Einleitung 1 1 Einleitung 1.1 Die Bedeutung von Verteilungskoeffizienten an biologischen Membranen Die biologische Membran trennt lebende von nicht lebender Materie. Sie reguliert den Stoff- und Informationsaustausch mit der Umgebung. Da biologische Membranen als Transportbarriere für Arzneistoffe fungieren, ist die Untersuchung der Arzneistoff-Membran-Wechselwirkungen von großer Bedeutung. Die passive Diffusion stellt den häufigsten Transportweg für Arzneistoffe durch biologische Membranen dar. Sie ist von der Lipophilie der Moleküle abhängig, aber stoffunspezifisch (Pidgeon und Venkataram 1989). Nach dem Fick’schen Diffusionsgesetz ist der Stofftransport bei einem zeitlich konstanten Konzentrationsunterschied direkt proportional zum Konzentrationsgradienten, der Membranfläche sowie dem Verteilungskoeffizienten der betreffenden Substanz und umgekehrt proportional zur Membrandicke. Demnach ist die Permeationsgeschwindigkeit durch eine Membran bei einem durch passive Diffusion resorbierten Arzneistoff direkt proportional zu dem MembranVerteilungskoeffizienten. Der Hydrophobieeffekt gilt als die Antriebskraft für die passive Diffusion von Arzneistoffen durch biologische Membranen (Kaliszan et al. 1994). Die Fähigkeit einer Verbindung, Membranen zu durchdringen, steigt mit zunehmender Lipophilie. Allerdings gilt dieses nur unter steady state-Bedingungen, während man sonst ein Ansteigen bis zu einem Grenzwert beobachtet. Oberhalb dieses Grenzwertes nimmt das Permeationsvermögen wieder ab, da bei sehr hoher Lipophilie die Verbindungen nur eine geringe Rückverteilung in das wässrige Kompartiment jenseits der Membran aufweisen. Die biologische Wirkung einer Substanz ist unter anderem abhängig von diversen chemischen und physikalischen Eigenschaften wie der Löslichkeit, den Dissoziationskonstanten und dem Verteilungskoeffizienten. Der Zusammenhang zwischen biologischer Aktivität und physikochemischen Parametern spielt eine nicht unerhebliche Rolle bei der Analyse von Beziehungen zwischen Struktur und Wirkung (Seydel et al. 1994). Hansch und Mitarbeiter brachten erstmals in einem extra-thermodynamischen Modell die biologische Aktivität eines Wirkstoffs mit dessen chemischer Struktur bzw. den zugehörigen physikochemischen Eigenschaften wie dem Verteilungskoeffizienten in Beziehung (Hansch und Dunn 1972). Der Membran-Verteilungskoeffizient ist zur Erklärung biologischer Prozesse von großer Wichtigkeit, aber in vivo schlecht zu bestimmen. Deshalb wurden in vitro-Messsysteme entwickelt, um die Verteilungsvorgänge zu modellieren. Dabei sind Prozesse von gegenseitigen Effekten zwischen den Bausteinen der Membranen und den Arzneistoffmolekülen bei der Interpretation von pharmakologischen Wirkungen zu berücksichtigen (Seydel et al. 1994). Der Verteilungskoeffizient P ist definiert als das Konzentrationsverhältnis eines Stoffes zwischen zwei nicht mischbaren Phasen, die sich im Gleichgewicht befinden. Dies kommt im Nernst’schen Verteilungssatz zum Ausdruck (Nernst 1891). Er gilt bei konstantem Druck, konstanter Temperatur und strenggenommen nur für verdünnte Lösungen. Um Verteilungskoeffizienten zu bestimmen, verwendet man üblicherweise ein organisches Lösungsmittel und Wasser bzw. eine wässrige Pufferlösung. Weiterhin existiert eine Vielzahl an Verteilungskoeffizienten mit unterschiedlichen Definitionen. Einleitung 2 Grundsätzlich muss aber in beiden Phasen die gleiche Ladungsform der Substanz vorliegen. Die klassische Definition bezieht sich auf die Verteilung einer elektrisch neutralen Substanz zwischen einer homogenen organischen Phase und Wasser (Nernst 1891). Der Verteilungskoeffizient wird herangezogen, um Aussagen zu treffen, wie hydrophil oder lipophil ein Wirkstoff ist. Bei ionisierbaren Arzneistoffen ist der Verteilungskoeffizient der Neutralform oft von geringer Bedeutung, da die Arzneistoffmoleküle unter physiologischen Bedingungen mehr oder weniger stark ionisiert vorliegen. In diesen Fällen wird als hydrophile Phase ein Puffer bestimmten pH-Wertes verwendet, um den Einfluss der Ionisation auf das Verteilungsverhalten zu berücksichtigen. Die Logarithmen der Verteilungskoeffizienten von ungeladenen Verbindungen sind nach Collander in unterschiedlichen Verteilungssystemen linear miteinander verknüpft, allerdings gilt dies nur für ähnliche Verbindungen und ähnliche lipophile Phasen (Collander 1951). Verteilungskoeffizienten erlauben relative Aussagen über die Resorption einer Verbindung, deren Bindung an Plasmaproteine, Transportwege (Glasser und Kriegelstein 1970; Rojratanakiat und Hansch 1990) sowie die Verteilung im Organismus (van de Waterbeemd und Kansy 1992). 1.2 Die Bestimmung von Verteilungskoeffizienten Die Bestimmung von Verteilungskoeffizienten ist ein wesentlicher Beitrag zur Entwicklung neuer Arzneistoffmoleküle. Heute werden vier Modell-Verteilungssysteme vom Typ homogene organische Phase und Wasser als „kritisches Quartett“ angesehen, um sowohl das spezifische Verteilungsverhalten einer Verbindung als auch dessen Ursachen zu analysieren. Die Systeme mit Angabe des charakteristischen Merkmals des organischen Lösungsmittels sind (Leahy et al. 1989): 1. n-Octanol/Wasser (amphiphil, amphiprotisch); 2. Propylenglycoldipelargonat/Wasser (Wasserstoffbrücken-Akzeptor); 3. Chloroform/Wasser (Wasserstoffbrücken-Donor); 4. Cyclohexan/Wasser (rein hydrophob). Die homogenen organischen Phasen haben verschiedene Dielektrizitätskonstanten und unterschiedliches Löslichkeitsvermögen von Wasser (Leahy et al. 1989). Das mit Wasser gesättigte n-Octanol besitzt eine spektroskopisch nachweisbare Clusterstruktur, bei der vier zentrale Wassermoleküle von 16 Octanol-Molekülen mit nach innen gerichteten Hydroxylgruppen umgeben sind (Smith et al. 1975; Franks et al. 1993). Das n-Octanol/Wasser System gilt als Methode der Wahl zur Analyse des Verteilungsverhaltens einer Verbindung und hat sich seit den Arbeiten von Hansch als allgemeines Referenzsystem in der Medizinischen Chemie und der Molekularpharmakologie durchgesetzt (Hansch und Dunn 1972; Hansch und Leo 1979). In einigen Fällen wurden Beziehungen zwischen biologischer Aktivität und den Differenzwerten der Logarithmen von Koeffizienten in zwei Verteilungssystemen gefunden, die allerdings nicht allgemeingültig sind, beispielsweise als ein Modell zur Blut-Hirn-Schranke (Leahy et al. 1991; van de Waterbeemd und Kansy 1992). Liposomen wurden als neueres Verteilungsmodell vorgeschlagen, da deren Aufbau einer biologischen Membran am nächsten kommt. Sie eignen sich gut zur Bestimmung von biologisch relevanten Verteilungskoeffizienten (Alcorn et al. 1993; Pauletti und Wunderli-Allenspach 1994) und zur Unter- Einleitung 3 suchung von Arzneistoff-Membran-Wechselwirkungen (Fruttero et al. 1998). Die räumliche Trennung von van-der-Waals- und elektrostatischen Wechselwirkungsbereichen des Phosphatidylcholins sind für das Verteilungsverhalten von Molekülen entscheidend (Katz und Diamond 1974 a-c; Diamond und Katz 1974). Der Vorteil von Liposomen besteht insbesondere in der gleichzeitigen Berücksichtigung von polaren und unpolaren Wechselwirkungen. Als Methode zur Bestimmung von Verteilungskoeffizienten wird häufig das shake flask-Verfahren eingesetzt. Da die shake flask-Methode einen hohen Zeitaufwand erfordert und die Reproduzierbarkeit der Verteilungskoeffizienten nicht optimal ist, suchte man nach weiteren einfachen und leicht zu handhabenden Bestimmungsmethoden für die Verteilungskoeffizienten. Diese wurden in der Umkehrphasen-Hochleistungsflüssigkeitschromatographie (RP-HPLC) gefunden (Kaliszan et al. 1994). Allerdings sind die Ergebnisse nur für homologe Reihen mit den Verteilungskoeffizienten in n-Octanol/Wasser vergleichbar. Ein Ausweg stellt die Beschichtung der RP-Säule mit n-Octanol dar, wobei aber nur Verbindungen mit einem Verteilungskoeffizienten zwischen 0.1 und 1000 sicher vermessen werden können. An Stelle von Untersuchungen an Liposomen ist die Verwendung von künstlichen immobilisierten Membranen als stationäre Phase in der Hochleistungsflüssigkeitschromatographie (IAM-HPLC) eine einfache und genaue Alternative zur Bestimmung von Membran-Verteilungskoeffizienten sowohl für ionisierbare als auch für nichtionisierbare Verbindungen (Ong et al. 1996). Weiterhin wurden IAMSäulen (immobilized artificial membrane = IAM) erfolgreich angewendet zur Trennung, Analyse und Reinigung von Biomolekülen (Pidgeon et al. 1991), zur Vorhersage des Arzneistoffstransportes durch die Haut (Ong et al. 1996) und zur Vorhersage von n-Octanol/Wasser- oder Membran-Verteilungskoeffizienten (Ong et al. 1996; Barbato et al. 1996; Barbato et al. 1997). Eine neue Methode stellt die potentiometrische Titration dar, die es mit geringerem Aufwand ermöglicht, Membran-Verteilungskoeffizienten für ionisierbare Verbindungen zu bestimmen (Avdeef et al. 1998). 1.3 Die Lokalisation der Arzneistoffmoleküle in Membranen und Diffusionsprozesse an Membranen Für das Auffinden von intramolekularen Wechselwirkungsstellen in Molekülen und intermolekularen Wechselwirkungsstellen von Molekülen mit ihrer Umgebung ist die Kern-Magnet-ResonanzSpektroskopie (Nuclear Magnetic Resonance = NMR) die am weitesten entwickelte und universellste Methode. Intra- und intermolekulare Abstände zwischen NMR-aktiven Kernen können unter Ausnutzung von homo- und heteronuklearen Kern-Overhauser-Effekt-Messungen (nuclear Overhauser effect = NOE) bestimmt werden. Durch spezielle 19F1H-NOE-NMR-Experimenten sind die Beträge von internuklearen Abständen und die Regionen von intermolekularen Wechselwirkungen bei fluorierten Verbindungen in Lösung zugänglich (Gerig et al. 1979; Jones et al. 1995; Huber et al. 1997). Einleitung 4 Für einige Phenothiazine (Frenzel et al. 1978, Kitamura et al. 1979; Kuroda und Kitamura 1984, Pajeva et al. 1996) und Calcium-Kanal-Blocker (Gaggelli et al. 1990; Bäuerle und Seelig 1991) wurden bereits Interaktionen mit Phosphatidylcholin-Molekülen der biologischen Membranen über NMR-Experimente gefunden. Auch konnte die Existenz einer starken Bindung zwischen den polaren Phospholipid-Molekülen und den catamphiphilen Substanzen bewiesen werden, die mit einer höheren Lipophilie einer Substanz zunimmt (Seydel et al. 1989; Seydel et al. 1992; Fruttero et al. 1998). Allerdings gibt es keine konkreten Aussagen über die intermolekularen Wechselwirkungsstellen in der Membran auf atomarer Ebene. Die zum Teil geringe Löslichkeit der ausgewählten Arzneistoffe erschwert dabei die Untersuchungen in wässrigen Lösungen. Weiterhin wird heute die NMR-Spektroskopie zur Analyse von Transport- oder Diffusionsphänomenen von Molekülen durch Membranen angewendet (King und Kuchel 1990). Durch eine Signalaufspaltung im 19F-Spektrum von Substanzen können Zweiseiten-Austauschprozesse an der Membran von roten Blutkörperchen (red blood cells = RBC) untersucht werden, da bei dieser Art von Zellen eine komplizierte Trennung aus ihrer natürlichen Umgebung und weitere Aufbereitungen des biologischen Materials entfallen (Potts et al. 1990; Xu et al. 1991; Potts und Kuchel 1992; Xu und Kuchel 1993; Xu et al. 1998). Die Ein- und Austrittsgeschwindigkeiten von Molekülen können durch PhospholipidArzneistoff-Wechselwirkungen auf molekularer Ebene beeinflusst werden. 1.4 Pharmakologische Eigenschaften der untersuchten Arzneistoffe Neuroleptika von Phenothiazin- und Thioxanthen-Typ werden bei psychomotorischer Erregtheit, psychotischen Syndromen und Schizophrenie angewendet und bewirken ein Anstoßen von antipsychotischen Effekten über eine reversible Blockade von dopaminergen D2-Rezeptoren. Elektronenziehende Substituenten am Trizyklus wie Chlor und CF3 verstärken die Wirkung, elektronenschiebende Substituenten wie OCH3 und SCH3 führen zum Gegenteil. Die Unterschiede in den Wirkstärken werden über die schnellere Biotransformation nicht halogenhaltiger Verbindungen erklärt. Die neuroleptische Potenz der Verbindungen nimmt weiterhin mit der Verlängerung der Seitenkette vom N,N-Dimethylpropylamin zum 2-(4-Propylpiperazin)-ethanol zu. Bei einigen Derivaten (Promethazin, Levomepromazin, Thioridazin) ist eine ausgeprägte antidepressive Aktivität therapeutisch nutzbar. Die Phenothiazine unterliegen einer Radikalbildung bei dauerhafter Licht- und Lufteinwirkung. Calcium-Kanal-Blocker der Klassen der 1,4-Dihydropyridine und der Phenylalkylamine wirken über eine Hemmung des membranständigen und spannungsabhängigen Calcium-Kanals von L-Typ. Die Verbindungen vom Nifedipin-Typ beeinflussen das Membranpotential und vermindern die Öffnungswahrscheinlichkeit des Ionenkanals, so dass der Calcium-Einstrom in die Zelle verzögert wird. Da die verringerte Kontraktionsfähigkeit besonders bei Myokard- und Muskelzellen der Blutgefäße ausgeprägt ist, sind die klassischen Einsatzgebiete der Calcium-Kanal-Blocker die Therapie von koronarer Herzkrankheit und Hypertonie. Unter Lichteinfluss aromatisiert der 1,4-Dihydropyridinring. Die Phenylalkylamine (Verapamil) wirken über eine allosterische Blockade an der 1,4-DihydropyridinBindungsstelle. Die S-(-)-Form von Verapamil ist therapeutisch stärker wirksam als das andere Enantiomer. Einleitung 5 Ein völlig neues Anwendungsgebiet von R-(+)-Verapamil ergibt sich aus dessen Fähigkeit, die Zytostatikaresistenz von Krebszellen aufzuheben (Zamora et al. 1988). Die Expression eines Transportproteins ist verantwortlich für das Auftreten der Resistenzen. Es wurde für beide Enantiomere des Verapamils ein Angriff am membranständigen P-Glykoprotein und dessen Blockade nachgewiesen (Toffoli et al. 1995; Döppenschmidt et al. 1999). Mit Triflupromazin, Trifluoperazin und beiden Flupenthixol-Isomeren fand man ebenso Zytostatikaresistenz aufhebende Effekte an Krebszellen (Ford et al. 1989; Ford et al. 1990). Neben der Bindung an das P-Glykoprotein wurde ein weiterer Wirkmechanismus der neuroleptisch aktiven Substanzen postuliert, indem sie die Membranstruktur unspezifisch verändern können und damit eine verbesserte Membrangängigkeit der eigentlichen Zytostatika nach sich ziehen (Pajeva et al. 1996; Dey et al. 1997). 1.5 Ansatz und Zielstellung Bevor die ausgewählten Arzneistoffe die molekulare Ordnung einer biologischen Membran beeinflussen, müssen sie sich an oder in die Membran einlagern. Bislang fehlen systematische Bestimmungen von Verteilungskoeffizienten der Verbindungen an biologischen Membranen oder in verwandten in vitro-Modellen unter Berücksichtigung von physiologischen Bedingungen. Das Ziel der vorliegenden Dissertation besteht in der quantitativen Analyse des Verteilungsverhaltens; Lokalisation von intermolekularen Wechselwirkungsstellen in Membranen und Interpretation des Verteilungsverhaltens durch statistisch ausgewählte Molekül-Deskriptoren. Dazu werden zuerst die Verteilungskoeffizienten der Neutralformen und der Ionen potentiometrisch in n-Octanol/Wasser, in Propylenglycoldipelargonat/Wasser und an Phosphatidylcholin-Liposomen bestimmt sowie die Interaktionen mit künstlichen Membranoberflächen chromatografisch an einer IAM-Säule untersucht. Die Wechselwirkungen auf molekularer Ebene in Membranen werden mit Hilfe der NMR-Spektroskopie analysiert. Statistische und Molecular Modeling-Verfahren ermöglichen einen Vergleich der experimentellen Ergebnisse, um die wesentlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Verteilungsverhalten der Verbindungen und die strukturellen Ursachen herauszustellen. Eine besondere Eignung der verwendeten in vitro-Modellsysteme soll zum Schluss abgeleitet werden.