wieder Leben in die Therapie gekommen, und
der Therapeut sei viel toleranter und
kräftiger, als man es vermutet habe.
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weil sie die lebenswichtige Beziehung zum Therapeuten gefährden
könnte. Hier ist der „Supervisor“ einer bedrohten Analyse in einer günstigen Position. Er vermeidet eine neu
aufbrechende Übertragung, versucht
sich einzufühlen in die oft beiderseitigen Ängste vor der befürchteten
Explosion der negativen Gefühle
und bietet dem Patienten einen inszenierenden Raum der Konfrontation, um sich über seine schwierigen
Beziehungen zur frühen Mutter zu
orientieren. Manchmal fällt es den
Patienten dann wie Schuppen von
den Augen, was sie und warum sie in
der Therapie vieles aussparen.
Heilsamer Abbruch wird
hinausgezögert
Die schwierigsten Therapieverstrickungen ergeben sich dann, wenn
der Therapeut oder Analytiker mit
einem Neurosekonzept an eine
traumatische Störung herangeht.
Dann kann sich ein Gespensterdialog entwickeln, die Deutungen können drängender werden, der Patient
erlebt den Therapeuten als unzufrieden, insistierend oder halsstarrig, oder in Widerstandsdeutungen
verliebt, die als beschuldigend und
verfolgend erlebt werden können.
Ein heilsamer Abbruch wird auch
dadurch oft hinausgeschoben, dass
Patienten die zum unfriedlichen
Abschied gegebenen Interpretationen fürchten: „Nicht geeignet für
das kostbare Verfahren, Neid auf
den Erfolg des Therapeuten, destruktive Einstellung, zu schwere
Störung, unkooperativ, zu misstrauisch, unzureichend motiviert“ –
Deutungen, die etwas Beschuldigendes haben können.
Algiani schreibt über ihre früheren
Erfahrungen mit Psychotherapien,
nachdem sie sich endlich an den
„richtigen“ Analytiker gewandt hatte:
„Der Entschluss, in dieser Form noch
einmal Hilfe … zu suchen, war bedingt durch die mich belastende Erfahrung, dass vier vorangegangene
tiefenpsychologische Therapien mir
keine wesentliche Linderung der
Symptome gebracht haben.“ Was da
an destruktiver Erfahrung vorausging,
verschweigt sie. Klar scheint aber
auch, dass sie mit falschen Diagnosen
oder inkompetent behandelt wurde,
denn sie schreibt, erst der Analytiker
habe die Borderline-Störung erkannt.
Ihre Dankbarkeit danach ist entsprechend fast überschwänglich.
Wenn es zum Abbruch einer unerträglich oder destruktiv gewordenen
Therapie oder Analyse kommt, der
oft lange hinausgeschoben wird aus
Angst vor dem Fall ins Leere, wäre
oft ein therapeutisches Auffangen bei
einem Dritten nötig. Das wird aber
oft nicht mehr gesucht, weil die Desillusionierung zu groß ist und weil
die Diagnose „zu schwierig oder gar
unbehandelbar“ jede neue Initiative
lähmt. Es wäre förderlich, wenn erfahrene Therapeuten einen Therapieabbruch oder eine hilfesuchende
Konsultation nicht nur als Versagen
des Patienten oder destruktives Agieren ansehen würden, sondern als Zeichen eine schweren Katastrophe mit
der Gefahr einer Retraumatisierung.
Ebenso wie es auf Kongressen
lange tabu war, über Selbstmorde
während oder nach einer Therapie zu
sprechen oder zu forschen, ist das
Scheitern oder der Abbruch einer
langen Therapie oder Analyse und
seine Folgen für beide Partner noch
kaum ein Thema geworden.
█
Zitierweise dieses Beitrags:
PP 2015; 13(10): 452–4
Anschrift des Verfassers:
Dr. phil. Tilmann Moser, Aumattenweg 3,
79117 Freiburg, [email protected],
www.tilmannmoser.de
Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 10 | Oktober 2015
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