EINF¨UHRUNG IN DIE TOPOLOGIE (SS 2014) 7.4.14 1. Metrische

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EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
BERNHARD HANKE
7.4.14
1. Metrische Räume und topologische Räume
Definition 1.1. Ein metrischer Raum ist ein Paar (X, d) bestehend aus
einer Menge X und einer Abbildung
d : X × X → R≥0
mit den folgenden Eigenschaften: Für alle x, y, z ∈ X gilt
• d(x, y) = d(y, x),
• d(x, y) = 0 ⇔ x = y,
• d(x, z) ≤ d(x, y) + d(y, z) (Dreiecksungleichung).
Wichtige Beispiele sind der euklidische Raum (Rn , d) mit der euklidischen
Metrik d(x, y) := kx − yk oder auch Funktionenräume wie (C([0, 1], R), d),
die Menge der stetigen Abbildungen [0, 1] → R versehen mit der Metrik
d(f, g) := max |f (t) − g(t)| .
t∈[0,1]
Ist (X, d) ein metrischer Raum, so trägt jede Teilmenge A ⊂ X eine (durch
Einschränkung von d gegebene) induzierte Metrik.
In metrischen Räumen kann das Konzept einer stetigen Funktion bekanntlich mittels des − δ-Kriteriums definiert werden:
Definition 1.2. Es seien (X, dX ), (Y, dY ) metrische Räume. Eine Abbildung f : X → Y heißt stetig, falls für jedes x ∈ X und jedes > 0 ein (in
der Regel von x abhängiges) δ > 0 existiert mit
dX (x, x0 ) < δ ⇒ dY (f (x0 ), f (x)) < .
In der Analysis beweist man viele nützliche Sätze für auf Teilmengen von
R definierte stetige reellwertige Funktionen. Als Beispiel verweisen wir auf
den Zwischenwertsatz oder die Tatsache, dass jede auf einem beschränkten
abgeschlossenen Intervall I ⊂ R definierte stetige Funktion I → R ihr Maximum und Minimum annimmt. Wir werden unter anderem diese Tatsachen
im abstrakteren topologischen Rahmen wiederfinden.
Ist (X, d) ein metrischer Raum und x ∈ X, so definieren wir für alle > 0
die offene Kugel um x mit Radius B (x) := {p ∈ X | d(p, x) < } .
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Definition 1.3. Eine Teilmenge U ⊂ X eines metrischen Raumes heißt
offen, falls für alle x ∈ U ein > 0 existiert mit
B (x) ⊂ U .
Folgende Aussage zeigt man leicht mit der Dreiecksungleichung.
Lemma 1.4. Ist (X, d) ein metrischer Raum, x ∈ X und > 0, so ist
die offene Kugel B (x) ⊂ X eine offene Teilmenge des metrischen Raumes
(X, d) im Sinne obiger Definition.
Man beweist nun
Proposition 1.5. Eine Abbildung f : X → Y zwischen metrischen Räumen
ist genau dann stetig, falls für alle offenen Teilmengen U ⊂ Y das Urbild
f −1 (U ) ⊂ X
offen ist.
Beweis. Sei f stetig und U ⊂ Y eine offene Teilmenge. Es sei x ∈ f −1 (U ). Da
U offen ist, existiert ein > 0 mit B (f (x)) ⊂ U . Wegen der Stetigkeit von f
existiert ein δ > 0, so dass f (Bδ (x)) ⊂ B (f (x)). Somit gilt Bδ (x) ⊂ f −1 (U ).
Da x ∈ f −1 (U ) beliebig war, folgt daraus, dass f −1 (U ) offen ist.
Sei nun umgekehrt für alle offenen Teilmengen U ⊂ Y das Urbild f −1 (U )
offen. Es seien x ∈ X und > 0 beliebig. Der Ball B (f (x)) ⊂ Y ist
eine offene Teilmenge im Sinne von Definition 1.3 (nach Lemma 1.4). Daher
ist nach Voraussetzung f −1 (B (f (x))) ⊂ X offen und wir finden also ein
δ > 0 mit Bδ (x) ⊂ f −1 (B (f (x))). Dies ist gleichbedeutend mit f (Bδ (x)) ⊂
B (f (x)). Damit ist die Stetigkeit von f gezeigt.
Proposition 1.5 legt es nahe, den Begriff der Stetigkeit abstrakter zu fassen
und alleine auf den Begriff der offenen Teilmengen abzustellen.
Definition 1.6. Ein topologischer Raum ist ein Paar (X, T ) bestehend aus
einer Menge X und einer Menge T ⊂ P(X) von Teilmengen von X mit den
folgenden Eigenschaften.
• ∅ ∈ T ,X ∈ T ,
• U, V ∈ T ⇒
S U ∩V ∈T,
• S ⊂ T ⇒ U ∈S U ∈ T .
Die Elemente von T werden offene Teilmengen von X genannt. Eine Teilmenge A ⊂ X heißt abgeschlossen, falls X \ A offen ist.
Das zweite obige Axiom besagt, dass der Schnitt endlich vieler offener
Teilmengen wieder offen ist und das dritte Axiom, dass die Vereinigung
beliebig vieler offener Teilmengen wieder offen ist.
Der Begriff des topologischen Raumes ist gerade deshalb so nützlich, weil
er in ganz verschiedenen mathematischen Kontexten auftritt und daher
Sätze, die wir für topologische Räume beweisen, in der Regel eine breite
Anwendung finden.
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Man kann auf einer gegebenen Menge X zahlreiche Topologien angeben die meisten davon sind eher künstlich und unnütz. Zwei extreme Spezialfälle
sind die der diskreten Topologie, bei der jede Teilmenge von X als offen
erklärt wird und die Klumpentopologie mit T = {∅, X}.
Man kann leicht zeigen dass die Menge der offenen Teilmengen in einem
metrischen Raum (X, d) eine Topologie im obigen Sinne bildet. Wir nennen
diese die von der Metrik induzierte Topologie.
Definition 1.7. Es sei (X, T ) ein topologischer Raum und A ⊂ X eine
Teilmenge. Die Menge der Schnitte U ∩ A ⊂ A, wobei U ⊂ X offen ist,
bildet eine Topologie auf A, die Unterraumtopologie, oder von T induzierte
Topologie.
Eine Teilmenge V ⊂ A ist also genau dann offen (abgeschlossen) bezüglich
der Unterraumtopologie, falls es eine offene (abgeschlossene) Menge U ⊂ X
gibt mit U ∩ A = V . Falls X ein metrischer Raum ist und A ⊂ X, so
stimmt die Unterraumtopologie auf A mit der Topologie überein, die von A
als metrischem Raum (mit der Metrik von X) induziert ist.
9.4.14
Man kann fragen, ob auf einem gegebenen topologischen Raum (X, T )
eine Metrik existiert, so dass die von der Metrik induzierte Topologie mit T
übereinstimmt. Falls dies der Fall ist, so nennen wir den topologischen Raum
(X, T ) metrisierbar. Allerdings ist nicht jeder topologische Raum ist metrisierbar - wir werden in Kürze ein notwendiges Kriterium für Metrisierbarkeit
kennenlernen.
Definition 1.8. Ein topologischer Raum X heißt Hausdorffsch, falls für alle
x, y ∈ X mit x 6= y offene Teilmengen U und V von X existieren, so dass
x ∈ U , y ∈ V und U ∩ V = ∅.
Falls X mehr als einen Punkt enthält, so ist die Klumpentopologie nicht
Hausdorffsch. Damit ist diese auch nicht metrisierbar, denn es gilt
Proposition 1.9. Jeder metrisierbare topologische Raum ist Hausdorffsch.
Beweis. Sind x, y ∈ X zwei verschiedene Punkte, so setze d := d(x, y). Die
offenen Kugeln um x und y mit Radius d/2 sind nach der Dreiecksungleichung disjunkt.
Später in der Vorlesung werden wir auch hinreichende Bedingungen für
die Metrisierbarkeit eines topologischen Raumes kennenlernen.
Wir können nun den Stetigkeitsbegriff von metrischen Räumen auf allgemeine topologische Räume verallgemeinern.
Definition 1.10. Es seien X und Y topologische Räume. Eine Abbildung
f : X → Y heißt stetig falls für jede offene Menge U ⊂ Y das Urbild
f −1 (U ) ⊂ X
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wieder offen ist. Eine bijektive stetige Abbildung f : X → Y mit stetiger Inverser f −1 : Y → X heißt Homöomorphismus. Sind X und Y homöomorph,
so schreiben wir auch X ≈ Y .
Ist X ein topologischer Raum, A ⊂ X eine Teilmenge und f : X → Y stetig, so ist die Einschränkung f |A : A → X ebenfalls stetig. Die Komposition
stetiger Abbildungen ist stetig.
Es ist leicht, Beispiele für stetige, bijektive Abbildungen anzugeben, die
keine Homöomorphismen sind: Ist X eine zweielementige Menge, T1 die diskrete Topologie und T2 die Klumpentopologie auf X, so ist die Identität
(X, T1 ) → (X, T2 ) stetig und bijektiv, aber kein Homöomorphismus. Die
Homömorphismen spielen in der Topologie die gleiche Rolle wie die linearen
Isomorphismen in der linearen Algebra, die biholomorphen Abbildungen in
der Funktionentheorie, die Gruppenisomorphismen in der Gruppentheorie,
die Isometrien in der Riemannschen Geomtrie, etc. Eines der Grundprobleme
der Topologie lässt sich wie folgt formulieren: Es seien topologische Räume
X und Y gegeben. Entwickle Methoden, die es erlauben zu entscheiden, ob
X und Y homöomorph sind oder nicht.
Insbesondere die algebraische Topologie entwickelt effektive Hilfsmittel,
diese Frage zu entscheiden. Ein prominentes Resultat in diese Richtung lautet:
Satz 1.11. Für n 6= m sind die topologischen Räume Rn und Rm (mit
der von den von den jeweiligen Metriken induzierten Topologien) nicht
homöomorph.
In dieser Vorlesung werden wir diesen Satz für n = 2 zeigen.
Im Zusammenhang mit topologischen Räumen müssen wir noch einige
Vokabeln einführen.
Sind T und T 0 Topologien auf einem Raum X und gilt T ⊂ T 0 , d.h. jede
bzgl. T offene Teilmenge ist auch offen bzgl. T 0 , so nennen wir T gröber als
T und T 0 feiner als T . Damit ist die Klumpentopologie die gröbste und die
diskrete Topologie die feinste Topologie auf X.
Definition 1.12. Es sei (X, T ) ein topologischer Raum. Eine Menge B ⊂ T
von offenen Teilmengen von X heißt Basis der Topologie, falls jede offene
Menge U ∈ T Vereinigung von Mengen aus B ist.
Wir nennen B ⊂ T eine Subbbasis der Topologie, falls jede offene Menge
U ∈ T Vereinigung von Mengen ist, von denen jede Schnitt endlich vieler
Mengen aus B ist.
Sind X und Y topologische Räume, f : X → Y eine Abbildung und B eine
Subbasis der Topologie auf Y , so ist f genau dann stetig, falls f −1 (U ) ⊂ X
offen ist für alle U ∈ B.
In jedem metrischen Raum bilden die offenen Kugeln eine Basis der von
der Metrik induzierten Topologie. Wir können uns im Rn sogar auf die Kugeln mit rationalen Mittelpunkten und rationalen Radien beschränken. Damit hat die Standardtopologie auf Rn sogar eine abzählbare Basis.
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Ist X eine Menge (zunächst ohne Topologie), so ist nicht jede Menge
B ⊂ P(X) Basis einer Topologie auf X (denn B muss nicht abgeschlossen
unter endlichen Schnitten sein). Jedoch ist B auf jeden Fall Subbasis einer
Topologie T von X, die wir die von B erzeugte Topologie nennen wollen.
Die Elemente von T sind genau die Teilmengen von X, die sich als Vereinigung von Mengen schreiben lassen, von denen jede endlicher Schnitt von in
B enthaltenen Teilmengen von X ist. Man überlegt sich leicht, dass die Gesamtheit all der so gebildeten Teilmengen von X tatsächlich eine Topologie
auf X bildet und dass es keine gröbere Topologie T gibt mit B ⊂ T .
Sind X und Y topologische Räume, so ist die Produktopologie auf X × Y
die Topologie, die von allen Streifen“ U × Y und X × V erzeugt wird, wobei
”
U offen in X und V offen in Y ist. Die Rechtecke“ U × V ⊂ X × Y bilden
”
eine Basis der Produkttopologie, da der Schnitt endlich vieler Rechtecke
wieder ein Rechteck ist.
Direkt aus der Konstruktion folgt:
Proposition 1.13. Die Produkttopologie auf X × Y hat die folgenden Eigenschaften:
• Die Projektionen πX : X × Y → X und πY : X × Y → Y sind stetig.
• Ist T eine echt gröbere Topologie auf X × Y als die Produkttopologie,
so sind die Projektionen X × Y → X und X × Y → Y nicht beide
stetig.
Mit anderen Worten: Die Produkttopologie ist die gröbste Topologie auf X ×
Y so dass beide Projektionen auf die Faktoren stetig sind.
Gewissermaßen dual zur Produkttopologie ist die sogenannte Summentopologie: Es seien (X, T ) und (Y, T 0 ) topologische Räume und X ∩ Y = ∅.
Dann wird die Summentopologie auf der disjunkten Vereinigung X ∪ Y von
T ∪ T 0 erzeugt (diese Vereinigung bildet sogar eine Basis der Summentopologie). Sie ist die feinste Topologie auf X ∪ Y , so dass die beiden Inklusionen
iX : X ,→ X ∪ Y und iY : Y ,→ X ∪ Y stetig sind.
Wir notieren die folgenden wichtigen Eigenschaften der Produkt- und
Summentopologie.
Proposition 1.14. Es seien X, Y , Z topologische Räume.
• Falls X ∩ Y = ∅, so ist eine Abbildung X ∪ Y → Z stetig genau
iX
iY
dann, falls die beiden Kompositionen X ,→ X ∪ Y → Z und Y ,→
X ∪ Y → Z stetig sind.
• Eine Abbildung Z → X × Y ist stetig genau dann, falls die beiden
πX
πY
Kompositionen Z → X × Y →
X und Z → X × Y →
Y stetig sind.
Beweis. Wir beweisen nur die zweite Aussage und überlassen den Beweis
der ersten als Übung. Falls f : Z → X × Y stetig ist, so auch πX ◦ f und
πY ◦ f , da die Komposition stetiger Abbildungen stetig ist.
Es seien umgekehrt πX ◦ f und πY ◦ f stetig. Wir müssen zeigen, dass für
alle offenen Mengen W ⊂ X × Y das Urbild f −1 (W ) offen in Z ist. Da die
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Urbildoperation das Bilden von Vereinigungs- und Schnittmengen erhält,
genügt es den Fall zu betrachten, dass W ein Element einer Subbasis der
Produkttopologie auf X×Y ist, dass also W = U ×Y oder W = X×V , wobei
U ⊂ X, bzw. V ⊂ Y offen sind. Im ersten Fall ist f −1 (W ) = (πX ◦ f )−1 (U ),
im zweiten Fall haben wir f −1 (W ) = (πY ◦ f )−1 (V ). Beide Urbilder sind
offen in Z, da nach Voraussetzung f ◦ πX und f ◦ πY stetig sind.
14.4.14
Es sei nun X ein topologischer Raum und A ⊂ X eine beliebige Teilmenge.
Wir definieren das Innere
int(A) ⊂ A
als die Vereinigung aller in A enhaltenen offenen Mengen (da ∅ immer offen
ist, gibt es mindestens eine solche Teilmenge). Nach Definition ist int(A) ⊂ A
offen und jede andere (in X) offene Teilmenge, die in A enthalten ist, ist
auch in int(A) enthalten. Damit ist int(A) die größte in A enthaltene in X
offene Teilmenge. Entsprechende definieren wir den Abschluss
A⊃A
als den Durchschnitt aller abgeschlossenen Teilmengen von X, die A enthalten. Man beachte dabei, dass der Schnitt beliebig vieler abgeschlossener
Mengen eines topologischen Raumen wieder abgeschlossen ist. A ist nach
Konstruktion die kleinste abgeschlossene Teilmenge von X die A enthält.
Offensichtlich ist
A = X \ (int(X \ A)) .
Definition 1.15. Es sei X ein topologischer Raum, x ∈ X und V ⊂ X
eine Teilmenge. Wir nennen V eine Umgebung von x, falls es eine offene
Teilmenge U ⊂ X gibt mit x ∈ U und U ⊂ V . (Die Umgebung V braucht
selbst keine offene Menge zu sein).
Proposition 1.16. Ein Punkt x ∈ X liegt genau dann in A, falls jede
Umgebung von x einen Punkt aus A enthält.
Weiterhin setzen wir
∂A := A \ int(A) .
Dies ist der Rand von A. Aus der vorherigen Proposition folgt
Proposition 1.17. Ein Punkt x ∈ X liegt genau dann in ∂A, falls jede
Umgebung von x sowohl Punkte von A als auch Punkte von X \ A enthält.
2. Zusammenhang und Wegzusammenhang
Anschaulich gesprochen ist ein topologischer Raum zusammenhängend,
wenn er nicht in zwei oder mehr voneinander unabhängige“ Teile zerfällt.
”
Es gibt zwei grundlegende mathematische Präzisierungen dieser Vorstellung,
die wir in diesem Kapitel besprechen werden.
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Definition 2.1. Ein topologischer Raum X heißt wegweise zusammenhängend, falls es für je zwei Punkte x, y eine stetige Abbilung
γ : [0, 1] → X
gibt, die x mit y verbindet, d.h. γ(0) = x, γ(1) = y.
Die euklidischen Räume Rn (mit der Standardtopologie) sind wegzusammenhängend. Auch der topologische Raum ({p, q}, {∅, {p}, {p, q}}) ist wegzusammenhängend (!). Die Vereinigung (−∞, 0) ∪ (0, ∞) ⊂ R (mit der Teilraumtopologie) ist nicht wegzusammenhängend (wir werden weiter unten
sehen, warum).
Die Bedingung x, y lassen sich durch einen Weg in X verbinden“ defi”
niert eine Äquivalenzrelation auf X. Die Äquivalenzklassen nennt man Wegzusammenhangskomponenten. Das folgende Resultat ist offensichtlich:
Proposition 2.2. Ist f : X → Y eine stetige Abbildung und ist X wegzusammenhängend, so ist auch f (X) (mit der von Y induzierten Topologie)
wegzusammenhängend.
Etwas abstrakter ist der folgende Zusammenhangsbegriff:
Definition 2.3. Ein topologischer Raum X heißt zusammenhängend, falls
X nicht disjunkte Vereinigung zweier nichtleerer offener Teilmengen ist.
Die Teilmengen Q ⊂ R oder (−∞, 0) ∪ (0, ∞) ⊂ R sind nicht zusammenhängend.
Folgende Bedingungen sind äquivalent zum Zusammenhang von X:
• Die einzigen zugleich offenen und abgeschlossenen Teilmengen von
X sind nur die leere Menge und X selber.
• Ist f : X → {0, 1} eine stetige Abbildung von X in den diskreten
Raum mit zwei Elementen, dann ist f konstant.
Aus der zweiten Bedingung folgert man leicht:
Proposition 2.4.
• Ist X → Y stetig und X zusammenhängend, so
ist auch f (X) zusammenhängend.
• Sind A, B zusammenhängender Teilmengen eines topologischen
Raumes X und gilt A ∩ B 6= ∅, so ist A ∪ B zusammenhängend.
Wir erhalten damit (Transitivität folgt aus dem zweiten Teil der vorherigen Proposition)
Korollar 2.5. Die Bedingung x, y liegen beide in einem zusammenhängen”
dem Unterraum von X“ definiert eine Äquivalenzrelation auf X.
Die Äquivalenzklassen zu dieser Äquivalenzrelation nennt man die Komponenten von X. Man sieht leicht, dass X genau dann zusammenhängend ist,
wenn X nur eine einzige Komponente (nämlich die Teilmenge X ⊂ X) hat:
Die Implikation von links nach rechts ist klar. Sei umgekehrt X die einzige
Komponente von X. Wir betrachten eine stetige Abbildung f : X → {0, 1}
(der rechte Raum sei mit der diskreten Topologie versehen). Sind p, q ∈ X, so
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gibt es eine zusammenhängende Teilmenge A ⊂ X mit p, q ∈ A (denn nach
Voraussetzung sind p, q bezüglich der Zusammenhangsrelation äquivalent).
Die Abbildung f |A : A → {0, 1} ist also konstant und somit f (p) = f (q).
Also ist f insgesamt konstant.
Beispiel. Die Komponenten des Unterraumes Q ⊂ R (wie immer mit der
Teilraumtopologie) sind genau die einpunktigen Mengen {p}, p ∈ Q. Trotzdem ist Q kein diskreter topologischer Raum!
Wir sehen, dass es in der Regel einfach ist zu zeigen, dass ein Raum
wegzusammenhängend, bzw. nicht zusammenhängend ist. Das folgende fundamentale Resultat liefert in vielen Fällen die anderen Implikationen.
Proposition 2.6. Die Menge [0, 1] ⊂ R (mit der Teilraumtopologie) ist
zusammenhängend.
Beweis. Angenommen, es gibt disjunkte nichtleere offene Mengen U, V ⊂
[0, 1] mit [0, 1] = U ∪V . Ohne Einschränkung gilt 1 ∈ V . Wegen der Offenheit
von V gibt es ein > 0 mit (1 − , 1] ⊂ V . Wir setzen
m := sup U .
Nach dem vorher Gesagten ist m < 1. Gälte m ∈ U , so gäbe es wegen
der Offenheit von U und wegen m < 1 ein δ > 0 mit [m, m + δ) ⊂ U
im Widerspruch zur Definition von m. Daher muss m ∈ V gelten. Es folgt
m > 0, denn ansonsten wäre U = ∅. Also gibt es ein δ > 0 mit (m−δ, m] ⊂ V ,
im Widerspruch zur Definition von m .
Es folgt
Korollar 2.7. Jeder wegzusammenhängende Raum ist zusammenhängend.
Beweis. Sei X wegzusammenhängend aber nicht zusammenhängend. Es sei
X = U ∪ V mit disjunkten, offenen, nichtleeren Teilmengen U, V ⊂ X.
Wir wählen x ∈ U und y ∈ V und verbinden diese Punkte durch einen
Weg γ : [0, 1] → X. Dann ist γ −1 (U ) ∪ γ −1 (V ) eine Zerlegung von [0, 1] in
zwei disjunkte, nichtleere, offene Teilmengen. Dies ist unmöglich, da [0, 1]
zusammenhängt.
Insbesondere ist der Unterraum (−∞, 0) ∪ (0, ∞) ⊂ R also nicht wegzusammenhängend. Weiterhin folgt, dass jede Wegzusammenhangskomponente eines Raumes in einer Zusammenhangskomponenten enthalten ist. Die
Umkehrung des letzten Korollars gilt nicht: Man kann zusammenhängende
Räume konstruieren, die nicht wegzusammenhängend sind, siehe Aufgabe 3
auf Übungsblatt 2.
Als Folgerung unserer Betrachtungen erhalten wir den bekannten Zwischenwertsatz:
Proposition 2.8. Es sei f : [0, 1] → R eine stetige Abbildung. Gilt f (0) < 0
und f (1) > 0, so existiert ein t ∈ [0, 1] mit f (t) = 0.
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Beweis. Ansonsten hätten wir im (f ) ⊂ U ∪ V , wobei U := (−∞, 0), V :=
(0, ∞), und im (f ) ∩ U 6= ∅ und im (f ) ∩ (V ) 6= ∅, d.h.
im f = (U ∩ im f ) ∪ (V ∩ im f )
wäre eine Zerlegung von im f in zwei disjunkte nichtleere offene Teilmengen. Dies widerspricht der Tatsache, dass im f (nach Proposition 2.4) zusammenhängend ist.
16.4.14
3. Konvergenz
Ein zentraler Begriff in der Theorie metrischer Räume ist der der konvergenten Folge. Die entsprechende Definition für allgemeine topologische
Räume lautet wie folgt.
Definition 3.1. Es sei X ein topologischer Raum, (xn )n∈N eine Folge in
X und x ∈ X. Man sagt, die Folge (xn ) konvergiert gegen x, falls für jede
Umgebung U ⊂ X von x ein N ∈ N existiert mit
xn ∈ U
für alle n ≥ N . (Wir sagen auch, für jede Umgebung U von x liegt die Folge
(xn ) schließlich in U ). Man schreibt dann
x = lim xn
n∈N
und sagt, x ist Grenzwert von (xn ).
Für metrische Räume ergibt sich der alte Konvergenzbegriff. Im allgemenen können Folgen durchaus mehrere Grenzwerte haben: Es sei X eine
beliebige Menge versehen mit der Klumpentopologie. Dann konvergiert jede
Folge (xn ) in X gegen jeden Punkt in X.
Falls aber X die Hausdorffeigenschaft hat, so hat jede Folge in X
höchstens einen Grenzwert. Man kann dazu im wesentlichen das Argument
aus Analysis 1 benutzen.
Definition 3.2. Es seien X und Y topologische Räume, f : X → Y eine
Abbildung und x ∈ X. Wir sagen f ist stetig in x, falls für jede Umgebung
V ⊂ Y das Urbild f −1 (V ) ⊂ X eine Umgebung von x ist.
Es ist nicht schwer zu zeigen, dass f genau dann stetig ist, falls f stetig
in jedem Punkt x ∈ X ist.
Definition 3.3. Es sei f : X → Y eine Abbildung und x ∈ X. Wir sagen
f ist folgenstetig in x, falls für jede Folge (xn ) in X mit lim xn = x die
Bildfolge (f (xn )) in Y gegen f (x) konvergiert.
Proposition 3.4. Ist f stetig in x, so auch folgenstetig in x.
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Beweis. Sei (xn ) eine Folge in X mit lim xn = x. Ist nun V ⊂ Y eine
Umgebung von f (x), so ist f −1 (V ) ⊂ X eine Umgebung von x, und somit
liegt (xn ) schließlich in f −1 (V ). Dies ist gleichbedeutend damit, dass die
Folge (f (xn )) schließlich in V liegt. Da V beliebig war, folgt lim f (xn ) =
f (x).
Die Umkehrung dieser Aussage gilt leider nicht in allen topologischen
Räumen, siehe Aufgabe 4 auf Blatt 3. Das Problem besteht grob gesprochen
darin, dass es in der Regel zu viele“ Umgebungen von x ∈ X gibt.
”
Definition 3.5. Es sei X ein topologischer Raum und x ∈ X. Eine Umgebungsbasis von x ist eine Menge B ⊂ P(X) bestehend aus Umgebungen
von x mit der folgenden Eigenschaft: Jede Umgebung von x enthält eine der
speziellen Umgebungen in B.
Der Raum X erfüllt das erste Abzählbarkeitsaxiom, falls jeder Punkt x ∈
X eine abzählbare Umgebungsbasis besitzt.
Jeder metrische (und somit jeder normierte) Raum X erfüllt das erste
Abzählbarkeitsaxiom: Ist x ∈ X, so bilden die Mengen B1/n (x) ⊂ X, n ∈ N,
eine abzählbare Umgebungsbasis von x.
Proposition 3.6. Es sei X ein topologischer Raum und x ∈ X ein Punkt
mit abzählbarer Umgebungsbasis. Dann ist jede in x folgenstetige Abbildung
f : X → Y auch stetig in x.
Beweis. Angenommen f sei nicht stetig in x. Dann existiert eine Umgebung
V ⊂ Y von f (x), so dass U := f −1 (V ) keine Umgebung von x ist. Es sei
(Un ) eine abzählbarer Umgebungsbasis von x. Ohne Einschränkung gelte
Un+1 ⊂ Un für alle n (sonst ersetze man induktiv Un+1 durch Un+1 ∩ Un ).
Da U keine Umgebung von x ist, gibt es Punkte xn ∈ Un \ U für alle n. Nach
Konstruktion gilt lim xn = x in X aber f (xn ) konvergiert nicht gegen f (x),
da f (xn ) ∈
/ V für alle n. Dies steht im Widerspruch zur Folgenstetigkeit von
f.
Das Problem in allgemeinen topologischen Räumen ist, dass Folgen alleine
oft zu dünn“ sind. Man löst das Problem dadurch, dass man für Folgen
”
allgemeinere Indexmengen (als N) zulässt.
Definition 3.7. Eine gerichtete Menge ist eine Menge D zusammen mit
einer partiellen Ordnung ≤, so dass es für α, β ∈ D immer ein γ ∈ D gibt
mit γ ≥ α und γ ≥ β. Ist X ein topologischer Raum, so ist ein Netz in X
eine Abbildung φ : D → X, wobei D eine gerichtete Menge ist.
Wir bezeichnen Netze in X oft mit (xα )α∈D (d.h. wir setzen xα := φ(α)).
Diese Schreibweise ist stark an diejenige für Folgen angelehnt. Wenn wir mit
der gerichteten Menge D = N arbeiten, so sind über D indizierte Netze in
X nichts anderes als Folgen in X.
Definition 3.8. Es sei X ein topologischer Raum, x ∈ X und (xα )α∈D ein
Netz in X. Man sagt, das Netz (xα ) konvergiert gegen x, falls es für jede
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Umgebung U ⊂ X von x ein β ∈ D gibt mit xα ∈ U für alle α ≥ β. In
diesem Fall schreiben wir auch limα∈D xα = x.
Wenn wir statt Folgen Netze benutzen, können wir nun tatsächlich die
Äquivalenz von Stetigkeit und Folgenstetigkeit“ in jedem topologischen
”
Raum zeigen.
Definition 3.9. Eine Abbildung f : X → Y heißt netzstetig in x ∈ X, falls
für jedes Netz (xα ) in X mit lim xα = x das Bildnetz (f (xα )) gegen f (x)
konvergiert.
Proposition 3.10. Es sei f : X → Y eine Abbildung zwischen topologischen
Räumen X und Y . Die Abbildung f ist genau dann stetig in x ∈ X, wenn
sie netzstetig in x ist.
Beweis. Falls f stetig in x ist, so folgt leicht aus den Definitionen, dass f
auch netzstetig in x ist: Es sei (xα ) ein Netz in X, das gegen x konvergiert.
Ist V ⊂ Y eine Umgebung von f (x), so ist nach Annahme f −1 (V ) ⊂ X eine
Umgebung von x. Also liegt (xα ) schließlich in f −1 (V ). Wenden wir f auf
beide Seiten an, folgt, dass (f (xα )) schließlich in V liegt. Also konvergiert
(f (xα ) gegen f (x).
Sei nun umgekehrt f : X → Y nicht stetig in x. Es gibt dann eine Umgebung V ⊂ Y von f (x), so dass U := f −1 (V ) ⊂ X keine Umgebung von x ist.
Wir definieren nun eine gerichtete Menge D als die Menge aller Umgebungen
W ⊂ X von x mit der durch die Inklusion gegebenen partiellen Ordnung,
d.h. W1 ≤ W2 , falls W2 ⊂ W1 (man sieht leicht, dass diese Ordnung gerichtet ist: Sind W1 , W2 ∈ D, dann ist W1 ∩ W2 ebenfalls eine Umgebung von
x, also ein Element von D, und es gilt W1 ∩ W2 ≥ W1 , W2 . Für beliebiges
W ∈ D gibt es einen Punkt xW ∈ W \ U , denn U ist keine Umgebung von x.
Wir behaupten, dass das Netz (xW )W ∈D in X gegen x konvergiert. Sei dazu
U ⊂ X eine beliebige Umgebung von x. Nach Konstruktion gilt dann für
alle W ∈ D mit W ≥ U , dass xW ∈ U . Also ist das Netz (xW ) schließlich in
U . Andererseits konvergiert (f (xW ))W inD in Y nicht gegen f (x), denn nach
Konstruktion gilt f (xW ) ∈
/ V ür alle W ∈ D. Also ist f nicht netzstetig in
x.
Wir haben außerdem
Proposition 3.11. Ist A ⊂ X Teilmenge eines topologischen Raumes, so
besteht A genau aus den Limiten von Netzen in A, die in X konvergieren.
Beweis. Ist x ∈ A, so schneidet jede Umgebung U von x die Menge A.
Definieren wir D als die gerichtete Menge der Umgebungen von x, so können
wir also leicht (ähnlich wie oben) ein durch D parametrisiertes Netz in A
definieren, das gegen x konvergiert. Ist umgekehrt x Limes eines Netzes
(xα )α∈D in X, so liegt dieses Netz schließlich in jeder Umgebung von x,
damit muss jede Umgebung von x die Menge A nichtleer schneiden, und es
folgt x ∈ A wie gewünscht.
12
BERNHARD HANKE
Wir erinnern: Ist (xn ) eine Folge in einem metrischen Raum X, so nennen
wir x ∈ X einen Häufungspunkt dieser Folge, falls jede Umgebung von x
unendlich viele Folgenglieder enthält. Wir definieren entsprechend:
Definition 3.12. Ein Häufungspunkt eines Netzes (xα ) in X ist ein Punkt
x ∈ X, so dass für jede Umgebung U ⊂ X von x das Netz häufig in U ist,
d.h. für alle β ∈ D existiert ein α ≥ β mit xα ∈ U .
Ist x ∈ X Häufungspunkt einer Folge (xn ) in einem metrischen Raum, so
konvergiert eine Teilfolge gegen x. Eine ähnliche Aussage gilt für Netze. Die
korrekte Verallgemeinerung des Konzeptes der Teilfolge lautet wie folgt.
Definition 3.13. Sind D und E gerichtete Mengen, so nennen wir eine
Abbildung h : E → D final, falls für alle δ ∈ D ein η ∈ E existiert mit
h(γ) ≥ δ für alle γ ≥ η.
Ein Unternetz eines Netzes φ : D → X ist eine Komposition φ ◦ h : E →
X, wobei h : E → D eine finale Funktion ist. Wir schreiben auch (xh(γ) )γ∈E .
Konvergiert ein Netz in X, so offensichtlich auch jedes Unternetz.
23.4.14
Folgende Aussage, deren Beweis ein wenig verwickelt ist, formuliert den
Zusammenhang von Unternetzen und Häufungspunkten von Netzen.
Proposition 3.14. Es sei (xα )α∈D ein Netz in X. Ein Punkt x ∈ X ist
genau dann Häufungspunkt dieses Netzes, falls ein Unternetz gegen x konvergiert.
Beweis. Es sei (xh(γ) )γ∈E ein Unternetz, das gegen x konvergiert. Sei U ⊂ X
eine Umgebung von x und β ∈ D. Da das Unternetz konvergiert, existiert ein
∈ E mit xh(γ) ∈ U für alle γ ≥ . Wir müssen zeigen, dass wir zusätzlich
h(γ) ≥ β erreichen können, denn dann folgt (β war ja beliebig), dass x
Häufungspunkt ist. Wegen der Kofinalität von h gibt es jedenfalls ein η ∈ E
mit h(γ) ≥ β für alle γ ≥ η. Nun benutzen wir, dass E gerichtet ist und
finden ein ξ ∈ E mit ξ ≥ η und ξ ≥ . Dann gilt h(ξ) ≥ β und xh(ξ) ∈ U ,
wie gewünscht.
Es sei nun umgekehrt x ∈ X Häufungspunkt von (xα ). Wir konstruieren
ein Unternetz, das gegen x konvergiert und betrachten dazu die gerichtete
Menge
E := {(α, U ) | α ∈ D, U Umgebung von x , xα ∈ U }
mit der partiellen Ordnung
(α, U ) ≤ (α0 , U 0 ) :⇔ α ≤ α0 , U 0 ⊂ U .
Wir zeigen, dass E wirklich gerichtet ist. Seien dazu (α, U ), (β, V ) ∈ E. Da
(xγ )γ∈D häufig in U ∩ V ist (U ∩ V ist ja ebenfalls eine Umgebung von
x), gibt es (weil D gerichtet ist) ein γ ≥ α, β mit xγ ∈ U ∩ V . Somit ist
(U ∩ V, γ) ∈ E und (γ, U ∩ V ) ≥ (α, U ), (β, V ) wie gewünscht. Betrachte
nun die Abbildung
h : E → D , (α, U ) 7→ α .
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
13
Diese Abbildung ist final, denn ist δ ∈ D, so ist (δ, X) ∈ E und außerdem
impliziert (α, U ) ≥ (δ, X) die Aussage h(α, U ) = α ≥ δ.
Wir behaupten, dass das Unternetz (xh(γ) )γ∈E gegen x konvergiert. Es sei
dazu W ⊂ X eine Umgebung von x. Da (xα ) häufig in W ist, gibt es ein
β ∈ D mit xβ ∈ W . Dann sind aber für alle (α, U ) ≥ (β, W ) die Elemente
x(α,U ) in W , d.h. (xh(γ) )γ∈E ist schließlich in W .
4. Vollständige metrische Räume
Definition 4.1. Eine Folge (xn )n∈N in einem metrischen Raum (X, d) heißt
Cauchy-Folge, falls es für jedes > 0 ein N ∈ N gibt mit
d(xn , xm ) < für alle n, m ≥ N . Der metrische Raum (X, d) heißt vollständig, falls jede
Cauchy-Folge in X konvergiert.
Jede in einem metrischen Raum konvergente Folge ist automatisch eine
Cauchyfolge. Sind (X1 , d1 ) und (X2 , d2 ) vollständige metrische Räume, so
ist auch X1 × X2 mit der Produktmetrik d vollständig, wobei
p
d((x1 , x2 ), (y1 , y2 )) := d1 (x1 , y1 )2 + d2 (x2 , y2 )2
(die Metrik d induziert übrigens die Produkttopologie auf X1 × X2 ).
Da die Menge der reellen Zahlen mit der gewöhnlichen Abstandsmetrik
vollständig ist, gilt dies somit auch für die euklidischen Räume Rn , n ∈ N.
Vollständigkeit ist allerdings keine Homöomorphieinvariante: Das offene Intervall (0, 1) ⊂ R ist mit der induzierten Metrik nicht vollständig, jedoch
homöomorph zu R mit der gewöhnlichen Metrik.
Ist X ein vollständiger metrischer Raum und A ⊂ X ein abgeschlossener
Unterraum, so ist A mit der induzierten Metrik ebenfalls vollständig.
Ist allgemeiner A ⊂ X ein beliebiger Unterraum, so ist A ⊂ X der kleinste
vollständige Unterraum von X, der A enthält, denn A besteht genau aus
den Limiten von Folgen, die in A liegen und in X konvergieren: Dass solche
Limiten in A liegen, ist klar. Umgekehrt beachte man, dass jeder Punkt
x ∈ A eine abzählbare Umgebungsbasis besitzt, da X ein metrischer Raum
ist. Da jedes in dieser Umgebungsbasis enthaltene Umgebung die Menge A
schneidet (vgl. Proposition 1.16), konstruiert man leicht eine Folge in A, die
gegen x konvergiert.
Vollständige metrische Räume sind zentrale Objekte in der Analysis. Wir
werden in diesem Abschnitt zeigen, dass jeder metrische Raum eine kanonische Vervollständigung besitzt.
Der Schlüssel hierzu ist die Vollständigkeit der reellen Zahlen und die
Betrachtung sogenannter Funktionenräume.
Definition 4.2. Es sei X eine Menge. Wir bezeichnen mit
B(X) := {f : X → R | sup |f (x)| < ∞}
x∈X
14
BERNHARD HANKE
die Menge der beschränkten Abbildungen X → R versehen mit der Metrik
d(f, g) := sup |f (x) − g(x)| .
x∈X
Man prüft leicht nach, dass es sich tatsächlich um eine Metrik auf B(X)
handelt.
Proposition 4.3. Der soeben definierte metrische Raum (B(X), d) ist
vollständig.
Beweis. Es sei (fn ) eine Cauchy-Folge in B(X). Dann sind für alle x ∈ X die
Folgen (fn (x)) Cauchy-Folgen in R (nach Definition der Metrik auf B(X))
und konvergieren daher in R gegen eine (eindeutig bestimmte) Zahl, die wir
f (x) nennen wollen. Es sei nun > 0 und N ∈ N so groß, dass d(fn , fm ) < ,
falls n, m ≥ N . Man prüft leicht nach, dass dann d(fn , f ) ≤ für alle n ≥ N .
Es gilt daher lim fn = f im metrischen Raum B(X).
Definition 4.4. Sind (X, d) und (X 0 , d0 ) metrische Räume, so heißt eine
Abbildung f : X → X 0 eine Isometrie, falls f bijektiv ist und
d0 (f (x), f (y)) = d(x, y)
für alle x, y ∈ X. In diesem Fall ist auch f −1 eine Isometrie und f ist (bzgl.
der induzierten Topologien) ein Homöomorphismus.
Eine Abbildung f : X → X 0 heißt isometrische Einbettung, falls f nicht
unbedingt bijektiv ist, jedoch obige Verträglichkeit bezüglich der Metriken d
und d0 erfüllt. In diesem Fall ist die induzierte Abbildung f : X → f (X)
automatisch eine Isometrie (wobei f (X) die Einschränkung der Metrik von
X 0 trägt).
Es sei (X, d) ein metrischer Raum. Eine Vervollständigung von X ist
ein vollständiger metrischer Raum Y zusammen mit einer isometrischen
Einbettung f : X → Y , so dass f (X) dicht in Y liegt, d.h. f (X) = Y .
Wir zeigen nun, dass jeder metrische Raum mindestens eine Vervollständigung besitzt. Dazu zeigen wir:
Proposition 4.5. Es sei X ein metrischer Raum. Dann existiert eine isometrische Einbettung von X in einen vollständigen metrischen Raum.
Beweis. Ohne Einschränkung sei X 6= ∅. Es sei x0 ∈ X fest gewählt. Für
a ∈ X definieren wir eine Abbildung φa : X → R durch
φa (x) = d(x, a) − d(x, x0 ) .
Die Abbildung φa ist beschränkt, denn
|φa (x)| ≤ d(x0 , a)
wegen der Dreiecksungleichungen d(x, a) ≤ d(x, x0 )+d(x0 , a) und d(x, x0 ) ≤
d(x, a) + d(a, x0 ). Wir erhalten also eine Abbildung
φ : X → B(X) , a 7→ φa .
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
15
Wir behaupten, dass φ eine isometrische Einbettung ist. Es seien also a, b ∈
X. Nach Definition gilt dann
d(φa , φb ) = sup |d(x, a) − d(x, b)| .
x∈X
Wieder nach der Dreiecksungleichung ist |d(x, a) − d(x, b)| ≤ d(a, b), so dass
insgesamt
d(φa , φb ) ≤ d(a, b) .
In dieser Ungleichung kann nicht < stehen, denn
sup |d(x, a) − d(x, b)| ≥ |d(b, a) − d(b, b)| = d(a, b) .
x∈X
Somit ist φ tatsächlich eine isometrische Einbettung.
28.4.14
Wir erhalten somit
Satz 4.6. Ist X ein metrischer Raum, so existiert eine Vervollständigung
X ,→ Y .
Beweis. Wir betrachten die isometrische Einbettung φ : X → B(X) und
setzen
Y := φ(X) ⊂ B(X)
Wir zeigen nun noch die Eindeutigkeit der Vervollständigung eines metrischen Raumes.
Proposition 4.7. Es sei X ein metrischer Raum und es seien
f1 : X → Y1 , f2 : X → Y2
Vervollständigungen von X. Dann existiert genau eine Isometrie
φ21 : Y1 → Y2
f2 ◦ f1−1 .
mit φ21 |f1 (X) =
Grob gesprochen: Die Vervollständigung eines metrischen Raumes ist bis auf Isometrie eindeutig bestimmt.
Beweis. Die Abbildung
f1 (X) → Y2 , x 7→ f2 ◦ f1−1 (x)
ist nach Voraussetzung eine isometrische Einbettung. Wir setzen diese Abbildung wie folgt zu einer Abbildung
φ21 : Y1 = f1 (X) → Y2
fort: Ist x ∈ Y1 , so gibt es eine Folge (xn ) in f1 (X) mit lim xn = x. Da f2 ◦f1−1
eine isometrische Einbettung ist, ist (f2 ◦ f1−1 (xn )) eine Cauchy-Folge in Y2 .
Wir setzen
φ21 (x) := lim f2 ◦ f1−1 (xn ) ∈ Y2 .
16
BERNHARD HANKE
Ist (x0n ) eine andere Folge in f1 (X) mit lim x0n = y, so ist
lim d(xn , x0n ) = 0 ,
weil f2 ◦ f1−1 eine isometrische Einbettung ist, haben wir also
lim f2 ◦ f1−1 (xn ) = lim f2 ◦ f1−1 (x0n )
und die Definition von φ21 hängt somit nicht von der Auswahl der Folge
(xn ) ab. Man überprüft nun leicht, dass φ21 eine isometrische Einbettung
ist. Ebenso setzt man die Abbildung
f2 (X) → Y1 , x 7→ f1 ◦ f2−1 (x)
zu einer isometrischen Einbettung φ12 : Y2 → Y1 fort und zeigt, dass φ12
und φ21 invers zueindander sind.
In den Übungen wird ein anderes Modell der Vervollständigung eines metrischen Raumes vorgestellt, das auf der Betrachtung von Äquivalenzklassen
von Cauchy-Folgen beruht.
Wichtige Räume in der Analysis entstehen durch Vervollständigung: Ist
U ⊂ Rn eine offene Menge, so definiert man den Banach-Raum Lp (U ),
1 ≤ p < ∞, bestehend aus Äquivalenzklassen von messbaren Funktionen f : U → R, so dass |f |p Lebesgue-integrierbar ist, wobei zwei solche
Funktionen als äquivalent gelten, wenn sie bis auf eine Nullmenge in U
übereinstimmen. Man betrachtet in der Analysis außerdem Cc∞ (U ), d.h. die
Menge der unendlich oft differenzierbaren Funktionen U → R mit kompaktem Träger, versehen mit der Metrik
Z
dp (f, g) := ( |f (x) − g(x)|p )1/p .
U
und zeigt, dass die kanonische Inklusion
Cc∞ (U ) ,→ Lp (U )
eine Vervollständigung im Sinne von Definition 4.4 ist.
Aus Proposition 4.7 folgt, dass Lp (U ) kanonisch isometrisch zu der
in Theorem 4.6 konstruierten Vervollständigung des metrischen Raumes
(Cc∞ (U ), dp ) ist.
Auf Übungsblatt 4 werden wir eine alternative Konstruktion der Vervollständigung eines metrischen Raumes kennenlernen, die auf der Betrachtung von Cauchyfolgen beruht.
5. Kompaktheit
Definition 5.1. Es sei X ein topologischer Raum. Eine offene Überdeckung
von X ist eine Familie (Ui )i∈I offener Teilmengen von X, mit
[
Ui = X .
i∈I
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
17
Der Raum X heißt kompakt, falls jede offene Überdeckung von X eine endliche Teilüberdeckung besitzt, also
[
Ui = X .
i∈I0
für eine endliche Teilmenge I0 ⊂ I.
Folgende Umformulierung dieser Definition ist manchmal nützlich: Wir
sagen, eine Familie C von Teilmengen von X habe die endliche Schnitteigenschaft, falls der Schnitt je endlich vieler Mengen aus C nichtleer ist. Wir
haben dann:
Proposition 5.2. Ein Raum X ist genau dann kompakt, falls jede Familie
(Ci )i∈I von abgeschlossenen Teilmengen von X, die T
die endliche Schnitteigenschaft besitzt, einen nichtleeren Schnitt hat, d.h. i∈I Ci 6= ∅.
Man zeigt leicht, dass die Menge Q ∩ [0, 1] nicht kompakt ist. Ist X ein
kompakter Raum und Y homöomorph zu X, so ist Y ebenfalls kompakt.
Proposition 5.3. Jede kompakte Teilmenge eines Hausdorffraumes ist abgeschlossen.
Beweis. Es sei X Hausdorffsch und A ⊂ X kompakt. Wähle ein beliebiges
x ∈ X \ A. Ist a ∈ A, so gibt es (in X) offene disjunkte Umgebungen Ua von
a und Va von x. Da A kompakt ist und A = ∪a∈A (Ua ∩ A), gibt es endlich
viele Punkte a1 , . . . , ak ∈ A mit A ⊂ Ua1 ∪ . . . ∪ Uak . Dann liegt die offene
Umgebung Va1 ∩ . . . ∩ Vak von x ganz in X \ A. Dieses Argument zeigt, dass
X \ A offen und somit A abgeschlossen ist.
Proposition 5.4. Ist X kompakt und f : X → Y stetig, so ist auch f (X) ⊂
Y kompakt.
Beweis. Ist (Ui )i∈I eine offene Überdeckung von f (X), so ist (f −1 (Ui ))i∈I
eine offene Überdeckung von X. Da diese eine endliche Teilüberdeckung
besitzt, gilt dies also auch für (Ui ).
Proposition 5.5. Jeder abgeschlossene Teilraum eines kompakten Raumes
ist kompakt.
Beweis. Sei X kompakt und A ⊂ X abgeschlossen. Ist (Ui )i∈I eine offene
Überdeckung von A, so gibt es eine Familie (Vi )i∈I offener Teilmengen von
X mit
Ui = V i ∩ A
für alle i ∈ I (nach Definition der Teilraumtopologie). Da X kompakt ist, hat
nun die offene Überdeckung (Vi )i∈I ∪ {X \ A} von X eine endliche Teilüberdeckung. Schneiden wir die in ihr enthaltenen Mengen mit A, erhalten wir
eine endliche Teilüberdeckung von (Ui )i∈I .
Die letzten drei Tatsachen haben folgende wichtige Konsequenz:
18
BERNHARD HANKE
Proposition 5.6. Es sei f : X → Y eine bijektive stetige Abbildung von
einem kompakten Raum in einen Hausdorffraum. Dann ist f ein Homöomorphismus.
Beweis. Wir müssen zeigen, dass f −1 stetig ist. Da f bijektiv ist, können
wir gleichbedeutend nachweisen, dass f abgeschlossen ist, d.h. ist A ⊂ X
abgeschlossen, so auch f (A) ⊂ Y . Ist aber A ⊂ X abgeschlossen, so ist A
kompakt, somit auch f (A) ⊂ Y und damit ist f (A) als kompakter Teilraum
des Hausdorffraumes Y abgeschlossen.
30.4.14
Proposition 5.7. Das Einheitsintervall [0, 1] ⊂ R ist kompakt.
Beweis. Es sei (Ui )i∈I eine offene Überdeckung von [0, 1] und
S := {s ∈ [0, 1] | [0, s] besitzt eine endliche Teilüberdeckung von (Ui )} .
Da 0 ∈ S, gilt S 6= ∅. Es sei b = sup S. Wir behaupten S = [0, b]. Ansonsten
wäre nämlich S = [0, b). Wir finden dann ein Ui mit b ∈ Ui und damit gibt
es ein > 0 mit (b − , b] ⊂ Ui . Da [0, b − /2] von endlich vielen Elementen
aus (Ui ) überdeckt wird, gilt dies somit auch für [0, b] im Widerspruch zu
S = [0, b). Um die Proposition zu zeigen, müssen wir also nur noch b = 1
nachweisen. Gilt aber b < 1, so zeigt man mit einem ähnlichen Argument
wie eben, dass es ein > 0 gibt mit [0, b + /2] ⊂ S im Widerspruch zur
Definition von S.
Es folgt, dass jedes abgeschlossene Intervall [a, b] ⊂ R kompakt ist (denn
es ist homöomorph zu [0, 1]). Umgekehrt muss jede kompakte Teilmenge
K ⊂ R beschränkt sein, sonst hätte die offene Überdeckung
[
K⊂
(−n, n)
n∈N
keine endliche Teilüberdeckung.
Durch Kombination der bisherigen Resultate zeigen wir:
Proposition 5.8 (Heine-Borel). Eine Teilmenge von R ist genau dann kompakt, wenn sie beschränkt und abgeschlossen ist.
Beweis. Falls K ⊂ R kompakt ist, dann ist K beschränkt (wie gerade gezeigt
wurde) und abgeschlossen nach Proposition 5.3.
Ist umgekehrt K ⊂ R beschränkt und abgeschlossen, dann gibt es a, b ∈ R
mit K ⊂ [a, b]. Dann ist aber K abgeschlossene Teilmenge des kompakten
Raumes [a, b] und somit nach Proposition 5.5 selbst kompakt.
Wir wollen dieses Resultat auf die Räume Rn ausdehnen. Dazu zeigen
wir:
Proposition 5.9. Es seien X und Y kompakt. Dann ist auch das topologische Produkt X × Y kompakt.
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
19
Beweis. Es sei (Wi )i∈I eine offene Überdeckung von X × Y . Jede Menge
Wi ist Vereinigung von offenen Kästchen U × V mit U ⊂ X, V ⊂ Y offen.
Es genügt daher zu zeigen, dass jede Überdeckung (Ui × Vi )i∈I von X × Y
durch solche offenen Kästchen eine Teilüberdeckung besitzt (I ist jetzt eine
neue Indexmenge). Ist x ∈ X, so wird {x} × Y durch endlich viele dieser
Kästchen überdeckt:
{x} × Y ⊂ (U1 × V1 ) ∪ . . . ∪ (Uk × Vk )
überdeckt, da Y kompakt ist. Dann ist der Schnitt Ux := U1 ∩ . . . ∩ Uk ⊂ X
offen und wir haben
Ux × Y ⊂ (U1 × V1 ) ∪ . . . ∪ (Uk × Vk ) .
Man wähle eine endliche Teilüberdeckung der offenen Überdeckung (Ux )x∈X
von X und erhält daraus insgesamt eine endliche Teilüberdeckung von X ×Y
durch offene Kästchen.
Natürlich verallgemeinert sich diese Aussage leicht auf das topologische
Produkt endlich vieler kompakter Räume. Schwieriger ist das folgende Resultat zu beweisen:
Satz 5.10 (Tychonoff). Es sei (X
Qi )i∈I eine Familie kompakter Räume.
Dann ist das topologische Produkt i∈I Xi ebenfalls kompakt.
Den Beweis dieser wichtigen Aussagen geben wir später in diesem Abschnitt.
Den folgenden Satz zeigt man analog zu Proposition 5.8.
Satz 5.11 (Heine-Borel). Eine Teilmenge A ⊂ Rn ist genau dann kompakt,
wenn sie beschränkt und abgeschlossen ist.
In den Übungen wird ein allgemeines Kriterium angegeben, wann ein
metrischer Raum kompakt ist (Vollständigkeit und totale Beschränktheit).
Definition 5.12. Ein topologischer Raum X heißt folgenkompakt, wenn
jede Folge (xn )n∈N in X eine konvergente Teilfolge hat.
Proposition 5.13. Es sei X ein metrischer Raum. Dann ist X genau dann
kompakt, wenn X folgenkompakt ist.
Beweis. Sei zunchst X kompakt und (xn )n∈N eine Folge in X. Angenommen
X sei nicht folgenkompakt. Sei x ∈ X ein beliebiger Punkt. Nach Annahme
ist x kein Häufungspunkt von (xn ). Daraus folgt, dass es ein k ∈ N gibt, so
dass der offene Ball B1/k (x) mit Mittelpunkt x und Radius 1/k nur endliche
viele Folgenglieder enthält. Ansonsten könnte man induktiv eine Teilfolge
(xnk )k∈N konstruieren, die gegen x konvergiert.
Wir finden auf diese Weise für jeden Punkt x ∈ X eine offene Umgebung
Ux von x, die nur endlich viele Folgenglieder enthält.
S
Da X kompakt ist, hat die offene Überdeckung x∈X Ux von X eine endliche Teilüberdeckung. Also liegen insgesamt nur endlich viele Folgenglieder
in X, was absurd ist.
20
BERNHARD HANKE
Sei nun umgekehrt X folgenkompakt. In diesem Fall ist X erstens
vollständig. Sei dazu (xn )n∈N eine Cauchy-Folge in X. Diese besitzt nach
Annahme eine konvergente Teilfolge (xnk )k∈N mit Grenzwert x ∈ X. Da
(xn ) eine Cauchyfolge ist, gilt dann auch limn xn = x. Zweitens ist X total
beschränkt, das heißt, für jedes > 0 wird X durch endlich viele offene Bälle
vom Radius überdeckt. Ist dies nämlich für ein > 0 nicht der Fall, so
konstruiert man induktiv eine Folge (xn )n∈N , so dass für alle n ≥ 1 das Folgenglied xn+1 von allen Folgegliedern x1 , . . . , xn einen Abstand größer als hat. Diese Folge (xn ) hat dann keine konvergente Teilfolge, im Widerspruch
zur Annahme.
Nach Übung 4 auf Blatt 3 ist somit X als vollständiger und total beschränkter metrischer Raum kompakt.
Bei allgemeinen topologischen Räumen ist Folgenkompaktheit weder notwendig noch hinreichend für Kompaktheit. Beispiele dazu finden sich auf
Übungsblatt 4.
Arbeiten wir mit Netzen, ist die Welt aber wieder in Ordnung.
Proposition 5.14. Es sei X ein topologischer Raum. Dann sind äquivalent:
• X ist kompakt.
• X ist netzkompakt, d.h. jedes (nichtleere) Netz (xα )α∈D in X hat
ein konvergentes Unternetz (vgl. Definition 3.13).
Beweis. Wir beweisen zunächst, dass jeder netzkompakte Raum auch kompakt ist. Die andere Richtung folgt etwas später aus der Diskussion universeller Netze.
Es sei also X netzkompakt und (Ci )i∈I eine Familie abgeschlossener Teilmengen von X mit der endlichen Schnitteigenschaft (d.h. der Schnitt je
endlich vieler Mengen in (Ci ) ist nichtleer). Wir können annehmen, dass
(Ci ) abgeschlossen unter endlichen Schnitten ist (indem wir die Schnitte je
endlich vieler Mengen zu (Ci ) hinzunehmen). Wir erhalten eine gerichtete
Ordnung auf I durch
i ≥ j :⇔ Ci ⊂ Cj .
(Diese Ordnung ist gerichtet, weil (Ci ) abgeschlossen unter endlichen Schnitten ist). Wir definieren ein Netz (xi )i∈I indem wir für jedes i ∈ I ein Element
xi ∈ Ci auswählen. Nach Voraussetzung existiert ein konvergentes Unternetz
von (xi ), gegeben durch eine gerichtete Menge E und eine finale Abbildung
h : E → I. Es sei x ∈ X ein Grenzwert des Unternetzes (xh(γ) )γ∈E .
Sei nun i ∈ I. Dann gibt es ein α ∈ E so dass xh(γ) ∈ Ci für alle γ ≥ α nach
der Definition von finaler Abbildung und der Konstruktion des Netzes (xi ).
Damit ist x ∈ Ci , denn die abgeschlossene Menge Ci enthält alle Limiten
von in X konvergenten Netzen, die in Ci liegen, vgl. Proposition
T 3.11.
In diesem Argument war aber i ∈ I beliebig. Also ist x ∈ i∈I Ci und
dieser Schnitt somit nicht leer. Daraus folgt die Kompaktheit von X.
Der Rest dieses Abschnittes ist dem Beweis der folgenden Verallgemeinerung von Proposition 5.9 gewidmet.
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
21
Satz 5.15 (Tychonoff). Es sei (X
Qi )i∈I eine Familie kompakter Räume.
Dann ist das topologische Produkt i∈I Xi ebenfalls kompakt.
Der Beweis beruht auf der Betrachtung sogenannter universeller Netze.
Zunächst ein paar Sprechweisen: Es sei X ein topologischer Raum, (xα )α∈D
ein Netz in X und A ⊂ X eine Teilmenge.
• Man sagt, (xα ) ist schließlich in A, falls es ein β ∈ D gibt mit xα ∈ A
für alle α ≥ β.
• Man sagt, (xα ) ist häufig in A, falls es für alle β ∈ D ein α ∈ D gibt
mit α ≥ β und xα ∈ A, vergleiche Definition 3.12.
Es ist nicht schwer zu sehen, dass jedes Netz entweder häufig in A oder
häufig in X \ A ist.
Definition 5.16. Ein Netz (xα )α∈D heißt universell, falls für jede Teilmenge
A ⊂ X, das Netz entweder schließlich in A oder schließlich in X \ A ist.
Der folgende Satz ist der technische Kern des Beweises des Satzes von
Tychonoff.
Proposition 5.17. Jedes nichtleere Netz (xα )α∈D in X besitzt ein universelles Unternetz.
Bevor wir diese Proposition zeigen, erinnern wir an das Zornsche Lemma:
Es sei P eine nichtleere partiell geordnete Menge, in der jede Kette C ⊂ P
eine obere Schranke in P hat, d.h. ist C eine beliebige Teilmenge von P , die
mit der induzierten Ordnung total geordnet ist, so existiert ein p ∈ P mit
p ≥ c für alle c ∈ C.
Dann besitzt P ein maximales Element, d.h. es gibt ein m ∈ P , so dass
für alle p ∈ P die Implikation p ≥ m ⇒ p = m gilt.
5. 5.14
Beweis von Proposition 5.17. Es sei (xα )α∈D ein Netz mit D 6= ∅. Wir
betrachten die Menge P aller Mengen A ⊂ P(X) von Teilmengen von X,
die die folgenden Eigenschaften haben:
i. Falls A ∈ A, dann ist (xα ) häufig in A,
ii. A ist abgeschlossen unter endlichen Schnitten, d.h. falls A, B ∈ A,
dann ist A ∩ B ∈ A.
Wir können zum Beispiel A = {X} nehmen. Die Menge P ist durch die
Inklusionsrelation partiell geordnet und jede Kette C ⊂ P von solchen
S Mengen besitzt eine obere Schranke, gegeben durch die Vereinigung A∈C A.
Nach dem Zornschen Lemma gibt es eine maximale Menge A0 in P mit den
beiden obigen Eigenschaften. Offensichtlich gilt X ∈ A0 (sonst könnten wir
diese Menge einfach zu A0 hinzunehmen, im Widerspruch zur Maximalität
von A0 ). Wir betrachten nun die Menge
E := {(A, α) ∈ A0 × D | xα ∈ A}
zusammen mit der gerichteten Ordnung
(A, α) ≤ (B, β) ⇔ B ⊂ A , α ≤ β .
22
BERNHARD HANKE
Die Zuordnung
h : E → D , (A, α) 7→ α
ist final (da für alle α ∈ D das Paar (X, α) in E liegt). Wir beweisen, dass
das Unternetz (xh(γ) )γ∈E universell ist.
Es sei S ⊂ X eine Teilmenge, so dass dieses Unternetz häufig in S ist.
Nach Definition bedeutet dies, dass für alle (A, α) ∈ E ein (B, β) ≥ (A, α)
existiert mit xβ = xh(B,β) ∈ S. Da B ⊂ A haben wir also
xβ ∈ B ∩ S ⊂ A ∩ S .
Es sei nun zusätzlich A ∈ A0 . Wir behaupten, dass (xα )α∈D häufig in A ∩ S
ist. Sei also δ ∈ D. Dann gibt es ein α ≥ δ mit xα ∈ A, da (xα ) häufig in A
ist. Wir erhalten (A, α) ∈ E und nach der vorherigen Bemerkung existiert
ein β ≥ α mit xβ ∈ A ∩ S wie gewünscht.
Wir folgern daraus, dass S ∈ A0 : Ansonsten könnten wir alle Mengen
der Form S ∩ A mit A ∈ A0 zu A0 hinzunehmen (d.h. es wird insbesondere
S = S ∩ X hinzugenommen!), und so das Mengensytem A0 zu einem Mengensystem vergößern, dass immer noch die Eigenschaften i. und ii. von oben
hat. Dann wäre aber A0 nicht maximal in P .
Falls nun das Unternetz (xh(γ) )γ∈E ebenfalls häufig in X \ S ist, so hätten
wir mit dem gleichen Argument X \ S ∈ A0 also auch
∅ = S ∩ (X \ S) ∈ A0 .
Wegen D 6= ∅ ist das Netz (xα )α∈D aber sicher nicht häufig in ∅ und aus
diesem Widerspruch folgt, dass (xh(γ) )γ∈E nicht häufig in S und gleichzeitig
häufig in X \ S sein kann. Hieraus folgt die interessante Eigenschaft:
Ist (xh(γ) )γ∈E häufig in S ⊂ X, so auch schließlich in S.
Ist nun A ⊂ X, so ist (xh(γ) )γ∈E wie jedes Netz in X häufig in A oder häufig
in X \ A. Nach dem vorher Gesagten ist dieses Netz daher schließlich in A
oder schließlich in X \ A und das zeigt unsere Behauptung.
Wir können nun die obige Charakterisierung von kompakten Räumen zu
Ende führen.
Satz 5.18. Es sei X ein topologischer Raum. Dann sind äquivalent:
a) X ist kompakt.
b) Jedes nichtleere universelle Netz in X konvergiert in X.
c) Jedes nichtleere Netz in X hat ein konvergentes Unternetz.
Beweis. Es sei X kompakt und es sei (xα )α∈D ein universelles Netz. Angenommen, dieses ist nicht konvergent. Ist x ∈ X, so gibt es dann eine offene
Umgebung Ux von x, so dass (xα ) nicht schließlich in Ux ist. Wegen der
Universalität ist dann (xα ) schließlich in X \ Ux , d.h. es gibt einen Index
αx ∈ D, so dass xβ ∈
/ Ux , falls β ≥ αx . Es sei Ux1 , . . . , Uxk eine endliche
Teilüberdeckung von X Wir wählen ein β ≥ αx1 , . . . , αxk (so ein β existiert,
da D gerichtet ist) und schließen, dass xβ ∈
/ Ux1 ∪ . . . ∪ Uxk = X. Dies ist ein
Widerspruch, da D 6= ∅. Die Implikation von a) nach b) ist somit gezeigt.
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
23
Die Implikation von b) nach c) folgt daraus, dass jedes Netz ein universelles Unternetz hat.
Die verbleibende Implikation c) nach a) wurde bereits weiter oben im
Beweis von Proposition 5.14 gezeigt.
Wir kommen nun zum Beweis des Satzes von Tychonoff. Direkt aus der
Definition der Produkttopologie
Q folgt: Ist (Xi )i∈I eine Familie topologischer
Räume und (xα ) ein Netz in Xi (wobei jedes xα = (xiα )i∈i mit xiα ∈ Xi ),
so sind die folgenden Aussagen äquivalent.
• Das Netz konvergiert gegen (xi )i∈I (mit xi ∈ Xi ).
• Für alle i0 ∈ I gilt: Es sei (xiα0 )α∈D das Netz bestehend aus den
i0 -ten Komponenten von xα . Dann konvergiert (xiα0 ) gegen xi0 .
Mit anderen Worten: Die Produkttopologie ist die Topologie der punktwei”
sen Konvergenz“.
Beweis. (des Satzes von Tychonoff) Ist eine Familie (Xi )i∈I von kompakten
Räumen gegeben, so müssen wir nach
Q Proposition 5.18 zeigen, dass jedes
nichtleere universelle Netz (xα ) in i Xi konvergiert. Ist (xα ) so ein universelles Netz und ist i0 ∈ I, dann ist aber auch das Netz (xiα0 ) bestehend
aus den i0 -ten Komponenten von xα universell (dies ist nicht schwer zu zeigen). Da Xi0 kompakt ist, hat dieses Netz somit einen Grenzwert xi0 . Nach
der vorigen Bemerkung konvergiert dann (xα )α∈D gegen (xi )i∈I . Das war zu
zeigen.
Der Beweis des Satzes von Tychonoff wird in der Literatur manchmal mit
soganannten Ultrafiltern geführt. Das Konzept der (Ultra-)Filter ist äquivalent zum Konzept der (universellen) Netze, dem wir in unserer Vorlesung
den Vorzug geben.
Wichtig ist noch folgende Bemerkung: Eine Folge ist genau dann ein universelles Netz, wenn sie schließlich konstant ist. Jede Folge hat aber ein
universelles Unternetz. Dies zeigt, dass Unternetze von Folgen etwas anderes sind als Teilfolgen. Ist E → D eine finale Abbildung gerichteter Mengen,
kann ja trotzdem E viel komplizierter“ sein als D.
”
7. 5.14
6. Anwendung/Ausblick: Normierte Räume und der Satz von
Banach-Alaoglu
Der Satz von Tychonoff spielt eine wichtige Rolle bei dem Beweis des
Satzes von Banach-Alaoglu aus der Funktionalanalysis. Sei (V, k · k) ein normierter Vektorraum über R. Insbesondere ist V dann ein metrischer und
somit auch ein topologischer Raum. Sei
B := {v ∈ V | kvk ≤ 1}
die abgeschlossene Einheitskugel. Wir wollen zuerst zeigen, dass B genau
dann kompakt ist, wenn dim(V ) < ∞. Wir brauchen drei Lemmata:
24
BERNHARD HANKE
Lemma 6.1. Alle Normen auf Rn sind äquivalent, d.h.: Seien | · |1 und | · |2
zwei Normen auf Rn . Dann existieren Zahlen λ, Λ ∈ R>0 mit
λ|v|1 ≤ |v|2 ≤ Λ|v|1
für alle v ∈ Rn . Insbesondere sind die von diesen Normen erzeugten Topologien gleich, und Mengen, die bezüglich der einen Norm beschränkt sind,
sind auch bezüglich der anderen Norm beschränkt.
Beweis. Sei (e1 , . . . , en ) die Standardbasis des Rn und
v=
n
X
vi e i ∈ Rn .
i=1
Zunächst nehmen wir an, dass | · |1 die 1-Norm auf Rn ist, dass also
|v|1 = kvkl1 =
n
X
|vi |.
i=1
Wir setzen
Λ := max |ei |2
i=1,...,n
und rechnen:
n
n
n
X
X
X
|v|2 = vi e i ≤
|vi ||ei |2 ≤ Λ
|vi | = Λkvkl1 .
i=1
i=1
2
i=1
Es folgt, dass
id : (Rn , k · kl1 ) → (Rn , | · |2 )
stetig ist. Es ist nicht schwer zu überprüfen, dass k · kl1 äquivalent zur euklidischen Norm ist, so dass
S := {v ∈ Rn | kvkl1 = 1}
kompakt ist. Daher hat die stetige Abbildung
|·|2
id
S ,→ (Rn , | · |2 ) −→ R≥0
ein Minimum λ ≥ 0. Wäre λ = 0, würde ein v ∈ S mit |v|2 = 0 existieren,
was nicht möglich ist, weil dann v = 0 gelten muss. Folglich ist λ > 0 und
v v ≥ kvkl1 λ
|v|2 = kvkl1
= kvkl1 |v| 1 kvk 1 l
2
l
2
denn v/kvk1 ∈ S. Wir haben somit bewiesen, dass jede Norm auf Rn
äquivalent zu k · k1 ist. Daraus folgt die Aussage des Lemmas.
Lemma 6.2 (Lemma von Riesz). Sei (V, k · k) ein normierter reeller Vektorraum und C ⊂ V ein echter Untervektorraum, der abgeschlossen bzgl. k·k
ist. Sei 0 < δ < 1. Dann existiert ein v ∈ V \ C mit kvk = 1 und
d(v, C) := inf kv − ck > 1 − δ.
c∈C
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
25
Beweis. Wähle x ∈ V \ C. Da C abgeschlossen ist, ist
d := d(x, C) > 0,
sonst wäre x ∈ C = C. Damit gibt es ein c ∈ C mit
d
,
kx − ck <
1−δ
denn d/(1 − δ) > d. Setze
x−c
v :=
∈V \C
kx − ck
so dass kvk = 1. Dann ist
x−c
d(v, C) = inf − p
p∈C kx − ck
x−c
q
−
=
inf
kx − ck q:=kx−ck·p∈C kx − ck
1
=
inf kx − rk
kx − ck r:=c+q∈C
1−δ
>
d
d
= 1−δ.
Lemma 6.3. Sei (V, k · k) ein normierter Vektorraum und C ⊂ V ein
endlich-dimensionaler Untervektorraum. Dann ist C abgeschlossen bzgl. k·k.
Beweis. Gäbe v ∈ C \ C, würde C in C ⊕ Rv nicht abgeschlossen sein, was
nicht möglich ist, weil Untervektorräume von endlich-dimensionalen Vektorräume abgeschlossen sind.
Beispiel. Die Aussage des Lemmas ist nicht mehr richtig, wenn C ⊂ V ein
unendlichdimensionaler Untervektorraum ist. Sei dazu
V := (C 0 ([0, 1]), k · k)
der reelle Vektorraum der stetigen Abbildungen [0, 1] → R mit der Maximumsnorm. Eine Folge (fn )n∈N ist bezüglich dieser Norm konvergent, wenn
sie gleichmäßig konvergent ist.
Wir definieren C := C 1 ([0, 1]) als den Untervektorraum der stetig differenzierbaren Abbildungen [0, 1] → R. Dann ist C ⊂ V nicht abgeschlossen,
denn der Limes einer gleichmäßig konvergenten Folge stetig differenzierbarer
Funktionen [0, 1] → R braucht nicht mehr stetig differenzierbar zu sein.
Proposition 6.4. Sei (V, k · k) ein normierter Vektorraum über R. Die
abgeschlossene Einheitskugel B ist genau dann kompakt, wenn dim(V ) < ∞.
26
BERNHARD HANKE
Beweis. ⇐ : B ist kompakt in Rn bzgl. der euklidischen Norm. Wegen Lemma 6.1 (und mit Heine-Borel) ist B kompakt in Rn bzgl. einer beliebigen
Norm. Daraus folgt die Behauptung für beliebiges endlichdimensionales V .
⇒ : Wir nehmen an, dass dim(V ) = ∞. Sei Ci ⊂ V eine unendliche
Familie von Untervektoräume mit Ci ⊂ Ci+1 und dim(Ci ) = i. Mit der Hilfe
von Lemma 6.2 und Lemma 6.3 finden wir eine Folge (cn ) ⊂ V , so dass:
(1) cn ∈ Cn \ Cn−1 ,
(2) kcn k = 1,
(3) d(cn , Cn−1 ) > 1/2.
Dann hat (cn ) ⊂ B keine Teilfolge, die Cauchy ist, also keine konvergente
Teilfolge. Also: B ist nicht folgenkompakt, damit nicht kompakt (weil B ein
metrischer Raum ist, sind kompakt und folgenkompakt äquivalent.)
Der Satz von Banach-Alaoglu sagt, dass es eine nützliche Topologie auf V ∗
gibt, so dass B ⊂ (V ∗ , k·kV ∗ ) kompakt ist. Wir brauchen einige Definitionen.
Definition 6.5. Sei (V, k · k) ein normierter Vektorraum über R. Der Vektorraum der beschränkte Funktionale ist der normierte Vektorraum
V ∗ := {f : V → R| f linear und ∃λ > 0 mit |f (v)| < λkvk für alle v ∈ V }
versehen mit der Norm
kf k := sup |f (v)|
kvk≤1
∗
Der Vektorraum V enthält genau die linearen Abbildungen V → R, die
bezüglich der Norm k.k stetig sind. Die letzte Bedigung wird in der linearen
Algebra normalerweise nicht gefordert, spielt aber in der Funktionalanalysis
eine wichtige Rolle.
Beispiel. Es sei V := (C 0 ([0, 1]), k · k) der Vektorraum der stetigen Abbildungen [0, 1] → R versehen mit der Maximumsnorm. Dann definiert
Z 1
f (t)dt ∈ R
f 7→
0
ein Element aus V ∗ .
Nach dem Satz von Hahn-Banach aus der Funktionalanalysis, den wir hier
ohne Beweis akzeptieren, gilt dim(V ∗ ) = ∞, falls dim(V ) = ∞. Insbesondere
ist die abgeschlossene Einheitskugel B ⊂ (V ∗ , k · k) in diesem Fall nicht
kompakt, was unangenehm ist. Damit B ⊂ V ∗ kompakt wird, betrachten
wir eine andere Topologie auf V ∗ .
Definition 6.6. Die schwach-∗-Toplogie auf V ∗ ist die gröbste Topologie,
so dass alle
ϕv : V ∗ → R
f 7→ f (v) ,
stetig sind.
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
27
Die schwach-∗-Topologie ist die Topologie der punktweisen Konvergenz
auf V ∗ : Ein Netz (fα )α∈D ist genau dann konvergent, wenn alle (fα (v))α∈D
in R konvergieren.
Wir erhalten eine injektive Abbildung
Y
V ∗ ,→
R
v∈V
f 7→ (f (v))v∈V
und es folgt aus der Definition der Produkttopologie (vgl. Übung 2 auf Blatt
2), dass die schwach-∗-Topologie mit der Einschränkung der Produkttopologie übereinstimmt. Wir benutzen diese letzte Beschreibung der schwach∗-Toplogie, um den Satz von Banach-Alaoglu zu beweisen:
Satz 6.7 (Banach-Alaoglu). B ⊂ (V ∗ , k · k) ist kompakt bezüglich der
schwach-∗-Topologie.
Beweis. Es ist klar, dass
B⊂
Y
[−kvk, kvk]v =: Y,
v∈V
wobei Y kompakt nach Tychonoff ist. Es genügt daher zu zeigen, dass B
abgeschlossen in Y ist. Sei
(fα )α∈D ⊂ B ⊂ Y
ein Netz mit
lim fα = f.
α
Wir wollen zeigen, dass f ∈ B. Wir müssen deshalb überprüfen, dass f
linear ist und dass |f (v)| ≤ 1 für alle v ∈ V mit kvk ≤ 1. Seien v, w ∈ V
und λ ∈ R. Dann gilt
f (λv + w) = lim fα (λv + w)
α
= lim(λfα (v) + fα (w))
α
= λ lim fα (v) + lim fα (w)
α
α
= λf (v) + f (w) ,
wobei die dritte Gleichung die Stetigkeit von Produkt und Summe (als Abbildungen R × R → R) benutzt. Es folgt, dass f linear ist. Schließlich:
|f (v)| = | lim fα (v)|
α
= lim |fα (v)|
α
≤ lim 1
α
= 1,
wobei die zweite Gleichung die Stetigkeit des Absolutbetrags benutzt.
28
BERNHARD HANKE
12. 5.14
7. Existenz reeller Funktionen, Metrisierbarkeit
Eine fundamentale Frage betrifft die Existenz nichtkonstanter, stetiger
reellwertiger Funktionen auf einem gegebenen topologischen Raum.
Definition 7.1. Ein topologischer Raum X heißt normal, falls folgendes
gilt: Seien A, B ⊂ X disjunkte abgeschlossene Mengen. Dann gibt es offene
Teilmengen UA , UB ⊂ X mit A ⊂ UA , B ⊂ UB und UA ∩ UB = ∅.
Es ist nicht schwer zu zeigen, dass metrische Räume normal sind. Ebenso
sind kompakte Hausdorffräume normal (siehe Übungsblatt). Jeder normale
Raum, in dem die einzelnen Punkte abgeschlossene Teilmengen bilden, ist
Hausdorff.
Erstaunlicherweise gibt es normale Räume, so dass nicht alle Unterräume
(mit der Teilraumtopologie) normal sind, vgl. [Munkres: Topology, Example
1 auf Seite 203].
Lemma 7.2 (Lemma von Urysohn). Es sei X ein normaler topologischer
Raum und F, G ⊂ U ⊂ X disjunkte abgeschlossene Teilmengen. Dann gibt
es eine stetige Funktion f : X → [0, 1], die auf F konstant gleich 0 und auf
G konstant gleich 1 ist.
Beweis. Wir setzen U := X \ G. Dies ist eine offene Teilmenge von X mit
F ⊂ U.
In einem ersten Schritt konstruieren wir für jede dyadische Zahl r = 2mn ,
0 ≤ m ≤ 2n eine offene Teilmenge Ur ⊂ X, wobei
r < s ⇒ Ur ⊂ Us
und F ⊂ U0 , U1 := U . Die Konstruktion benutzt Induktion nach n. Falls
n = 0, so trennen wir die abgeschlossenen Mengen F und G := X \ U durch
offene Mengen U0 und V . Dann gilt U0 ⊂ X \ V ⊂ X \ G = U = U1 wie
gewünscht.
Im nächsten Schritt wählen wir wieder unter Ausnutzung der Normalität
von X eine offene Teilmenge U1/2 mit
U0 ⊂ U1/2 , U1/2 ⊂ U1 .
Im nächsten Schritt wählen wir offene Mengen U1/4 , U3/4 ⊂ X mit
U0 ⊂ U1/4 , U1/4 ⊂ U1/2 , U1/2 ⊂ U3/4 , U3/4 ⊂ U1 .
Dieses Verfahren setzen wir fort.
Wir definieren nun
f : X → R , x 7→ inf{r ∈ [0, 1] dyadisch | x ∈ Ur } ,
falls x ∈ U1 und f (x) = 1, falls x ∈
/ U1 . Offensichtlich gilt f = 0 auf F und
f = 1 auf X \ U = G. Zu zeigen bleibt die Stetigkeit von f . Sind 0 < α < 1
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
29
und 0 < β < 1, so sind die Urbilder
f −1 ((−∞, α)) = {x ∈ X | f (x) < α} =
[
Ur ,
0≤r<α
f
−1
((β, ∞)) = {x ∈ X | f (x) > β} =
[
(X \ Ur ) =
β<r≤1
[
(X \ Us )
β<s≤1
offen in X. Hier benutzen wir die Definition des Infimums, die Tatsache, dass
die dyadischen Zahlen dicht in [0, 1] liegen und bei der letzten Gleichheit
Us ⊂ Ur für alle dyadischen Zahlen s < r. Die Offenheit dieser Urbilder
für α ∈ R \ (0, 1) und β ∈ R \ (0, 1) sieht man direkt. Da die Mengen der
Form (−∞, α) und (β, ∞) eine Subbasis der Topologie auf R bilden, ist die
Stetigkeit von f bewiesen.
Definition 7.3. Ein topologischer Raum erfüllt das zweite Abzählbarkeitsaxiom, falls eine abzählbare Basis der Topologie existiert.
Der folgende Satz zeigt die Bedeutung normaler Räume.
Satz 7.4 (Metrisierbarkeitssatz von Urysohn). Es sei X ein topologischer
Raum, der das zweite Abzählbarkeitsaxiom erfüllt. Dann ist X genau dann
metrisierbar, wenn er normal und Hausdorffsch ist.
Beweis. Wir haben bereits in den Übungen gezeigt, dass jeder metrisierbare Raum normal und Hausdorffsch ist. Es sei nun X ein normaler Hausdorffraum, der das zweite Abzählbarkeitsaxiom erfüllt. Wir konstruieren
einen metrischen Raum M und eine Einbettung
f :X→M
(d.h. f induziert einen Homöomorphismus f : X → f (X)). Damit ist X
homöomorph zu einem metrisierbaren Raum (nämlich f (X) ⊂ M ) und damit selbst metrisierbar.
Es sei B eine abzählbare Basis der Topologie auf X. Falls U, V ∈ B mit
U ⊂ V , so wählen wir (mit Hilfe des Lemmas von Urysohn) eine stetige
Funktion fU,V : X → [0, 1], die auf U gleich 0 und auf X \ V konstant gleich
1 ist. Wir betrachten nun die Abbildung
Y
f : X → M :=
[0, 1] , x 7→ (fU,V (x)) .
U,V ∈B,U ⊂V
Wir behaupten, dass f eine Einbettung ist. Offensichtlich ist f stetig (da
die einzelnen Komponenten stetig sind).
Um zu zeigen, dass f ein Homöomorphismus auf das Bild f (X), zeigen
wir, dass die induzierte Abbildung f : X → f (X) abgeschlossen ist, d.h. ist
C ⊂ X abgeschlossen, dann auch f (C) ⊂ f (X). (Wir behaupten nicht, dass
f (C) ⊂ M abgeschlossen ist).
Sei dazu (cα )α∈I ein Netz in C, so dass das Netz f (cα ) gegen einen Punkt
in f (X) konvergiert. Dann existiert ein x ∈ X mit lim f (cα ) = f (x). Wir
30
BERNHARD HANKE
zeigen, dass x ∈ C, also f (x) ∈ f (C). Aus dieser Betrachtung folgt dann,
dass f (C) in f (X) abgeschlossen ist.
Falls aber x ∈
/ C, so gibt es eine offene Menge V ∈ B mit x ∈ V und
V ∩ C = ∅. Wegen der Normalität von X (wegen der Hausdorffeigenschaft
von X ist {x} ⊂ X abgeschlossen) existiert nun noch eine offene Umgebung
U von x mit U ⊂ V
Durch eventuelle Verkleinerung von U können wir annehmen, dass U ∈ B.
Das Netz fU,V (cα ) ist nun konstant gleich 1 (denn C ⊂ X \ V ) und kann
daher nicht gegen fU,V (x) = 0 konvergieren. Widerspruch.
Die Abbildung f ist auch injektiv: Falls x, y ∈ X und x 6= y, so gibt es
offene Basismengen U, V ∈ B mit x ∈ U , y ∈ X \ V und U ⊂ V und dann
trennt bereits die Funktion fU,V die Punkte x und y.
Die Abbildung f ist somit als Homöomorphismus auf ihr Bild nachgewiesen. Als abzählbares Produkt von metrisierbaren Räumen ist M selbst
metrisierbar (siehe Übungsblatt 4, Aufgabe 1). Damit ist alles gezeigt.
Bemerkung 7.5. Dieser Beweis kann auch ohne Netze geführt werden,
vergleiche die Lösung von Blatt 5, Aufgabe 3.
Eine weitere Anwendung des Lemmas von Urysohn ist das folgende fundamentale Resultat über die Erweiterung stetiger Abbildungen.
Satz 7.6 (Erweiterungssatz von Tietze). Es sei X ein normaler Raum und
F ⊂ X eine abgeschlossene Teilmenge. Ist f : F → R stetig, so existiert eine
stetige Fortsetzung g : X → R von f , d.h. g|F = f . Wir können außerdem
erreichen, dass supx∈F f (x) = supx∈X g(x) und inf x∈F f (x) = inf x∈X g(x).
Die Funktion g wird als Limes einer gleichmäßig konvergenten Funktionenfolge konstruiert.
Definition 7.7. Es sei X ein topologischer Raum und (Y, d) ein metrischer Raum. Eine Folge von Abbildungen (fn )n∈N , fn : X → Y konvergiert
gleichmäßig gegen f : X → Y , falls für alle > 0 ein N ∈ N existiert mit
d(fn (x), f (x)) < ,
für alle x ∈ X und alle n ≥ N .
Mit dem üblichen /3-Argument beweist man:
Proposition 7.8. Es seien X, Y wie eben und (fn ) eine gleichmäßig gegen
die Funktion f : X → Y konvergente Folge stetiger Abbildungen. Dann ist
auch f stetig.
Wir kommen nun zum Beweis des Satzes von Tietze. Sei zunächst f
beschränkt. Ohne Einschränkung sei 0 ≤ f (x) ≤ 1 für alle x ∈ X und
sup f = 1, inf f = 0. Nach dem Lemma von Urysohn existiert eine stetige
Abbildung g1 : X → [0, 1/3] mit
0, falls x ∈ F und f (x) ≤ 1/3 ,
g1 (x) =
1/3, falls x ∈ F und f (x) ≥ 2/3 .
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
31
Wir setzen f1 := f − g1 und bemerken, dass 0 ≤ f1 (x) ≤ 2/3 für alle
x ∈ F . Induktiv nehmen wir an, wir haben bereits eine stetige Abbildung
fn : F → R konstruiert mit 0 ≤ fn (x) ≤ (2/3)n für alle x ∈ F . Wir finden
dann eine Funktion gn+1 : X → [0, 1/3 · (2/3)n ], wobei
0, falls x ∈ F und fn (x) ≤ 1/3 · (2/3)n ,
gn+1 (x) =
1/3 · (2/3)n , falls x ∈ F und fn (x) ≥ 2/3 · (2/3)n .
Wir setzen fn+1 := fn − gn+1 .
Nach Konstruktion konvergiert die Reihe
∞
X
gn
n=0
stetiger Funktionen gleichmäßig gegen eine Funktion g : X → [0, 1] (geometrische Reihe). Daher ist g insbesondere stetig. Falls x ∈ F , so gilt nach
Konstruktion
fn (x) = f (x) − (g1 (x) + g2 (x) + . . . + gn (x))
und 0 ≤ fn (x) ≤ (2/3)n . Somit gilt g|F = f und die Konstruktion von g ist
beendet. Die Bedingung an die Schranken von g ist ebenfalls erfüllt, denn
0 ≤ g(x) ≤ 1 für alle x ∈ X.
14. 5.14
Es sei nun f unbeschränkt. Zunächst nehmen wir an, dass f in beide Richtungen unbeschränkt ist. Wir wählen einen Homöomorphismus h :
(−∞, ∞) → (0, 1) und erweitern die Funktion h ◦ f : F → (0, 1) zu einer stetigen Funktion γ : X → [0, 1] wie eben beschrieben. Wir können nun nicht
einfach mit dem Inversen von h komponieren, da γ durchaus die Werte 0
oder 1 annehmen kann. Daher müssen wir γ auf der Menge
C := {x ∈ X | γ(x) = 0 oder γ(x) = 1} ⊂ X
noch abändern, jedoch ohne dabei γ auf F zu ändern. Die Menge C ist
abgeschlossen in X und wegen γ = f auf F gilt C ∩ F = ∅. Nach Urysohn
existiert eine stetige Funktion k : X → [0, 1], die auf C konstant gleich 0
und auf F konstant gleich 1 ist. Wir ersetzen nun γ durch die Funktion
1
γ
e : x 7→ k(x) · γ(x) + (1 − k(x)) .
2
Das Bild dieser Funktion liegt in (0, 1) und sie stimmt auf F mit h ◦ f
überein. Daher ist h−1 ◦e
γ die gewünschte Erweiterung von f . Die behauptete
Eigenschaft von Infimum und Supremum der Erweiterung ergibt sich direkt
aus der Konstruktion.
Falls f nur in eine Richtung unbeschränkt ist, argumentiert man mit
einem ähnlichen Trick.
32
BERNHARD HANKE
8. Kompaktifizierung
Kompakte Räume spielen in der Topologie eine herausragende Rolle. Wir
untersuchen hier die Frage, wann ein topologischer Raum X durch Hinzufügen weiterer Punkte zu einem kompakten Raum gemacht werden kann.
Diese Problem ist mit der Vervollständigung metrischer Räume verwandt
(siehe Kapitel 4).
Definition 8.1. Es sei X ein topologischer Raum. Eine Kompaktifizierung
von X ist ein kompakter topologischer Raum Y zusammen mit einer topologischen Einbettung f : X → Y (d.h. f induziert einen Homöomorphismus
f : X → f (X) ⊂ Y ), so dass f (X) dicht in Y liegt, d.h. f (X) = Y .
Indem wir mittels f den Raum X mit f (X) identifizieren, stellen wir uns
Y als den Raum X vor, der um gewisse Punkte “im Unendlichen” erweitert
wurde. Insbesondere betrachten wir X in der Regel als Teilraum von Y .
Obige Definition ist ganz analog zur Vervollständigung metrischer Räume,
siehe Definition 4.4.
Wir diskutieren nun zwei wichtige Konstruktionen von Kompaktifizierungen, einer “minimalen” und einer “maximalen”.
Definition 8.2. Ein topologischer Raum X heißt lokalkompakt, falls jeder
Punkt x ∈ X eine kompakte Umgebung besitzt.
Offensichtlich sind die Räume Rn lokalkompakt. Jeder diskrete topologische Raum ist lokalkompakt. Ist (V, k · k) ein normierter reeller Vektorraum,
so ist V genau dann lokalkompakt, falls dim V < ∞. Dies folgt aus den
Aussagen des vorigen Kapitels.
Es sei X ein lokalkompakter Hausdorffraum. Wir definieren eine Teilmenge U der disjunkten Vereinigung
X + := X ∪ {∞}
als offen, falls U ⊂ X und U offen in X ist oder falls ∞ ∈ U und X \ U ⊂ X
kompakt ist. Es folgt aus der Hausdorffeigenschaft (Lokalkompaktheit ist
hier nicht notwendig), dass man so wirklich eine Topologie auf X + erhält.
Proposition 8.3. Es sei X ein lokalkompakter Hausdorffraum. Dann ist
X + mit der eben definierten Topologie ein kompakter Hausdorffraum.
Beweis. Ist U eine offene Überdeckung von X + , so gibt es ein U ∈ U mit
∞ ∈ U . Da U auch eine offene Überdeckung der kompakten Menge X \U ist,
können wir eine endliche Teilüberdeckung auswählen und erhalten zusammen mit U eine endliche Teilüberdeckung von X + . Die Hausdorffeigenschaft
von X + folgt (relativ leicht) aus der Lokalkompaktheit von X.
Wir nennen X + mit der oben definierten Topologie die Einpunktskompaktifizierung von X. Ist X selbst kompakt, so trägt X + die Summentopologie
des Raumes X und des einpunktigen topologischen Raumes {∞}. Die Einpunktkompaktifizierung von Rn ist homöomorph zu S n wie man mit Hilfe
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
33
der stereographischen Projektion
S n \ {(0, . . . , 0, 1)} → Rn
(x1 , . . . , xn+1 ) 7→
1
(x1 , . . . , xn )
1 − xn+1
und folgender Proposition beweist:
Proposition 8.4. Es sei X ein lokalkompakter Hausdorffraum, Y ein kompakter Hausdorffraum, p ∈ Y und X homöomorph zu Y \ {p}. Dann ist
X+ ≈ Y .
Beweis. Es sei φ : X → Y \ {p} der gegebene Homöomorphismus. Nun
definieren wir ψ : X + → Y durch die Vorschrift ψ|X = φ und ψ(∞) = p.
Diese Funktion ist stetig (hier benutzt man, dass φ ein Homöomorpismus
ist, und daher φ−1 kompakte Mengen auf kompakte Mengen abbildet) und
bijektiv. Da X + kompakt und Y ein Hausdorffraum ist, muss ψ bereits ein
Homöomorphismus sein, siehe Proposition 5.6.
Falls X selbst nicht kompakt ist, so enthält jede Umgebung von ∞ ∈ X +
auch Punkte aus X, somit gilt X = X + und die Inklusion X ,→ X + ist eine
Kompaktifizierung im Sinne von Definition 8.1.
Falls X und Y lokalkompakte Hausdorffräume sind und f : X → Y eine
stetige Abbildung ist, so betrachten wir die Abbildung
f + : X + → Y + f + |X = f , f + (∞) = ∞ .
Diese Abbildung ist nicht automatisch stetig (sei z.B. X = R, Y = {p}
und f : X → Y die eindeutig bestimmte Abbildung). Eine hinreichende
Bedingung ist aber die folgende:
Definition 8.5. Eine Abbildung f : X → Y zwischen topologischen Räumen heißt eigentlich, falls das Urbild jeder kompakten Menge in Y unter f
kompakt in X ist.
Die folgende Tatsache ist nun leicht zu zeigen.
Proposition 8.6. Ist f : X → Y eine stetige Abbildung zwischen lokalkompakten Hausdorffräumen, so ist die induzierte Abbildung f + : X + → Y +
genau dann stetig, falls f eigentlich ist.
19.5.14
Die Einpunktkompaktifizierung ist eine besonders sparsame Möglichkeit,
topologische Räume kompakt zu machen. Das andere Extrem ist die StoneČech-Kompaktifizierung.
Es sei X ein normaler Hausdorffraum. Wir bezeichnen mit C die Menge
der stetigen Abbildungen ω : X → [0, 1] und betrachten die Abbildung
Y
[0, 1], x 7→ (ω(x))ω∈C
f :X→
ω∈C
in das über C indizierte topologische Produkt von Einheitsintervallen [0, 1].
34
BERNHARD HANKE
Lemma 8.7. Die Abbildung f ist eine topologische Einbettung.
Beweis. Die Stetigkeit von f folgt daraus, dass alle Komponentenfunktionen
x → ω(x) der Abbildung f stetig sind. Die Injektivität und Abgeschlossenheit der Abbildung f : X → f (X) (d.h. diese Abbildung schickt abgeschlossene Teilmengen auf abgeschlossene Teilmengen) beweist man ganz analog
wie im Beweis des Erweiterungssatzes von Tietze mit Hilfe des Lemmas von
Urysohn.
Q
Nach dem Satz von Tychonoff ist ω∈C [0, 1] kompakt. Es sei
Y
βX := f (X) ⊂
[0, 1]
ω∈C
der Abschluss des Bildes von X unter f . Als abgeschlossene Teilmenge eines
kompakten Raumes ist βX kompakt.
Definition 8.8. Die Abbildung β : X → βX, x 7→ f (x), heißt Stone-ČechKompaktifizierung von X.
Wir haben uns bereits davon überzeugt, dass die Abbildung β : X → βX
wirklich eine Kompaktifizierung im Sinne von Definition 8.1 ist.
Der folgende Satz beschreibt die universelle Eigenschaft der Stone-ČechKompaktifizierung und präzisiert die vage Aussage, dass die Stone-ČechKompaktifizierung die “maximale” Kompaktfizierung von X ist.
Proposition
8.9
(Universelle
Eigenschaft
der
Stone-Čech-Kompaktifizierung). Es sei X ein normaler Hausdorffraum, K ein
kompakter Hausdorffraum und φ : X → K eine stetige Abbildung. Dann
faktorisiert φ in eindeutiger Weise über die Stone-Čech-Kompaktifizierung,
das heißt es gibt eine eindeutig bestimmte stetige Abbildung ψ : βX → K
mit
ψ ◦ β = φ,
d.h. das Diagramm
β
X
φ
K
}
/ βX
ψ
kommutiert
Beweis. Wir behandeln zunächst den Fall, dass K = [0, 1]. Dann ist φ :
X → [0, 1] ein Element in C. Es sei
Y
pφ :
[0, 1] → [0, 1]
ω∈C
die Projektion auf den Faktor ω = φ. Nach Definition gilt pφ ◦ β = φ. Wir
setzen nun einfach
ψ := (pφ )|βX ,
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
35
Q
wobei wir beachten, dass βX ⊂ ω∈C [0, 1]. Es folgt aus dieser Definition,
dass ψ ◦ β = φ, wie behauptet. Außerdem ist diese Fortsetzung eindeutig,
weil X dicht in βX liegt und weil [0, 1] Hausdorffsch ist.
Es sei nun K ein allgemeiner kompakter Hausdorffraum. Nach Aufgabe 3
von Blatt 5 existiert eine topologische Einbettung
Y
F :K→
[0, 1]
λ∈J
mit abgeschlossenem Bild. Wir betrachten die Komposition
Y
Θ := F ◦ φ : X → K →
[0, 1].
λ∈J
Jede Komponetenfunktion Θλ : X → [0, 1] kann nach dem ersten Teil des
Beweises eindeutig zu einer stetigen Abbildung Ξλ : βX → [0, 1] fortgesetzt
werden (d.h. Ξλ ◦ β = Θλ ). Fassen wir diese Fortsetzungen zu einer stetigen
Abbildung
Y
Ξ : βX →
[0, 1]
λ∈J
zusammen, so definiert
Q dies eine stetige Fortsetzung von F ◦ φ auf βX.
Nun ist F (K) ⊂ λ∈J [0, 1] eine abgeschlossene Teilmenge und F ◦φ(X) ⊂
F (K). Da X in βX dicht liegt, gilt somit auch Ξ(βX) ⊂ F (K). Wir können
daher
ψ := F −1 ◦ Ξ : βX → K
definieren. Nach Konstruktion gilt ψ ◦ β = φ und die Eindeutigkeit der
Fortsetzung ψ folgt aus der Konstruktion unter Benutzung des ersten Teiles
des Beweises.
Die Stone-Čech-Kompaktifizierung kann man sich nur schwer konkret vorstellen. Nach der eben bewiesenen universellen Eigenschaft kann jede beschränkte stetige Funktion X → R auf βX stetig fortgesetzt werden. Zum
Beispiel hat die stetige Abbildung
R → R, x 7→ sin(x)
eine stetige Fortsetzung βR → R. Offensichtlich ist das nur dann möglich,
wenn man wesentlich mehr Punkte zu R hinzufügt als nur einen Punkt “im
Unendlichen”.
9. Quotientenräume (Verklebung von Räumen),
Simplizialkomplexe
Dieser Abschnitt ist einem wichtigen Konstruktionsverfahren topologischer Räume gewidmet, dem Verkleben“. Sei allgemein X ein topologi”
scher Raum, Y eine Menge und f : X → Y eine surjektive Abbildung. Die
Quotiententopologie oder auch Finaltopologie auf Y bzgl. f ist die feinste Topologie, so dass f stetig ist. Eine Teilmenge U ⊂ Y ist also offen bezüglich
dieser Topologie genau dann, falls f −1 (U ) ⊂ X offen ist (denn Urbildnehmen ist mit Schnitt- und Vereinigungsbildung verträglich). Eine surjektive
36
BERNHARD HANKE
Abbildung f : X → Y zwischen topologischen Räumen heißt Identifizierung,
falls die Topologie auf Y genau die Finaltopologie bezüglich f ist.
Proposition 9.1.
• Die Komposition von Identifizierungen ist wieder
eine Identifizierung.
• (Universelle Eigenschaft der Finaltopologie) Eine surjektive stetige
Abbildung f : X → Y ist genau dann eine Identifizierung, falls
folgendes gilt: Ist Z ein topologischer Raum und g : Y → Z eine
beliebige Abbildung, so ist g genau dann stetig, falls g ◦ f : X → Z
stetig ist.
Wir benutzen den zweiten Teil dieser Proposition in der Regel in der
folgenden Form: Falls f : X → Y eine Identifizierung ist und h : X → Z
eine stetige Abbildung, die in der Form h = g ◦ f geschrieben werden kann,
f
X
h
Z

/Y
g
so ist g automatisch stetig.
Ein wichtiges Beispiel ist das folgende: Sei ∼ eine Äquivalenzrelation
auf einem topologischen Raum X. Dann können wir X/ ∼ mit der Quotiententopologie (bzgl. der kanonischen Abbildung X → X/ ∼) versehen. Den entstehenden topologischen Raum nennen wir einen Quotientenraum. Quotientenräume von kompakten (zusammenhängenden, wegzusammenhängenden) Räumen sind ebenfalls kompakt (zusammenhängend, wegzusammenhängend). Ist X ein Hausdorffraum, so muss der Quotientenraum
X/ ∼ aber nicht Hausdorffsch sein.
Beispiel. Betrachte die Relation x ∼ y ⇔ x − y ∈ Q auf X := R. Die
Quotiententopologie auf R/ ∼ ist die Klumpentopologie.
Ist A ⊂ X eine nichtleere Teilmenge des topologischen Raumes X, so
bezeichnet X/A den Quotientenraum bzgl. der Äquivalenzrelation
x, y ∈ A oder
x∼y⇔
.
(x ∈
/ A oder y ∈
/ A) und x = y ,
d.h. die Äquivalenzklassen sind A und die einpunktigen Mengen {x} mit
x ∈ X \ A.
Proposition 9.2. Ist X ein normaler Hausdorffraum und A ⊂ X abgeschlossen, so ist X/A ebenfalls normal und Hausdorffsch.
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
37
21.5.14
Beispiel. Wir betrachten die Sphären S n = {x ∈ Rn+1 | kxk = 1} ⊂ Rn+1
mit der Unterraumtopologie. Der Quotientenraum bzgl. der von der Relation x ∼ y ⇔ x = −y erzeugten Äquivalenzrelation heißt der ndimensionale reell-projektive Raum RP n . Eine alternative Beschreibung
erhält man wie folgt: Wir betrachten die Äquivalenzrelation auf der abgeschlossenen Einheitskreisscheibe Dn ⊂ Rn , die jeweils gegenüberliegende Punkte auf dem Rand S n−1 identifiziert (und natürlich jeden Punkt
mit sich selbst). Wir behaupten, dass der entstehende Quotientenraum
homöomorph zu RP n ist. Dazu betrachten wir Dn als die obere Hemisphäre
von S n . Die entsprechende Inklusion
i : Dn → S n kann man explizit
p
2
als (x1 , . . . , xn ) 7→ (x1 , . . . , xn , 1 − x1 − . . . − x2n ) definieren. Die (stetige)
Komposition Dn → S n → RP n faktorisiert durch Dn / ∼ und wir erhalten
eine Abbildung k : Dn / ∼→ RP n , die das Diagramm
Dn


y
i
−−−−→ S n


y
k
Dn / ∼ −−−−→ RP n
kommutativ macht. Nach Proposition 9.1 ist k stetig. Offensichtlich ist k
auch bijektiv. Da Dn / ∼ kompakt (klar) und RP n Hausdorff ist (dies erfordert einen kleinen Beweis), ist k ein Homöomorphismus.
Wir erwähnen noch einige besonders wichtige Beispiele von Quotientenräumen. Sind X, Y topologische Räume, A ⊂ X eine Teilmenge und
ist f : A → Y eine stetige Abbildung, so bezeichnet Y ∪f X die Anheftung
von X entlang f . Sie ist definiert als der Quotientenraum der disjunkten
˙ (falls X ∩ Y 6= ∅, so macht man die Räume künstlich
Vereinigung X ∪Y
disjunkt, indem man zu X × {0} und Y × {1} übergeht) - versehen mit der
˙ , die jeSummentopologie - bzgl. der kleinsten Äquivalenzrelation auf X ∪Y
des a ∈ A mit f (a) ∈ Y identifiziert. In diesem Sinne können wir X/A auch
als Y ∪p X schreiben, wobei Y ein einpunktiger Raum und p : A → Y die
eindeutig bestimmte Abbildung ist. Man beweist leicht
Proposition 9.3. Ist Y ∪f X ein Anheftungsraum und A ⊂ X abgeschlossen, so ist Y ,→ Y ∪f X, y 7→ [y] ein Homöomorphismus auf einen abgeschlossenen Teilraum und X \ A ,→ Y ∪f X, x 7→ [x] ist ein Homöomorphismus
auf einen offenen Teilraum.
Ist f : X → Y eine stetige Abbildung, so ist der Abbildungszylinder Zf von
f der Verkleberaum Y ∪f0 (X × [0, 1]), wobei f0 : X × {0} = X → Y gleich
f ist. Wir identifizieren in dieser Situation oft X mit X × {1} ⊂ Zf und Y
mit Y ⊂ Zf . Der Abbildungskegel Cf ist der Quotientenraum Zf /(X × {1}).
38
BERNHARD HANKE
Wir kommen nun zu den Simplizialkomplexen. Sie stellen eine enge Verbindung zwischen Topologie, Kombinatorik und Algebra her und sind daher
von fundamentaler Bedeutung.
Definition 9.4. Ein abstrakter Simplizialkomplex ist ein Paar (X, Σ) bestehend aus einer total geordneten Menge X und einer Teilmenge Σ ⊂ P(X)
der Potenzmenge von X (diese wird Menge der abstrakten Simplizes genannt) mit den folgenden Eigenschaften:
• Jedes Simplex σ ∈ Σ ist nichtleer und endlich.
• Ist ein Simplex σ ∈ Σ gegeben, so sind alle nichtleeren Teilmengen
von σ ebenfalls Simplizes.
• Jedes Element von X ist in mindestens einem Simplex enthalten.
Ist σ ∈ Σ ein Simplex, so definieren wir als die Dimension von σ die Zahl
|σ| − 1 (d.h. die Mächtigkeit von σ minus 1). Hier lassen wir uns von der
Vorstellung leiten, dass ein k-dimensionales Simplex k + 1 Ecken hat.
Die Teilmengen von σ ∈ Σ heißen Seiten von σ (und sind nach Definition
wieder Elemente von Σ).
Die nulldimensionalen Simplizes heißen auch Ecken und die eindimensionalen Simplizes Kanten von (X, Σ). Die Ecken von Σ sind also genau die
Elemente von X.
Wir nennen einen Simplizialkomplex (X, Σ) endlich, falls die unterliegende Menge X endlich ist. Dies ist gleichbedeutend damit, dass die Menge der
Simplizes Σ endlich ist.
Oft schreiben wir nur Σ an Stelle von (X, Σ).
Wir bezeichnen mit [n] die total geordnete Menge {0, 1, . . . , n}. Wir definieren den abstrakten Simplizialkomplex ( volles n-dimensionales Simplex“)
”
∆nabstr als ([n], P([n])), d.h. jede Teilmenge von [n] ist ein Simplex.
Wir können jedem abstrakten Simplizialkomplex wie folgt einen topologischen Raum zuordnen. Wir benutzen dabei folgende allgemeine Schreibweise: Es seien v0 , . . . , vk ∈ Rn affin unabhängige Vektoren (d.h. die Familie
(v1 − v0 , . . . , vk − v0 ) ist linear unabhängig). Dann setzen wir
hv0 , . . . , vk i := {
k
X
ti vi | 0 ≤ ti ≤ 1,
X
ti = 1} ⊂ Rn .
i=0
Dies ist das von den Vektoren v0 , . . . , vk aufgespannte (geometrische, affine)
k-Simplex. Dieses ist mit der von Rn induzierten Topologie ein kompakter topologischer Raum. Jeder Punkt in hv0 , . . . , vk i ist durch seine baryzentrischen Koordinaten t0 , . . . , tk eindeutig bestimmt. Wir bezeichnen mit
ei ∈ Rn+1 (wobei 0 ≤ i ≤ n) den i-ten kanonischen Basisvektor und setzen
∆n := he0 , . . . , en i ⊂ Rn+1
Dies ist der Standard-n-Simplex.
Ist k ≤ n, so induziert jede injektive ordnungserhaltende Abbildung
φ : {0, 1, . . . , k} → {0, 1, . . . , n}
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
39
eine Einbettung (d.h. Homöomorphismus auf das Bild)
iφ : ∆k → ∆n ,
gegeben durch
k
X
ti ei 7→
i=0
k
X
tφ(i) eφ(i) .
i=0
Ist nun ein abstrakter Simplizialkomplex (X, Σ) gegeben, so setzen wir
[
˙
T :=
∆σ
σ∈Σ
(disjunkte Vereinigung), wobei ∆σ das geometrische Standard-Simplex der
Dimension dim σ ist. Der Raum T ist mit der Summentopologie versehen:
Eine Teilmenge U ⊂ T ist also genau dann offen, falls für alle σ ∈ Σ die
Menge U ∩ ∆σ offen in ∆σ ist. Wir führen auf T die Äquivalenzrelation
∼ wie folgt ein: Seien σ, τ ∈ Σ mit τ ⊂ σ. Wir identifizieren σ und τ
mit den Mengen {0, . . . , dim(σ)} und {0, . . . , dim(τ )} mittels der eindeutig
bestimmten ordnungserhaltenden Bijektionen (hier benutzen wir, dass X
total geordnet ist!) und erhalten eine von der Inklusion τ ⊂ σ induzierte
ordnungserhaltende Inklusion
φ : {0, . . . , dim(τ )} → {0, . . . , dim(σ)} .
Nun identifizieren wir jedes x ∈ ∆τ mit iφ (x) ∈ ∆σ (die Abbildung iφ
wurde weiter oben definiert). Wir nennen den Quotientenraum T / ∼ die
geometrische Realisierung von Σ. Diese wird mit |Σ| bezeichnet und der zu
Σ gehörende geometrische Simplizialkomplex genannt. Offensichtlich ist |Σ|
ein normaler Raum und dieser ist genau dann kompakt, wenn der abstrake
Simplizialkomplex Σ endlich ist (siehe Aufgabe 2 auf Blatt 8).
Proposition 9.5. |∆nabstr | ≈ ∆n .
Beweis. Statt eines allgemeinen Beweises behandeln wir das konkrete Beispiel n = 2. Der abstrakte Simplizialkomplex ∆2abstr hat als zu Grunde liegende Menge X = [2] = {0, 1, 2} und jede Teilmenge von X bildet ein
abstraktes Simplex. Die Menge der Ecken ist also {{0}, {1}, {2}}, die Menge der Kanten {{0, 1}, {0, 2}, {1, 2}} und die Menge der 2-Simplizes gleich
{{0, 1, 2}}. Die geometrische Realisierung entsteht also aus der disjunkten
Vereinigung von 3 geometrischen 0-Simplizes ∆0 (also Punkten), 3 geometrischen 1-Simplizes ∆1 und einem geometrischen 2-Simplex ∆2 durch gewisse
Identifizierungen. Durch diese werden aber genau die 0-Simplizes mit den
Ecken von ∆2 und die 1-Simplizes mit den Kanten von ∆2 identifiziert, so
dass insgesamt der topologische Raum ∆2 entsteht.
26.5.14
Wir betrachten den abstrakten Simplizialkomplex S := ([n], Σ := P([n]) \
{[n]}), also das volle n-Simplex ohne das top-dimensionale Simplex. Wir
40
BERNHARD HANKE
behaupten, dass |Σ| homöomorph zu Teilmenge
∂∆n := {
n
X
ti ei | 0 ≤ ti ≤ 1,
X
ti = 1, mindestens ein ti = 0} ⊂ Rn+1
i=0
ist (die Bezeichnung ∂∆n bedeutet hier nicht, dass wir den Rand von ∆n
als Teilmenge von Rn+1 betrachten, denn dieser Rand wäre ganz ∆n . Daher
die explizite Definition). Dieser Homöomorphismus wird induziert von der
Abbildung
[
˙
ψ:T =
∆σ → ∂∆n
σ∈Σ
∆σ 3 x 7→ iφ (x) ∈ ∆n .
Hier ist wieder φ : {0, . . . , dim σ} → {0, . . . , n} die ordnungserhaltende
Abbildung, die nach der (eindeutig bestimmten) Identifikation von σ ⊂
{0, . . . , n} mit {0, . . . , dim σ} entsteht. Es folgt unmittelbar aus der Konstruktion der obigen Äquivalenzrelation auf T , dass ψ eine Abbildung
|S| = T / ∼→ ∂∆n induziert. Diese Abbildung ist nach Definition der Quotiententopologie stetig und bijektiv, also als Abbildung von einem kompakten
Raum in einen Hausdorffraum ein Homöomorphismus.
Definition 9.6. Ein topologischer Raum heißt triangulierbar, wenn er
homöomorph zu einem geometrischen Simplizialkomplex (also der geometrischen Realisierung eines abstrakten Simplizialkomplexes) ist. Die konkrete
Angabe so eines Homöomorphismus bezeichnet man als Triangulierung.
Sehr viele in der Praxis auftretenden topologischen Räume sind triangulierbar. Wenn man Triangulierungen konkret angeben möchte, sollte man
beachten, dass in einem abstrakten Simplizialkomplex (und damit in jeder Triangulierung eines topologischen Raumes) jedes Simplex durch seine
Ecken eindeutig bestimmt ist. Inbesondere lässt sich die Kreislinie S 1 ⊂ R2
nicht mit zwei 1-Simplizes triangulieren.
Beispielsweise sind die Sphären S n ⊂ Rn+1 triangulierbar. Denn S n ist
homöomorph zu ∂∆n+1 .
Diese Tatsache zeigen wir weiter unten in Korollar 9.11.
Definition 9.7. Eine Teilmenge K ⊂ Rn heißt konvex, falls mit je zwei
Punkten x, y ∈ K auch die Verbindungsstrecke {tx + (1 − t)y | 0 ≤ t ≤ 1} in
K liegt. Ein konvexer Körper im Rn ist eine abgeschlossene konvexe Teilmenge von Rn . Ist K ⊂ Rn eine beliebige Teilmenge, so ist die konvexe
Hülle von K der Durchnitt aller konvexen Teilmengen von Rn , die K enthalten (da Rn selbst konvex ist, bildet man hier den Durchschnitt über ein
nichtleeres Mengensystem).
Da der Durchschnitt konvexer Mengen offenbar wieder konvex ist, ist die
konvexe Hülle von K ⊂ Rn selbst konvex. Sie ist die kleinste konvexe Menge,
die K enthält.
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
41
Proposition 9.8. Es sei K ⊂ Rn ein konvexer Körper und 0 ∈ int(K).
Dann schneidet jeder Strahl im Rn mit Anfangspunkt 0 den Rand von K in
höchstens einem Punkt. Ist K zusätzlich beschränkt (also kompakt), dann
schneidet jeder Strahl den Rand von K in genau einem Punkt.
Beweis. Es sei R ein Strahl mit Anfangspunkt 0 und es seien p, q ∈ R ∩ K
verschiedene Punkte. Wir zeigen, dass mindestens einer der Punkte p oder q
im Inneren von K liegt (daraus folgt, dass nicht beide Punkte auf dem Rand
von K liegen können). Es sei q auf dem Strahl R weiter von 0 entfernt als p.
Da 0 ∈ int(K) gibt es eine offene Kugel B ⊂ K, die 0 enthält. Es sei Cq (B)
die Vereinigung aller Strecken, die q und einen Punkt aus B verbinden. Da
K konvex ist, gilt Cq (B) ⊂ K. Der Punkt p liegt dann im Inneren von Cq (B)
und somit auch im Inneren von K.
Sei nun K kompakt. Ist R ⊂ Rn ein Strahl mit Anfangspunkt 0, so enthält
R Punkte aus dem Inneren von K (da 0 ∈ int(K)) und Punkte aus Rn \ K
(sonst wäre K unbeschränkt). Da R ≈ [0, ∞) zusammenhängend ist, muss
aber R noch weitere Punkte enthalten (denn int(K) und Rn \ K sind beide
offen). Es gilt aber Rn \ (int(K) ∪ (Rn \ K)) = ∂K, somit muss R auch
Punkte aus ∂K enthalten.
Proposition 9.9. Es sei K ⊂ Rn ein beschränkter (also auch kompakter)
konvexer Körper mit 0 ∈ int(K). Dann ist die Abbildung
x
f : ∂K → S n−1 , x 7→
kxk
ein Homöomorphismus.
Beweis. Die Abbildung f ist als Komposition der Inklusion ∂K ,→ Rn \ 0
x
mit der radialen Retraktion x 7→ kxk
stetig. Die vorhergehende Proposition
zeigt, dass f bijektiv ist. Damit ist f ein Homöomorphismus, da ∂K kompakt
und S n−1 Hausdorffsch ist.
Proposition 9.10. Es sei K ⊂ Rn ein kompakter konvexer Körper mit
nichtleerem Inneren. Dann ist K homöomorph zum abgeschlossenen Einheitsball Dn = B1 (0) ⊂ Rn und ∂K ist homöomorph zu S n−1 = ∂Dn .
Beweis. Nach einer Translation können wir annehmen, dass 0 ∈ int(K). Es
sei f : ∂K → S n−1 wie in der vorhergehenden Proposition. Wir definieren
F : Dn → K durch
x
x 7→ kxkf −1 (
) , falls x 6= 0 ,
kxk
und F (0) = 0. Die Funktion F ist injektiv und surjektiv und stetig auf
Dn \ {0}. Stetigkeit von F an 0 ∈ Dn folgt daraus, dass kxk für alle x ∈ K
durch eine feste Zahl M ∈ R nach oben beschränkt ist und somit kF (x)k ≤
M kxk für alle x ∈ K. Somit ist F ein Homöomorphismus, da Dn kompakt
und K Hausdorffsch ist. Die zweite Behauptung in der Proposition folgt nun
unmittelbar.
42
BERNHARD HANKE
Da ∆n homöomorph zum kompakten konvexen Körper
K = he1 , . . . , en , −e1 − . . . − en i ⊂ Rn
mit nichtleerem Inneren ist (hier ist (e1 , . . . , en ) die Standardbasis im Rn ),
folgt nun:
Korollar 9.11. ∆n ≈ Dn , ∂∆n ≈ S n−1 .
Insbesondere sind also Dn und S n−1 triangulierbar.
Ist S = (X, Σ) ein endlicher abstrakter Simplizialkomplex, so kann man
sich die geometrische Realisierung |Σ| auch folgendermaßen vorstellen. Es sei
|X| = n, der Einfachheit schreiben wir X = {1, 2, 3, . . . , n} und es seien n
affin unabhängige Punkte x1 , . . . , xn ∈ Rn gegeben. Wir betrachten nun die
Vereinigung all jener affinen Simplizes hxi1 , . . . , xik i ⊂ Rn mit {i1 , . . . , ik } ∈
Σ.
Die Vereinigung all dieser affinen Simplizes ist (mit der von Rn induzierten
Topologie) homöomorph zu |S|.
Definition 9.12. Eine Teilmenge T ⊂ Rn heißt (geometrischer) Simplizialkomplex, falls T Vereinigung von affinen Simplizes σi ⊂ Rn , i ∈ I, mit
der folgenden Eigenschaft ist: Der Schnitt σi ∩ σj zweier dieser Simplizes ist
entweder leer oder eine gemeinsame Seite von σi und σj .
Es ist nicht schwer zu sehen, dass in diesem Fall T homöomorph zur
geometrischen Realisierung eines abstrakten Simplizialkomplexes ist. Die zu
Grunde liegende Menge ist einfach die Menge aller Ecken von Simplizes, die
in T vorkommen (mit einer beliebigen totalen Ordnung).
28.5.14
10. Homotopie
Definition 10.1. Es seien f, g : X → Y zwei stetige Abbildungen zwischen
topologischen Räumen X und Y . Wir sagen f ist homotop zu g, falls es
eine stetige Abbildung
H : X × [0, 1] → Y
gibt mit H(−, 0) = f und H(−, 1) = g. In diesem Falle schreiben wir f ' g.
Proposition 10.2.
• Die Relation f ist homotop zu g“ ist eine
”
Äquivalenzrelation.
0
• Es seien f, g : X → Y , h : X → X und k : Y → Y 0 stetige
Abbildungen. Gilt f ' g, so auch f ◦ h ' g ◦ h und k ◦ f ' k ◦ g.
Beweis. Wir diskutieren nur die Transitivität der Homotopierelation (die
anderen Behauptungen sind recht leicht zu zeigen). Es sei H : X ×[0, 1] → Y
eine Homotopie von f : X → Y nach g : X → Y und G : X × [0, 1] → Y
eine Homotopie von g : X → Y nach h : X → Y . Wir behaupten, dass dann
H(x, 2t) , falls 0 ≤ t ≤ 1/2
K : X × [0, 1] → Y , (x, t) 7→
G(x, 2t − 1) , falls 1/2 ≤ t ≤ 1
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
43
eine Homotopie von f nach h ist. Zu zeigen bleibt nur, dass K wohldefiniert und stetig ist. Wohldefiniertheit ist klar (denn H(−, 1) = G(−, 0)).
Die Stetigkeit gilt wegen der folgenden allgemeinen Tatsache ( stückweise
”
definierte stetige Abbildungen“): Es sei T ein topologischer Raum und (Ti )
eine Überdeckung von T durch endlich viele abgeschlossene Mengen. Sind
dann fi : Ti → S stetige Abbildungen in einen festen topologischen Raum S
und stimmen für alle i, j die Abbildungen fi und fj auf dem Schnitt Ti ∩ Tj
überein, dann ist die Abbildung T → S, t 7→ fi (t), falls t ∈ Ti , stetig.
Beispiel.
• Es sei Y ⊂ Rn eine konvexe Menge (d.h. mit je zwei Punkten x, y ∈ Y
liegt auch die Strecke von x nach y in Y ). Dann sind zwei Abbildungen f, g : X → Y immer homotop, denn sie lassen sich durch eine
lineare Homotopie
H(x, t) := tg(x) + (1 − t)f (x)
verbinden.
• Ist X = {p} ein einpunktiger Raum, so sind Homotopien H :
X × [0, 1] → Y nichts anderes als Wege in Y mit Anfangspunkt
H(p, 0) und Endpunkt H(p, 1). Solche Wege schreiben wir einfacher
als Abbildungen γ : [0, 1] → Y . Ist η : [0, 1] → Y ein weiterer Weg
und gilt γ(1) = η(0), so können wir den zusammengesetzten Weg
γ · η : [0, 1] → Y mit
(
γ(2t) ,
0 ≤ t ≤ 1/2
t 7→
η(2t − 1) , 1/2 ≤ t ≤ 1
definieren. Wie oben zeigt man die Stetigkeit von γ · η ( erst γ, dann
”
η“).
Definition 10.3. Eine stetige Abbildung f : X → Y ist eine Homotopieäquivalenz, falls eine stetige Abbildung g : Y → X existiert mit g◦f ' idX
und f ◦ g ' idY . In diesem Fall nennt man g ein Homotopieinverses zu f .
Existiert eine Homotopieäquivalenz X → Y , so nennen wir X und Y homotopieäquivalent, geschrieben X ' Y .
Die Relation X und Y sind homotopieäquivalent“ definiert eine
”
Äquivalenzrelation auf der Klasse der topologischen Räume. Symmetrie und
Reflexivität sind klar. Transitivität sieht man so: Ist f : X → Y eine Abbildung mit Homotopieinverser g : Y → X und ist h : Y → Z eine Abbildung
mit Homotopieinverser k : Z → Y , so gilt
(gk)(hf ) = g(kh)f ' g ◦ idY ◦ f ' idX
und entsprechend ist (hf )(gk) ' idZ . Die Äquivalenzklassen bezüglich dieser
Äquivalenzrelation nennt man Homotopietypen.
44
BERNHARD HANKE
Definition 10.4. Ein topologischer Raum heißt kontrahierbar, wenn er homotopieäquivalent zum einpunktigen Raum ist.
Ein Raum X ist offensichtlich genau dann kontrahierbar, wenn die Identität X → X homotop zu einer Abbildung X → X ist, deren Bild aus genau
einem Punkt besteht. Dabei kann dieser Punkt beliebig in X gewählt werden. Nach dem obigen Beispiel sind also nichtleere konvexe Teilmengen im
Rn immer kontrahierbar.
Der Beweis der folgenden Tatsache ist eine leichte Übung.
Lemma 10.5. Es sei X ein topologischer Raum und Y ein kontrahierbarer
topologischer Raum. Dann sind alle stetigen Abbildungen X → Y homotop.
Proposition 10.6. Die Sphären S n ⊂ Rn+1 sind nicht kontrahierbar.
Wir führen den Beweis an dieser Stelle nur für n = 0, 1 explizit aus. Die
Fälle n ≥ 2 können wir mit den Mitteln dieser Vorlesung leider noch nicht
behandeln.
Beweis. Für n = 0 gilt S 0 = {±1} ⊂ R. Angenommen
id : S 0 → S 0
ist homotop zur konstanten Abbildung c : S 0 → S 0 mit Wert −1. Es sei
H : S 0 × [0, 1] → S 0 eine entsprechende Homotopie. Dann definiert aber
H(+1, −) : [0, 1] → S 0 einen Weg von +1 nach −1 und dies widerspricht der
Tatsache, dass S 0 nicht zusammenhängend ist.
Wir zeigen mit Hilfe des Begriffes der Windungszahl, dass S 1 nicht kontrahierbar ist. Angenommen, S 1 sei kontrahierbar. Dann ist die Identität
id : S 1 → S 1 also homotop zu einer konstanten Abbildung S 1 → S 1 . Fassen
wir S 1 als Teilmenge von C \ {0} auf, dann ist die Abbildung
γ1 : S 1 → C \ {0} , x 7→ x
homotop zu einer konstanten Abbildung
γ0 : S 1 → C \ 0 .
Jeder stetig differenzierbaren Abbildung γ : S 1 7→ C \ {0} kann man aber
eine Windungszahl
Z
1
dz
W (γ) :=
2πi γ z
zuordnen (wir fassen hier γ als geschlossene Kurve in C \ {0} auf) und
man zeigt in der Analysis mit Hilfe des Satzes von Stokes, dass diese Windungszahl sich unter einer Homotopie von γ nicht ändert (und außerdem
ganzzahlig ist). Da aber W (γ1 ) = 1 und W (γ0 ) = 0, kann γ1 nicht homotop
zu γ0 sein.
Definition 10.7. Es sei X ein topologischer Raum und A ⊂ X eine
Teilmenge. Wir nennen A einen Retrakt von X, falls es eine Retraktion
r : X → A gibt, d.h. r ist stetig und r|A = idA . Wir nennen A einen Deformationsretrakt von X, falls es eine Retraktion r : X → A gibt, so dass die
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
45
Abbildung i ◦ r ' idX . Dabei ist i : A → X die Inklusion. Weiterhin nennt
man A einen starken Deformationsretrakt von X, falls es eine Retraktion
r : X → A gibt, so dass i ◦ r ' idX mittels einer Homotopie, die die Punkte
in A nicht bewegt.
Ist A ⊂ X ein Deformationsretrakt, so sind A und X homotopieäquivalent. Als homotopieinverses Paar von Abbildungen kann man die Inklusion
i : A ,→ X und eine Retraktion r : X → A mit i ◦ r ' idX nehmen. Dann
ist r ◦ i = idA und i ◦ r ist zur Identität homotop.
Beispiel. Es sei f : X → Y eine stetige Abbildung. Dann ist Y ein starker
Deformationsretrakt des Abbildungszylinders Zf = Y ∪f0 X × [0, 1]. Eine
Deformationsretraktion ist durch die Homotopien
H1 : Y × [0, 1] → Y , (y, t) 7→ y
und
H2 : (X × [0, 1]) × [0, 1] → X × [0, 1] , ((x, s), t) 7→ (x, s(1 − t))
gegeben.
2.6.14
11. Die Fundamentalgruppe
Definition 11.1. Es seien f, g : X → Y stetige Abbildungen und A ⊂ X
eine Teilmenge. Wir nennen f und g homotop relativ zu A, falls es eine
Homotopie H : X × [0, 1] → Y von f nach g gibt mit H(a, t) = H(a, 0) für
alle a ∈ A, t ∈ [0, 1]. Wir schreiben dann f ' g rel A.
Beispielsweise ist A ⊂ X genau dann ein starker Deformationsretrakt,
falls die Identität idX : X → X homotop relativ zu A zu einer Abbildung
f : X → X mit f (X) = A ist.
Lemma 11.2 (Reparametrisierungslemma). Es seien φ1 , φ2 : [0, 1] → [0, 1]
stetige Abbildung, die auf {0, 1} übereinstimmen. Es sei F : P × [0, 1] → Y
eine Homotopie. Setzen wir Gi (p, t) := F (p, φi (t)), so sind die Abbildungen
G1 , G2 : P × [0, 1] → Y homotop relativ zu P × {0, 1}.
Beweis. Die gesuchte Homotopie H : (P × [0, 1]) × [0, 1] → Y ist durch
(p, t, s) 7→ F (p, sφ2 (t) + (1 − s)φ1 (t))
gegeben.
Wir wenden dieses Lemma im folgenden für einpunktige Räume P , d.h.
für Wege in Y an.
Es sei X ein topologischer Raum und x0 ∈ X ein festgewählter Punkt
( Basispunkt“); wir sprechen auch von einem punktierten Raum. Wir defi”
nieren nun
π1 (X, x0 )
46
BERNHARD HANKE
als die Menge aller geschlossenen Wege γ : [0, 1] → X mit γ(0) = γ(1) = x0
von x0 nach x0 modulo der Äquivalenzrelation
γ1 ∼ γ2 :⇔ γ1 ' γ2 rel {0, 1} ,
d.h. wir identifizieren geschlossene Wege, die sich über geschlossene in x0
basierte Wege ineinander homotopieren lassen. Die durch γ : [0, 1] → X
repräsentierte Klasse in π1 (X, x0 ) bezeichnen wir mit [γ].
Es sei cx0 der konstante Wege in X mit Wert x0 . Ist γ ein Weg in X, so
bezeichnet γ −1 : [0, 1] → X, t 7→ γ(1 − t) den zu γ inversen Weg. Für in x0
basierte Wege γ1 , γ2 : [0, 1] → X bezeichnen wir mit
γ1 · γ2 : [0, 1] → X
(
γ1 (2t) , 0 ≤ t ≤ 1/2
t 7→
γ2 (2t − 1) , 1/2 ≤ t ≤ 1
die Hintereinanderausführung von γ1 und γ2 .
Proposition 11.3. Die Verknüpfung
(γ1 , γ2 ) 7→ γ1 · γ2
induziert eine Gruppenstruktur auf π1 (X, x0 ) mit neutralem Element [cx0 ].
Beweis. Ist γ1 ' γ10 rel {0, 1} und γ2 ' γ20 rel {0, 1}, so gilt auch γ1 · γ2 '
γ10 · γ20 rel {0, 1}. Dazu setzt man die entsprechenden Homotopien horizontal
zusammen. Wir erhalten also eine wohldefinierte Verknüpfung auf π1 (X, x0 ).
Das Assoziativgesetz folgt aus
γ1 · (γ2 · γ3 ) ' (γ1 · γ2 ) · γ3 rel {0, 1}
(für in x0 basierte Schleifen γ1 , γ2 , γ3 ). Diese Homotopie erhält man aus
dem Reparametrisierungslemma, wobei wir als P einen einpunktigen Raum
wählen, die Homotopie F : P × [0, 1] → Y als γ1 · (γ2 · γ3 ), die Abbildung
φ1 : [0, 1] → [0, 1] als die Identität und die Abbildung φ2 durch

2t, 0 ≤ t ≤ 1/4

t + 1/4, 1/4 ≤ t ≤ 1/2
t 7→

(t + 1)/2, 1/2 ≤ t ≤ 1
definieren. Die Neutralität von [cx0 ] folgt aus
cx0 · γ ' γ ' γ · cx0 rel {0, 1}
und dies beweist man ganz ähnlich wieder mit dem Reparametrisierungslemma. Die Existienz von Inversen folgt aus
γ −1 · γ ' cx0 ' γ · γ −1 rel {0, 1} .
Hier benutzen wir das Reparametrisierungslemma mit F (p, t) := γ(t),
2t , 0 ≤ t ≤ 1/2
φ1 (t) :=
1 − 2t , 1/2 ≤ t ≤ 1 .
und φ2 (t) := 0.
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
47
Wir schreiben die Verknüpfung auf π1 (X, x0 ) ebenfalls als ·, also
[γ1 ] · [γ2 ] := [γ1 · γ2 ] .
Wir nennen die π1 (X, x0 ) mit der soeben eingeführten Gruppenstruktur die
Fundamentalgruppe von (X, x0 ). Ist P = {p} ein einpunktiger Raum, so gilt
offensichtlich
π1 (P, p) = 1 .
Dabei bezeichnet hier und im folgenden 1 die Gruppe mit einem (dem neutralen) Element.
Offensichtlich hängt π1 (X, x0 ) nur von der Wegekomponenten von X ab,
die x0 enthält. Die Abhängigkeit vom Basispunkt x0 ist jedoch subtiler.
Proposition 11.4. Es seien x0 , x1 ∈ X Basispunkte in der gleichen Wegzusammenhangskomponente von X. Dann induziert jeder Weg η : [0, 1] → X
von x0 nach x1 einen Isomorphismus
ψη : π1 (X, x0 ) ∼
= π1 (X, x1 ) .
Es gilt ψη = ψη0 , falls η ' η 0 rel {0, 1}.
Beweis. Der Isomorphismus ist durch
ψη : π1 (X, x0 ) → π1 (X, x1 ) , [γ] 7→ [η −1 · γ · η]
gegeben (dabei ist γ eine in x1 basierte geschlossene Kurve in X). Wir
können auf der rechten Seite innerhalb der eckigen Klammern auf runde
Klammern verzichten, denn
(η −1 · γ) · η ' η −1 · (γ · η) rel {0, 1}
wie man ähnlich zu oben mit dem Reparametrisierungslemma zeigt. Zur
Wohldefiniertheit nehmen wir an, [γ 0 ] = [γ]. Man zeigt dann leicht, dass
η −1 · γ · η ' η −1 · γ 0 · η rel {0, 1}. Ganz ähnlich beweist man, dass ψη = ψη0 ,
falls η ' η 0 rel {0, 1}. Die Tatsache, dass ψη ein Homomorphismus ist folgt
aus
ψη ([γ] · [γ 0 ]) = [η −1 · γ · γ 0 · η] = [η −1 · γ · η · η −1 · γ 0 · η] = ψη ([γ]) · ψη ([γ 0 ]) ,
wobei wir η · η −1 ' cx0 rel {0, 1} benutzt haben. Ebenso einfach zeigt man
ψη ([cx0 ]) = [cx1 ]. Man zeigt leicht, dass ψη−1 ein Inverses zu ψη ist.
Ist η 0 ein anderer (möglicherweise nicht zu η homotoper) Weg von x0
nach x1 , so definiert (η 0 )−1 · η ein Element κ ∈ π1 (X, x0 ) und es gilt für alle
g ∈ π1 (X, x0 ), dass
ψη0 (g) = λ · ψη (g) · κ−1 ∈ π1 (X, x1 ) .
Somit gilt im allgemeinen ψη 6= ψη0 , falls π1 (X, x1 ) nicht abelsch ist.
Beispiel.
• Wir werden später sehen, dass π1 (S 1 , 1) ∼
= Z.
2
• Auch werden wir zeigen, dass π1 (RP , x0 ) ∼
= Z/2Z (mit einem beliebigen Basispunkt x0 ∈ RP 2 ).
48
BERNHARD HANKE
• Sei G eine beliebige Gruppe. Man kann zeigen, dass es einen Simplizialkomplex X mit Basispunkt x0 ∈ X gibt, so dass π1 (X, x0 ) ∼
= G.
Insofern ist das Gebiet der Topologie mindestens so reichhaltig wie
das der Gruppentheorie.
Es seien nun (X, x0 ) und (Y, y0 ) punktierte Räume. Wir nennen eine
stetige Abbildung f : X → Y basispunkterhaltend oder punktiert, falls
f (x0 ) = y0 . Ist f : X → Y eine punktierte Abbildung, so definieren wir
eine Abbildung
f∗ : π1 (X, x0 ) → π1 (Y, y0 )
durch die Setzung
f∗ ([γ]) := [f ◦ γ] .
Diese Abbildung ist wohldefiniert, denn ist H : [0, 1] × [0, 1] → X eine
Homotopie von γ nach γ 0 relativ {0, 1}, so ist f ◦ H eine Homotopie von f ◦ γ
nach f ◦γ 0 relativ {0, 1}. Indem man die Definition der Gruppenverknüpfung
auf π1 und die Definition des neutralen Elementes einsetzt, erhält man:
Proposition 11.5. Die Abbildung f∗ : π1 (X, x0 ) → π1 (Y, y0 ) ist ein Gruppenhomomorphismus. Sind f : (X, x0 ) → (Y, y0 ) und g : (Y, y0 ) → (Z, z0 )
punktierte stetige Abbildungen, so gilt
(g ◦ f )∗ = g∗ ◦ f∗ .
Für die (offensichtlich basispunkterhaltende) Abbildung idX : X → X haben
wir
idX ∗ = idπ1 (X,x0 ) .
Sind weiterhin f, g : X → Y punktierte stetige Abbildungen und ist f '
g rel {x0 }, so haben wir
f∗ = g∗ .
Definition 11.6. Wir nennen einen topologischen Raum X einfach zusammenhängend, falls X wegzusammenhängend ist und π1 (X, x0 ) = 1 (Gruppe mit einem Element) für ein (und damit nach Proposition 11.4 für alle)
x0 ∈ X.
Beispiel. Wir haben bereits früher gesehen (und werden später nochmal
zeigen), dass S 1 nicht einfach zusammenhängend ist.
Proposition 11.7. Ist X zusammenziehbar, so ist X einfach zusammenhängend.
Dass X wegzusammenhängend ist, ist klar. Zum Beweis von π1 (X, x0 ) = 1
sei P = {p} ein einpunktiger Raum und i : P → X und f : X → P ein Paar
von Abbildungen mit i ◦ f ' idX und f ◦ i ' idP (letzterest ist ohnehin klar,
da P nur einen Punkt hat). Wir erhalten induzierte Abbildungen
i∗ : π1 (P, p) → π1 (X, i(p)) , f∗ : (X, i(p)) → (P, p) .
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
49
Offensichtlich ist f ◦ i ' idP rel {p} und somit haben wir mit Proposition
11.5
f∗ ◦ i∗ = (f ◦ i)∗ = (idP )∗ = idπ1 (P,p) .
Da π1 (P, p) = 1, haben wir also bereits eine Hälfte der letzten Proposition
gezeigt. Dass i∗ ◦ f∗ = idπ1 (X,x0 ) ist jedoch nicht so einfach zu zeigen, da wir
nicht annehmen können, dass i ◦ f ' idX relativ zu x0 (d.h. es könnte sein,
dass der Basispunkt x0 während der Homotopie bewegt werden muss).
4.6.14
Die Aussage von Proposition 11.7 folgt aber (mit Y := P und (X, x0 ), f
wie eben) aus:
Proposition 11.8. Es seien X und Y wegzusammenhängende Räume und
es sei x0 ∈ X ein Basispunkt. Ist f : X → Y eine Homotopieäquivalenz, so
induziert f einen Isomorphismus
f∗ : π1 (X, x0 ) → π1 (Y, f (x0 )) .
Diese Proposition ist insofern allgemeiner als für den Beweis von Proposition 11.7 benötigt als wir hier nicht einmal annehmen, dass f ein Homotopieinverses g : Y → X hat mit g(f (x0 )) = x0 . Insbesondere habe wir unter
den Annahmen von Proposition 11.8 nicht einmal einen Kandidaten für eine
zu f∗ inverse Abbildung π1 (Y, f (x0 )) → π1 (X, x0 ).
Beweis von Proposition 11.8 . Es sei g : Y → X homotopieinvers zu f . Wir
setzen y0 := f (x0 ) und x1 := g(y0 ). Wir erhalten Abbildungen
f∗
g∗
π1 (X, x0 ) → π1 (Y, y0 ) → π1 (X, x1 ) .
Die Abbildung g ◦ f ist homotop zu idX , jedoch nicht unbedingt rel {x0 }.
Wir können also nicht unmittelbar folgern, dass g∗ ◦ f∗ = idπ1 (X,x0 ) . Daher
argumentieren wir so: Es sei
H : X × [0, 1] → X
eine Homotopie von idX nach g ◦ f . Es sei
η : [0, 1] → X
der Weg von x0 nach x1 , den der Punkt x0 während dieser Homotopie beschreibt. Ist nun γ : [0, 1] → X eine in x0 basierte Schleife, so gilt (hier hilft
eine Zeichnung)
g∗ ◦ f∗ ([γ]) = ψη ([γ]) ∈ π1 (X, x1 )
und da ψη : π1 (X, x0 ) → π1 (X, x1 ) ein Isomorphismus ist (siehe Proposition
11.4), ist g∗ ◦f∗ ebenfalls ein Isomorphismus. Insbesondere ist f∗ injektiv und
g∗ surjektiv. Da g : Y → X ebenfalls eine Homotopieäquivalenz ist, zeigt
ein analoges Argument, dass g∗ injektiv ist. Damit ist g∗ ein Isomorphismus.
Weil g∗ ◦ f∗ ein Isomorphismus ist, gilt dies schließlich auch für f∗ .
Beispiel. Rn ist zusammenziehbar und somit einfach zusammenhängend.
50
BERNHARD HANKE
Proposition 11.9. Für n ≥ 2 ist die Sphäre S n einfach zusammenhängend.
Beweis. Es sei x0 ∈ S n und γ : [0, 1] → S n eine in x0 basierte Schleife. Falls
es einen Punkt p ∈ S n gibt, der nicht im Bild von γ liegt, benutzen wir die
Tatsache, dass S n \ {p} ≈ Rn einfach zusammenhängend ist, um γ relativ
zu {0, 1} zu einem konstanten Weg zu homotopieren.
Es gibt allerdings für alle n ≥ 2 surjektive stetige Abbildungen [0, 1] →
S n (und somit auch surjektive geschlossene Wege). Stichwort: Peano-Kurve
oder space filling curve (siehe Internet). Daher argumentieren wir für den
allgemeinen Fall anders:
Es seien U , bzw. V die Sphäre S n ohne Nord, bzw. Südpol. Wir wählen als
Basispunkt in S n einen beliebigen Punkt x ∈ U ∩ V . Ist nun γ : [0, 1] → S n
eine in x basierte Schleife, so ist γ −1 (U ), γ −1 (V ) eine offene Überdeckung
von [0, 1]. Es sei λ ∈ R eine Lebesguezahl für diese Überdeckung. Es sei
N ∈ N so groß, dass 1/N < λ. Dann gilt für alle 0 ≤ k ≤ N − 1:
γ([k/N, (k + 1)/N ]) ⊂ U , oder γ([k/N, (k + 1)/N ]) ⊂ V .
Wir finden also endlich viele Zahlen 0 = z0 < z1 < . . . < zl = 1, so dass die
Bilder γ([zi , zi+1 ]) ⊂ S n entweder ganz in U oder ganz in V liegen und zwar
abwechselnd. Insbesondere ist γ(zi ) ∈ U ∩ V für alle i = 0, . . . , l. Es sei ηi
ein Weg in U ∩ V , der x mit γ(zi ) verbindet (i = 1, 2, . . . , l − 1). An dieser
Stelle geht die Voraussetzung n ≥ 2 entscheidend ein - denn nur dann ist
U ∩ V wegzusammenhängend. Wir setzen nun
γi := γ|[zi ,zi+1 ] .
Nach Präkomposition mit einem monoton wachsenden Homöomorphismus
[0, 1] → [zi , zi+1 ] können wir γi als auf [0, 1] definierten Weg auffassen. Es
gilt nun
−1
· γl−1 rel {0, 1}
γ ' γ0 · η1−1 · η1 · γ1 · η2−1 · η2 · . . . · ηl−1
Aber γ0 · η1−1 , η1 · γ1 · η2−1 , etc. sind alle in x basierte Schleifen, die entweder
ganz in U oder ganz in V verlaufen. Da U ≈ Rn und V ≈ Rn einfach zusammenhängend sind, sind diese Schleifen also alle homotop zur konstanten
Schleife cx relativ {0, 1}. Also gilt in π1 (S n , x):
−1
· γl−1 ] = 1
[γ] = [γ0 · η1−1 ] · [η1 · γ2 · η2−1 ] · . . . · [ηl−1
und dies war zu beweisen.
Die Konstruktion von π1 (X, x0 ) kann man wie folgt verallgemeinern:
Es sei n ≥ 0. Wir wählen auf S n ⊂ Rn+1 den festen Basispunkt p :=
(1, 0, 0, . . . , 0). Ist (X, x0 ) ein punktierter Raum, so definiert man
πn (X, x0 )
als die Menge der basispunkterhaltenden Abbildungen S n → X modulo
der Äquivalenzrelation, die zwei Abbildungen f und g genau dann identifiziert, falls f ' g rel {p}. Man zeigt leicht, dass diese Definition für n = 1
mit der vorherigen übereinstimmt. Falls n = 0, so ist nach dieser Definition
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
51
π0 (X, x0 ) genau die Menge der Wegzusammenhangskomponenten von X und
zwar unabhängig von der Wahl von x0 . Daher kann man bei π0 (X, x0 ) auch
auf die Angabe des Basispunktes verzichten. Wir haben weiterhin gesehen,
wie man auf π1 (X, x0 ) eine Gruppenstruktur definiert. Ein ähnliches Vorgehen führt zu Gruppenstrukturen auf πn (X, x0 ) für alle n ≥ 1. Man kann
zeigen, dass diese sogar abelsch ist, falls n ≥ 2. Auf π0 (X) ist jedoch keine
Gruppenstruktur definiert. Die Berechnung der Gruppen πn (X, x0 ) ist im
allgemeinen ein schwieriges und fundamentales Problem der algebraischen
Topologie. Beispielsweise sind die Gruppen πn (S 2 , p) nicht für alle n ≥ 2 explizit berechnet. (Für n = 1 kommt die einelementige Gruppe heraus, weil
S 2 einfach zusammenhängend ist).
12. Die Sprache der Kategorientheorie
Dieser Abschnitt fasst einige Begriffsbildungen der Kategorientheorie zusammen, die in der Topologie, aber auch in anderen Bereichen der Mathematik immer wieder auftauchen.
Wir behandeln hier die Kategorientheorie weniger als eigenständige mathematische Disziplin, sondern als Formulierung vereinheitlichender mathematischer Prinzipien.
Definition 12.1. Eine Kategorie C besteht aus den folgenden Daten:
• Eine Klasse ob C von Objekten von C.
• Für je zwei Objekte A, B ∈ C eine (möglicherweise leere) Menge
morC (A, B) von Morphismen von A nach B. Ist f ∈ morC (A, B), so
f
schreiben wir auch f : A → B oder A → B (dies heißt nicht unbedingt, dass f eine Abbildung ist!) und nennen A die Quelle (Domain) von f und B das Ziel (Codomain), geschrieben A = dom f ,
B = cod f . Wir bezeichnen die Klasse aller Morphismen in C mit
mor C.
• Eine Operation, die jedem Paar (f, g) von Morphismen aus C mit
cod f = dom g einen Morphismus g ◦ f ∈ mor C, die Komposition
”
von g und f“ zuordnet. Diese hat die Eigenschaften dom(g ◦ f ) =
dom f , cod(g ◦ f ) = cod g. Weiterhin ist diese Operation assoziativ,
d.h. falls f, g, h ∈ mor C, cod f = dom g, cod g = dom h, so haben
wir (h ◦ g) ◦ f = h ◦ (g ◦ f ).
1
A
• Eine Operation, die jedem A ∈ ob C einen Morphismus A −→
A
zuordnet, den Identitätsmorphismus. Dieser hat die Eigenschaften
f ◦ 1A = f und 1A ◦ g = g für alle Morphismen f, g ∈ mor C mit
dom f = A und cod g = A.
Wir machen die folgenden Bemerkungen:
• In dieser Definition benutzen wir die Begriffe Klasse“, Operati”
”
on“und das Zeichen ∈ im naiven Sinne, ohne Bezug auf die Mengenlehre. Insbesondere sind ob C und mor C nicht notwendigerweise
Mengen. Dies wird in den nachfolgenden Beispielen deutlich.
52
BERNHARD HANKE
• morC (A, B) und morC (A0 , B 0 ) sind disjunkt, falls A 6= A0 oder B 6=
B0.
• Die Einheitsmorphismen 1A für Objekte A ∈ ob C sind eindeutig
bestimmt: Ist 10A ein weiterer Einheitsmorphismus, so ist 1A = 1A ◦
10A = 10A .
f
Definition 12.2. Wir nennen einen Morphismus A −→ B in einer Kateg
gorie C einen Isomorphismus, falls in C ein Morphismus B −→ A existiert
mit f ◦ g = 1B und g ◦ f = 1A . Wir schreiben dann statt g auch f −1 und
nennen diesen Morphismus das Inverse von f .
Diese Begriffsbildungen leben von der Fülle an Beispielen in allen Bereichen der Mathematik.
Beispiel.
• Die Kategorie Set der Mengen hat als Objekte alle Mengen (in irf
gendeinem Modell der Mengenlehre), und als Morphismen A −→ B
die Abbildungen f : A → B. Die Verknüpfung f ◦ g ist durch die
übliche Komposition von Abbildungen definiert und ist A ∈ ob Set
eine Menge, so definieren wir 1A als die Identität A → A. In dieser
Kategorie sind die invertierbaren Morphismen genau die bijektiven
Abbildungen.
• Wir haben die Kategorien Grp von Gruppen und Gruppenhomomorphismen, Rng von Ringen und Ringhomomorphismen, M odR
von R-Moduln (für einen festen Ring R) und R-linearen Abbildungen, V ectk von k-Vektorräumen (k ein fester Körper) und k-linearen
Abbildungen, etc.
• Wir bezeichnen mit T op die Kategorie der topologischen Räume und
der stetigen Abbildungen und mit M et die Kategorie der metrischen
Räume und der stetigen Abbildungen. Mit KompHaus bezeichnen
wir die Kategorie der kompakten Hausdorffräume und der stetigen
Abbildungen und mit T op∗ die Kategorie der punktierten topologischen Räume und basispunkterhaltenden stetigen Abbildungen.
• Es sei C eine Kategorie mit nur einem Objekt e und mit der Eigenschaft, dass jeder Morphismus in C ein Isomorphismus ist. Dann ist
insbesondere C durch die Menge mor C und die Verknüpfung ◦ von
Morphismen sowie die Identität 1e ∈ mor C eindeutig bestimmt und
das Tripel (mor C, ◦, 1e ) bildet eine Gruppe. Allgemeiner definieren
wir ein Gruppoid als eine Kategorie, in der alle Morphismen Isomorphismen sind. Ein wichtiges Beispiel ist das Fundamentalgruppoid π(X) eines topologischen Raumes X. Dieses hat als Objekte
die Punkte aus X und sind x, y ∈ X Objekte von π(X), so besteht die Menge von Morphismen x −→ y aus der Menge von Wegen
γ : [0, 1] → X von x nach y, wobei wir γ und γ 0 identifizieren,
falls γ ' γ 0 rel {0, 1}. Man zeigt ganz ähnlich wie in der früheren
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
53
Diskussion der Fundamentalgruppe, dass π(X) wirklich ein Gruppoid ist. Das Fundamentalgruppoid vermeidet also die Festlegung
auf einen Basispunkt in X, allerdings erhält man auch nur weniger
algebraische Struktur (nämlich die eines Gruppoides und nicht einer
Gruppe).
• Jede partiell geordnete Menge (P, ≤) können wir als Kategorie interpretieren mit ob C = P und (p → q) ∈ mor C genau dann, falls
p ≤ q. Für Objekte p, q ∈ P gibt es also höchstens einen Morphismus p → q. Für p ∈ P ist der Identitätsmorphismus der Morphismus
p → p. Dieser existiert, da p ≤ p.
• Die Kategorie Rel von Mengen und Relationen hat die selben Objekte wie Set, aber Morphismen A → B sind in dieser Kategorie Relationen zwischen A und B, d.h. Teilmengen von A×B. Sind R ⊂ A×B
S◦R
und S ⊂ B × C Relationen, so ist die Komposition A −→ C die Relation {(a, c) ∈ A × C | ∃b ∈ B mit (a, b) ∈ R, (b, c) ∈ S} zwischen
A und C. In dieser Kategorie sind die Isomorphismen wieder genau
die bijektiven Abbildungen (dies muss man sich kurz überlegen).
• Es sei C eine Kategorie und ∼ eine Äquivalenzrelation auf mor C, so
dass
– f ∼ g ⇒ dom f = dom g, cod f = cod g.
– Ist f ∼ g und ist k ∈ mor C mit cod f = dom k (bzw. dom f =
cod k), so gilt k ◦ f ∼ k ◦ g (bzw. f ◦ k ∼ g ◦ k).
Dann können wir eine neue Kategorie C/ ∼ definieren mit ob(C/ ∼
) := ob C und mor(C/ ∼) := (mor C)/ ∼. So erhalten wir zum Beispiel die Homotopiekategorie HT op = T op/ ∼, wobei zwei Morphismen f und g genau dann äquivalent sind, falls f ' g. Die Isomorphismen in dieser Kategorie werden durch Homotopieäquivalenzen
repräsentiert. Die Kategorie HT op∗ hat als Objekte die punktierten topologischen Räume und als Morphismen basispunkterhaltende
Homotopieklassen von basispunkterhaltenden stetigen Abbildungen.
11.6.14
Definition 12.3. Es seien C und D Kategorien. Ein Funktor F : C → D
besteht aus zwei Abbildungen (die beide F genannt werden) ob C → ob D und
mor C → mor D, so dass dom F (f ) = F (dom f ) und cod F (f ) = F (cod f )
für alle f ∈ mor C, F (1A ) = 1F (A) für alle A ∈ ob C und F (g ◦ f ) = F (g) ◦
F (f ) für alle komponierbaren Morphismen g, f ∈ mor C.
Beispiel.
• Für die Kategorien Grp, AbGp, Rng, T op, ..., gibt es Funktoren U in
die Kategorie Set, den Vergissfunktor. Ist z.B. G eine Gruppe, so ist
U (G) die unterliegende Menge von G und ist f : G → H ein Gruppenhomomorphismus, so ist U (f ) : U (G) → U (H) die Abbildung f ,
betrachtet als Abbildung zwischen Mengen.
54
BERNHARD HANKE
• Sind G und H Gruppen (die wir wie vorhin erklärt als Kategorien
auffassen), so ist ein Funktor G → H nichts anderes als ein Gruppenhomomorphismus.
• Der Potenzmengenfunktor P : Set → Set schickt eine Menge A zur
Menge P (A) aller Teilmengen von A. Falls f : A → B eine Abbildung
ist, so ist P (f )(X) := f (X) ⊂ B für alle X ⊂ A.
• Sind P und Q partiell geordnete Mengen (die wir wie vorhin erklärt
als Kategorien auffassen), so ist ein Funktor P → Q nichts anderes
als eine ordnungserhaltende Abbildung P → Q.
• π0 definiert einen Funktor T op → Set und auch einen Funktor
HT op → Set. π1 definiert einen Funktor T op∗ → Grp und auch
einen Funktor HT op∗ → Grp. Ähnlich definiert das Fundamentalgruppoid π(X) einen Funktor T op → Gpd, wobei Gpd die Kategorie
der Gruppoide und der Funktoren zwischen ihnen ist.
In vielen Situationen ist es nützlich, die Definition von Funktoren noch
wie folgt zu verallgemeinern:
Definition 12.4. Es seien C und D Kategorien. Ein Funktor im Sinne
von Definition 12.3 heißt kovarianter Funktor. Ein kontravarianter Funktor
F : C → D ist dagegen definiert durch zwei Abbildungen F : ob C → ob D,
F : mor C → mor D, wobei aber nun folgendes gilt: Ist f : A → B ein
Morphismus in C, so gilt dom F (f ) = F (B) und cod F (f ) = F (A), d.h.
F dreht Pfeile um. Es gilt außerdem für alle Morphismen f : A → B,
g : B → C in mor C, dass F (g ◦ f ) = F (f ) ◦ F (g). Weiterhin fordern wir
wie früher F (1A ) = 1F (A) für alle A ∈ ob C.
Beispiel.
• Wir haben einen kontravarianten Funktor P ∗ : Set → Set mit der
gleichen Wirkung auf den Objekten von Set wie der Potenzmengenfunktor, jedoch ist P ∗ (f )(Y ) := f −1 (Y ) für alle Y ⊂ B.
• Es sei k ein Körper. Dann gibt es einen kontravarianten Funktor ∗ :
V ectk → V ectk , der einem k-Vektorraum V den dualen Vektorraum
V ∗ = homk (V, k) zuordnet und einer linearen Abbildung f : V → W
die lineare Abbildung f ∗ : W ∗ → V ∗ definiert durch f ∗ (φ) := φ ◦ f
für alle φ ∈ homk (V, k).
• Wir erhalten einen kontravarianten Funktor C von der Kategorie der kompakten Hausdorffräume und stetigen Abbildungen in
die Kategorie der kommutativen C ∗ -Algebren mit Eins und ∗Homomorphismen zwischen diesen, indem wir einem Raum X die
Algebra C(X) der stetigen komplexwertigen Funktionen X → C
zuordnen und einer stetigen Abbildung f : X → Y den ∗Homomorphismus C(f ) : C(Y ) → C(X), ϕ 7→ ϕ ◦ f
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
55
Definition 12.5. Es seien F, G : C → D Funktoren. Eine natürliche Transformation α : F → G ist eine Abbildung
ob C → mor D
A 7→ αA
α
A
so dass F (A) −→
G(A) für alle A ∈ ob C und so dass für jeden Morphismus
f
A −→ B in C das Diagramm
F (f )
F (A) −−−−→ F (B)




αA y
αB y
G(f )
G(A) −−−−→ G(B)
kommutiert. Ist H : C → D ein weiterer Funktor und β : G → H eine
natürliche Transformation, so können wir die Komposition β ◦ α : F → H
bilden, indem wir (β ◦ α)A := βA ◦ αA setzen. Wir haben auch eine natürli1F (A)
che Transformation 1F : F → F , wobei (1F )A als F (A) −→ F (A) definiert wird. Auf diese Weise erhalten wir eine Kategorie [C, D] der Funktoren C → D und der natürlichen Transformationen zwischen ihnen. Die
Isomorphismen in dieser Kategorie nennen wir natürliche Isomorphismen.
Eine natürliche Transformation α ist genau dann ein natürlicher Isomorphismus, wenn alle αA Isomorphismen sind.
Beispiel.
• Es sei k ein Körper und C = D = V ectk . Die Zuordnungen
V 7→ V ∗∗ , f 7→ f ∗∗ f ür f : V → W linear
definieren einen kovarianten Funktor ∗∗ : C → D und es gibt eine
natürliche Transformation α : 1V ectk → ∗∗ gegeben durch
α
V
V 7→ αV , V −→
V ∗∗ , αV (v) := Auswertung auf v .
Schränken wir α auf die Kategorie f dV ectk der endlichdimensionalen Vektorräume ein, so ist αV ein Isomorphismus für jedes V ∈
ob f dV ectk . Daher definiert α einen Isomorphismus in der Funktorkategorie [f dV ectk , f dV ectk ].
• Mit LC bezeichnen wir die Kategorie, deren Objekte lokalkompakte
Hausdorffräume und deren Morphismen von X nach Y eigentliche
stetige Abbildungen von X nach Y sind. Die Einpunktkompaktifizierung ist ein Funktor F : LC → KompHaus∗ und die Entfernung
des Basispunktes ein Funktor G : KompHaus∗ → LC.
Die Komposition G ◦ F ist natürlich isomorph zu 1LC und F ◦ G
ist natürlich isomorph zu 1KompHaus∗ .
56
BERNHARD HANKE
13. Überlagerungen
Gruppen dienen der Beschreibung von Symmetrien. Die Fundamentalgruppe eines topologischen Raumes entspricht in vielen Fällen den Symmetrien eines gewissen Überlagerungsraumes“. In diesem Abschnitt werden
”
einige Grundlagen der Überlagerungstheorie entwickelt.
Definition 13.1. Es sei p : X → Y eine stetige Abbildung topologischer Räume und U ⊂ Y eine Teilmenge. Wir sagen, U wird durch p
gleichmäßig überlagert, falls es einen diskreten topologischen Raum D und
einen Homöomorphismus φ : p−1 (U ) ≈ U ×D gibt, so dass mit der Standardprojektion π : U × D → U auf den ersten Faktor die Abbildungen p und π ◦ φ
auf p−1 (U ) übereinstimmen, d.h. das folgende Diagramm ist kommutativ:
φ
p−1 (U ) −−−−→ U × D




py
πy
U
=
−−−−→
U
Die Abbildung p ist eine Überlagerung, falls jeder Punkt in Y eine Umgebung
besitzt, die durch p gleichmäßig überlagert wird.
Beispielsweise ist
R → S 1 , t 7→ e2πit
eine Überlagerung.
Ist p eine Überlagerung, so ist p ein lokaler Homöomorphismus, d.h. jeder Punkt in X besitzt eine Umgebung U , so dass p|U : U → p(U ) ein
Homöomorphismus ist. Diese letzte Eigenschaft impliziert aber in der Regel
nicht, dass p eine Überlagerung ist wie das Beispiel
(0, 1) → S 1 , t 7→ e2πit
zeigt.
Es sei p : X → Y eine Überlagerung und Y zusammenhängend. Ist für
ein y ∈ Y das Urbild p−1 (y) ⊂ X eine endliche Teilmenge mit d Elementen,
so gilt dies für alle y ∈ Y , denn y 7→ ](p−1 (y)) (Anzahl der Elemente des
Urbildes) ist eine lokalkonstante Funktion (in dem Sinne, dass jeder Punkt
in Y eine Umgebung besitzt, auf der die Funktion konstant ist), falls p
eine Überlagerung ist. Wir nennen dann p eine d-blättrige Überlagerung.
Ansonsten heißt p eine unendliche Überlagerung.
Die fundamentale Eigenschaft von Überlagerungen ist die folgende ein”
deutige Wegeliftungseigenschaft“.
Proposition 13.2. Es sei p : X → Y eine Überlagerung und γ : [0, 1] → Y
ein Weg. Ist x ∈ X ein Punkt mit p(x) = γ(0), so gibt es einen eindeutig
bestimmten Weg γ
e : [0, 1] → X mit γ
e(0) = x und p ◦ γ
e = γ.
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
57
Beweis. Wir überdecken Y durch offene Teilmengen, die gleichmäßig durch
p überlagert werden. Die Urbilder dieser Mengen unter γ bilden eine offene Überdeckung von [0, 1]. Wir wählen eine Lebesguezahl λ für diese Überdeckung und n ∈ N so groß, dass 1/n ≤ λ. Da dann für alle
k ∈ {0, 1, . . . , n − 1} das Bild γ([k/n, (k + 1)/n]) ganz in einer Teilmenge
von Y liegt, die gleichmäßig überlagert wird, können wir γ
e induktiv definieren, wobei im k-ten Schritt γ
e am Punkt k/n bestimmt ist und über
[k/n, (k + 1)/n] ausgedehnt werden muss. Dies ist eindeutig möglich, da
γ([k/n, (k + 1)/n]) ⊂ Y gleichmäßig überlagert ist.
16.6.14
Wege sind spezielle Arten von Homotopien (nämlich von Abbildungen,
die auf einer einpunktigen Menge definiert sind). Das folgende Theorem ist
daher eine Verallgemeinerung der eben bewiesenen Proposition.
Satz 13.3 (Homotopie-Liftungstheorem). Es sei p : X → Y eine Überlagerung und
F : W × [0, 1] → Y
eine Homotopie. Weiterhin sei f˜ : W → X eine Liftung von F (−, 0), d.h.
p ◦ fe = F (−, 0). Dann existiert genau eine Homotopie
Fe : W × [0, 1] → X
mit Fe(−, 0) = fe und p ◦ Fe = F .
Beweis. Wir definieren für alle w ∈ W die Abbildung Fe auf {w} × [0, 1]
gemäß der vorhergehenden Proposition. Hier beachtet man, dass Fe(w, 0) =
fe(w) ∈ X, also der Anfangspunkt des gelifteten Weges, vorgegeben ist.
Diese Liftung erfüllt p ◦ Fe = F . Außerdem ist die Liftung Fe eindeutig (denn
die Liftung von Wegen ist eindeutig). Zu zeigen bleibt die Stetigkeit der so
definierten Abbildung Fe : W × [0, 1] → X.
Es sei (w, t) ∈ W × [0, 1]. Indem wir die Kompaktheit von [0, 1] und
die Existenz einer Lebesguezahl ausnutzen, finden wir ein n ∈ N, und eine
Umgebung U ⊂ W von w, so dass F (U × [k/n, (k + 1)/n]) für alle 0 ≤ k ≤
n − 1 in einer Teilmenge von Y liegt, die durch p gleichmäßig überlagert
wird.
Wir zeigen induktiv, dass es für alle 0 ≤ k ≤ n eine Umgebung Uk von
w gibt mit Uk ⊂ U und Fe stetig auf Uk × [0, k/n]. Für k = n folgt daraus
die Stetigkeit von Fe auf Un × [0, 1] und daraus die Behauptung, da w ∈ W
beliebig war und Stetigkeit eine lokale Eigenschaft ist.
Wir setzen U0 := U . Angenommen, Uk ist bereits konstruiert. Wegen
Uk ⊂ U liegt dann F (Uk × [k/n, k + 1/n]) in einer Teilmenge Z ⊂ Y , die
durch p gleichmäßig überdeckt wird. Sei nun D eine diskrete Menge und
φ : p−1 (Z) ≈ Z × D wie in Definition 13.1. Es sei d ∈ D das eindeutig
bestimmte Element mit Fe(w, k/n) ∈ T ×{d}. Die Teilmenge Z ×{d} ⊂ Z ×D
58
BERNHARD HANKE
ist offen, da D ein diskreter Raum ist. Weil wir Fe auf Uk × {k/n} bereits
als stetig nachgewiesen haben, ist somit
(Fe|Uk ×{k/n} )−1 (Z × {d}) ⊂ Uk × {k/n}
eine offene Teilmenge. Wir schreiben diese als Uk+1 × {k/n} und erhalten so
eine Umgebung Uk+1 ⊂ Uk von w in W .
Nach der Konstruktion von Fe (durch Liftung von Wegen) ist aber nun Fe
auf Uk+1 × [k/n, (k + 1)/n] genau durch die Abbildung
(v, t) 7→ (p|φ−1 (Z×{d}) )−1 ◦ F
gegeben und damit stetig.
Somit ist Fe auf Uk+1 × [0, k/n] und auch auf Uk+1 × [k/n, (k + 1)/n]
stetig. Da beide Mengen abgeschlossen in Uk+1 × [0, (k + 1)/n] sind, folgt
die Stetigkeit von Fe auf Uk+1 × [0, (k + 1)/n].
Dieses Theorem hat einige bemerkenswerte Korollare. Es sei dabei immer
p : X → Y eine Überlagerung.
Korollar 13.4. Es seien γ0 , γ1 Wege in Y mit den gleichen Anfangs- und
Endpunkten und mit γ0 ' γ1 rel {0, 1}. Es seien γ
e0 , γ
e1 : [0, 1] → X Liftungen
von γ0 und γ1 mit den gleichen Anfangspunkten x0 ∈ X. Dann gilt γ
e0 (1) =
γ
e1 (1) und γ
e0 ' γ
e1 rel {0, 1}.
Beweis. Wir setzen W := [0, 1] und fassen dies als Parameterraum für die
Kurven γ0 und γ1 auf. Es sei F : W × [0, 1] → Y eine Homotopie rel {0, 1}
von γ0 nach γ1 und Fe : W × [0, 1] → X der eindeutig bestimmte Lift
mit Anfangsdatum Fe(t, 0) = γ
e0 (t). Aus der eindeutigen Liftung von Wegen
e
ergibt sich, dass F (0, s) = x0 für alle s ∈ [0, 1]. Insbesondere sehen wir, dass
Fe(−, 1) : W → X der eindeutig bestimmte Lift von γ1 mit Anfangspunkt x0
sein muss, also gleich γ
e1 ist. Da F eine Homotopie relativ zu den Endpunkten
war, muss Fe(1, s) ∈ X ebenfalls konstant sein (nämlich gleich dem Endpunkt
des Liftes γ
e0 ). Somit ist Fe eine Homotopie rel {0, 1} von γ
e0 nach γ
e1 .
Korollar 13.5. Es sei γ : [0, 1] → Y ein geschlossener Weg, der homotop zu
einem konstanten Weg rel {0, 1} ist. Dann ist jeder Lift γ
e : [0, 1] → X auch
ein geschlossener Weg und homotop zu einem konstanten Weg rel {0, 1}.
Korollar 13.6. Es sei Y ein wegzusammenhängender Raum, der eine wegzusammenhängende nichttriviale Überlagerung p : X → Y besitzt, d.h. p ist
mindestens zweiblättrig. Ist y0 ∈ Y , so gilt π1 (Y, y0 ) 6= 1.
Beweis. Es seien x1 , x2 ∈ X zwei verschiedene Punkte über y0 und es sei γ :
[0, 1] → X ein Weg, der x1 mit x2 verbindet. Dann ist p ◦ γ ein geschlossener
Weg in Y , der sich nicht zu einem geschlossenen Weg in X liften lässt (sonst
wären alle Lifts geschlossen, aber γ ist ein nichtgeschlossener Lift). Dieser
Weg in Y kann also nicht homotop zu einem konstanten Weg relativ zu den
Endpunkten sein.
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
59
Da die kanonische Projektion S 2 → RP 2 = S 2 / ∼ eine Überlagerung
ist (siehe Blatt 11), folgt aus dem letzten Korollar, dass RP 2 nichttriviale
Fundamentalgruppe hat (bzgl. eines beliebigen Basispunktes). Andererseits
ist S 2 einfach zusammenhängend (siehe Proposition 11.9). Insgesamt folgt
also
Korollar 13.7. RP 2 ist nicht homöomorph zu S 2 .
Wir berechnen nun explizit die Fundamentalgruppe des Kreises S 1 . Wir
betrachten dazu wieder die Exponentialabbildung
p : R → S 1 , t 7→ e2πit .
Diese ist eine Überlagerung. Es sei f : [0, 1] → S 1 ein bei 1 ∈ S 1 basierter
geschlossener Weg. Es sei fe : [0, 1] → R die Liftung von f mit fe(0) = 0. Wir
setzen
deg f := fe(1) ∈ Z .
Wie wir bereits bewiesen haben, hängt deg f nur von der Homotopieklasse
von f relativ {0, 1} ab. Daher erhalten wir eine induzierte Abbildung
deg : π1 (S 1 , 1) → Z .
Wir zeigen:
Proposition 13.8. Die Abbildung deg ist ein Gruppenisomorphismus.
Beweis. Wir zeigen zunächst, dass deg ein Homomorphismus ist. Seien dazu
f, g : [0, 1] → S 1 bei 1 basierte geschlossene Wege. Es seien fe, ge : [0, 1] → R
die Liftungen von f und von g mit Anfangspunkt 0 ∈ R. Wir setzen n :=
fe(1), m := ge(1). Dann ist die Komposition
fe · (e
g + n) : [0, 1] → R
der eindeutig bestimmte Lift von f ·g mit Anfangspunkt 0 ∈ R. Somit haben
wir
deg(f · g) = (fe · (e
g + n))(1) = m + n = deg(f ) + deg(g) .
Die Abbildung deg ist surjektiv, denn ist γ : [0, 1] → R ein Weg mit Anfang
0 und Ende n ∈ Z, so gilt deg([p ◦ γ]) = n. Die Abbildung deg ist aber auch
injektiv: Angenommen f : [0, 1] → S 1 ist ein in 1 basierter geschlossener Weg
mit deg f = 0. Dann gilt fe(1) = 0, d.h. auch fe : [0, 1] → R ist ein geschlossener Weg. Diesen können wir in R relativ {0, 1} auf den konstanten Weg mit
Wert 0 ∈ R zusammenziehen. Komposition einer solchen Homotopie mit p
zeigt, dass [f ] ∈ π1 (S 1 , 1) das neutrale Element repräsentiert.
Es sei nun f : S 1 → S 1 eine Abbildung mit f (1) = 1. Wir können diese
als geschlossenen in 1 basierten Weg [0, 1] → S 1 auffassen. Wir definieren
dann deg f ∈ Z wie eben und nennen diese Zahl den Abbildungsgrad von f .
Man sieht:
Proposition 13.9. Die Abbildung S 1 → S 1 , z 7→ z n hat Abbildungsgrad n
für alle n ∈ Z.
60
BERNHARD HANKE
Die gerade konstruierte Abbildung f : S 1 → S 1 induziert auch eine Abbildung f∗ : π1 (S 1 , 1) → π1 (S 1 , 1). Identifizieren wir π1 (S 1 , 1) mit Z über
den gerade erhaltenen Isomorphismus, so haben wir
deg f = f∗ (1) ∈ Z .
S1
S1
Ist f :
→
eine beliebige stetige Abbildung (nicht unbedingt basispunkterhaltend), so induziert f immer noch eine Abbildung f∗ : π1 (S 1 , 1) →
π1 (S 1 , f (1)). Letzte Gruppe ist kanonisch isomorph zu π1 (S 1 , 1) ∼
= Z, da
π1 (S 1 , 1) abelsch ist (vgl. Proposition 11.4). Wir erhalten also wieder einen
wohldefinierten Abbildungsgrad deg f := f∗ (1) ∈ Z. Man überzeugt sich,
dass dieser nur von der Homotopieklasse von f abhängt (wobei die betrachteten Homotopien nicht basispunkterhaltend sein brauchen): Ist H :
S 1 × [0, 1] → S 1 eine Homotopie, so bezeichne η den Weg t 7→ H(1, t). Man
überzeugt sich wie im Beweis von Proposition 11.8, dass für jedes Element
g ∈ π1 (S 1 , 1) gilt:
(H1 )∗ (g) = ψη ((H0 )∗ (g)) .
Nach Identifikation von π1 (S 1 , H0 (1)) und π1 (S 1 , H1 (1)) mit π1 (S 1 , 1) werden also (H0 )∗ (g) und (H1 )∗ (g) auf das gleiche Element abgebildet (hier
benutzen wir wieder, dass π1 (S 1 , 1) abelsch ist). Bezeichnen wir mit [S 1 , S 1 ]
die Menge der Homotopieklassen von Abbildungen S 1 → S 1 , so erhalten wir
also eine kanonische Bijektion
[S 1 , S 1 ] → Z , [f ] 7→ deg f .
Insbesondere trägt [S 1 , S 1 ] eine Gruppenstruktur.
18.6.14
Korollar 13.10 (Fundamentalsatz der Algebra). Es sei P ein nichtkonstantes Polynom mit komplexen Koeffizienten. Dann hat P eine Nullstelle in C.
Beweis. Ohne Einschränkung können wir annehmen, dass
P (X) = X n + an−1 X n−1 + . . . + an
mit n > 0. Falls P keine Nullstellen hat, können wir die Homotopie
tn P ((1 − t)z/t)
P ((1 − t)z/t)
= n
S 1 × [0, 1] → S 1 , F (z, t) :=
|P ((1 − t)z/t)|
|t P ((1 − t)z/t)|
betrachten. Da
tn P ((1 − t)z/t) = (1 − t)n z n + an−1 (1 − t)n−1 z n−1 t + . . . + a0 tn ,
ist F auch bei t = 0 definiert und dort stetig. Wir haben F (z, 0) = z n und
F (z, 1) = P (0)/|P (0)|. Daher ist die Abbildung S 1 → S 1 , z → z n homotop
zu einer konstanten Abbildung, im Widerspruch (wegen n > 0) dazu, dass
diese Abbildungen unterschiedlichen Abbildungsgrad haben.
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
61
Wir wenden uns nun einer Variante des vorhin besprochenen Liftungsproblems zu. Es sei p : X → Y eine Überlagerung, x0 ∈ X ein Punkt und
y0 := p(x0 ). Es sei W ein topologischer Raum und f : W → Y eine stetige Abbildung. Es sei w0 ∈ W ein Punkt mit f (w0 ) = y0 . Existiert dann
eine stetige Abbildung fe : W → X, so dass p ◦ fe = f und fe(w0 ) = x0 ?
Dieses Problem hat nicht in jedem Falle eine Lösung, wie man am Beispiel
p : R → S 1 , t 7→ e2πit , W = S 1 und f : S 1 → S 1 = id sieht. Der folgende Satz gibt aber eine umfassende Antwort. Wir brauchen zunächst einen
neuen Begriff aus der mengentheoretischen Topologie.
Definition 13.11. Ein topologischer Raum X heißt lokal wegzusammenhängend, wenn für jeden Punkt x ∈ X und jede Umgebung U ⊂ X
von x eine wegzusammenhängende Umgebung V ⊂ X von x existiert mit
V ⊂ U.
Satz 13.12 (Liftungstheorem). Es sei die Situation wie vor der Definition
gegeben. Darüberhinaus sei W wegzusammenhängend und lokal wegzusammenhängend. Dann existiert eine Lösung fe : W → X des Liftungsproblems
genau dann, falls
f∗ (π1 (W, w0 )) ⊂ im(p∗ : π1 (X, x0 ) → π1 (Y, y0 )) .
In diesem Fall ist die Liftung fe sogar eindeutig.
Beweis. Die im Theorem beschriebene Bedingung ist notwendig für die Existenz von fe, da dann
f∗ = p∗ ◦ fe : π1 (W, w0 ) → π1 (Y, y0 ) .
wegen der Funktorialität von π1 . Es sei nun die angegebene Bedingung
erfüllt. Wir versuchen fe wie folgt zu konstruieren: Es sei w ∈ W beliebig. Da W wegzusammenhängend ist, existiert ein Weg γ : [0, 1] → W von
w0 nach w. Wir definieren fe(w) als den Endpunkt des Lifts f]
◦ γ von f ◦ γ
mit Anfangspunkt x0 .
Als erstes zeigen wir, dass diese Definition nicht von der Auswahl des
Weges γ abhängt. Sei also γ 0 : [0, 1] → W ein anderer Weg von w0 nach w.
Dann ist γ · (γ 0 )−1 ein geschlossener in w0 basierter Weg. Damit ist auch
f ◦ (γ · (γ 0 )−1 ) ein geschlossener in y0 basierter Weg. Nach Voraussetzung
liegt er im Bild von p∗ : π1 (X, x0 ) → π1 (Y, y0 ) und lässt sich daher zu einem geschlossenen Weg in X mit Anfangspunkt x0 liften. Dies folgt aus
dem Homotopieliftungstheorem 13.3, da Lifts von relativ zu den Endpunkten homotopen Wegen wieder homotop relativ zu den Endpunkten sind. Da
dieser Lift Endpunkt x0 hat, muss er mit der Komposition (f]
◦ γ)·(f^
◦ γ 0 )−1
übereinstimmen (nach der eindeutigen Wegeliftungseigenschaft). Insbesondere gilt also f]
◦ γ(1) = f^
◦ γ 0 (1) und obige Definition von fe ist unabhängig
von der Wahl von γ.
62
BERNHARD HANKE
Offensichtlich gilt p ◦ fe = f , g(w0 ) = x0 und jede Lösung des Liftungsproblems muss mit dem eben definierten fe übereinstimmen (wegen der eindeutigen Wegeliftungseigenschaft).
Es bleibt noch zu zeigen, dass das eben definierte fe stetig ist. Sei w ∈ W
und y := f (w). Wir wählen eine offene Umgebung U ⊂ Y von y, die durch
p gleichmäßig überdeckt wird, und eine wegzusammenhängende Umgebung
V ⊂ W von w mit f (V ) ⊂ U . Insbesondere ist also
φ
p−1 (f (V )) ≈ f (V ) × D
mit einer diskreten Menge D, wobei der Homöomorphismus φ mit p und der
Projektion f (V ) × D → f (V ) verträglich ist. Wir wählen d ∈ D so, dass
fe(w) ∈ φ−1 (f (V ) × {d}) und setzen
Z := φ−1 (f (V ) × {d}) ⊂ X .
Man beachte, dass die Einschränkung
p|Z : Z → f (V ) ⊂ Y
ein Homöomorphismus ist (gegeben durch die Komposition von φ mit der
Projektion f (V ) × {d} → f (V )).
Es sei nun γ ein fester Weg in W von w0 nach w. Ist w0 ∈ V , so können wir
einen Weg von w0 nach w0 konstruieren, indem wir γ mit einem kleinen in V
gelegenen Weg γw0 komponieren, der w mit w0 verbindet. Nach Konstruktion
von fe gilt also
fe|V = (p|Z )−1 ◦ f |V
Daher ist fe|V stetig.
Man kann sich an Beispielen überzeugen, dass die Voraussetzung W lokal
”
wegzusammenhängend“ wirklich notwendig ist.
Aus dem eben bewiesenen Satz folgt, dass das Liftungsproblem immer
eindeutig lösbar ist, falls W einfach zusammenhängend und lokal wegzusammenhängend ist.
Definition 13.13. Es sei p : X → Y eine Überlagerung. Eine Decktransformation dieser Überlagerung ist ein Homöomorphismus φ : X → X mit
p ◦ φ = p.
Die Decktransformationen einer Überlagerung bilden eine Gruppe mit der
Komposition als Verknüpfung. Wir nennen diese Gruppe Deck(p).
Korollar 13.14. Es seien p : X → Y eine Überlagerung und x0 , x1 ∈ X
mit p(x0 ) = p(x1 ). Falls X einfach zusammenhängend und lokal wegzusammenhängend ist, so gibt es eine eindeutig bestimmte Decktransformation
φ : X → X mit φ(x0 ) = x1 .
Beweis. Nach dem Liftungstheorem existiert ein (stetiger) Lift von φ : X →
X von p : X → Y mit φ(x0 ) = x1 . Entsprechend gibt es einen stetigen Lift
ψ : X → X von p : X → Y mit ψ(x1 ) = x0 . Daher ist ψ ◦ φ der eindeutige
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
63
Lift X → X von p : X → Y , der x0 auf x0 schickt. Er muss also (nach
Eindeutigkeit der Lösung des Liftungsproblems) mit idX übereinstimmen.
Entsprechend folgt φ ◦ ψ = idX . Die Abbildung φ ist also in der Tat ein
Homöomorphismus.
23.6.2014
Definition 13.15. Eine Überlagerung p : X → Y heißt universell, falls p
surjektiv, X einfach zusammenhängend und lokal wegzusammenhängend ist.
Direkt aus dem Liftungstheorem ergibt sich:
Proposition 13.16. Es seien p : X → Y und p0 : X 0 → Y universelle
Überlagerungen. Dann gibt es einen Homöomorphismus φ : X → X 0 mit
p0 ◦ φ = p.
(Man sollte sich klarmachen, warum in der Proposition die Surjektivität
von p und von p0 benötigt werden).
Dieser Homöomorphismus φ ist natürlich nicht eindeutig bestimmt: Für
alle x ∈ X und x0 ∈ X 0 mit p(x) = p0 (x0 ) existiert ein Homöomorphismus φ
der eben genannten Art mit φ(x) = x0 .
Das letzte Korollar erlaubt eine interessante Folgerung. Es sei wieder
p : (X, x0 ) → (Y, y0 ) eine universelle Überlagerung. Wir erhalten eine Abbildung
π1 (Y, y0 ) → Deck(p)
wie folgt: Wir betrachten ein Element [γ] ∈ π1 (Y, y0 ) mit Repräsentant
γ : [0, 1] → Y . Der Endpunkt des Lifts γ
e von γ mit Anfangspunkt x0
ist ein Punkt x1 ∈ X mit p(x1 ) = y0 . Weiterhin ist x1 unabhängig von
der Auswahl des Repräsentanten γ nach dem Homotopieliftungstheorem.
Nach dem Korollar 13.14 gibt es eine eindeutige Decktransformation ψg ∈
Deck(p) mit ψg (x0 ) = γ̃(1). Wir erhalten auf diese Weise eine wohldefinierte
Abbildung
Ψ : π1 (Y, y0 ) → Deck(p) , g 7→ Ψg .
Diese ist ein Gruppenhomomorphismus: Seien g, g 0 ∈ π1 (Y, y0 ) mit Repräsentanten γ, γ 0 : [0, 1] → Y . Es seien γ
e, γ
e0 : [0, 1] → X die Lifts von γ
0
und γ mit Anfangspunkt x0 . Die Komposition Ψg ◦ γ
e0 : [0, 1] → X ist dann
0
der Lift von γ mit Anfangspunkt Ψg (x0 ) = γ
e(1). Somit ist der komponierte Weg γ
e · (Ψg ◦ γ
e0 ) (Erinnerung: Erst γ
e, dann Ψg ◦ γ
e0 ) der Lift von γ · γ 0
mit Anfangspunkt x0 . Der Endpunkt dieses gelifteten Weges ist also der
Punkt (Ψg ◦ γ
e0 )(1) = Ψg (e
γ 0 (1)) = Ψg (Ψg0 (x0 )) = (Ψg ◦ Ψg0 )(x0 ). Andererseits stimmt dieser Endpunkt nach Definition von Ψ mit Ψg·g0 (x0 ) überein.
Es gilt also nach der Eindeutigkeit von Liftungen:
Ψg·g0 = Ψg ◦ Ψg0 : X → X .
Es ist leicht zu sehen, dass Ψ das neutrale Element in π1 (Y, y0 ) (repräsentiert
durch den konstanten Weg in y0 ) nach idX schickt. Somit ist Ψ ein Gruppenhomomorphismus.
64
BERNHARD HANKE
Die Abbildung Ψ ist surjektiv: Sei φ ∈ Deck(p). Man wähle einen Weg
γ : [0, 1] → X von x0 nach φ(x0 ). Nach Konstruktion von Ψ gilt dann
Ψ[p◦γ] = φ.
Zur Injektivität: Sei [γ] ∈ π1 (Y, y0 ) mit Ψ[γ] = idX . Dies heißt, dass der
Lift von γ mit Anfangspunkt x0 auch bei x0 endet. Da X einfach zusammenhängend ist, können wir diese Schleife in X relativ zu den Endpunkten
auf einen konstanten Weg homotopieren. Komponieren wir diese Homotopie
mit p, so folgt, dass γ ebenfalls homotop zu einem konstanten Weg relativ
zu den Endpunkten ist.
Insgesamt folgt also
Proposition 13.17. Die eben definierte Abbildung
Ψ : π1 (Y, y0 ) → Deck(p)
g 7→ Ψg
ist ein Gruppenisomorphismus.
Wir bemerken, dass die Abbildung Ψ : π1 (Y, y0 ) → Deck(p) im allgemeinen von der Auswahl des Punktes x0 ∈ X mit p(x0 ) = y0 abhängt.
Wir haben nun einen wichtigen Zusammenhang erkannt: Falls X → Y eine
universelle Überlagerung ist , so können wir die Fundamentalgruppe von Y
mit den Symmetrien (d.h. den Decktransformationen) von p identifizieren.
Proposition 13.18. Es sei p : X → Y eine Überlagerung, es sei X wegzusammenhängend und lokal wegzusammenhängend und G sei eine Gruppe
bestehend aus Decktransformationen von X, die die folgende Eigenschaft
hat: Für alle y ∈ Y und x0 , x1 ∈ p−1 (y) existiert ein g ∈ G mit g(x0 ) = x1 .
(Man sagt auch: G operiert transitiv auf p−1 (y)). Dann gilt G = Deck(p).
Beweis. Sei φ ∈ Deck(p). Nach Voraussetzung gibt es ein g ∈ G mit g(x0 ) =
φ(x0 ). Da g und φ Decktransformationen sind, folgt daraus g = φ.
Wählt man p : X → Y als eine universelle Überlagerung, so ergibt sich im
Zusammenspiel mit der Tatsache Deck(p) ∼
= π1 (Y, y0 ) eine effektive Methode
zur Bestimmung der Fundamentalgruppe von Y .
Wir führen noch eine bequeme Sprechweise ein. Es sei X ein topologischer
Raum und
φ : G → Homöo(X)
ein Gruppenhomomorphismus von einer Gruppe G in die Gruppe der
Homöomorphismen von X. Wir sprechen dann auch von einer Wirkung
oder Operation der Gruppe G auf X. Ist g ∈ G, so bezeichnen wir den
Homöomorphismus φ(g) : X → X oft mit φg oder nur mit g. Wir definieren
eine Äquivalenzrelation ∼ auf X durch
x ∼ y ⇔ ∃g ∈ G mit g(x) = y .
und setzen
X/G := X/ ∼
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
65
(mit der Quotiententopologie). Dies ist der Orbitraum der gegebenen Gruppenwirkung von G auf X.
Beispiel. Die Gruppe Z/2 = {0, 1} operiert auf S 2 durch φ0 = id (das
ist klar, weil φ : G → Homöo(X) das neutrale Element auf das neutrale
Element abbilden muss) und φ1 (x) := −x. Der Orbitraum dieser Operation
ist der reell-projektive Raum RP 2 .
Definition 13.19. Es sei φ : G → Homöo(X) eine Gruppenwirkung auf
dem topologischen Raum X. Wir nennen diese Wirkung eigentlich diskontinuierlich, falls jeder Punkt x ∈ X eine Umgebung U besitzt, so dass
φg (U ) ∩ U 6= ∅ ⇒ g = e, wobei e ∈ G das neutrale Element bezeichnet.
Proposition 13.20. Es sei eine eigentlich diskontinuierliche Wirkung einer
Gruppe G auf dem zusammenhängenden und lokal wegzusammenhängenden
Raum X gegeben. Dann ist die kanonische Projektion
p : X → X/G
eine Überlagerung mit Decktransformationsgruppe G.
Beweis. Aus der Tatsache, dass G eigentlich diskontinuierlich wirkt, folgt,
dass p eine Überlagerung ist: Sei y ∈ X/G und x ∈ p−1 (y). Wir wählen
eine offene Umgebung U ⊂ X von x, so dass φg (U ) ∩ U = ∅ für alle g 6= e.
Dann ist p(U ) ⊂ Y eine offene Umgebung von y, die durch p gleichmäßig
überlagert wird (mit diskreter Menge D := G).
Offensichtlich ist G < Deck(p) und G wirkt transitiv auf den Fasern von
p. Nach Proposition 13.18 gilt somit G = Deck(p).
Zusammenfassend folgt also:
Satz 13.21. Es sei X ein einfach zusammenhängender und lokal wegzusammenhängender Raum. Die Gruppe G wirke eigentlich diskontinuierlich auf
X. Dann gilt für jeden Basispunkt y0 ∈ Y := X/G
π1 (Y, y0 ) ∼
= G.
Beispiel.
• π1 (RP 2 , x0 ) ∼
= Z/2.
• Die Fundamentalgruppe der Kleinschen Flasche K ist isomorph zu
einem semidirekten Produkt ZoZ (siehe Blatt 11, Aufgabe 4). Diese
Fundamentalgruppe ist nicht abelsch.
25.6.14
Wir beenden unsere Diskussion der Überlagerungen mit einem Resultat
um die Existenz der universelle Überlagerungen. Wir brauche eine Definition:
66
BERNHARD HANKE
Definition 13.22. Ein topologischer Raum X heißt semilokal einfach zusammenhängend, falls für jedes x ∈ X eine Umgebung U um x existiert,
sodass
i∗ : π1 (U, x) → π1 (X, x)
trivial ist, wobei i : U ,→ X die Inklusion ist.
Beispiel. Alle Simplizialkomplexe und Mannigfaltigkeiten sind semilokal
einfach zusammenhängend. Der Raum
!
[
H :=
∂B1/n (0, 1/n) ⊂ R2 ,
n∈N
genannt Hawaiianische Ohrringe, ist nicht semilokal einfach zusammenhängend.
Ein interessanter semilokal einfach zusammenhängender Raum ist der Kegel X über den Hawaiianischen Ohrringen, also der Abbildungkegel der Identität H → H. Man überprüft leicht, dass es Punkte x in X mit der Eigenschaft gibt, dass jede Umgebung U von x nicht einfach zusammenhängend
ist (d.h. man muss, wie in obiger Definition, wirklich die Inklusion U → X
betrachten).
Das folgende Resultat besagt, dass sehr viele Räume eine universelle
Überlagerung besitzen.
Satz 13.23. Sei Y wegzusammenhängend und lokal wegzusammenhängend.
Dann sind äquivalent:
(1) Y besitzt eine universelle Überlagerung.
(2) Y ist semilokal einfach zusammenhängend.
Ohne Beweis (vgl. Literatur).
14. Der Jordansche Kurvensatz.
Als Anwendung unserer Konzepte beweisen in diesem Abschnitt das folgende fundamentale Resultat der geometrischen Topologie.
Satz 14.1 (Allgemeiner Jordanscher Kurvensatz in der Ebene, formuliert
1887 von C. Jordan und bewiesen 1905 von O. Veblen). Sei C ⊂ R2 eine Teilmenge, die homöomorph zu S 1 ist. (Anderes gesagt: C ist das Bild
einer stetigen injektiven Abbildung S 1 → R2 ). Dann gelten die folgenden
Aussagen:
• Das Komplement R2 \ C besteht aus genau 2 Komponenten W1 und
W2 .
• Genau eine davon ist beschränkt ( Inneres von C“) und eine unbe”
schränkt ( Äußeres von C“).
”
• ∂W1 = ∂W2 = C.
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
67
Trotz der anschaulichen Aussage ist der Beweis dieses Satzes schwierig.
Insbesondere geht an einigen Stellen die Theorie der Fundamentalgruppe
und der Überlagerungen ein. Der Beweis wird einfacher, wenn man annimmt,
dass C ⊂ R2 eine glatte eingebettete Untermannigfaltigkeit ist. Dies soll hier
aber nicht weiter diskutiert werden.
30.6.14
Zunächst machen wir uns nochmals Gedanken über die Bedeutung des
Wortes Komponente“.
”
Lemma 14.2. Sei X lokal wegzusammenhängend. Dann stimmen die Komponenten von X mit Wegekomponenten überein und diese sind jeweils offene
Teilmengen von X.
Beweis. In der Lösung zu Übung 2 auf Blatt 12 wurde gezeigt, dass jede
Wegekomponente W ⊂ X offen ist, falls X lokal wegzusammenhängend ist.
Wir wissen auch, dass es für jede Wegekomponente W eine Komponente K
mit W ⊂ K gibt. Wir müssen noch zeigen, dass wir für jede Komponente
K eine Wegekomponente W mit K ⊂ W finden.
Sei (Wα )α∈A die Familie der Wegekomponenten von X. Nehmen wir an,
dass zwei verschiedene Wegekomponenten Wα1 und Wα2 mit
K ∩ Wα1 6= ∅
und
K ∩ Wα2 6= ∅
existieren. Dann ist
K=
[
(Wα ∩ K)
α∈A
eine nicht triviale disjunkte Zerlegung von K in offene Teilmengen, was nicht
möglich ist, da K zusammenhängend ist.
Da in der Situation des Jordanschen Kurvensatzes die Menge R2 \ C ⊂ R2
offen und somit lokal wegzusammenhängend ist, können wir bei der Diskussion des Jordanschen Kurvensatzes genau so gut mit Wegekomponenten statt
mit Komponenten arbeiten.
Wir ersetzen nun die Ebene R2 durch die Einpunktkompaktifizierung
(R2 )+ = S 2 .
Lemma 14.3. Seien C ⊂ S 2 kompakt und b ∈ S 2 \ C. Sei
h : S 2 \ {b} → R2
ein Homöomorphismus. Sei (Wα )α∈A die Familie der Wegekomponenten von
S 2 \ C. Dann ist
(h(Wα \ {b}))α∈A
die Familie der Wegekomponenten von R2 \ h(C). Außerdem gilt:
h(Wα \ {b}) ⊂ R2 ist unbeschränkt ⇔ b ∈ Wα .
68
BERNHARD HANKE
Beweis. Wir zeigen zunächst: Ist W ⊂ (S 2 \ C) eine Wegekomponente, dann
ist W \ {b} immer noch wegzusammenhängend.
Für b ∈
/ W , ist diese Behauptung klar. Nehmen wir an, dass b ∈ W . Es
seien x1 , x2 ∈ W \ {b} und γ : I → W ein Weg von x1 nach x2 . Wenn
b∈
/ γ(I), ist γ einen Weg in W \ {b} von x1 nach x2 . Nehmen wir an, dass
b ∈ γ(I). Sei > 0 mit B (b) ⊂ W . Ein solches existiert, weil W offen ist
(vgl. Lemma 14.2). Seien
tm := min {t ∈ I| γ(t) = p}
und
tM := max {t ∈ I| γ(t) = p} .
Die Punkte tm und tM exsitieren, weil γ −1 (p) abgeschlossen ist. Dann existieren 0 ≤ t1 < tm und tM < t2 ≤ 1 mit γ(t1 ), γ(t2 ) ∈ B (b) \ {b} .
Der Punkt x1 ist durch γ|[0,t1 ] in W \ {b} mit γ(t1 ) verbunden. Der Punkt
γ(t1 ) ist durch einen Weg µ in B (b) \ {b} mit γ(t2 ) verbunden. Der Punkt
γ(t2 ) ist durch γ|[t2 ,1] in W \ {b} mit x2 verbunden. Insgesamt ist x1 durch
γ|[0,t1 ] · µ · γ|[t2 ,1]
in W \ {b} mit x2 verbunden. Somit ist W \ {b} immer noch Wegzusammenhängend.
Kommen wir nun zum Beweis des Lemmas. Obige Behauptung sagt, dass
(Wα \ {b})α∈A
die Familie der Wegekomponenten von S 2 \ (C ∪ {b}) ist. Da h ein
Homöomorphismus ist, ist
(h(Wα \ {b}))α∈A
die Familie der Wegekomponenten von R2 \ h(C). Die letzte Aussage folgt
aus: Sei U ⊂ S 2 eine offene Umgebung von b. Dann ist
h(S 2 \ U ) ⊂ R2
kompakt, somit beschränkt.
Auf Grund dieser Aussage genügt es, die folgende Aussage zu zeigen:
Satz 14.4. (Der Jordansche Kurvensatz - Reformulierung) Sei C ⊂ S 2 eine
Teilmenge, die homöomorph zu S 1 ist. (Anderes gesagt ist C das Bild einer
stetigen injektiven Abbildung φ : S 1 → S 2 ). Dann gilt: Das Komplement
S 2 \ C besteht aus genau zwei Komponenten W1 und W2 . Außerdem
∂W1 = ∂W2 = C.
Wir teilen der Reformulierung des Jordansche Kurvensatz in drei Sätze
(A,B und C).
Satz 14.5. (A) Gegeben die Voraussetzungen des Satzes 14.4 gilt: Der Raum
S 2 \ C hat mindestens zwei Komponenten.
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
69
Wir machen uns zunächst klar, dass S 2 \ C nicht leer ist. Falls doch, wäre
φ : S 1 → S 2 ein Homöomorphismus. Entfernen wir aus S 1 zwei Punkte,
erhalten wir einen Raum, der in zwei Wegekomponenten zerfällt. Entfernen
wir aber aus S 2 zwei Punkte, so ist der resultierende Raum immer noch wegzusammenhängend. Somit kann S 1 ≈ S 2 nicht gelten. Für den Beweis von
Theorem 14.5 ist also nur noch die Annahme zum Widerspruch zu führen,
dass das (nichtleere) Komplement S 2 \ C wegzusammenhängend ist.
Dafür brauchen wir zwei Lemmata.
Lemma 14.6. Sei X ein topologischer Raum. Seien U1 , U2 ⊂ X offene Teilmengen mit U1 ∪ U2 = X und U1 ∩ U2 nicht leer und wegzusammenhängend.
Seien x ∈ U1 ∩ U2 und
ij : Uj ,→ X
die Inklusionen. Falls die Gruppenhomomorphismen
(ij )∗ : π1 (Uj , x) → π1 (X, x)
für j = 1, 2 trivial sind (d.h. jedes Element auf das neutrale Element abbilden), dann gilt π1 (X, x) = 1. (Hier ist 1 = {e} die Gruppe mit genau einem
Element).
Beweis. Sei γ : [0, 1] → X eine Schleife an x. Wie im Beweis von Proposition
11.9 existieren geschlossene Wege
γ1 , . . . , γ k : I → X
an x, sodass jedes γi ganz in U1 oder ganz in U2 verläuft und
γ ' γ1 · . . . · γk rel {0, 1} .
Nach Voraussetzung ist jedes γi in X homotop zur konstanten Abbildung
cx . (Hier ist jede Homotopie relativ zu {0, 1}). Also
γ1 · . . . · γk ' cx rel {0, 1} .
1 (bzw.
Lemma 14.7. Unter den Voraussetzungen des Satzes 14.4 gilt: Sei S+
1 ) der obere (bzw. untere) Halbkreis in S 1 . Wir setzen
S−
1
A1 := φ(S+
) ⊂ S2 ,
1
A2 := φ(S−
) ⊂ S2 ,
U1 := S 2 \ A1 ,
U2 := S 2 \ A2
und X := U1 ∪ U2 . Sei x ∈ U1 ∩ U2 . Dann sind
(ij )∗ : π1 (Uj , x) → π1 (X, x)
trivial für j = 1, 2.
Beweis. Sei γ : [0, 1] → S 2 \ A1 eine Schleife. Wir möchten zeigen, dass γ
in X = S 2 \ (U1 ∩ U2 ) relativ zu {0, 1} homotop zur konstanten Abbildung
cx ist. Wir beobachten, dass X = S 2 \ {p, q}, wobei {p, q} = φ(A1 ∩ A2 ).
Wir betrachten wieder einen Homöomorphismus h : S 2 \ {p} ≈ R2 . Ohne
Einschränkung können wir annehmen, dass h(q) = 0 ∈ R2 . Es bleibt also
70
BERNHARD HANKE
zu zeigen, dass h ◦ γ in R2 \ {0} relativ zu {0, 1} homotop zur konstanten
Abbildung ch(x) ist. Bemerke, dass es reicht, eine Homotopie H zwischen
h ◦ γ und ch(x) zu finden, die nur die Bedingung H(0, t) = H(1, t) erfüllt,
also durch geschlossene Wege läuft. Es ist jedoch nicht erforderlich, dass die
Basispunkte dieser Wege während der Homotopie unbewegt bleiben (vgl.
Beweis von Proposition 11.8 und Übung 1 von Blatt 9).
Um eine solche Homotopie H zu definieren, wählen wir > 0 mit
Im(h ◦ γ) ⊂ B (0).
Wir bemerken nun, dass A1 das Bild eines (injektiven) Weges in S 2 von q
nach p ist. Somit ist h(A1 \ {p}) das Bild eines Weges [0, 1) → R2 der bei 0
anfängt und jedes Kompaktum irgendwann verlässt. Folglich gibt es ein
y ∈ h(A1 \ {p}) \ B (0) ⊂ R2
und einen Weg α in h(A1 \ {p}) von 0 nach y. Dann setzen wir
K1 : I × I → R2 \ {0}
(s, t) 7→ h(γ(t)) − α(s),
was eine Homotopie (mit Parameter s) von h ◦ γ nach h ◦ γ − y ist. Da das
Bild von γ und A1 disjunkt sind, nimmt K1 den Wert 0 in der Tat nicht an.
Wir setzen nun
K2 : I × I → R2 \ {0}
(s, t) 7→ (1 − s)(h(γ(t))) − y,
was eine Homotopie (mit Parameter s) von h ◦ γ − y zu einer konstanten
Abbildung ist. Die Hintereinanderausführung dieser zwei Homototopien ist
die gewünschte Homotopie H.
Zum Beweis von Satz (A) (vgl. 14.5):
1 (bzw. S 1 ) der obere (bzw. untere) Halbkreis. Wir setzen
Beweis. Sei S+
−
1
1
A1 := φ(S+
) und A2 := φ(S−
)
und
U1 := S 2 \ A1 und U2 := S 2 \ A2 .
Dann gilt
U1 ∪ U2 = S 2 \ φ({1, −1}) ∼
= R2 \ {0} .
Außerdem
U1 ∩ U2 = S 2 \ C.
Wäre S 2 \ C wegzusammenhängend, würde π1 (U1 ∪ U2 , x) trivial sein (vgl.
Lemma 14.6 und 14.7). Jedoch gilt
π1 (U1 ∪ U2 , x) = π1 (R2 \ {0}) ∼
= Z,
ein Widerspruch.
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
71
Wir kommen zum zweiten Schritt des Beweises von Theorem 14.4.
Satz 14.8. (B) Der Raum S 2 \ C hat höchstens zwei Wegekomponenten.
Für den Beweis dieses Satzes brauchen wir zwei Propositionen.
Proposition 14.9. Sei X ein topologischer Raum. Seien U, V ⊂ X zwei
˙
offene Teilmengen mit X = U ∪ V . Sei U ∩ V = A∪B,
wobei A, B ⊂ U ∩ V
0
offen und disjunkt sind. Sei a, a ∈ A und b ∈ B. Dann:
(1) Seien α : I → U ein Weg von a nach b und β : I → V ein Weg von
b nach a. Dann hat das Element
f := [α · β] ∈ π1 (X, a)
unendliche Ordnung.
(2) Seien γ : I → U ein Weg von a nach a0 und δ : I → V ein Weg von
a0 nach a. Wir setzen
g := [γ · δ] ∈ π1 (X, a).
Dann
g k 6= f l
für alle k, l mit l 6= 0.
Beweis. Wir studieren die Eigenschaften von f und g durch die folgende
Überlagerung: Sei
!
[
((U × {2n}) ∪ (V × {2n + 1})) ⊂ X × Z.
Y :=
n∈N
Wir setzen die Relationen
(x, 2n) ∼ (x, 2n + 1), falls x ∈ A,
und
(x, 2n) ∼ (x, 2n − 1), falls x ∈ B,
zu einer Äquivalenzrelation auf Y fort. Es ist nicht schwer zu beweisen, dass
die Projektion auf die erste Koordinate P r : (Y / ∼) → X eine Überlagerung
ist. Zusammen mit Korollar 13.4 folgt die Behauptung der Proposition:
(1) Die Aussage folgt aus der Tatsache, dass jede Liftung von f k keine
Schleife (d.h. nicht geschlossen) in Y / ∼ ist, falls k 6= 0.
(2) Die Aussage folgt aus der Tatsache, dass für alle l ∈ Z die Liftung
von g l eine Schleife in (Y / ∼) ist.
Definition 14.10. Ein Bogen A in einem Raum X ist eine Teilmenge A ⊂
X, die homöomorph zu [0, 1] ist
Proposition 14.11. Sei A ⊂ S 2 ein Bogen. Dann ist S 2 \ A wegzusammenhängend.
72
BERNHARD HANKE
Der folgende trickreiche Beweis zeigt, wie schwer solche offensichtli”
chen“ Aussagen manchmal zu zeigen sind.
Beweis. Wir zeigen zunächst die folgende Behauptung: Sei A = A1 ∪ A2 ,
wobei A1 , A2 Bögen mit A1 ∩ A2 = {d} sind. Lassen sich die Punkte a, b ∈
S 2 \ A nicht durch einen Weg in S 2 \ A verbinden, dann lassen sie sich
bereits in einer der Teilmengen S 2 \ A1 oder S 2 \ A2 nicht durch einen Weg
verbinden.
Sei dazu W1 die Wegekomponente von a und W2 die Vereinigung aller
anderen Wegekomponenten. Wir setzen U := S 2 \ A1 und V := S 2 \ A2 ,
sodass
˙ 2.
U ∩ V = S 2 \ A = W1 ∪W
Angenommen, es gibt Wege α : I → U von a nach b und β : I → V von b
nach a. Nach Punkt (1) der Proposition 14.9 hat das Element
[α · β] ∈ π1 (U ∪ V, a)
unendliche Ordnung, was einen Widerspruch zu
π1 (U ∪ V, a) = π1 (S 2 \ {d} , a) = 1
ist.
Zum Beweis der Proposition. Sei φ : [0, 1] → A ein Homöomorphismus.
Wir nehmen an, dass es zwei Punkte a, b ∈ S 2 \ A gibt, die sich nicht
durch einen Weg verbinden lassen. Nach obiger Behauptung lassen sich a, b
entweder in S 2 \ φ([0, 1/2]) oder in S 2 \ φ([1/2, 1]) nicht durch einen Weg
verbinden. Induktiv existieren abgeschlossene Intervalle Ik ⊂ I mit Länge
|Ik | = 1/2k , so dass sich a und b in S 2 \φ(Ik ) nicht durch einen Weg verbinden
lassen.
T
Allerdings gilt k∈N Ik = {t0 } mit einem geeigneten t0 ∈ [0, 1] und S 2 \
{φ(t0 )} ∼
= R2 ist wegzusammenhängend. Damit gibt es einen Weg γ in S 2 \
{φ(t0 )}, der a und b verbindet. Da Im(γ) ⊂ S 2 kompakt ist und von der
Familie offener Mengen (S 2 \ φ(Ik ))k∈N überdeckt wird, existiert dann auch
ein k > 0 mit Im(γ) ∩ φ(Ik ) = ∅, was einen Widerspruch zur Eigenschaft
von Ik ist.
Zum Beweis von Theorem (B) (vgl. 14.8).
Beweis. Wir möchten zeigen, dass S 2 \ C höchstens zwei Wegekomponenten
besitzt. Wir nehmen also an, dass
˙ 2 ∪W
˙ 3,
S 2 \ C = W1 ∪W
wobei alle Wi nichtleere Vereinigungen von Wegekomponenten sind. Insbesondere sind alle Wi offen (vgl. Lemma 14.2). Sei φ : S 1 → C ein
1 (bzw. S 1 ) der obere (bzw. untere) Halbkreis
Homöomorphismus. Sei S+
−
1
1 ), A := φ(S 1 ), U := S 2 \ A und V := S 2 \ A .
in S . Wir setzen A1 := φ(S+
2
1
2
−
Gemäß Proposition 14.11 sind U und V wegzusammenhängend. Wir setzen
X := U ∪ V = S 2 \ {a, b} ≈ R2 \ {0} .
EINFÜHRUNG IN DIE TOPOLOGIE
(SS 2014)
73
Man bemerke, dass
˙ 2 ∪W
˙ 3.
U ∩ V = S 2 \ C = W1 ∪W
Nun wählen wir a ∈ W1 , a0 ∈ W2 und b ∈ W3 . Wir verbinden a und b (bzw. a
und a0 ) in U durch α (bzw. γ). Wir verbinden auch b und a (bzw. a0 und a) in
V durch β (bzw. δ). Dann sagt Punkt (1) aus Proposition 14.9 (mit A := W1 ,
B := W2 ∪ W3 ), dass sowohl [α · β] als auch [γ · δ] unendliche Ordnung in
π1 (X) ∼
= π1 (R2 \ {0}) ∼
= Z haben, also insbesondere von 0 verschieden sind.
Nach Teil (2) von Proposition 14.9 (diesmal mit A := W1 ∪ W2 , B := W3 )
haben wir andererseits
[α · β]k 6= [γ · δ]l
in π1 (X) ∼
= Z für alle k, l 6= 0. Das ist aber nicht möglich, denn in Z haben
je zwei von 0 verschiedene Elemente immer ein gemeinsames Vielfaches.
Der Beweis von Theorem (B) ist damit abgeschlossen.
7.7.14
Satz 14.12. (C) Mit den Voraussetzungen des Jordanschen Theorems gilt
∂W1 = ∂W2 = C,
wobei W1 und W2 die Komponenten von S 2 \ C sind.
Beweis. W2 ist offen in S 2 \ C. Außerdem ist S 2 \ C offen in S 2 , damit ist
W2 offen in S 2 . Wegen W1 ⊂ S 2 \ W2 folgt daraus, dass
W 1 ⊂ (S 2 \ W2 ) = (W1 ∪ C)
und dass
∂W1 = W 1 \ W1 ⊂ (W1 ∪ C) \ W1 = C.
Analog zeigt man ∂W2 ⊂ C.
Es bleibt noch zeigen, dass C ⊂ ∂Wi für i = 1, 2. Sei dazu x ∈ C.
Es genügt zu zeigen, dass für alle offenen Umgebungen U ⊂ S 2 von x die
Aussage
U ∩ ∂Wi 6= ∅
gilt. (Eine einfache Überlegung zeigt, dass dann in der Tat x ∈ ∂Wi gilt).
Es genügt, diese Aussage für W1 zu zeigen (den Fall W2 behandelt man
analog). Wir wählen dazu a ∈ W1 und b ∈ W2 . Wir schreiben C = C1 ∪ C2 ,
wobei C1 und C2 Bögen in S 2 sind, wobei C1 ⊂ U und
C1 ∩ C2 = {p, q} .
Sei γ ein Weg in S 2 \ C2 von a nach b (vgl. Proposition 14.11). Es gilt
Im(γ) ∩ ∂W1 6= ∅,
denn sonst hätten wir
γ −1 (W1 ) = γ −1 (W 1 ) ⊂ [0, 1]
Dies wäre eine zugleich offene und abgeschlossene Teilmenge von [0, 1],
die aber weder leer ist (denn γ(0) ∈ W1 ) noch mit [0, 1] übereinstimmt
74
BERNHARD HANKE
(denn γ(1) ∈
/ W1 ). Dies widerspricht aber der Tatsache, dass [0, 1] zusammenhängend ist.
Somit existiert ein
y ∈ Im(γ) ∩ ∂W1 .
2
Da γ einen Weg in S \ C2 ist, muss y in C1 liegen (wir wissen ja schon, dass
∂W1 ⊂ C = C1 ∪ C2 ), was in U enthalten ist. Deswegen liegt y in U ∩ ∂W1
und U ∩ ∂W1 6= ∅, wie gewünscht.
Der Beweis des Jordanschen Kurvensatzes ist damit abgeschlossen.
15. Der Satz von Borsuk-Ulam
Wir geben folgende schöne Anwendung der Berechnung der Fundamentalgruppe von RP 2 .
Satz 15.1 (Borsuk-Ulam). Es sei f : S 2 → R2 eine stetige Abbildung. Dann
existiert ein Punkt x ∈ S 2 mit f (x) = f (−x).
Beweis. Angenommen, es existiert ein f : S 2 → R2 , für das die angegebene
Folgerung nicht gilt. Dann definiert
f (x) − f (−x)
φ : S 2 → S 1 , x 7→
kf (x) − f (−x)k
eine Abbildung mit der Eigenschaft φ(−x) = −φ(x) für alle x ∈ S 2 . Wir
erhalten somit eine stetige Abbildung φ : RP 2 → S 1 , die das folgende Diagramm kommutativ macht:
φ
S 2 −−−−→ S 1




can.y
t7→t2 y
φ
RP 2 −−−−→ S 1
Es sei nun x0 ∈ RP 2 ein Basispunkt und γ eine in x0 basierte Schleife in
RP 2 , die den Erzeuger η von π1 (RP 2 , x0 ) ∼
= Z/2 repräsentiert. Die Liftung
dieses Weges zu einem Weg in S 2 läuft von einem Punkt in S 2 zum gegenüberliegenden Punkt. Verfolgen wir diese Schleife unter der Komposition
von φ und der rechten vertikalen Abbildung, so folgt, dass φ∗ (η) ein ungerades Vielfaches des Erzeugers von π1 (S 1 , φ(x0 )) ∼
= Z ist (und damit von 0
verschieden). Da aber jeder Gruppenhomomorphismus Z/2 → Z trivial ist,
erhalten wir einen Widerspruch.
Der Satz von Borsuk-Ulam kann auf stetige Abbildungen S n → Rn verallgemeinert werden, erfordert dann aber fortgeschrittenere Methoden der
algebraischen Topologie.
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