Der Genetik von chronisch-entzündlichen

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Molekularbiologie
Der Genetik von chronischentzündlichen Darmerkrankungen auf der Spur
In Industrieländern stellen chronisch-entzündliche Darmerkrankungen
(CED) die Medizin vor immer größere diagnostische und therapeutische
Herausforderungen. Deshalb arbeitet ein Team von Genetikern und Ärzten
am Institut für Klinische Molekularbiologie in Kiel mithilfe neuer Verfahren
zur DNA-Sequenzierung und moderner Bioinformatik an neuen Ansätzen
für die Behandlung dieser Erkrankungen.
Autorin: Dr. Wiebke Kathmann
Zur Verarbeitung der DNA-Daten ist große
Rechnerleistung nötig.
Kurz zusammengefasst
Am Institut für Klinische Molekularbiologie des Universitätsklinikums
Schleswig-Holstein Campus Kiel forschen Ärzte, Genetiker, Biologen und
Bioinformatiker gemeinsam an der
komplexen Interaktion von Genen,
Epigenetik und Umwelteinflüssen bei
der Pathogenese von chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen wie
etwa Morbus Crohn. Besondere Hoffnungen für neue Behandlungsansätze
richten sich auf die Identifikation von
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Risikogenen, die eine Disposition der
Patienten für diese Erkrankungen
erkennen lassen. Mit modernen Verfahren zur DNA-Sequenzierung und
durch die automatische Verarbeitung
der hierdurch entstehenden Datenflut
mithilfe neuer Annotationsalgorithmen besteht die Hoffnung, chronische
Entzündungskrankheiten früher zu
diagnostizieren und durch individualisierte Therapien besser behandeln zu
können.
In den Industrieländern leidet eine
stetig wachsende Zahl von Menschen an
chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (CED) wie Morbus Crohn und Colitis
ulcerosa. Neben Symptomen wie immer
wieder auftretenden Bauchschmerzen
und teilweise heftigem blutigem Durchfall haben diese Patienten auch ein hohes
Risiko, dass lebensbedrohliche Komplikationen wie Fisteln, Rupturen oder Darmkrebs auftreten.
Obwohl bei der Behandlung von CED in
den letzten Jahren Fortschritte erzielt werden konnten, besteht immer noch ein
großer Bedarf an spezifischen Therapien
im Sinne einer individualisierten Medizin.
Prof. Dr. med. Stefan Schreiber, Leiter des
Instituts für Klinische Molekularbiologie
(IKMB) in Kiel, erklärt, dass hierfür eine
völlig neue Herangehensweise benötigt
wird: „Bisher behandeln wir Krankheiten
wie Morbus Crohn erst, wenn schon
makroskopische Schäden im Darm aufgetreten sind. Aber dann ist es schon zu spät,
um die Erkrankung noch unter Kontrolle
zu bekommen. Wir müssen mit der Diagnose früher ansetzen, bevor das Immunsystem anfängt verrückt zu spielen.“
Fotos: Andreas Lang
„Durch die technische Revolution bei der Gewinnung
von Sequenzierungsdaten haben wir völlig neue
Möglichkeiten. Mittlerweile arbeiten Forscher und
Ärzte aus verschiedenen Disziplinen gemeinsam
an der Auswertung der Daten und erforschen den
Zusammenhang zwischen Mutationen und Phänotypen beim Menschen.“
Prof. Dr. med. Stefan Schreiber, Direktor des Instituts für Klinische Molekularbiologie,
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Campus Kiel
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Vom Labor zum Patienten
Welche Erfolge mithilfe der Hochdurchsatzsequenzierung möglich sind, zeigt der Fall eines dreijährigen
Jungen aus Kiel, der an einer mit Morbus Crohn vergleichbaren, transmuralen, diskontinuierlichen Darmentzündung leidet. Die Entzündung erwies sich als resistent gegenüber Immunsuppressiva, ebenso wie gegenüber modernen Behandlungsansätzen, die Antikörper als Hemmstoffe für das Zytokin TNF-α nutzen. Sogar
ein künstlicher Darmausgang konnte die Kolitis lediglich abschwächen, aber nicht komplett eindämmen. Es
lag nahe, dass bei einer derartig heftigen Entzündung eine genetische Disposition vorlag, da besonders bei
jungen Patienten der genetische Faktor für die Erscheinungsform der Erkrankung eine große Rolle spielt.
„Wir haben beim Kind und bei seinen Eltern eine komplette Exomsequenzierung vorgenommen“, erklärt
Prof. Dr. Andre Franke. Das Genmaterial aller drei Personen wurde angereichert, die Basensequenzen automatisch eingelesen und die Ergebnisse miteinander sowie mit dem menschlichen Basisgenom verglichen.
Für den letzten Analyseschritt, die Annotation der Varianten, nutzte man am IKMB sowohl kommerziell verfügbare Algorithmen als auch die Ergebnisse der eigenen Forschung. „Für die Identifizierung der De-novoMutationen bei dem Jungen haben wir die Annotationssoftware ANNOVAR eingesetzt und sie mit unserer
Eigenentwicklung snpActs kombiniert“, so Franke.
Auf diese Weise konnten die Forscher in Kiel in dem Genmaterial eine erst kürzlich entdeckte, hemizygote
Nonsense-de-novo-Mutation identifizieren, die als eine Ursache für eine Morbus-Crohn-ähnliche Erkrankung
beschrieben wurde und Möglichkeiten für eine individuell angepasste Behandlung eröffnet.1 Dies bestärkt
Franke in der Ansicht, dass die Exomsequenzierung eine objektive Analyse des Zusammenhangs zwischen
Mutationen und seltenen klinischen Phänotypen erlaubt und wichtige Einsichten in die pathophysiologischen
Mechanismen von CED ermöglicht.
1
Worthey EA et al.: Making a definitive diagnosis: successful clinical application of whole exome sequencing in a child with intractable inflammatory
bowel disease. Genetics in Medicine (2011) 13, 255–262; doi:10.1097/GIM.0b013e31820881582011.
Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Untersuchung der genetischen Disposition der
Patienten. Nach Schreibers Einschätzung
könnten durch eine umfassendere Risikoanalyse, einschließlich Informationen über
Genmutationen der Patienten, CED bereits
in einem frühen Stadium entdeckt werden, in dem noch wirkliche Heilungsaussichten bestehen.
Ein entscheidendes Werkzeug:
Next-generation Sequencing
Gezielte Genanalyse ist ein Schlüssel
für eine individualisierte Therapie
chronischer Entzündungserkrankungen.
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In den letzten Jahren haben sich die
Möglichkeiten zur Entschlüsselung des
menschlichen Genoms enorm erweitert.
Schreiber vergleicht dies mit der Entwicklung, den die Computertechnik in den
letzten Jahren genommen hat: „Niemand
hätte sich vor 15 Jahren vorstellen kön-
nen, dass wir einmal mit dem Computer
so komplexe Dinge tun können, wie sie
sich heute auf jedem Smartphone finden.
Mit der Genetik ist es ähnlich.“
Mit dem hohen Durchsatz des Nextgeneration Sequencing kann heute das
Genom eines Patienten innerhalb von
sechs Wochen entschlüsselt werden. Aus
einer Blutprobe werden dafür Lymphozyten isoliert und ihre DNA für die Sequenzierung angereichert. Nach der Analyse
werden die Rohdaten halbautomatisch
an einen Server zur Verarbeitung übertragen. Dank eines in Kiel entwickelten
Ansatzes zur gezielten Re-Sequenzierung
kann die Untersuchungszeit noch einmal
deutlich verkürzt werden. Dabei werden
gezielt die codierenden Abschnitte des
Genoms, das sogenannte Exom, ange-
„Heute liegt die Herausforderung
darin, aus einem Satz von Hunderttausenden von Nukleotiden eines
Genoms diejenigen Mutationen herauszufiltern, die für den klinischen
Phänotyp von Bedeutung sind.“
Prof. Dr. rer. nat. Andre Franke, Institut für Klinische Molekularbiologie,
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Campus Kiel
reichert. Weil bei der Sequenzierung des
Exoms nur etwa ein Prozent der gesamten Erbinformation untersucht wird, ist
das Verfahren nicht nur schneller, sondern auch preisgünstiger und bietet sich
deshalb für einen möglichen klinischen
Einsatz an.
Verarbeitung der Datenflut
Die Sequenzierung an sich stellt somit
kein Problem mehr dar, wohl aber die
Verarbeitung des gewonnenen Datenmaterials. „Heute liegt die Herausforderung darin, aus einem Satz von Hunderttausenden von Nukleotiden eines
Genoms diejenigen Mutationen herauszufiltern, die für den klinischen Phänotyp von Bedeutung sind, insbesondere
für die durchschlagenden Phänotypen
von Kindern mit CED, bei denen die
Genetik ein große Rolle in der Krankheitsentwicklung spielt“, so Prof. Dr. Andre
Franke vom IKMB.
Die Suche gleicht einem großen genetischen Puzzle, denn auch wenn der Phänotyp von Patienten in verschiedenen Ländern gleich ist, so unterscheiden sich die
CED-Patienten doch ganz erheblich in
ihrem Erbgut. Um festzustellen, ob eine
bestimmte Mutation klinisch relevant ist,
muss sie mit den genetischen Informationen zum Durchschnitt der jeweiligen
Bevölkerung abgeglichen werden.
Sowohl bei der Sequenzierung wie auch
beim Abgleich mit der Vergleichsgruppe
müssen deshalb enorme Datenmengen
verarbeitet werden. Hierfür sind spezielle
Algorithmen aus der Bioinformatik nötig,
die die Forscher bei der Auswertung
unterstützen und automatisch wesentliche von unwesentlicher Erbinformation
trennen. „An diesem Punkt brauchen
wir einen Partner aus der Industrie wie
Siemens, der Erfahrung im Umgang
mit großen Datenmengen hat“, betont
Franke.
Ein wesentlicher Beitrag für die Entwicklung der Algorithmen stammt aus dem
Kieler Forschungsprojekt popgen, das im
Rahmen des Exzellenzclusters „Entzündungsforschung“ von der DFG gefördert
wird. In der dazugehörigen Biobank sind
mehr als 75.000 Proben von Patienten
mit verschiedenen Krankheiten sowie
entsprechende Kontrollgruppen erfasst.
Solche Biobanken erlauben den Forschern
die systematische Interpretation der
Daten aus der Exomsequenzierung einzelner Patienten vor dem Hintergrund der
Genstruktur einer großen Vergleichspopulation.
Franke geht davon aus, dass es noch etwa
zehn Jahre dauern wird, bis die Rolle der
genetischen Information bei der Entwicklung von vielen Krankheiten – und nicht
nur der CED – auf diese Weise komplett
entschlüsselt ist. Auf längere Sicht könnte
die Identifikation des Erbmaterials zu
Ansätzen wie einer Gen- oder Stammzellentherapie führen – insbesondere für
junge Patienten mit besonders schlechten
Heilungschancen. Aber Schreiber warnt
vor einer allzu einseitigen Sichtweise: „Es
sind nicht nur die Gene. Das gesamte
Risikoprofil ist von Bedeutung, einschließlich der Ernährung, des Körpertyps und
den Bewegungsgewohnheiten – all das
muss zukünftig in eine individualisierte
Behandlung einbezogen werden.“
Dr. Wiebke Kathmann ist Biologin und
Medizinjournalistin und veröffentlicht ihre
Beiträge in deutschsprachigen medizinischen
Fachzeitschriften.
Quelle: Medical Solutions –
Ausgabe Februar 2013
Info:
www.siemens.de/healthcare
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