Trends Molekularbiologie Der Genetik von chronischentzündlichen Darmerkrankungen auf der Spur In Industrieländern stellen chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (CED) die Medizin vor immer größere diagnostische und therapeutische Herausforderungen. Deshalb arbeitet ein Team von Genetikern und Ärzten am Institut für Klinische Molekularbiologie in Kiel mithilfe neuer Verfahren zur DNA-Sequenzierung und moderner Bioinformatik an neuen Ansätzen für die Behandlung dieser Erkrankungen. Autorin: Dr. Wiebke Kathmann Zur Verarbeitung der DNA-Daten ist große Rechnerleistung nötig. Kurz zusammengefasst Am Institut für Klinische Molekularbiologie des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein Campus Kiel forschen Ärzte, Genetiker, Biologen und Bioinformatiker gemeinsam an der komplexen Interaktion von Genen, Epigenetik und Umwelteinflüssen bei der Pathogenese von chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen wie etwa Morbus Crohn. Besondere Hoffnungen für neue Behandlungsansätze richten sich auf die Identifikation von 54 inside: health · Mai 2013 Risikogenen, die eine Disposition der Patienten für diese Erkrankungen erkennen lassen. Mit modernen Verfahren zur DNA-Sequenzierung und durch die automatische Verarbeitung der hierdurch entstehenden Datenflut mithilfe neuer Annotationsalgorithmen besteht die Hoffnung, chronische Entzündungskrankheiten früher zu diagnostizieren und durch individualisierte Therapien besser behandeln zu können. In den Industrieländern leidet eine stetig wachsende Zahl von Menschen an chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (CED) wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa. Neben Symptomen wie immer wieder auftretenden Bauchschmerzen und teilweise heftigem blutigem Durchfall haben diese Patienten auch ein hohes Risiko, dass lebensbedrohliche Komplikationen wie Fisteln, Rupturen oder Darmkrebs auftreten. Obwohl bei der Behandlung von CED in den letzten Jahren Fortschritte erzielt werden konnten, besteht immer noch ein großer Bedarf an spezifischen Therapien im Sinne einer individualisierten Medizin. Prof. Dr. med. Stefan Schreiber, Leiter des Instituts für Klinische Molekularbiologie (IKMB) in Kiel, erklärt, dass hierfür eine völlig neue Herangehensweise benötigt wird: „Bisher behandeln wir Krankheiten wie Morbus Crohn erst, wenn schon makroskopische Schäden im Darm aufgetreten sind. Aber dann ist es schon zu spät, um die Erkrankung noch unter Kontrolle zu bekommen. Wir müssen mit der Diagnose früher ansetzen, bevor das Immunsystem anfängt verrückt zu spielen.“ Fotos: Andreas Lang „Durch die technische Revolution bei der Gewinnung von Sequenzierungsdaten haben wir völlig neue Möglichkeiten. Mittlerweile arbeiten Forscher und Ärzte aus verschiedenen Disziplinen gemeinsam an der Auswertung der Daten und erforschen den Zusammenhang zwischen Mutationen und Phänotypen beim Menschen.“ Prof. Dr. med. Stefan Schreiber, Direktor des Instituts für Klinische Molekularbiologie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Campus Kiel inside: health · Mai 2013 55 Trends Molekularbiologie Vom Labor zum Patienten Welche Erfolge mithilfe der Hochdurchsatzsequenzierung möglich sind, zeigt der Fall eines dreijährigen Jungen aus Kiel, der an einer mit Morbus Crohn vergleichbaren, transmuralen, diskontinuierlichen Darmentzündung leidet. Die Entzündung erwies sich als resistent gegenüber Immunsuppressiva, ebenso wie gegenüber modernen Behandlungsansätzen, die Antikörper als Hemmstoffe für das Zytokin TNF-α nutzen. Sogar ein künstlicher Darmausgang konnte die Kolitis lediglich abschwächen, aber nicht komplett eindämmen. Es lag nahe, dass bei einer derartig heftigen Entzündung eine genetische Disposition vorlag, da besonders bei jungen Patienten der genetische Faktor für die Erscheinungsform der Erkrankung eine große Rolle spielt. „Wir haben beim Kind und bei seinen Eltern eine komplette Exomsequenzierung vorgenommen“, erklärt Prof. Dr. Andre Franke. Das Genmaterial aller drei Personen wurde angereichert, die Basensequenzen automatisch eingelesen und die Ergebnisse miteinander sowie mit dem menschlichen Basisgenom verglichen. Für den letzten Analyseschritt, die Annotation der Varianten, nutzte man am IKMB sowohl kommerziell verfügbare Algorithmen als auch die Ergebnisse der eigenen Forschung. „Für die Identifizierung der De-novoMutationen bei dem Jungen haben wir die Annotationssoftware ANNOVAR eingesetzt und sie mit unserer Eigenentwicklung snpActs kombiniert“, so Franke. Auf diese Weise konnten die Forscher in Kiel in dem Genmaterial eine erst kürzlich entdeckte, hemizygote Nonsense-de-novo-Mutation identifizieren, die als eine Ursache für eine Morbus-Crohn-ähnliche Erkrankung beschrieben wurde und Möglichkeiten für eine individuell angepasste Behandlung eröffnet.1 Dies bestärkt Franke in der Ansicht, dass die Exomsequenzierung eine objektive Analyse des Zusammenhangs zwischen Mutationen und seltenen klinischen Phänotypen erlaubt und wichtige Einsichten in die pathophysiologischen Mechanismen von CED ermöglicht. 1 Worthey EA et al.: Making a definitive diagnosis: successful clinical application of whole exome sequencing in a child with intractable inflammatory bowel disease. Genetics in Medicine (2011) 13, 255–262; doi:10.1097/GIM.0b013e31820881582011. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Untersuchung der genetischen Disposition der Patienten. Nach Schreibers Einschätzung könnten durch eine umfassendere Risikoanalyse, einschließlich Informationen über Genmutationen der Patienten, CED bereits in einem frühen Stadium entdeckt werden, in dem noch wirkliche Heilungsaussichten bestehen. Ein entscheidendes Werkzeug: Next-generation Sequencing Gezielte Genanalyse ist ein Schlüssel für eine individualisierte Therapie chronischer Entzündungserkrankungen. 56 inside: health · Mai 2013 In den letzten Jahren haben sich die Möglichkeiten zur Entschlüsselung des menschlichen Genoms enorm erweitert. Schreiber vergleicht dies mit der Entwicklung, den die Computertechnik in den letzten Jahren genommen hat: „Niemand hätte sich vor 15 Jahren vorstellen kön- nen, dass wir einmal mit dem Computer so komplexe Dinge tun können, wie sie sich heute auf jedem Smartphone finden. Mit der Genetik ist es ähnlich.“ Mit dem hohen Durchsatz des Nextgeneration Sequencing kann heute das Genom eines Patienten innerhalb von sechs Wochen entschlüsselt werden. Aus einer Blutprobe werden dafür Lymphozyten isoliert und ihre DNA für die Sequenzierung angereichert. Nach der Analyse werden die Rohdaten halbautomatisch an einen Server zur Verarbeitung übertragen. Dank eines in Kiel entwickelten Ansatzes zur gezielten Re-Sequenzierung kann die Untersuchungszeit noch einmal deutlich verkürzt werden. Dabei werden gezielt die codierenden Abschnitte des Genoms, das sogenannte Exom, ange- „Heute liegt die Herausforderung darin, aus einem Satz von Hunderttausenden von Nukleotiden eines Genoms diejenigen Mutationen herauszufiltern, die für den klinischen Phänotyp von Bedeutung sind.“ Prof. Dr. rer. nat. Andre Franke, Institut für Klinische Molekularbiologie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Campus Kiel reichert. Weil bei der Sequenzierung des Exoms nur etwa ein Prozent der gesamten Erbinformation untersucht wird, ist das Verfahren nicht nur schneller, sondern auch preisgünstiger und bietet sich deshalb für einen möglichen klinischen Einsatz an. Verarbeitung der Datenflut Die Sequenzierung an sich stellt somit kein Problem mehr dar, wohl aber die Verarbeitung des gewonnenen Datenmaterials. „Heute liegt die Herausforderung darin, aus einem Satz von Hunderttausenden von Nukleotiden eines Genoms diejenigen Mutationen herauszufiltern, die für den klinischen Phänotyp von Bedeutung sind, insbesondere für die durchschlagenden Phänotypen von Kindern mit CED, bei denen die Genetik ein große Rolle in der Krankheitsentwicklung spielt“, so Prof. Dr. Andre Franke vom IKMB. Die Suche gleicht einem großen genetischen Puzzle, denn auch wenn der Phänotyp von Patienten in verschiedenen Ländern gleich ist, so unterscheiden sich die CED-Patienten doch ganz erheblich in ihrem Erbgut. Um festzustellen, ob eine bestimmte Mutation klinisch relevant ist, muss sie mit den genetischen Informationen zum Durchschnitt der jeweiligen Bevölkerung abgeglichen werden. Sowohl bei der Sequenzierung wie auch beim Abgleich mit der Vergleichsgruppe müssen deshalb enorme Datenmengen verarbeitet werden. Hierfür sind spezielle Algorithmen aus der Bioinformatik nötig, die die Forscher bei der Auswertung unterstützen und automatisch wesentliche von unwesentlicher Erbinformation trennen. „An diesem Punkt brauchen wir einen Partner aus der Industrie wie Siemens, der Erfahrung im Umgang mit großen Datenmengen hat“, betont Franke. Ein wesentlicher Beitrag für die Entwicklung der Algorithmen stammt aus dem Kieler Forschungsprojekt popgen, das im Rahmen des Exzellenzclusters „Entzündungsforschung“ von der DFG gefördert wird. In der dazugehörigen Biobank sind mehr als 75.000 Proben von Patienten mit verschiedenen Krankheiten sowie entsprechende Kontrollgruppen erfasst. Solche Biobanken erlauben den Forschern die systematische Interpretation der Daten aus der Exomsequenzierung einzelner Patienten vor dem Hintergrund der Genstruktur einer großen Vergleichspopulation. Franke geht davon aus, dass es noch etwa zehn Jahre dauern wird, bis die Rolle der genetischen Information bei der Entwicklung von vielen Krankheiten – und nicht nur der CED – auf diese Weise komplett entschlüsselt ist. Auf längere Sicht könnte die Identifikation des Erbmaterials zu Ansätzen wie einer Gen- oder Stammzellentherapie führen – insbesondere für junge Patienten mit besonders schlechten Heilungschancen. Aber Schreiber warnt vor einer allzu einseitigen Sichtweise: „Es sind nicht nur die Gene. Das gesamte Risikoprofil ist von Bedeutung, einschließlich der Ernährung, des Körpertyps und den Bewegungsgewohnheiten – all das muss zukünftig in eine individualisierte Behandlung einbezogen werden.“ Dr. Wiebke Kathmann ist Biologin und Medizinjournalistin und veröffentlicht ihre Beiträge in deutschsprachigen medizinischen Fachzeitschriften. Quelle: Medical Solutions – Ausgabe Februar 2013 Info: www.siemens.de/healthcare inside: health · Mai 2013 57