1 Biopsychologie 6., aktualisierte Auflage John P. J. Pinel; Paul Pauli (Hrsg.) Kapitel 1: Biopsychologie als Neurowissenschaft 1.2 Definition Biopsychologie ist das wissenschaftliche Studium der Biologie des Verhaltens – das wissenschaftliche Studium von allen gezeigten Aktivitäten eines Organismus und von allen internalen Prozessen, auf denen diese vermutlich basieren. (z.b. Lernen, Motivation, Gedächtnis, Wahrnehmung, Emotion) 1.3 Welche Beziehung besteht zwischen der Biopsychologie und anderen Disziplinen der Neurowissenschaft? Biopsychologen sind Neurowissenschaftler, deren Forschung stark durch ihre Erkenntnisse über Verhalten und über die Methoden der Verhaltensforschung geprägt ist. Da Biopsychologie eine integrative Disziplin ist, greifen Biopsychologen auf das Wissen aus anderen neurowissenschaftlichen Disziplinen zurück: Neuroanatomie: Die Erforschung der Struktur des Nervensystems. Neurochemie: Die Erforschung der chemischen Grundlagen neuronaler Aktivität. Neuroendokrinologie: Die Erforschung der Interaktionen zwischen dem Nervensystem und dem endokrinen System. Neuropathologie: Die Erforschung von Störungen des Nervensystems. Neuropharmakologie: Die Erforschung der Wirkungen von Pharmaka und Drogen auf die neuronale Aktivität. Neurophysiologie: Die Erforschung der Funktionen und Aktivitäten des Nervensystems. 1.4 Welche Art von Forschung kennzeichnet den biopsychologischen Ansatz? Es gibt 3 wichtige Dimensionen entlang denen biopsychologische Forschung variiert: 1.4.1 Versuchspersonen und Versuchstiere Vorteile der Untersuchung an Menschen: Menschen können Instruktionen leichter folgen. Menschen können über ihr subjektives Erleben berichten. Humanforschung ist billiger. Vorteile der Untersuchung an Tieren: Evolutionäre Kontinuität des Gehirns: Die Gehirne der Menschen unterscheiden sich von den Gehirnen anderer Säugetiere hauptsächlich in der Größe und dem Ausmaß der kortikalen Entwicklung. Unterschiede eher quantitativ als qualitativ - somit lassen sich viele der Prinzipien der menschlichen Gehirnfunktionen an Tieren ableiten. Gehirn und Verhalten von Versuchstieren sind weniger komplex, daher können Untersuchungen mit höherer Wahrscheinlichkeit grundlegende Gehirn-Verhalten Interaktionen aufzeigen. Der vergleichende Ansatz, bei dem biologische Prozesse durch den Vergleich verschiedener Spezies erforscht werden, führt häufig zu neuen Einsichten. An Labortieren kann Forschung durchgeführt werden, die aus ethischen Gründen am Menschen nicht möglich ist. Ethischer Grundsatz!: Wenn die Tiere, die wir untersuchen, sinnvolle Modelle unserer eigenen, höchst komplexen Handlungen sein sollen, dann müssen wir sie so respektieren, wie wir unsere eigenen Empfindungen respektieren! (Ulrich, 1991). 2 1.4.2 Experimente und nicht-experimentelle Studien Experimente: Methode, die Wissenschaftler zur Aufdeckung von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen verwenden. Der Experimentator legt zuerst 2 oder mehr Bedingungen fest, unter denen der Proband getestet wird. Intergruppen-Versuchsplan: unter jeder Bedingung werden verschiedene Probandengruppen getestet. Intragruppen-Versuchsplan: Unter jeder Bedingung wird dieselbe Probandengruppe getestet. Unabhängige Variable: Nur ein relevanter Unterschied zwischen den Versuchsbedingungen. Abhängige Variable: Variable, die gemessen wird, um den Effekt der unabhängigen Variable zu erfassen. Es ist wichtig, dass sich die Versuchsbedingungen, außer in der unabhängigen Variable nicht unterscheiden, da es bei mehreren Unterschieden schwierig ist festzustellen, ob der unbeabsichtigter Unterschied, die konfundierende Variable, zu den Effekten geführt hat. Beispiel eines Experiments: „CoolidgeEffekt“ Lester und Gorzalka (1988) wiesen den so genannten „Coolidge-Effekt“ nach. Das männliche Geschlecht ist nach einer Kopulation mit einem Sexualpartner ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr zu einer weiteren Kopulation mit demselben Sexualpartner fähig, bei einem neuen Sexualpartner jedoch wieder häufiger! Experimentelle Fragestellung: CoolidgeEffekt auch bei Weibchen? Problem: Männchen ermüden schneller als Weibchen, daher ist diese Untersuchung bei Weibchen mit der Ermüdung der Männchen konfundiert! Wird einem Weibchen ein neuer Sexualpartner präsentiert, kann die Zunahme der sexuellen Empfänglichkeit des Weibchens ein echter Coolidge-Effekt sein, oder auf die größere Spannkraft des neuen Männchens zurückzuführen sein! Lösung: Weibchen1 kopulierte mit Männchen1, während anderes Männchen2 mit Weibchen2 kopulierte. Danach pausierten beide Männchen, während Weibchen1 mit Männchen3 kopulierte. Danach wurde Weibchen1 entweder mit bekannten Männchen1 oder unbekannten Männchen2 getestet. Weibchen1 reagierte im 3. Test sexuell stärker auf das unbekannte Männchen2 als auf das bekannte Männchen1, obwohl beide Männchen gleichermaßen erschöpft waren. Nichtexperimentelle Untersuchungen Quasiexperimentelle Untersuchungen: Manche unabhängigen Variablen können als Versuchsbedingung nicht umgesetzt werden (z.B. Probanden übermäßigen Alkoholkonsum aufzwingen!). Deshalb werden Probanden gesucht, die in ihrem Leben dieser Situation ausgesetzt sind! Nachteile: Sind keine echten Experimente, da mögliche konfundierende Variablen nicht kontrolliert werden können. Versuchspersonen ordnen sich selbst den Versuchsgruppen zu. Fallstudien: Studien, die sich auf einen einzelnen Fall oder ein einzelnes Versuchsobjekt konzentrieren. Vorteile: Liefern tiefergehendes Bild als Experimente/Quasiexperimente. Hervorragende Quelle, um überprüfbare Hypothesen zu generieren. Nachteil: 3 eingeschränkte Generalisierbarkeit: Ausmaß, in dem sich Ergebnisse einer Untersuchung für andere Individuen oder Situationen verallgemeinern lassen 1.4.3 Grundlagenforschung und angewandte Forschung Grundlagenforschung: hauptsächlich durch die Neugier der Forscher motiviert Angewandte Forschung: hat das Ziel, einen direkten Nutzen für die Menschheit zu bringen 1.5 Welche Teilbereiche hat die Biopsychologie? Physiologische Psychologie: Direkte Manipulation des Gehirns (chirurgisch; elektrisch); meist Grundlagenforschung! Fast ausschließliche Untersuchung von Labortieren. Psychopharmokologie: Wirkung durch Pharmaka und Drogen auf das Gehirn/Verhalten wird untersucht! (oft anwendungsbezogen!) Ziel: neue Medikamente für Therapien zu entwickeln. Test an Labortieren, manchmal am Menschen. Neuropsychologie: untersucht psychologische Auswirkungen von Gehirnschäden (viele Fallstudien und quasiexperimentelle Untersuchungen!) Spezialisierung auf den äußeren Neocortex, da er am leichtesten verletzt wird. Großer Anwendungsbezug! Psychophysiologie: untersucht Zusammenhang zwischen physiologischer Aktivität und psychologischen Prozessen! Typische psychophysiologische Maße zur Messung von Gehirnaktivität: EEG, Muskelspannung, Augenbewegung, etc. Kognitive Neurowissenschaft: untersucht neuronale Grundlagen der „Kognition“, also höhere geistige Prozesse, wie Denken, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, etc. Tests meistens an Menschen durchgeführt. Hauptmethode: nicht-invasive Messungen, keine direkte Manipulation des Gehirns – funktionelle Bildgebung des Gehirns, während Proband bestimmte kognitive Aktivitäten durchführt. Häufig interdisziplinäre Zusammenarbeit. Vergleichende Psychologie: schließt eine evolutionäre Perspektive mit ein und untersucht und vergleicht das Verhalten verschiedener Spezies, um so Evolution, Genetik und Adaptivität zu verstehen. Verhalten wird untersucht im Labor oder bei Tieren in ihrer natürlichen Umgebung. 2 Teile der Vergleichenden Psychologie sind die Evolutionäre Psychologie und die Verhaltensgenetik. 1.6 Konvergenz der Ansätze: Wie arbeiten Biopsychologen zusammen? Biopsychologen arbeiten oft zusammen – konvergierende Arbeitsweise, d.h. die Schwächen eines Ansatzes werden durch die Stärken kompensiert. Beispiel: Korsakoff-Syndroms (oft bei Alkoholikern!) Hauptsymptom: Schwerer Gedächtnisverlust! Erste Annahme: es handle sich um eine direkte Folge der toxischen Effekte von Alkohol. Diese Schlussfolgerung ist eigentlich nicht legitim, da sie einer quasiexperimentellen Interpretation entspricht. Andere Untersuchungen ergaben, dass dieses Syndrom auch bei mangelernährten Menschen, die keinen Alkohol tranken, durch Mangel an Thiamin (Vitamin B1) auftritt! Experimente mit Ratten zeigten, dass Thiamindefizit ähnliche Muster von Gehirnschädigungen erzeugte wie bei Alkoholikern. Einer neuen Idee zufolge darf vermutet werden, dass Alkoholiker hauptsächlich durch mangelnde Ernährung (Alkohol hat keine Vitamine) am Korsakoff-Syndrom leiden können! 1.7 Wissenschaftliches Schlussfolgern: Wie erforschen Biopsychologen die unbeobachtbaren Tätigkeiten des Gehirns? Wissenschaftliches Schlussfolgern = grundlegende Methode der Biopsychologie – sie ist ein systemischer Ansatz, um durch sorgfältige Beobachtungen bestimmte Dinge herauszufinden. Viele 4 Prozesse können nicht beobachtet werden, sondern nur ihre Auswirkungen – daher wissenschaftliches Schlussfolgern. Die Wissenschaftler messen entscheidende Ereignisse, die sie beobachten können sehr genau. Diese Messungen dienen ihnen dann als Grundlage, um die Natur von Ereignissen, die sie nicht beobachten können, logisch abzuleiten. Beispiel: Bewegungswahrnehmung unter 4 verschiedenen Bedingungen 1.8 Kritische Gedanken über biopsychologische Behauptungen? Wissenschaftlicher Review-Prozess! Wie stellt man die Gültigkeit einer wissenschaftlichen Behauptung fest: Sind die Behauptungen und die dahinter stehende Forschung in einer angesehenen wissenschaftlichen Zeitschrift erschienen? Grund: Artikel wird vor der Veröffentlichung von Experten auf diesem Gebiet begutachtet und als qualitativ hochwertig veröffentlicht. Andernfalls sollte man besonders kritisch sein – wobei es auch bei wissenschaftlichen Artikeln keine Garantie für Richtigkeit gibt. Beispiel: José und der Stier José Delgado demonstrierte ein neues Verfahren zur Aggressionskontrolle. An dem Stier war ein Funksender angebracht, der eine Serie schwacher elektrischer Entladungen vom Stimulator aus durch eine Elektrode, die in den Nucleus caudatus implantiert worden war, aussandte. Immer wenn der Stier angriff, wurde er nach Aktivierung des Funksenders, ruhig – Beweis für Zähmungszentrum? Nein, denn die Stimulation könnte ganz anderes aktiviert haben z.b. Schwindel, Übelkeit. Morgans Kanon/Ockhams Rasiermesser: Wenn es mehrere Interpretationsmöglichkeiten für eine Verhaltensbeobachtung gibt, ist die einfachste Erklärung meist die Beste. 5 Kapitel 2: Evolution, Genetik und Erfahrung 2.2 Von Dichotomien zu Beziehungen und Interaktionen 2.2.1 Ist Verhalten physiologisch oder psychologisch bedingt? In der Renaissance kam es zum Konflikt zwischen Kirche und Wissenschaft, da ein Großteil der wissenschaftlichen Erkenntnisse, den Vorschriften der Kirche widersprach. René Descartes löste diesen Konflikt, indem er argumentierte, dass das Universum aus physischer Materie, welche den Naturgesetzen unterworfen ist und somit legitimer Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen ist, und dem menschlichen Geist, welcher keine physische Substanz besitzt, aufgebaut ist kartesische Dualismus – wurde von Kirche genehmigt, Sichtweise hat bis heute überlebt. 2.2.2 Ist Verhalten angeboren oder erlernt? Gelehrte diskutieren seit Jahrhunderten, ob Menschen/Tiere ihre Verhaltenfähigkeiten ererben oder durch Lernen erwerben Anlage-Umwelt-Problem (nature-nurture problem). Die meisten frühen nordamerikanischen Experimentalpsychologen (z.b. Watson) waren überzeugt, dass die Umwelt die entscheidende Rolle spielt. Zur gleichen Zeit in Europa entwickelte sich die Ethologie, die sich auf instinktives Verhalten konzentrierte und der Meinung war, dass es angeboren ist. 2.2.3 Die traditionellen Dichotomien passen nicht zu einer Biologie des Verhaltens Die traditionellen Debatten über Dichotomien unterliegen einer falschen Denkweise. „Physiologie oder Psychologie“: 2 Beweislinien Selbst die komplexesten psychologischen Veränderungen können Folge einer Schädigung oder Stimulation von Teilen des Gehirns sein. Einige nichtmenschliche Spezies besitzen Fähigkeiten, von denen angenommen wurde, dass sie rein psychologisch und daher menschlich sind. Bsp: „Der Fall eines Schimpansen und eines Spiegel“: Das Maß an Selbstbewusstsein korreliert mit der Fähigkeit, Gegenstand seiner eigenen Aufmerksamkeit zu werden Möglichkeit zur Testung durch Spiegel – Schimpanse sieht sich. „Anlage oder Umwelt“: Wie viel von einem bestimmten Verhalten ist genetisch bedingt und wie viel das Ergebnis von Erfahrung? Erkenntnis: genetische Faktoren und Umweltfaktoren interagieren und kombinieren sich additiv! Bsp: Musik: wie viel davon ist vom Musiker und wie viel ist vom Instrument? (ungeschickte Frage!) Neuronen sind lange bevor sie völlig entwickelt sind aktiv und der weitere Verlauf ihrer Entwicklung hängt stark von ihrer Aktivität ab, die zu einem großen Teil durch die Umwelt ausgelöst wird. Resultierendes Modell, welches die Interaktion dreier Faktoren beinhaltet (s. Abb nächste Seite) Dieses Modell kann auf die Folgenden Faktoren reduzieren. 1. die genetische Ausstattung eines Organismus, die ein Produkt seiner evolutionären Vergangenheit ist 2. seiner Erfahrung 3. seiner Wahrnehmung der aktuellen Situation 6 2.3 Die menschliche Evolution Evolution ist die Idee, dass sich Arten aus bereits bestehenden Arten entwickeln. Darwin präsentierte 3 Arten von Beweisen: Dokumentation der Evolution anhand von Fossilien. strukturelle Ähnlichkeiten zwischen lebenden Spezies, z.b. zwischen einer menschlichen Hand und dem Flügel eines Vogels, was gemeinsame Vorfahren nahe legt. bedeutende Veränderungen, die durch selektive Züchtung bei domestizierten Pflanzen und Tieren hervorgerufen wurden. Evolution über natürliche Selektion vererbbares Merkmal, welches mit hohen Überlebens- und Fortpflanzungsraten zusammenhängt, wird am wahrscheinlichsten weitervererbt. Fitness Fähigkeit eines Organismus zu überleben und die eigenen Gene an die nächste Generation weiterzugeben. 2.3.1 Evolution und Verhalten 2 Beispiele für wichtige Faktoren in der Evolution Soziale Dominanz: Männliche Vertreter vieler Spezies legen durch Rangkämpfe mit anderen Männchen eine stabile soziale Dominanzhierarchie fest. Bei einigen Arten kopulieren dominante Männchen mehr und geben somit erfolgreicher ihre Merkmale weiter. Bei anderen Arten haben dominante Weibchen mehr und auch gesünderen Nachwuchs. Balzverhalten: Bei vielen Spezies geht der Kopulation ein kompliziertes Balzritual voraus. Annahme, dass das Balzverhalten die Evolution neuer Spezies begünstigt. Spezies = Gruppe von Organismen, die hinsichtlich der Reproduktion von anderen Organismen isoliert ist. Eine neue 7 Spezies spaltet sich von einer bereits existierenden ab, wenn eine Barriere Paarungen zwischen einer Teilpopulation und dem Rest verhindert, z.b. aufgrund geographischer Besonderheiten. 2.3.2 Der Verlauf der menschlichen Evolution Heute existieren 7 Vertebratenklassen: 3 Klassen von Fischen (Rundmäuler (Neunaugen), Knorpelfische (Hai), Knochenfische(Forelle)) Amphibien (Bsp: Frösche) Reptilien (Bsp: Schildkröte) Vögel (Bsp: Milane) Säugetiere (Bsp: Menschen) Die Evolution der Wirbeltiere (Vertebraten): Vor ca. 600 Mio. Jahren Vielzellige Organismen tauchten auf. Vor ca. 450 Mio. Jahren Entwicklung der Chordatiere (Chordata) - haben einen dorsalen Nervenstrang. Sie sind einer von insgesamt ca. 20 Stämmen in der Zoologie. Vor ca. 425 Mio. Jahren Erste Chordatiere mit Rückenwirbeln (Schutz des Nervenstrangs) (Vertebratae, Wirbeltiere) Die Evolution der Amphibien: vor ca. 410 Mio. Jahren ersten Knochenfische kamen aus dem Wasser. Vor ca. 400 Mio. Jahren Entwicklung sich die ersten Amphibien. Amphibien müssen in ihrer Larvenform im Wasser leben; nur Erwachsene können an Land leben. Die Evolution der Reptilien: Vor ca. 300 Mio. Jahren aus Amphibien entwickelten sich Reptilien. Reptilien waren die ersten Vertebraten, die mit Schalen ummantelte Eier legten und die mit trockenen Schuppen bedeckt waren. Die Evolution der Säugetiere Vor ca. 180 Mio. Jahren Entwicklung von Säugetieren als neue Klasse von Vertebraten, deren Weibchen ihre Jungen mittels Brustdrüsen säugen und ihre Jungen in der feuchten Umwelt des eigenen Körpers heranreifen lassen. Das Schnabeltier ist ein Säugetier, welches noch Eier legt! Die Entstehung des Menschen Heute existieren 14 Säugetierordnungen. Eine davon ist die Ordnung der Primaten (Herrentiere). Menschenaffen und Hominiden gehören zu den Primaten! Unter den Hominiden gibt es die Gattungen Australopithecus und Homo! Im Rahmen der Gattung Homo ist der Mensch die Art Homo sapiens (Homo sapiens sapiens). 3 bedeutendsten menschlichen Attribute: Großes Gehirn Aufrechter Gang Freie Hände mit opponierbaren Daumen Gedanken über die menschliche Evolution Evolution folgt keiner geraden Linie – einverzweigter Busch wäre eine angemessene Metapher. Menschen sind letzte Art einer Familie, die erst „kurz“ existiert. Evolution schreitet nicht immer langsam und graduell voran. Nur wenige Produkte der Evolution haben bis heute überlebt. Evolution führt nicht zu einer vorherbestimmten Perfektion. Nicht alle existierenden Verhaltensweisen oder Strukturen sind adaptiv. Nicht alle existierenden adaptiven Merkmale haben sich aufgrund ihrer gegenwärtigen Funktion entwickelt Exadaption. Ähnlichkeiten zwischen Spezies müssen nicht unbedingt auf einem gemeinsamen evolutionären Ursprung beruhen; o homolog = ähnliche Struktur – gemeinsamer evolutionärer Ursprung; o analog = ähnliche Struktur – kein gemeinsamer evolutionärer Ursprung entsteht durch konvergente Evolution = evolutionäre Entwicklung ähnlicher Lösungen zur Bewältigung derselben Umweltanforderung bei nicht verwandten Arten. Die Evolution des menschlichen Gehirns Zwischen Gehirngröße und Intelligenz besteht kein eindeutiger Zusammenhang. Evolutionspsychologie: Warum gibt es Paarbindung? Promiskuität Paarungsverhalten, bei dem Mitglieder beider Geschlechter während jeder Paarungszeit unterschiedslos mit vielen verschiedenen Partnern kopulieren. o Vorherrschende Fortpflanzungsart 8 Die meisten Säugetierarten neigen dazu Paarbildungen einzugehen. Polygenie ein Männchen geht eine Bindung mit mehreren Weibchen ein. o Vorherrschende Fortpflanzungsart bei Säugetieren o Weibliche Säugetiere leisten einen weit größeren Beitrag zur Aufzucht der Jungen. Säugetierväter tragen oft nur zur Fortpflanzung ihr Sperma bei. o Weibchen paaren sich mit fitten Männchen, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass die Jungen gut angepasst sind. o Männchen paaren sich mit vielen Weibchen – es entsteht ein geringerer Druck ihre Verbindungen gezielt auszuwählen. Polyandrie Paarungsmuster, bei dem ein Weibchen Paarbindungen mit mehr als einem Männchen eingeht. o Tritt nicht bei Säugetieren auf, sondern nur bei Arten, bei denen die Beiträge der Männchen zur Fortpflanzung größer sind als diejenigen der Weibchen (zb. Seepferdchen) Monogamie Paarbindungsmuster bei dem ein einziges Männchen und ein einiges Weibchen eine anhaltende Bindung eingehen. o Die Weibchen können mehr Nachwuchs oder Nachwuchs mit einer höheren Fitness aufziehen, je ungeteilter die Unterstützung ist. o Männchen wählen fruchtbare Weibchen, Weibchen wählen fitte Männchen, die ihren Nachwuchs beschützen können. 2.4 Grundlegende Genetik 2.4.1 Mendel’sche Genetik Mendel untersuchte Vererbung an Erbsenpflanzen, die so genannte dichotome Merkmale besitzen = Eigenschaft, die nur in der einen oder anderen Form, aber nie in Kombination auftreten kann, z.b. Farbe der Samen (braun oder weiß). Bei reinerbigen Zuchtlinien haben die Nachkommen immer dieselbe Farbe Phänotyp: Das äußere Erscheinungsbild eines Organismus ist sein Phänotyp. 9 Genotyp: die Merkmale, die durch das genetische Material an die Nachkommen weitergegeben werden, aber nicht im Phänotyp ausgeprägt sind. Die 4 Mendelschen Ideen: 1) Für jedes dichotome Merkmal gibt es zwei Arten vererbter Faktoren = Gene. 2) Jeder Organismus hat zwei Gene für jedes seiner dichotomen Merkmale. Die beiden Gene, die dasselbe Merkmal kontrollieren werden Allele genannt. Organismen, die zwei identische Gene für ein Merkmal besitzen, werden als homozygot bezeichnet. Diejenigen, die zwei verschiedene Gene für ein Merkmal besitzen als heterozygot. 3) Bei heterozygoten Organismen dominiert eines der Gene. Das nicht dominante Gen = rezessives Gen - es kommt nur zur Ausprägung im Phänotyp, wenn beide Allele rezessiv? sind. 4) Jeder Organismus erbt zufällig für jedes Merkmal eines der beiden Gene des Vaters und eines der beiden Gene der Mutter. 2.4.2 Chromosomen, Fortpflanzung und Genkopplung (linkage) Chromosomen in Körperzellen treten paarweise auf, wobei jeweils ein Chromosom von der Mutter und eines vom Vater stammt! (Ausnahme: Geschlechtschromosomen männlicher Säugetiere!) Beide Chromosomen eines solchen Paares haben an gleichen Orten (Lokus) Gene für die gleichen Merkmale (homolges Paar). Sie sind jedoch nicht identisch, sondern können unterschiedliche Allele beherbergen. Eine Art besitzt eine charakteristische Zahl von Chromosomenpaaren (Mensch: 23). Es gibt zwei Arten von Zellteilungen, in deren Rahmen Chromosomen weitergegeben werden: Meiose und Mitose! Meiose: Prozess der Zellteilung, aus dem Gameten entstehen (Eizellen und Spermazellen). Eizelle hat nur einen durchmischten „Mutterchromosomensatz“. Spermazelle hat nur einen durchmischten „Vaterchromosomensatz“. Beide Zellen sind haploid. Bei der Befruchtung entsteht eine Zygote, die beide Chromosomensätze enthält = diploid. Die Meiose läuft in 2 Zellteilungszyklen ab: Meiose 1: Reduktionsteilung, da der diploide Chromosomensatz auf einen haploiden reduziert wird. 1) Prophase 1: Die homologen Chromosomen eines Paares legen sich eng aneinander. Es kommt zum „crossing over“, einer teilweisen Überkreuzung der homologen Paare. Das 10 crossing over löst sich auf, es kommt zur Rekombination über einen homologen Stückaustausch. 2) Metaphase 1: Die rekombinierten Chromosomen(paare) ordnen sich an der Äquatorialeben an. 3) Anaphase 1: Die Paare wurden durch die Längsstreckung getrennt. 4) Telophase 1: Zelle schnürt sich wieder an der Äquatorialebene zusammen es entstehen 2 Tochterzellen mit einem jeweils haploiden Chromosomensatz (zufällige Anordnung der rekombinierten Chromosomen). Meiose 2: ist eigentlich eine schnell ablaufende Mitose 1) Metaphase 2: beide Tochterzellen gehen in sie über; Chromosomen lagern sich an der Äquatorialebene an. 2) Anaphase 2: Längsstreckung Chromosomen werden am Zentromer in Chromatiden geteilt an jedem Zellpol 23 Chromatiden. 3) Telophase: Zelle schnürt sich ein Zellmembran am Nord-Südpol bildet sich 4 Tochterzellen mit jeweils 23 Chromatiden im Kern. Im Fall der Befruchtung kommt es zur Fusion der Zellkerne mit jeweils 23 Chromatiden, woraus dann die Zygote mit 46 Chromosomen entsteht. 11 Die Mitose ist die Teilung der Körperzellen. Befruchtete Eizelle (Zygote) teilt sich viele Male bis ein erwachsenes Individuum entstanden ist. 1) Prophase: Die zwei Zentriolen wandern zu den Polen. 2) Metaphase: Chromosomen duplizieren sich. Chromosomen lagern sich an der Äquatorialebene an. An Eiweißproteinkomplexen bei der Zentromerregion der Chromosomen, setzt der Spindelfaserapparat an. 3) Anaphase: Es kommt zu einer Längsstreckung. Jedes der 46 Chromosomen erfährt eine Längsteilung durch das Zentromer - Chromosomen trennen sich in Chromatiden auf. 4) Telophase und Cytokinese: Zelle schnürt sich im Bereich der Äquatorialplatte ein. Es bildet sich am Nord/Südpol wieder eine Zellmembran es entstehen zwei Tochterzellen mit zwei Zellkernen. Aus der Mutterzelle mit diploiden Chromosomensatz (n=46) wurden 2 Tochterzellen mit einem 46er Chromatidenatz. Danach durchlaufen beide Tochterzellen die Interphase Verdoppelung der Chromatiden zu Chromosomen. Wiederholung der Mitose solange bis ein erwachsener Organismus entstanden ist. Genetische Vielfalt: Wie kommt diese zustande? Jede Gamete enthält zufällig ein Chromosom von jedem der 23 Paare. Daraus resultiert eine mögliche Zahl von 2 hoch 23 (8.388.608) Chromosomenkombinationen = Interchromosomale Variation Crossing over (Stückaustausch zwischen Chromatiden homologer Chromosomen): Findet nach der Chromosomenverdopplung während der Meiose statt. Homologe Chromosomen lagern sich nebeneinander an, überkreuzen zufällig an manchen Orten, brechen auf und tauschen Abschnitte aus = Intrachromosomale Variation. Genkopplung: bedeutet, dass meist mehrere Gene eines ganzen Clusters vererbt werden. 2.4.3 Geschlechtschromosomen und geschlechtsgekoppelte Merkmale Geschlechtschromosomen: Chromosomenpaar, welches die Ausprägung des Geschlechts eines Organismus bestimmt! Weibliche Säugetiere besitzen zwei X-Chromosomen, männliche ein X- und ein Y-Chromosom! Merkmale, die durch Gene auf Geschlechtschromosomen beeinflusst werden, nennt man „geschlechtsgekoppelte Merkmale“! Fast alle „geschlechtsgekoppelten Merkmale“ werden durch das X-Chromosom bestimmt, da das Y-Chromosom nur wenige Gene trägt Merkmale, die durch Gene auf dem X-Chromosom bestimmt werden, treten bei einem Geschlecht häufiger auf als beim anderen! Die geschlechtsabhängige Häufigkeit variiert mit der Dominanz bzw. der Rezessivität eines entsprechenden Merkmals. Ein dominantes X-chromosomales Merkmal tritt häufiger beim weiblichen Geschlecht auf, während ein rezessives X-chromosomales Merkmal häufiger beim männlichen Geschlecht zu finden ist! WARUM? Beispiel eines rezessiven geschlechtsgekoppelten Merkmals: Farbenblindheit! Das entsprechende Gen ist selten und Frauen erben fast nie zwei dieser Gene, während jeder Mann, der dieses Gen besitzt, unweigerlich farbenblind ist! 12 2.4.4 Aufbau der Chromosomen und Replikation Jedes Chromosom ist ein doppelstrangiges Molekül der Desoxyribonukleinsäure (DNS/DNA). Jeder Strang besteht aus einer Sequenz von Nukleotidbasen, die an eine Kette aus Phosphaten und Desoxyribose angeheftet ist. 4 Arten von Basen: Es werden immer nur DNA: Adenin+Thymin (RNA: Adenin+Urazil) und Guanin+Cytosin gekoppelt. Aufbau der DNS (Trägersubstanz der Erbinformation): DNA-Doppelkette ist spiralig gewunden („DoppelHelix“) die Basen sind zur Innenseite gerichtet Wechselwirkung zwischen den Basenpaaren ergibt eine Verdrillung des Doppelstranges dreidimensionale Doppelhelix. ein Strang stellt das komplementäre Gegenstück des anderen dar Chromatin = DNA + Eiweiß = lange, dünne Faser, die im Chromosom eng gefaltet und aufgewunden ist. Ein Gen ist ein Teil eines DNA –Moleküls. Replikation (s. rechts) = Verdoppelung der Chromosomen, um im Zuge einer mitotischen Teilung beiden Tochterzellen einen vollständigen Chromosomensatz weitergeben zu können. Die DNS-Stränge beginnen sich zu trennen! Die dann freigelegten Nukleotidbasen ziehen ihre jeweils komplementären Basen aus der Umgebung an (Kopiervorgang)! Das Ergebnis sind zwei idente Doppelstränge. Während der Replikation können Fehler passieren (fehlerhafte Kopie) Mutationen. Diese Art der genetischen Variation führt zu nicht lebensfähigen Nachkommen bzw. zu unvorteilhaften Ausprägungen. In seltenen Fällen erhöhen Mutationen die Fitness eines Organismus und tragen so zu einer evolutionären Weiterentwicklung bei! 2.4.5 Genetischer Kode und Genexpression Es gibt verschiedene Arten von Genen, z.b: Strukturgene = Gene, die die notwendige Information für die Synthese eines Proteins enthalten. Operatorgene = Gene, die die Funktionen der Strukturgene kontrollieren. Ein Operatorgen legt fest, ob und mit welcher Rate ein Strukturgen das Protein, für welches es kodiert, synthesieren soll oder nicht (schaltet und kontrolliert also die Genexpression eines Strukturgens) entscheidend dafür, wie sich jede Zelle im Körper eines Organismus entwickelt (Zelldifferenzierung). Eine Gruppe von so 13 genannten Regulatorproteinen schaltet abgeschaltete Operatorgene an und eine andere Gruppe von regulatorproteinen schaltet angeschaltete Operatorgene ab. Viele Regulatorproteine werden durch Signale beeinflusst, die eine Zelle aus der Umwelt erhält ERFAHRUNG interagiert mit GENEN!!!! Genexpression: Ein kleiner DNS-Abschnitt trennt sich auf, sodass ein Strukturgen freiliegt! Dieser Abschnitt dient als Vorlage für die Transkription eines kurzen Stranges Ribonukleinsäure: Im Zellkern wird der Code der DNA durch die ähnlich aufgebaute RNA kopiert Basensequenz des aktivierten Gens wird durch Nukleotide nachgebildet, die im Chromatin enthalten sind. Die so entstandene mRNA: ist eine einfache Kette; hat als Zuckermolekül eine Ribose hat; verwendet statt Thymin Urazil ist eine Matrize einer Eiweißstruktur bringt den Gen-Code zu den für die Proteinsynthese zuständigen Ribosomen des endoplasmatischen Retikulums. Vor der Proteinsynthese: RNA-Spleissen: Introns werden entfernt. tRNA: ebenfalls im Zellkern gebildet sind relativ kurze RNA-Moleküle, die jeweils eine der 20 Aminosäuren binden und diese ebenfalls zu den Ribosomen transportieren. 14 sind für jeweils eine Aminosäure und das dazugehörige Codon auf der mRNA spezifisch. rRNA: In den Ribosomen findet unter ihrer Mitwirkung und der dort vorhandenen Enzyme die Proteinsynthese statt Translation: mRNA wandert durch das Ribosom hindurch die im Code niedergelegten Eiweißmoleküle werden Codon für Codon durch Aneinanderknüpfen der von den tRNA herbeigebrachten Aminosäuren aufgebaut, bis ein Kodon auftaucht, welches die Information beinhaltet, dass mit der Synthese aufgehört werden soll! Ein komplettes Protein wurde synthetisiert und wird nun zur weiteren Verwendung (als Material!) ins Cytoplasma freigesetzt! Kodon/Triplet: sind aus je 3 Nukleotiden zusammengesetz 2.4.6 Mitochondriale DNA Mitochondrien der Zellen enthalten mitochondriale DNA. Mitochondrien sind Energie lieferende Strukturen, die sich im Cytoplasma einer jeden Zelle befinden. Mitochondriale Gene werden von der Mutter geerbt. Interesse daran aus 2 Gründen: Mutationen in der mitochondrialen DNA spielen bei Krankheiten eine Rolle. Mutationen in der mitochondiralen DNA ereignet sich in einer konstanten Geschwindigkeit – somit evolutionäre Uhr. 2.4.7 Das Humangenomprojekt: Was kommt als Nächstes? Ziel: eine Karte sämtlicher 3 Milliarden Basen der menschlichen Chromosomen zu erstellen. Gelungen im Jahr 2001. Nächsten Ziele: Genom weiterer Spezies entschlüsseln Fokus auf vielen Unterschiede zwischen Menschen Unterschiede im Expressionsmuster von Genen in verschiedenen Teilen des Körpers untersuchen Welche Proteine werden von den einzelnen menschlichen Genen kodiert Erforschung der Funktion jedes dieser genkodierten Proteine 2.5. Verhaltensentwicklung: Die Interaktion zwischen genetischen Faktoren und Erfahrung Ontogenese = Entwicklung eines Individuums über die Lebensspanne Phylogenese = evolutionäre Entwicklung einer Art 2.5.1 Selektive Züchtung „labyrinthschlauer“ und „labyrinthdummer“ Ratten Tyron (1934): trainierte Ratten durch ein komplexes Labyrinth zu laufen - mit Futter als Belohnung! Er paarte Weibchen und Männchen, die schnell lernten, durch das Labyrinth zu laufen und züchtete so selektiv „labyrinthschlaue Ratten“ – weiters paarte er Weibchen und Männchen, die häufig in falsche Labyrintharme liefen und züchtete so selektiv „labyrinthdumme Ratten“. Die Nachkommen 15 wurden erneut getestet und die schlauesten und die dümmsten gepaart, usw. 21 Generationen lang. Ab der 8ten Generation gab es kaum noch eine Überlappung der Leistungen der beiden Stämme beim Labyrinthlernen! Tyron’s zusätzliche Kontrollprozedur - Labyrinthschlaue Ratten wurden von labyrinthdummen Ratten aufgezogen und labyrinthdumme Ratten von labyrinthschlauen. Frage: Lerneffekt durch Eltern? – Antwort: Nein, kein übertragener Lerneffekt! Strategie kann vermutlich jedes messbare Verhaltensmerkmal, welches zwischen Vertretern einer Art variiert, selektiv herauszüchten! Searle (1949): die zwei oben genannten Gruppen von Ratten unterschieden sich auch in vielen anderen Tests er meinte, dass die labyrinthschlauen Ratten nicht besser lernten, weil sie intelligenter sind, sondern, weil sie weniger emotional sind! Cooper und Zubek (1958) zogen labyrinthschlaue Ratten und labyrinthdumme Ratten in verschiedenen Umgebungen auf - verarmte, stimulationsdeprivierte Umgebung vs. angereicherte stimulierende Umgebung. Nur labyrinthdumme Ratten, die in einer verarmten Umgebung aufgewachsen sind, machten signifikant mehr Fehler als labyrinthschlaue Ratten reizvolle Umgebung kann negativen Effekte benachteiligter Gene ausgleichen! Gene und Erfahrung beeinflussen die Entwicklung von Verhalten gleichermaßen. Bennett et al.,(1964): Ratten, die einer angereicherten Umgebung aufgezogen werden, entwickeln ein dickere Großhirnrinde als Ratten, die in einer verarmten Umgebung aufwachsen. 2.5.2 Die Phenylketonurie: Eine durch ein einziges Gen bedingte metabolische Störung Symptome: führt zu einer geistigen Behinderung, zu Übelkeit, epileptischen Anfällen, Hyperaktivität, Hyperirritabilität und Hirnschädigungen! Vererbung: In Europa trägt einer von 100 Menschen das entsprechende Gen, welches rezessiv ist und somit nur bei homozygoten Trägern zur Ausprägung kommt, d.h. das PKU-Gen muss sowohl von Vater, als auch von Mutter geerbt werden. Biochemie: Es fehlt die Phenylalaninhydroxylase = Enzym zur Umwandlung der Aminosäure Phenylalanin in Tyrosin. Folge = Phenylalanin sammelt sich an - Dompaminspiegel bleibt niedrig Abnormale Gehirnentwicklung. 16 Behandlung: die Interaktion zwischen dieser genetischen Störung und einer bestimmten Ernährungsweise führt zu verbesserten Verhaltenssymptomen: eine phenylalaninarme Diät senkt den Phenylalaninspiegel im Blut und verringert die Entwicklung einer geistigen Behinderung. Entscheidend: Diät muss früh beginnen sensitive Phase! 2.5.3 Die Entwicklung des Vogelgesangs Linke absteigende motorische Bahn wichtiger als Rechte Gesangszentrum beim Männchen 4 x größer Gesangsstruktur im Frühjahr doppelt so groß (gesteuert durch Testosteron/ Zunhame des Tageslichts) Wachstum der Neurone! 2.6 Genetische Grundlagen psychologischer Unterschiede beim Menschen 2.6.1 Entwicklung von Individuen versus Entwicklung von Unterschieden zwischen Individuen Effekte von Genen und Erfahrung sind bei der Entwicklung von Unterschieden zwischen Individuen trennbar. Um den relativen Beitrag der Gene und der Erfahrung auf die Entwicklung von Unterschieden in psychologischen Merkmalen zu bestimmen, untersuchen Verhaltensgenetiker Individuen, deren genetische Ähnlichkeit bekannt ist eineiige Zwillinge (monozygote Zwillinge) im Vergleich zu zweiigen Zwillingen (dizygote Zwillinge). 2.6.2 Die Minnesota Studie über getrennt aufgewachsene Zwillinge Testung von: 59 eineiige Zwillinge und 47 zweiige Zwillinge die getrennt voneinander aufgewachsen sind und viele Paare die gemeinsam aufwuchsen. Alter der Zwillinge zwischen 19 und 68 Fragestellung: Sind sich erwachsene eineiigen Zwillinge, die getrennt voneinander aufgewachsen sind, ähnlich, da sie genetisch identisch sind, oder würden sie sich als verschieden erweisen, aufgrund unterschiedlicher familiärer Verhältnisse? Ergebnisse: 17 Eineiige Zwillinge sind sich auf allen psychologischen Dimensionen ähnlicher als zweiige Zwillinge, unabhängig vom gemeinsamen oder getrennten familiärer Umfeld. Korrelation zwischen IQ und eineiigen getrennt aufgewachsenen Zwillingen lag bei 0,75 Korrelation zwischen IQ und zweiiigen getrennt aufgewachsenen Zwillingen lag bei 0,38 Aber Achtung: Keine allgemeine Aussage über den relativen Beitrag der Gene und der Erfahrung zur Entwicklung von Intelligenz und Persönlichkeit eines Individuums machen. Durch die Korrelation wurde nicht darauf geschlossen, dass der IQ zu 70 % genetisch bedingt ist Erblichkeitsschätzungen sagen etwas über den Beitrag genetischer Unterschiede zu Unterschieden im Phänotyp zwischen Probanden aus; nichts aber über die relativen Beiträge von Genen und Erfahrung an der Entwicklung eines Individuums. Häufig übersehen: Genetische Unterschiede fördern psychologische Unterschiede über eine Beeinflussung der gemachten Erfahrungen, d.h. Individuen mit einer ähnlichen genetischen Ausstattung neigen dazu, auch ähnliche Umwelten und Erfahrungen aufzusuchen. 18 Kapitel 3: Die Anatomie des Nervensystems 3.1 Die Systeme, Strukturen und Zellen unseres Nervensystems 3.2 Der allgemeine Aufbau des Nervensystems 3.2.1 Gliederung des Nervensystems Das Wirbeltiernervensystem besteht aus 2 Teilen: Zentrales Nervensystem (ZNS) befindet sich im Schädel und der Wirbelsäule Peripheres Nervensystem (PNS) befindet sich außerhalb des Schädels und der Wirbelsäule Das ZNS besteht aus 2 Teilen: - dem Gehirn (Encephalon) befindet sich im Schädel - dem Rückenmark (Medulla spinalis) befindet sich in der Wirbelsäule Das periphere Nervensystem besteht aus dem somatischen (SNS) und dem autonomen (ANS) Nervensystem! Das SNS interagiert mit der Umwelt und besteht aus: - afferenten Nerven (die sensorische Signale von Haut, Skelettmuskeln, Gelenken, Augen und Ohren zum ZNS leiten) und aus - efferenten Nerven, die motorische Signale vom ZNS zu den Skelettmuskeln übertragen! 19 Das ANS reguliert das innere Milieu. Es besteht aus afferenten Nerven, die sensorische Signale von den Organen zum ZNS leiten und aus efferenten Nerven, die motorische Signale vom ZNS zu den Organen übertragen! Das ANS besitzt 2 Arten von efferenten Nerventypen: - sympathische Nerven - parasympathische Nerven Beide Nerventypen werden auf ihrem Weg zum Zielorgan einmal umgeschaltet: die sympathischen und parasympathischen Neurone gehen vom ZNS aus, legen einen Teil des Weges zum Erfolgsorgan zurück und bilden dann synaptische Verbindungen (Synapsen) mit anderen Neuronen, die das Signal die restliche Wegstrecke weiterleiten. Projektionen sympathischer Nerven werden in einiger Entfernung von ihrem Zielorgan umgeschaltet, während Projektionen parasympathischer Nerven in der nahen Umgebung ihrer Zielorgane umgeschaltet werden. 3 wichtige Funktionsprinzipien des sympathischen und parasymphatischen Nervensystems: 1) die sympathischen Nervenzellen stimulieren, organisieren und mobilisieren Energiereserven in bedrohlichen Situationen, während parasymphatische Nerven tätig werden, um Energie zu konservieren 2) jedes autonome Erfolgsorgan enthält gegensätzlichen sympathischen und parasympathischen Input, seine Aktivität wird somit durch das relative Niveau der sympathischen und parasympathischen Aktivität kontrolliert 3) durch den Sympatikus hervorgerufene Veränderungen psychologische Entspannung anzeigen. Die meisten peripheren Nerven entspringen dem Rückenmark! Ausnahmen: es gibt 12 paarige Hirnnerven, die direkt vom Gehirn ausgehen: - rein sensorisch: Nervus olfactorius, Nervus opticus - die meisten beinhalten sowohl sensorische als auch motorische Fasern - längste Hirnnerv: Nervus vagus, dessen motorische und sensorische Fasern von und zu den Eingeweide 3.2.2 Hirnhäute, Ventrikel und Cerebrospinalflüssigkeit Gehirn und Rückenmark sind am besten geschützt: sie sind von Knochen eingeschlossen und von 3 schützenden Membranen, den 3 Meningen bedeckt (als Schutz des ZNS neben Schädel und Wirbel!): - Dura mater (harte Mutter) - Arachnoidea mater (spinnwebenartige Membran) - Pia mater (fromme Mutter) Zwischen Pia mater undArachnoidea mater befindet sich der Subarachnoidalraum: enthält viele Blutgefäße und Cerebrospinalflüssigkeit. Subarachnoidalraum, Zentralkanal und die Ventrikel sind miteinander verbunden und bilden ein zusammengehörendes Reservoir! Die cerebralen Ventrikel sind die 4 großen Kammern des Gehirns: 2 Seitenventrikel, 3ter Ventrikel und 4ter Ventrikel. Die Cerebrospinalflüssigkeit (Liquor cerebrospinalis) füllt den Subarachnoidalraum, den Zentralkanal und die Ventrikel. Die Cerebrospinalflüssigkeit wird kontinuierlich vom Plexus choroideus produziert, ein Kapillarnetz, welches von der Pia mater in die Ventrikel hinausragt. Überschüssige Cerebrospinalflüssigkeit wird aus dem Subarachnoidalraum in so genannte Sinusräume absorbiert! Wie entsteht ein so genanter „Wasserkopf“ (Hydrocephalus)? Gelegentlich wird der Fluss der Cerebrospinalflüssigkeit durch einen Tumor in der Nähe der 20 engen Kanäle, die die Ventrikel verbinden, verhindert. Die resultierende Flüssigkeitsansammlung führt dazu, dass sich die Wände der Ventrikel und somit das ganze Gehirn ausdehnen. Der Wasserkopf wird behandelt, indem die überschüssige Flüssigkeit aus den Ventrikeln abgeleitet und versucht wird, die Blockade zu beseitigen. 3.2.3 Blut-Hirn-Schranke Ein weiterer Schutzmechanismus, der den Übertritt toxischer Substanzen aus dem Blut in das Gehirn verhindert. Cerebrale Blutgefäße haben eng nebeneinander liegende Zellen in den Gefäßwänden, sodass die meisten Proteine und andere große Moleküle nicht passieren können (Schranke!). Medikamente, die im Gehirn wirken sollen, müssen die Blut-Hirn- Schranke passieren können! Wichtige natürliche Proteine können aktiv durchgeschleust werd 3.3 Die Zellen des Nervensystems Es gibt Neurone und Gliazellen. 21 3.3.1 Die Anatomie der Neurone Neuronen sind spezialisiert auf Empfang, Weiterleitung und Übertragung elektrochemischer Signale! Wichtige Strukturen im Zellinneren: - Endoplasmatisches Reticulum - Cytoplasma - Ribosomen - Golgi-Apparat - Nucleus - Mitochondrien - Mikrotubuli - Synaptische Vesikel - Neurotransmitter 22 Die Zellmembran: besteht aus einer Lipid-Doppelschicht (zwei Schichten von Fettmolekülen) Entscheidenderweise sind in die Lipid-Doppelschicht zahlreiche Proteinmoleküle eingebettet, die für viele Funktionen der Membran wichtig sind: Kanalprotein, die bestimmte Moleküle passieren können und Signalproteine, die ein Signal ins Innere des Neurons übertragen, wenn bestimmte Moleküle an der Außenseite der Membran an sie binden. Die wichtigsten Klassen von Neuronen auf Basis morphologischer Unterschiede: - Unipolare Neuronen (Neuron mit einem Fortsatz) - Bipolare Neuronen (Neuron mit 2 Fortsätzen) - Multipolare Neuronen (Neuron mit mehr als 2 Fortsätzen, die von seinem Zellkörper ausgehen; die meisten Neurone sind multipolar) - Interneuronen (Neuronen mit kurzen oder überhaupt keinen Axonen; Funktion besteht darin, die neuronale Aktivität innerhalb einer einzigen Gehirnstruktur zu integrieren, und nicht darin, Signale von einer Struktur zur anderen weiterzuleiten.) Funktionelle Bedeutung morphologischer Unterschiede: Mit Axon: Weiterleitung über lange Distanzen! Ohne Axon: Integration innerhalb einer Gehirnstruktur! Im Gehirn gibt es zwei grob zu unterscheidende Arten neuronaler Strukturen: - diejenigen, die hauptsächlich aus Zellkörpern bestehen im ZNS Anhäufung von Zellkörpern als Nucleus bezeichnet m PNS Anhäufung von Zellkörpern als Ganglion bezeichnet - diejenigen, die hauptsächlich aus Axonen bestehen im ZNS wird ein Bündel von Axonen als Trakt bezeichnet m PNS wird ein Bündel von Axonen als Nerv bezeichnet Graue Substanz Weisse Substanz 23 3.3.2 Gliazellen: Die vergessene Mehrheit es gibt ca. 10 mal mehr Gliazellen als Neuronen! Gliazellen sind an der Übertragung von Signalen beteiligt, indem sie Signale zu Neuronen senden und Signale von Neuronen erhalten. Zudem kontrollieren sie die Bildung und Erhaltung von Synpasen zwischen Neuronen und bilden gliale Schaltkreise 4 Arten von Gliazellen: 1. Oligodendrocyten (ZNS): Klasse von Gliazellen, die sich um die Axone einiger Neurone des zentralen Nervensystems wickeln. Jeder Oligodendrocyt bildet mehrere Myelinsegmente(oft an mehreren Axonen). Ausläufe sind reich an Myelin, einer fetthaltigen, isolierenden Substanz, und Myelinscheiden, die sie bilden, erhöhen Geschwindigkeit und Effizienz der axonalen Leitung. 2. Schwann-Zellen (PNS) Jede Schwann-Zelle bildet ein Myelinsegment. Nur Schwann- Zellen können axonale Regeneration nach Verletzungen einleiten. 24 3. Astrocyten (größten Gliazellen, sternförmig) Ummanteln Blutgefäße im Gehirn und nehmen Kontakt mit Neuronen auf. Sind an der Passage chemischer Verbindungen vom Blut in die ZNSNeuronen beteiligt! 4. Mikroglia (kleinsten Gliazellen) Regagieren auf Verletzungen oder Krankheiten, indem sie tote oder abgestorbene Neuronen entfernen und Entzündungsprozesse auslösen. 3.4 Neuroanatomische Methoden: 3.4.1 Neuroanatomische Methoden Wie können Neuronen sichtbar gemacht werden? Schwierigkeit ist nicht die Kleinheit, sondern die enge Verflochtenheit der Neuronen! durch bestimmte Präparationstechniken können Neuronen sichtbar gemacht werden! - Golgi-Färbung (Camillo Golgi): wollte eigentlich Meningen färben, indem er Kaliumdichromat und Silbernitrat verwendete. Daraus entstand Silberchromat, welches nur wenige Neuronen schwarz färbt und so prinzipielle Darstellungen ermöglicht. Diese Entdeckung machte es zum ersten Mal möglich, einzelne Neurone zu sehen, wenn auch nur als Silhouette. Golgi- Färbung kann keine Auskunft über die Zahl von Neuronen liefern! - Nissl-Färbung (Franz Nissl): Kresylviolett (hauptsächlich verwendeter Farbstoff) dringt in alle Zellen eines Gewebeschnitts ein und lagert sich an Strukturen in den Zellkörpern an. Unter dem Mikroskop kann dann die Zahl der Neuronen sehr gut eingeschätzt werden. (dient der Ermittlung der Zelldichte!) - Elektronenmikroskopie: Dünne Gewebsabschnitte werden mit einer elektronen- absorbierenden Substanz beschichtet. Die Substanz wird von verschiedenen Neuronenteilen unterschiedlich aufgenommen. Ein darauf gerichteter Elektronenstrahl wird dann durch das Gewebe auf einen Film gelenkt und erzeugt detaillierte Strukturabbildungen. (dient der Abbildung von Details!) - Tracing-Verfahren: 2 Arten: anterograd (vorwärts) und retrograd (rückwärts) 1. Anterogrades Tracing ermöglicht das Verfolgen der Axone, die von den Zellkörpern eines bestimmten Gebiets entspringen (diese werden von den Zellkörper entnommen und dann entlang der Axone zu den Endknöpfchen transportiert). 2. Retrogrades Tracing ermöglicht das Verfolgen der Axone von den Endknöpfchen zum Zellkörper. (dient der Beschreibung von Projektionen!) 25 Richtungsbezeichnungen im Nervensystem: Wirbeltiernervensysteme werden auf die Orientierung der Wirbelsäule bezogen! Es gibt drei Achsen: anterior-posterior, dorsal-ventral, medial-lateral - anterior/rostral: in Richtung Nase postorior/kaudal: in Richtung Schwanz dorsal: in Richtung des Rückens oder der Kopfunterseite ventral: in Richtung des Brustkorbs oder der Brustunterseite medial: in Richtung der Mittellinie des Körpers lateral: weg von der Mittellinie in Richtung der seitlichen Körperoberfläche Für Menschen gibt es dieselben Achsenbezeichnungen, nur sind diese durch den aufrechten Gang (Bipedie) für Kopf und Rumpf getrennt zu betrachten. Beim Menschen werden sowohl die Kopfoberseite als auch die Vorderseite des Körpers als ventral bezeichnet. Häufig werden die Begriffe superior und inferior zur Bezeichnung der Ober- und Unterseite des Primatenkopfes verwendet. Weitere Begriffe: rostral-caudal (vorne-hinten), superior-inferior (oben-unten), proximal-distal (nahentfernt) Schnittebenen: horizontal, frontal, sagittal 26 Ein Schnitt durch die Mitte des Gehirns zwischen den beiden Hemisphären, wird als Medianschnitt bzw. als Mediansagittalschnitt bezeichnet. 3.5 Das Rückenmark Grob betrachtet gibt es zwei Bereiche: innerer H-förmiger Kern (graue Substanz) umgebender Bereich weißer Substanz Die graue Substanz besteht hauptsächlich aus Zellkörpern und unmyelinisierten Interneuronen! Die weiße Substanz besteht hauptsächlich aus myelinisierten Axonen! Die zwei dorsalen Arme der grauen Substanz des Rückenmarks werden als Hinterhörner oder Dorsalhörner und die zwei ventralen Arme als Vorderhörner oder Ventralhörner bezeichnet Auf 31 Ebenen sind jeweils links und rechts Paare von Spinalnerven mit dem Rückenmark verbunden. Jeder der 62 Spinalnerven teilt sich und seine Axone ziehen entweder über die Hinterwurzel oder über die Vorderwurzel in das Rückenmark hinein! Über die Hinterwurzel ziehen ausschließlich afferente sensorische unipolare Neuronen, deren Zellkörper unmittelbar außerhalb des Rückenmarks das so genannte Hinterwurzelganglion bilden! Die meisten ihrer synaptischen Endknöpfchen befinden sich in den Hinterhörnern der grauen Substanz! Die Neuronen der Vorderwurzel sind efferent, motorisch und multipolar! Ihre Zellkörper liegen in den Vorderhörnern! Die somatischen Neuronen projizieren zu den Skelettmuskeln, während die autonomen Neuronen zu Ganglien projezieren, die über weitere synaptische Kontakte mit inneren Organen in Verbindung stehen! 27 3.6 Die fünf Hauptabschnitte des menschlichen Gehirns Telencephalon (Endhirn) Diencephalon (Zwischenhirn) Mesencephalon (Mittelhirn) Metencephalon (Hinterhirn) Myelencephalon (Nachhirn) Die Abschnitte ohne dem Telencephalon werden oft als Truncus encephali (Hirnstamm) bezeichnet! (Meist wird allerdings das Diencephalon auch nicht dazu gerechnet und der Rest als Truncus cerebri bezeichnet!) Das Myelencephalon wird oft auch als Medulla oblongata (verlängertes Rückenmark)bezeichnet! Beim Embryo von Wirbeltieren ist das Gewebe, das sich irgendwann zu m ZNS entwickelt als flüssigkeitsgefülltes Rohr ( Neuralrohr) erkennbar. Die ersten Anzeichen sind drei Verdickungen ( Hirnbläschen), die am anterioren Ende des Rohrs entstehen. Diese entwickeln sich ins erwachsene Proencephalon (Vorderhirn), Mesencephalon (Mittelhirn) und Rhombenencephalon (Rautenhirn). Vor der Geburt werden aus den drei anfänglichen Verdickungen des Neuralrohrs fünf: Telencephalon (Endhirn), Diencephalon (Zwischenhirn), Mesencephalon (Mittelhirn), Metencephalon (Hinterhirn), Myelencephalon (Nachhirn). 3.7 Die Hauptstrukturen des Gehirns 1. Das Myelencephalon (Abb. Rechts unten) überträgt hauptsächlich Signale 28 zwischen dem Rest des Gehirns und dem Körper! Wichtige Unterstruktur: Formatio reticularis: Netzwerk aus ca. 100 kleinen Kernen, die sich von der posterioren Grenze des Myelencephalon bis zur anterioren Grenze des Mesencephalon erstrecken! Spielt eine wichtige Rolle bei der allgemeinen Aktivierung (aufsteigendes reticuläres Aktivierungssystem!). Die verschiedenen Kerne sind beteiligt am Schlaf, der Aufmerksamkeit, der Bewegung, der Aufrechterhaltung des Muskeltonus und diverser autonomer Reflexe! 2. Das Metencephalon (Abb. Rechts unten einen Seite zuvor) beinhaltet viele auf- und absteigende Nerven und auch Teile der Formatio reticularis Metencephalon besteht aus 2 Teilen: Pons und Cerebellum: Auf der ventralen Seite befindet sich der Pons Auf der dorsalen Seite befindet sich das Cerebellum Das Cerebellum ist wichtig für die präzise Kontrolle von Bewegungen und ihrer Anpassung an sich verändernde Bedingungen ( wichtige sensomotorische Struktur). Seit einiger Zeit ist deutlich geworden, dass das Cerebellum auch bei vielen kognitiven Prozessen beteiligt ist! 3. Das Mesencephalon (Abb. rechts) besteht auch aus 2 Abschnitten: Tectum und Tegmentum dorsal liegt das Tectum ventral liegt das Tegmentum Das Tectum (Dach) beinhaltet die Colliculi inferiores (auditorisches System) und die Colliculi superiores (visuelles System)! In niedrigen Wirbeltieren erfüllt Tectum rein visuelle Funktion, daher oft Tectum opticum bezeichnet. Das Tegmentum beinhaltet weitere Bereiche der Formatio reticularis, das periaquäduktale Grau (wichtig bei der Rolle der Vermittlung der analgetischen = schmerzreduzierenden Wirkung von Opiaten (laut Wikipedia: Als wichtigstes der Opiate wird Morphin als Schmerzmittel verwendet.), die Substantia nigra (Sensomotorik) und den Nucleus ruber (Sensomotorik) 29 4. Das Diencephalon: besteht auch aus 2 Strukturen: Thalamus und Hypothalamus Thalamus: besteht aus 2 Lappen (sitzt auf beiden Seiten des 3ten Ventrikels). Die beiden Lappen sind über die Adhesio interthalamica verbunden. Der Thalamus beinhaltet viele verschiedene paarige Kerngebiete, die meist zum Cortex projizieren. Einige sind sensorische Relaiskerne: Bsp.: Corpus geniculatum laterale und Corpus geniculatum mediale Hypothalamus: befindet sich unterhalb des Thalamus! Er besteht aus mehreren Nuclei und spielt eine wichtige Rolle bei der Regulation verschiedener motivationaler Verhaltensweisen! Er steuert zum Teil die Freisetzung von Hormonen der Hypophyse, die sich direkt darunter befindet! Zusätzlich zur Hypophyse liegen 2 weitere Strukturen an der inferioren Seite des Hypothalamus :Das Chiasma opticum als Ort, an dem sich die Sehnerven kreuzen und die Mamillarkörper = Corpora mammillaria (paarige kugelförmige Nuclei!) 5. Das Telencephalon: beim Menschen der grösste Abschnitt! Er vermittelt die komplexesten Funktionen des Gehirns. Es initiiert willkürliche Bewegungen, interpretiert sensorischen Input und vermittelt komplexe kognitive Prozesse wie Lernen, Sprechen und Problemlösen. Cerebraler Cortex (Grosshirnrinde): Die cerebralen Hemisphären sind von einer Gewebeschicht bedeckt, die als cerebraler Cortex (Cortex cererbri) bezeichnet wird. Beim Menschen ist sie eine tief gefaltete äußere Schicht (graue Substanz). Durch die Faltung wird die Oberfläche des cerebralen Cortex vergrößert, ohne das Gesamtvolumen des Gehirns zu vergrößern. nicht alle Säugetiere besitzen einen gefalteten Cortex (lissencephal, bedeutet dass sie ein glattes Gehirn haben)! Die großen Furchen heißen Fissurae, die kleinen heißen Sulci! Die Erhebungen zwischen den Fissurae und Sulci heißen Gyri! Beide Hemisphären sind durch die Fissura longitudinalis cerebri beinahe getrennt! Verbindungen gibt es über so genannte cerebrale Commissuren! Die größte Commissur ist das Corpus callosum (verbindet die Hemisphären)! Die markantesten Sulci sind: Sulcus centralis (Zentralfurche), Sulcus lateralis (Sylvische Furche) Die Fissurae unterteilen jede Hemisphäre in vier Lappen(cortical): Frontallappen, Parietallappen, Temporallappen und Occipitallappen! 30 Markante Gyri sind: Gyrus precentralis (beinhaltet den motorischen Cortex), Gyrus postcentralis (beinhaltet den somatosensorischen Cortex- Körperempfindungen) und Gyrus temporalis superior (beinhaltet den auditorischen Cortex) 90% des menschlichen cerbralen Cortex bestehen aus Neocortex! Dieser wiederum besteht aus 6 Schichten (I – VI) Es gibt zwei Arten von corticalen Neuronen: Pyramidenzellen und Sternzellen! Die Zahl beider Zelltypen variiert ja nach Schicht! Es gibt einen dominanten vertikalen Verlauf der Axone und Dendriten Kolumnenorganisation! Pyramidenzellen sind groß und multipolar mit pyramidenförmigen Zellkörpern! Sie haben einen grossen Dendriten, der als apikaler Dendrit bezeichnet wird. Er zieht zur Cortexoberfläche zieht. Sternzellen sind kleine sternförmige Interneurone (Neurone mit kurzen oder überhaupt keinen Axonen)! Neuronen in einer bestimmten Kolumne bilden oft einen eigenen kleinen Schaltkreis mit einer ganz bestimmten Funktion! Die Schichtung des Neocortex unterscheidet sich in verschiedenen Gehirnbereichen: die Sternzellen der 4ten Schicht sind z.B. auf den Empfang sensorischer Signale aus dem Thalamus spezialisiert. Deshalb ist diese Schicht in den verschiedenen sensorischen corticalen Arealen besonders dick! Schicht 5 ist beispielsweise im Bereich des Motorcortex besonders dick, da die darin befindlichen Pyramidenzellen Signale vom Cortex zum Hirnstamm und zum Rückenmark senden! Der oft erwähnte Hippocampus ist ein wichtiger Teil des Cortex, der aber nicht zum Neocortex gehört! Er hat nur 3 Schichten! Subcortical besteht das Telencephalon großteils aus weisser Substanz (Axone, die von und zum Cortex verlaufen)! es gibt aber einige große subcorticale Kerngebiete, die meist entweder dem Limbischen System oder den Basalganglien zuzuordnen sind! Das Limbische System (Abb. rechts unten) Medial gelegene Strukturen, die den Thalamus umgeben! Reguliert motivationale Verhaltensweisen (Kampf-, Flucht-, Ernährungs- und Sexualverhalten; die 4 „Fs)! Hauptstrukturen: Mammilarkörper, Hippocampus, Amygdala, Fornix, cingulärer Cortex und Septum Beschreibung des Systems: Die Amygdala ist ein mandelförmiges Kerngebiet (mehrere Nuclei) im anterioren Temporallappen. Posterior zur Amygdala beginnt der Hippocampus, der im medialen Temporallappen verläuft. Der Fornix verlässt das dorsale Ende des Hippocampus und schwingt bogenförmig entlang der superioren Seite des 3ten Ventrikels nach vorne und endet im Septum und den Mammilarkörpern. Der cinguläre Cortex ist Teil des Neocortex (Gyrus cinguli) und liegt auf der medialen Seite der cerebralen Hemisphären direkt über dem Corpus callosum Das Septum (medial gelegener Kern) liegt an der anterioren Spitze des cingulären Cortex Das Septum und die Mammilarkörper sind über Faserzüge mit den Amygdalae und dem Hippocampus verbunden und bilden so den „Limbischen Ring“! Die Basalganglien: Die Amygdalae werden meist auch zu den Basalganglien dazugezählt! Aus jeder Amygdala zieht der Nucleus caudatus anfangs in eine posteriore und dann in eine anteriore Richtung, 31 wobei der Schweif immer dicker wird! Im Mittelpunkt des kreisförmigen Nucleus caudatus liegt das Putamen. Das Putamen ist mit dem Nucleus caudatus über Faserbrücken verbunden! beide Strukturen haben deshalb gemeinsam eine gestreifte Erscheinung und werden zuasmmen als Corpus striatum bezeichnet! Eine weitere Struktur gehört zu den Basalganglien, der Globus pallidus, dieser liegt medial zum Putamen! Die Basalganglien sind für die Ausführung willkürlicher Bewegungen wichtig! Klinische Implikation: Bei der Parkinsonschen Krankheit ist eine Bahn, die von der Substantia nigra des Mesencephalons zum Corpus striatum projiziert betroffen. Die Zerstörung dieser Bahn führt zu den typischen Symptomen wie Steifheit (Rigor), Zittern (Tremor) und einer Verarmung willkürlicher Bewegungen (Hypokinese)! Neuerdings werden die Basalganglien auch mit der Integration von Prosody und sprachlicher Emotion in Verbindung gebracht! (kritisches Denken!) 32 33 Kapitel 4 Nervenleitung und synaptische Übertragung 4.1 Wie Neurone Signale senden und empfangen In diesem Kapitel werden die folgenden Fragen behandelt: • • • Wie werden Nervensignale erzeugt? Wie werden diese Signale weitergeleitet? Wie werden diese Signale auf andere Neuronen übertragen? Ein Beispiel für die Sinnhaftigkeit, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen ist die Parkinsonsche Krankheit („Die Eidechse“): Hier ist die Bahn von der Substantia nigra (schwarze Substanz) zum Corpus betroffen. In der Substantia nigra wird normalerweise der Neurotransmitter Dopamin produziert, welches an das Corpus Striatum abgegeben wird und für eine normale Bewegungssteuerung sorgt. Bei der Parkinsonschen Krankheit wird zuwenig Dopamin produziert. Dopamin kann nicht von außen zugeführt werden, da es die Blut-Hirnschranke nicht durchdringen kann. Sehr wohl kann aber L-Dopa, als chemische Vorläufer die BlutHirnschranke durchdringen und wird dann im Gehirn in Dopamin umgewandelt. Der Krankheit kann also durch Biopsychologische Kenntnis entgegengewirkt werden (Klinische Implikation). 4.2 Das Ruhemembranpotential eines Neurons Das Membranpotential ist der Unterschied in der elektrischen Ladung zwischen der Innenseite und der Außenseite einer Zelle. 4.2.1 Aufzeichnung des Membranpotentials Ein Membranpotential kann mithilfe zweier Elektroden gemessen werden, wobei sich die Spitze einer Elektrode im Außenmilieu befindet und die Spitze der anderen Elektrode im Zellinneren. Die Spitze der intrazellulären Elektrode (Mikroelektrode) muss fein genug sein, damit sie die neuronale Membran durchdringen kann. 4.2.2 Das Ruhemembranpotential Solange beide Elektrodenspitzen außerhalb eines Neurons sind, messen sie dieselbe Spannung (Spannungsdifferenz zwischen ihnen ist Null). Sobald aber eine Elektrode in ein ruhendes Neuron eingestochen wird, entsteht als Messwert eine Spannungsdifferenz von ca. -70 Millivolt Ruhemembranpotential (polarisiertes Neuron) ! Das Potential im Inneren des ruhenden Neurons ist also ca. 70 mV geringer als außerhalb des Neurons. 4.2.3 Ionen sind Basis des Ruhemembranpotentials Wie entsteht diese Spannungsdifferenz? Zuerst eine chemische Grundlage: Salze (sehr wichtig für lebende Organismen) sind Kristallgitter aus Ionen (+/- geladene Teilchen). In Flüssigkeiten sind Salze gelöst und im gelösten Zustand können sich die Ionen frei bewegen! Außerhalb und innerhalb eines Neurons herrscht ein flüssiges Milieu vor und es befinden sich auf beiden Seiten frei bewegliche Ionen. 34 Positiv geladene Ionen nennt man Kationen! (meist Metalle) Negativ geladene Ionen nennt man Anionen! (meist Nicht-Metalle) Ruhemembranpotential bedeutet also, dass sich im Inneren eines ruhenden Neurons mehr Anionen als Kationen befinden. Warum es zu dieser ungleichen Verteilung kommt, kann durch das Zusammenspiel von 4 Faktoren verstanden werden: • 2 davon sind mit der Tatsache verbunden, dass sich Ionen an sich gleichmäßig verteilen (passive Vorgänge d.h. sie ist nicht mit dem Verbrauch von Energie verbunden) • die anderen 2 hängen mit Eigenschaften einer neuronalen Membran zusammen, die den ersten 2 Faktoren entgegenwirken (ein Vorgang ist ebenso passiv, der andere ist aktiv) Genaueres zu den 4 Faktoren: Faktor 1: Die so genannte Brown´sche Molekularbewegung (Zufallsbewegung) sorgt dafür, dass sich Ionen ständig zufällig bewegen. Teilchen, die sich in einer zufälligen Bewegung befinden, neigen dazu sich gleichmäßig zu verteilen. Durch das Bestreben nach Konzentrationsausgleich bewegen sich Ionen deshalb von Gebieten hoher Konzentration in Gebiete niedriger Konzentration (Diffusionsdruck!) Faktor 2: Die sogenannte elektrostatische Kraft begünstigt ebenso eine gleichmäßige Verteilung der Ionen. Jede Ansammlung von positiven oder negativen Ladungen in einem Gebiet löst sich durch die Abstoßung der gleichartig geladenen Ionen und durch die Anziehung der entgegengesetzten Ladungen auf. Trotz dieser homogenisierenden Effekte existiert ein Ungleichgewicht auf beiden Seiten der Membran eines ruhenden Neurons. An diesem Ungleichgewicht sind 4 Arten von Ionen maßgeblich beteiligt: • Natriumionen (Na+) – außen viel • Kaliumionen (K+) – innen viel • Chloridionen (Cl-) – außen viel • Verschiedne negativ geladene Proteinionen (Protein-) – innen viel Faktor 3: Die selektive Permeabilität (Durchlässigkeit) der neuronalen Membran für die maßgeblich beteiligten Ionen sorgt passiv für einen Teil des Ungleichgewichts. Bei Neuronen im Ruhestand passieren K+ und Cl- -Ionen leicht die Membran, Na+-Ionen können nur sehr schwer durch die Membran und die Protein- Ionen passieren sie überhaupt nicht. Verschiedene Ionenkanäle sind für die Passage jeweils eines bestimmten Ions spezialisiert. Faktor 4: Letztendlich ist auch ein aktiver, Energie verbrauchender Prozess an der Aufrechterhaltung des Ungleichgewichts beteiligt. die Natrium-Kalium-Pumpe Im Ruhestand wirkt auf Na+-Ionen das Äquivalent einer Potentialdifferenz von -120mV und versucht, sie durch die Membran in die Zelle zu zwingen. Trotz der geringen Permeabilität der Membran gegenüber Na+-Ionen (im Ruhestand) gelangen einige durch diesen Druck in das Zellinnere. 35 Ähnlich werden auch K+ -Ionen (Potentialdiffernez: -90mV) aus dem Zellinneren herausgetrieben. Warum bleiben dann die Na+ und K+ -Ionen bezogene Konzentrationsunterschiede konstant? Weil die Natrium-Kalium-Pumpe das Ungleichgewicht aufrechterhält. Dieser Ionentransport erfolgt über aktive Energie verbrauchende Mechanismen in der Zellmembran. Die Natrium-Kalium-Pumpe schleust kontinuierlich 3 Na+-Ionen aus dem Neuron heraus und 2 K+ -Ionen in das Neuron hinein. So kann außerhalb eines ruhenden Neurons eine hohe Na+-Ionen Konzentration aufrechterhalten werden und innen eine hohe K+ -Ionen Konzentration (Ruhemembranpotential) Die Verteilung der Cl- -Ionen ergibt sich passiv aus ihrem Gleichgewichtspotential beim Ruhepotential von ca. -70 mV. Siehe Seite 104 im Buch, Tabelle 4.1 für die Faktoren, die bei ruhenden Neuronen für die Aufrechterhaltung der Unterschiede in den intrazellulären und extrazellulären Konzentrationen von Na+, K+ und Cl- -Ionen verantwortlich sind. 4.3 Generierung und Weiterleitung postsynaptischer Potentiale Aktive Neurone setzen an ihren Endköpfchen Neurotransmitter (chemische Verbindungen) frei, die durch den synaptischen Spalt diffundieren und an spezialisierten Rezeptormolekülen an der postsynaptischen Membran eines folgenden Neurons andocken. Eine solche Bindung eines Neurotransmitters mit einem Rezeptor hat im Folge-Neuron eine von zwei Wirkungen, abhängig von 1. der Struktur des Neurotransmitters und 2. der Art des Rezeptors 36 Sie können die postsynaptiche Membran (Folge-Neuron) depolarisieren (d.h. das Ruhemembranpotential von -70mV wird herabgesetzt; zb auf -67mV) oder hyperpolarisieren (d.h. das Ruhemembranpotential von -70mV wird angehoben; zb auf 75mV) Eine postsynaptische Depolarisation wird als Exzitatiorisches Postsynaptisches Potential (EPSP) bezeichnet, weil sie die Feuerwahrscheinlichkeit im entsprechenden Neuron erhöht. Eine postsynaptische Hyperpolarisation wird als Inhibitorisches Postsynaptisches Potential (IPSP) bezeichnet, weil sie die Feuerwahrscheinlichkeit im entsprechenden Neuron verringert. Sowohl EPSP als auch IPSP sind graduelle (abgestufte) Reaktionen. Das bedeutet, dass sich ihre Amplituden proportional zur Intensität der Signale sind, die sie auslösen (schwache Signale lösen kleine PSPe aus und starke Signale lösen große PSPe aus). Sie breiten sich im Zellkörper des Folge-Neurons elektrotonisch (passiv) aus. Dementsprechend weist die Übertragung der PSPe 2 Merkmale auf: • • PSPe werden schnell übertragen (beinahe unverzögert) PSPe werden mit der Distanz schwächer Die Amplitude der PSPes nimmt ab, während sie über das Neuron wandern. 4.4 Integration der postsynaptischen Potentiale und Generierung des Aktionspotentials Die PSPe einer einzelnen Synapse sind klein und haben für gewöhnlich keinen Effekt! Die Rezeptorbereiche eines Neurons sind aber meist mit tausenden Synapsen bedeckt. Das bedeutet, die Bilanz aller EPSPe und aller IPSPe, die bis an den Anfang eines Neurons gelangen, ist entscheidend dafür, ob das entsprechende Neuron feuert oder nicht. Bedeutet die Bilanz am Anfang des Axons, dass die Membran ausreichend depolarisiert wird (negatives Potential herabgesetzt), dann feuert das Neuron. „Ausreichend depolarisiert“ bedeutet wiederum über eine gewisse Schwelle depolarisiert Erregungsschwelle bei ca. -65mV. Wird diese Schwelle überschritten, wird ein Aktionspotential (AP) generiert. Ein Aktionspotential ist eine massive, kurzzeitige Umkehrung des Membranpotentials (ca. 1ms) vom Ruhepotential (ca. -70mV) auf ungefähr +50mV. Im Gegensatz zu den PSPen sind APe keine abgestuften Reaktionen, d.h. ihre Stärke steht in keiner Beziehung zur Intensität der Signale, die sie auslösen. sie sind Alles-oder-Nichts-Reaktionen, d.h. sie treten entweder in ihrem vollen Ausmaß auf oder überhaupt nicht. Ein Neuron addiert also alle EPSPe und IPSPe, die sein Axon erreichen, und entscheidet aufgrund ihrer Summe, ob es feuert oder nicht. Diese Aufsummierung wird als Integration (oder Summation) bezeichnet. Neuronen integrieren eingehende Signale über den Ort (Räumlich) und über die Zeit (also Zeitlich). 3 Möglichkeiten der räumlichen Summation: 1. Das gleichzeitige Auftreten von EPSPen an verschiedenen Stellen der rezeptiven Membran auf der postsynaptischen Seite addiert sich auf, um in Summe ein größeres EPSP zu bilden. 2. Das gleichzeitige Auftreten von IPSPen an verschiedenen Stellen der rezeptiven Membran auf der postsynaptischen Seite addiert sich auf, um in Summe ein größeres IPSP zu bilden. 3. Es können sich auch die EPSPs und IPSPs summieren, um sich gegenseitig aufzuheben 37 2 Möglichkeiten der zeitlichen Summation: 1. Eine schnelle Abfolge EPSPe kann durch Aufsummieren der einzelnen kleinen Potentialänderungen zu einem größeren EPSP führen. 2. Gleiches gilt wieder auch für IPSPe, sowie sich das resultierende Potential auch wieder durch eine Mischung EPSPe und IPSPe ergeben kann. Konsequenz : Ein unterschwelliger Reiz kann ein Neuron zum Feuern veranlassen, wenn er in rascher Folge wiederholt passiert. Wenn also eine Synapse nochmals aktiviert wird, bevor sich das ursprüngliche PSPe wieder vollständig zurückgebildet hat, so setzt sich der Effekt des zweiten Reizes auf das noch anhaltende PSPe, das durch den ersten Reiz verursacht wurde. Allgemein: Jedes Neuron integriert fortlaufend Signale über Zeit und Raum, mit denen es kontinuierlich über die Tausenden von Synapsen, die seine Zellkörper bedecken, bomardiert wird. Ein EPSP, ein IPSP und ein EPSP Gefolgt von einem AP. Die drei Möglichkeiten räumlicher Summation 38 Die zwei Möglichkeiten der zeitlichen Summation. 4.5 Weiterleitung der Aktionspotentiale 4.5.1 Ionen sind die Grundlage des Aktionspotentials Wie werden APe erzeugt und wie werden sie weitergeleitet? dies geschieht über die Aktivität spannungsgesteuerter (spannungsabhängiger) Ionenkanäle. Wiederholung: Während des Ruhepotentials (-70mV) herrscht ein großer Drang der Na+Ionen vor, in die Zelle hineinzuströmen. Dies wird erstens durch die geringe Permeabilität der Membran für Na+-Ionen und zweitens durch die Aktivität der Na-Ka-Pumpe verhindert. Na+-Ionen drängen also in das Zellinnere, sie werden aber abgehalten. Diese Situation ändert sich aber schlagartig, sobald das Membranpotential am Anfang des Axons bis zur bereits erwähnten Erregungsschwelle von ca. -65mV herabgesetzt (depolarisiert) wird. Bei Erreichen der Erregungsschwelle öffnen sich die spannungsgesteuerten Natriumkanäle und Na+-Ionen können in das Zellinnere einströmen. Daraus resultiert eine plötzliche Potentialumkehr auf ca. +50mV. Das nun plötzlich vorherrschende Membranpotential von ca. +50mV öffnet die spannungsgesteuerten Kaliumkanäle. Somit werden die K+-Ionen aus der Zelle hinausbefördert. Der Ausstrom der K+-Ionen erfolgt einerseits wegen ihrer hohen intrazellulären Konzentration und andererseits wegen der nun plötzlich aufgetretenen positiven Ladung im Zellinneren. Nach ca. 1ms schließen sich die Natriumkanäle wieder. Dies kennzeichnet das Ende der AP-Anstiegsphase und den Beginn der Repolarisation durch den kontinuierlichen Ausstrom von K+-Ionen. Nach erreichen der Repolarisation schließen sich auch die Kaliumkanäle wieder. Das Schließen der Kaliumkanäle erfolgt relativ langsam, deshalb kommt es zu einer kurzen Hyperpolarisation (K+-Ionen stömen aus der Zelle). 39 Die Zahl der Ionen, die während eines APs in Bewegung sind, ist verglichen mit der Gesamtzahl der Ionen innerhalb und außerhalb eines Neurons sehr gering. Am AP sind nur die Ionen in unmittelbarer Nähe der Membran beteiligt. Somit hat ein einziges AP nur eine geringe Auswirkung auf die relativen Konzentrationen verschiedener Ionen innerhalb und außerhalb des Neurons das Ruhemembranpotential wird durch zufällige Bewegungen der Ionen schnell wiederhergestellt. 4.5.2 Refraktärzeiten Nach der Auslösung eines AP gibt es eine kurze Zeitspanne (1-2ms), während der es nicht möglich ist ein weiteres AP auszulösen. absolute Refraktärzeit, darauf folgt die relative Refraktärzeit , währenddessen ist es möglich ein AP zu generieren, aber nur bei stärkerer Reizung. Die relative Refraktärzeit ist beendet, wenn die Höhe der Stimulation, die zum Auslösen eines APs notwendig ist, wieder auf das Grundniveau zurückkehrt. Die Refraktärzeit ist verantwortlich dafür, dass: 1. Die AP nur in eine Richtung weitergeleitet werden kann. Da die Abschnitte (über die ein AP weitergeleitet wird) eines Axons vorübergehend refraktär sind, kann ein AP seien Richtung nicht ändern. 2. Die Entladungsrate begrenzt ist und im Zusammenhang mit der ursächlichen Reizintensität steht. Bei andauernder (starker) Stimulation wird gefeuert, sobald die absolute Refraktärzeit vorüber ist. Bei geringer Reizintensität (also wenn im Ruhezustand nur ein AP ausgelöst werden kann) feuert das Neuron erst dann wieder, wenn auch die relative Refraktärzeit vorüber ist. 4.5.3 Axonale Weiterleitung der Aktionspotentiale Die Weiterleitung des APs unterscheidet sich von der Weiterleitung der EPSPs und IPSPs in 2 wichtigen Punkten: 1. Die Weiterleitung eines APs erfolgt entlang eines Axons ohne Abschwächung. 2. Die Weiterleitung eines APs entlang eines Axons erfolgt relativ langsam. Der Grund für diese Unterscheidung ist, dass die Weiterleitung der EPSPs und IPSPs passiv erfolgt, während die Weiterleitung einer AP hauptsächlich aktiv erfolgt. 40 Wie erfolgt die Weiterleitung?: Nachdem ein AP generiert wurde, wird dieses kurz passiv bis zu den nächsten Natriumkanälen weitergeleitet. Diese Natriumkanäle müssen sich aber erst noch öffnen (nach der Öffnung strömen Na+-Ionen in das Neuron), wo es dann erneut zur aktiven Entstehung eines APs kommt. Diese Ereignisse laufen wiederholt ab, sodass daraus eine so genannte Erregungsschwelle resultiert; bis also in allen synaptischen Endköpfchen ein voll ausgebildetes AP ausgelöst wird. Die Erregungsschwelle breitet sich rückwärts über den Zellkörper und die Dendriten des Neurons aus. (ein bisschen wie eine Schnur, die auf einer Seite ruckartig nach oben ausgelenkt wird) Analogie zur axonalen Weiterleitung Mäusefallen (siehe Buch Seite 110/Kritisch Denken) • Antidrome (gegenläufige) Weiterleitung: Wenn das Axonende mit ausreichender Intensität stimuliert wird, so wird ein AP generiert und wandert entlang des Axons zurück zum Zellkörper – die Weiterleitung erfolgt also vom Endköpchen zu den Zellkörper. • Orthodrome (richtige) Weiterleitung: Wenn die axonlae Ausbreitung vom Zellkörper zu den Endköpfchen erfolgt. 4.5.4 Weiterleitung in myelinisierten Axonen Die Axone sind durch Myelin von der Extrazellulärflüssigkeit isoliert. Hier können Ionen die axonale Membran nur an den sogenannten Ranvier´schen Schnürringen (Lücken zwischen benachbarten myelinisierten Segmenten) passieren. Ionenkanäle kommen vermehrt an den Ranvier´schen Schnürringen vor. Ein generiertes AP breitet sich passiv – d.h. unmittelbar und durch die Weiterleitung abgeschwächt – entlang des ersten Myelinsegments bis zum ersten Ranvier-Schnürring aus. Obwohl es dadurch etwas an Stärke verliert, reicht es immer noch aus, um die spannungsgesteuerten Natriumkanäle zu öffnen und so ein neues AP generieren zu können. Dieses AP wird dann passiv entlang des Axons bis zum nächsten Schnürring geleitet, wo ein weiteres AP ausgelöst wird und so weiter. Die Myelinisierung erhöht die Geschwindigkeit der axonalen Weiterleitung, also schnellere Geschwindigkeit durch saltatorische ( „springen“ ) Erregungsleitung Da sich ein AP entlang eines Myelinabschnitts passiv ausbreitet, findet die Ausbreitung unmittelbar statt. Das Signal „springt“ also von einem Schnürring zum nächsten. Es kommt zu einer kurzen Verzögerung, während das AP aktiv generiert wird, aber dennoch erfolgt die Weiterleitung in myelinisierten Axonen schneller als in unmyelinierten Axonen. Die Übertragung von APen in myelinisierten Axonen wird als saltatorische Erregungsleitung bezeichnet. Was für Geschwindigkeiten sind möglich? Die Erregungsleitung findet in Axonen mit einem großen Durchmesser und myelinisierten Axonen schneller statt (bis zu 100m/s). Im Gegensatz dazu leiten dünne, unmyelinisierte Axone AP langsamer (1m/s). Neueste Entdeckungen: 1. Auch einige Dendriten sind in der Lage, APe zu generieren 2. So genannte Dornen teilen einen Dendriten in Kompartimente. D.h also sie haben die Eigenschaft, die postsynaptischen chemischen Veränderungen auf das unmittelbare Gebiet der Synapse begrenzt zu halten. 3. Die Gestalt und die Zahl der Dornen ändern sich schnell als Reaktion auf neuronale Stimulation. 41 4.6 Synaptische Transmission: Die chemische Übertragung von Signalen von einem Neuron auf ein anderes Wie lösen APe, die an den Endköpfchen der Axone ankommen, die Freisetzung von Neurotransmittern in den synaptischen Spalt aus? Wie tragen die Neurotransmitter das Signal auf andere Zellen über (chemische Signalübertragung)? 5 wichtige Aspekte der synaptischen Übertragung: 1. Struktur der Synapsen 2. Synthese, Verpackung und Transport von Neurotransmittern 3. Freisetzung von Neurotransmittern 4. Aktivierung von Rezeptoren 5. Wiederaufnahme der Neurotransmitter 4.6.1 Struktur der Synapsen: Kommunikation zwischen Neuronen findet über Synapsen statt. Neurotransmittermoleküle werden von den Endköpfchen in den synaptischen Spalt freigesetzt und induzieren EPSPs oder IPSPs an anderen Neuronen. Man unterscheidet : Axosomatische Synapsen: befindet sich zwischen Axon und Soma (Zellkörper) Axodendritische Synapsen: zwischen Axon und Dendrit; meist an dendritischen Dornen Axoaxonische Synapsen: zwischen zwei Axonen; wichtig für präsynaptische Hemmung Dendrodentrische Synapsen: sind in der Lage in beiden Richtungen zu übertragen Es gibt weiters: Direkte Synapsen: bei direkten Synapsen liegt der Ort der Neurotransmitterfreisetzung und der postsynaptischen Rezeptorort nahe beieinander. Indirekte Synapsen: bei indirekten Synapsen liegt der Ort der Neurotranmitterfreisetzung in einiger Entfernung vom Rezeptorort. Neurotransmitter werden aus Varikositäten (Erweiterungen) entlang des Axons und seiner Äste freigesetzt; diese werden dann weit auf umgebende Ziele verteilt 42 4.6.2 Synthese, Verpackung und Transport der Neurotransmittermoleküle Es gibt 2 Kategorien von Neurotransmittermolekülen: 1. kleine (niedermolekulare) und 2. große (hochmolekulare) Neurotransmitter Von den kleinen Neurotranmittern gibt es verschiedene Typen und große Neurotransmitter sind immer Peptide. Peptide sind Aminosäureketten, die aus 10 oder weniger Aminosäuren bestehen; sind also kurze Proteine. Die kleinen Neurotransmitter werden in den Endköpfchen synthetisiert und vom GolgiApparat in synaptische Vesikel verpackt. Nachdem die Vesikel gefüllt sind, werden sie in der Nähe der präsynaptischen Membran gespeichert. Die Peptide allerdings (die großen Neurotransmitter) werden im Zellkörper von Ribosomen zusammengesetzt (Vergleich mit Genexpression). Der Golgi-Apparat im Zellkörper verpackt die Peptide dann ebenso in Vesikel. Die Vesikel werden dann über Mikrotubuli zu den Endköpfchen gebracht (ca. 40cm/Tag). Die größeren Vesikel mit Peptiden lagern sich nicht so nahe an der präsynaptischen Membran an wie die kleinen Vesikel. 43 Manche Neuronen synthetisieren beide Neurotransmitter-Typen Koexistenz; also ein niedermolekularer Neurotransmitter und ein Neuropeptid. 4.6.3 Freisetzung der Neurotransmitter (Exocytose) Im Ruhezustand sammeln sich mit Neurotransmitter gefüllte Vesikel an der präsynaptischen Membran. An der präsynaptischen Membran gibt es viele spannungsgesteuerte Calciumkanäle. Bei Eintreffen eines APs in einem Endköpfchen einer axonalen Endigung, öffnen sich diese Calciumkanäle und Ca2+-Ionen strömen ins Innere des Endköpfchens. Dieser Ca2+-Ionen-Einstrom lässt die gefüllten Vesikel mit der Membran verschmelzen und Ihren Inhalt in den synaptischen Spalt freisetzen. Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen der Freisetzung kleiner Neurotransmitter und der Freisetzung großer Neuropeptide. Kleine Neurotransmitter werden impulsartig im Zusammenhang mit dem Eintreffen der APe freigesetzt (kurzzeitiger Einstrom von Ca2+Ionen), während Neuropeptide allmählich freigesetzt werden. (Abbildung auf Buch Seite 116) 4.6.4 Rezeptoraktivierung durch Neurotransmittermoleküle Nach ihrer Freisetzung lösen Neurotransmittermoleküle in den postsynaptischen Neuronen Signale aus, indem sie sich an Rezeptoren in der postsynaptischen Membran binden. PSPe werden durch die Bindung von Neurotransmittern an Rezeptoren erzeugt. Ein Rezeptor besteht aus einem Protein mit Bindungsstellen für nur bestimmte Neurotransmitter. Ein Neurotransmitter braucht immer einen spezifischen Rezeptor, um Wirkung zu zeigen. Jedes Molekül, das an ein anderes bindet, wird als dessen Ligand bezeichnet. Ein Neurotransmitter ist also ein Ligand seines Rezeptors. Meist kann ein Neurotransmitter aber an mehrere verschiedene Rezeptoren binden (Subtypen des spezifischen Rezeptors). Ein Vorteil der Rezeptorsubtypen ist, dass sie einem Neurotransmitter ermöglichen, in verschiedenen Bereichen des Gehirns unterschiedliche Arten von Nachrichten zu übermitteln. 2 Typen von Rezeptoren: 1. Ionotrope Rezeptoren sind an ligandgesteuerten Ionenkanälen gekoppelt. Die Bindung an einen ionotropen Rezeptor öffnet sofort den Ionenkanal, sodass unmittelbar ein PSP induziert wird. 2. Metabotrope Rezeptoren: sind an Signalproteine und an G-Proteine gekoppelt. Die Bindung an einen metabotropen Rezeptor veranlasst die Abspaltung einer Untereinheit eines innen angekoppelten G-Proteins. Die abgespaltete Untereinheit kann dann innen entlang der Membran an nahe gelegene Ionenkanäle binden (dadurch wird ein EPSP/IPSP induziert), oder sie kann die Synthese eines sekundären Botenstoffs auslösen. Der sekundäre Botenstoff diffundiert dann durch das Zytoplasma und kann beispielsweise in den Zellkern eindringen und Genexpression beeinflussen. Weiters gibt es auch sogenannte Autorezeptoren. Autorezeptoren sind metatrop und gehen eine Bindung mit Neurotransmittern des eigenen Neurons ein (präsynaptisch). Sie können die Freisetzung der Neurotransmitter in den synaptischen Spalt reduzieren oder stärken. Metabotrope Rezeptoren sind häufiger als ionotrope Rezeptoren; ihre Effekte entwickeln sich langsamer und halten länger an. Sie sind diffuser und variieren mehr. Wichtige Hinweise: Kleine (niedermolekular) Neurotransmitter werden eher an direkten Synapsen ausgeschüttet und aktivieren eher ionotrope Rezeptoren, oder direkt auf Ionenkanäle wirkende metatrope Rezeptoren. Sie sind in schnelle Signalübertragung eingebunden. 44 Neuropeptide werden eher diffus freigesetzt (indirekte Synapsen) und binden an metatrope Rezeptoren, die über sekundäre Botenstoffe wirken. Sie sind in langsame und lang anhaltende Signalübertragung eingebunden. 4.6.5 Wiederaufnahme, enzymatischer Abbau und Recycling Damit ein Neurotransmitter nicht unaufhörlich aktiv bleibt (wenn es aktiv bleiben würde, würde es den Kommunikationskanal blockieren) gibt es eine sogenannte Wiederaufnahme (oft) und einen enzymatischen Abbau (selten) von Neurotransmittern. 45 Die Wiederaufnahme der Neurotransmitter in die präsynaptischen Endköpfchen findet sofort nach ihrer Freisetzung statt. m Zuge eines enzymatischen Abbaus werden die anderen Neurotransmitter in der Synapse aufgespalten und ihre Abbauprodukte wieder in die Endköpfchen aufgenommen. Enzyme sind Proteine, die biochemische Reaktionen stimulieren oder hemmen ohne selbst von ihnen beeinflusst zu werden. (Abbildung auf Buch Seite 118) Was machen Gliazellen, von denen es ja 10 mal mehr gibt als Neuronen? Astrocyten setzen auch chemische Botenstoffe frei, haben auch Rezeptoren für Neurotransmitter, leiten Signale weiter und sind an der Wiederaufnahme von Neurotransmittern beteiligt. Astrocyten sind mit Neuronen über sogenannte Gap junctions verbunden. Gap junctions sind enge Räume zwischen Zellen, die über röhrenförmige und mit Cytoplasma gefüllte Kanäle verbunden sind. Elektrische Synapsen (sind im NS wirbelloser Tiere weit verbreitet). Durch die Verbindung ist das Cytoplasma zwischen den beiden Neuronen nicht unterbrochen, somit können die elektrischen Synapsen von einem Neuron zum anderen wandern. Gap junctions spielen für die Funktion des menschlichen Gehirns eine wichtige Rolle. 4.7 Neurotransmitter 4.7.1 Aminosäuren Die meisten schnell reagierenden, direkten Synapsen basieren auf Aminosäuren (Proteinbausteine) als Neurotransmitter. Die bekanntesten 4 sind: 1. Glutamat 2. Aspartat 3. Glycin 4. Gamma-Amino-Buttersäure (GABA) 46 Glutamat ist der am weitesten verbreitete exzitatorische Neurotransmitter im ZNS der Säugetiere; GABA ist der am weitesten verbreitete inhibitorische Neurotransmitter im ZNS der Säugetiere. 4.7.2 Monoamine Jedes Monoamin wird aus einer bestimmten Aminosäure synthetisiert. Monoamine kommen in kleinen Neuronengruppen, deren Zellkörper sich hauptsächlich im Hirnstamm befinden, vor. Monoaminerge Neurotransmitter sind etwas größer als aminerge Neurotransmitter und ihre Wirkungen sind etwas diffuser. Es gibt 4 Monoamine-Neurotransmitter: 1. Dopamin 2. Andrenalin (od Epinephrin) 3. Noradrenalin (Norepinephrin) 4. Serotonin Die Monoamine lassen sich strukturell in 2 Gruppen einteilen: Catecholamine: Indolamine: Dopamin Serotonin Noradrenalin Adrenalin Die Catecholamine werden alle aus der Aminosäure Tyrosin synthetisiert. Serotonin wird aus der Aminsäure Tryptophan synthetisiert. Abbildung 4.14 Buch Seite 120: Tyrosin wird in L-Dopa umgewandelt und dieses wiederum in Dopamin. Noradranalin Adrenalin Neurone die Noradrenalin ausschütten werden als noradrenerg bezeichnet und solche die Adrenalin ausschütten als adrenerg. 4.7.3 Lösliche Gase Die löslichen Gase beinhalten Stickstoffmonoxid (NO) und Kohlenmonoxid (CO). Beide löslichen Gase werden im Cytoplasma entsprechender Neuronen produziert und diffundieren direkt durch die Zellmembran in die extrazelluläre Flüssigkeit und dann in benachbarte Zellen. Sie lösen die Produktion eines sekundären Botenstoffes aus und werden rasch deaktiviert (wenige Sekunden), indem sie in andere Moleküle umgewandelt werden. Sie sind an der sogenannten retrograden Transmission beteiligt. D.h. sie regulieren postsynaptisch die Aktivität präsynaptischer Neuronen, indem sie „Feedbacksignale“ abgeben. 4.7.4 Acetylcholin Acetylcholin entsteht indem eine Acetylgruppe an ein Cholinmolekül gekoppelt wird. Ach ist der Neurotransmitter neuromuskulärer Synapsen, vieler Synapsen des autonomen (PNS) und auch des zentralen Nervensytems. Sie wird im synaptischen Spalt über das Enzym Acetylcholinesterase abgebaut. Ach auschüttende Neuronen werden als cholinerg bezeichnet. 4.7.5 Neuropeptide Es gibt an die 100 verschiedene Neuropeptide. Ein Beispiel sind die sogenannten Endorphine (endogene Opiate). Endorphine aktivieren neuronale Systeme, die an der Schmerzunterdrückung beteiligt sind (Analgesie) und auch solche, die das Erleben von Freude vermitteln. 47 4.8 Pharmakologie der synaptischen Übertragung Durch die neurowissenschaftliche Erkenntnis über die prinzipiellen Mechanismen synaptischer Übertragung ergaben sich viele Möglichkeiten, Substanzen zu entwickeln, die diese modifizieren. Die Untersuchung von Pharmaka, die synaptische Übertragung verändern und so auf psychologische Prozesse einwirken, ist weit verbreitet. Pharmakologische Substanzen wirken immer entweder erleichternd (Agonist) oder hemmend (Antagonist) auf eine synaptische Übertragung. 4.8.1 Wie Pharmaka und Drogen die synaptische Übertragung beeinflussen 1. Kokain (ein Agonist): erhöht die Aktivität von Dopamin und Noradrenalin, indem es die Wiederaufnahme dieser Neurotransmitter aus dem synaptischen Spalt in die präsynaptischen Endköpfchen hemmt. Als Konsequenz ist die Wirkung von Dopamin und Noradrenalin an den postsynaptischen Rezeptoren länger anhaltend. Psychische EffekteEuphorie, Appetitverlust und Schlaflosigkeit! 2. Benzodiazepine (Agonist): binden an den ionotropen GABAA-Rezeptor an einer anderen Stelle als die normalen GABA-Moleküle und verstärken so den inhibitorischen Effekt (als zusätzliche Rezeptorwirkung; fördern den Einstrom von Cl- Ionen und helfen so bei der Hyperpolarisation) Sie haben eine Angst reduzierende, Schlaf induzierende und Krampf hemmende Wirkung. 3. Atropin (ein Antagonist): ist der pharmakologisch aktive Bestandteil der Tollkirsche (Atropa belladonna) Atropin bindet an den muskarinergen Rezeptor (ein Subtyp des Acetylcholinrezeptors) und wirkt so als Rezeptorblocker für Aceytlcholin. Da es viele cholinerger Gedächtnisprozesse gibt, lösen hohe Dosen von Atropin Gedächtnisbeeinträchtigungen hervor. 4. Curare (ein Antagonist): bindet an den nikotinergen Rezeptor (ein weiterer Subtyp des Acetylcholinrezeptors) und blockiert so die Übertragung an neuromuskulären Synapsen. Curare führt zu Lähmungen und kann über die Hemmung der Atmung zum Tod führen. 5. Botulinustoxin (Botox, ein Antagonist): ist genauso wie Curare ein nikotinerger Antagonist. Es blockiert auch die Übertragung an der neuromuskulären Synapse und führt zu Lähmungserscheinungen. Sie wird häufig in verdorbenem Essen gefunden und ist ein tödlicher Gift. Einige Mechanismen, wie Pharmaka und Drogen wirken (Abbildung 4.17 auf Buch Seite 125) 48 49 Kapitel 5: Die Forschungsmethoden der Biospsychologie 1. Methoden zur Untersuchung des Nervensystems 1.1 Visualisierung und Stimulation des lebenden menschlichen Gehirns Röntgenkontrastuntersuchungen Konventionelle Röntgenaufnahmen sind zur Visualisierung des Gehirns nicht brauchbar, das Gehirn ist nämlich keine innere Struktur die sich von ihrer Umgebung erheblich unterscheidet. Beispiel: Wenn ein Röntgenstrahl auf Knochen im Fleisch trifft absorbiert das Fleisch größtenteils die Strahlen und die Knochen sind deutlich sichtbar! Die zahlreichen, einander überlappenden Strukturen des Gehirns absorbieren die Strahlen aber annähernd gleich somit lassen sie sich auf einem Röntgenbild nicht unterscheiden (man sieht zwar das Gehirn als ganzes, aber nicht die einzelnen komplexen Strukturen) Bei Röntgenkontrastuntersuchungen ist dies aber möglich. Hier wird eine Substanz in einen Bereich des Körpers injiziert, die Röntgenstrahlen entweder stärker oder schwächer absorbiert als das umliegende Gewebe. Die injizierte Substanz erhöht den Kontrast zw. Interessierenden Bereich und Gewebe drumherum. Bestimmte Form der Röntgenkontrastuntersuchung: cerebrale Angiographie hier wird Kontrastmittel in eine cerebrale Arterie injiziert, um das cerebrale Kreislaufsystem während einer Röntgenuntersuchung sichtbar zu machen. Diese Methode ist vor allem zur Lokalistation vaskulärer Schädigungen und Tumoren nützlich. Computertomographie (CT) = computergestütztes Röntgenverfahren zur Visualisierung des Gehirns und anderer innerer Strukturen. Während einer cerebralen CT liegt Patient mit seinem Kopf im Zentrum eines großen Zylinders (siehe Bild) Auf einer Seite des Zylinders befindet sich eine Röntgenröhre, die einen Röntgenstrahl durch den Kopf des Patienten zu dem Röntgenstrahldetektor auf der gegenüberliegenden Seite projiziert. Röntgenröhre und –detektor rotieren automatisch auf einer Ebene um das Gehirn des Patienten und erstellen so viele einzelne Röntgenbilder, diese werden dann per Computer zusammengesetzt. Anschließend bewegen sich Röntgenröhre und Detektor zu einer anderen Ebene des Gehirns. Vorgang wird so lang wiederholt bis man eine, durch Computer zusammengestellte, 3D- Darstellung des Gehirns hat. Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT) = Verfahren bei dem hochauflösende Bilder über die Messung von Wellen erstellt werden, die Wasserstoffatome ausstrahlen, wenn sie über Radiowellen in einem Magnetfeld erregt werden. MRT liefert deutlichere Bilder als CT, hat eine relativ hohe räumliche Auflösung und kann zusätzlich dreidimensionale Bilder erzeugen. Positronen-Emissions-Tomographie (PET) = bilde gebendes Verfahren zur Darstellung des Gehirns. Wird in biopsychologischer Forschung oft verwendet, weil es Bilder von Gehirnaktivitäten und nicht nur der Gehirnstruktur liefert. Übliche Anwendung: Radioaktive 2-Desoxyglukose (2-DG) wird in die Karotisarterie (Halsarterie, die die ipsilaterale cerebrale Hemisphäre versorgt) injiziert. Da 2-DG der Glukose ähnlich ist, wird sie schnell von aktiven Neuronen aufgenommen. Sie kann aber nicht wie die Glukose metabolisiert werden und sammelt sich daher in aktiven Neuronen an bis sie zerfällt. PET-Scan liefert ein Abbild der Stärker der Radioaktivität in verschiedenen Teilen des Gehirns, wird Patienten z.B. aufgefordert zu lesen, lässt sich mittels PET-Scan jenes Hirnareal bestimmen, welches beim Lesen am stärksten aktiv ist. PET-Scan liefert also keine Bilder des Gehirns sondern quasi eine farbige Karte der Stärke der Radioaktivität. Funktionelle MRT (fMRT) => erzeugen Bilder von den Veränderungen in der Sauerstoffsättigung des Blutes in den aktiven Bereichen des Hirns. Vorteile gegenüber PET: • Keine radioaktive Injektion nötig 50 • Liefert sowohl strukturelle als auch funktionelle Information in ein und demselben Bild • Räumliche Auflösung besser • Liefert 3D Bilder der Aktivität des gesamten Gehirns Magnetoencephalographie (MEG) Misst Veränderungen in den Magnetfeldern auf der Oberfläche der Kopfhaut, die durch Veränderungen in den zugrunde liegenden Mustern neuronaler Aktivität hervorgerufen werden. Hauptvorteil gegenüber fMRT ist die zeitliche Auflösung: kann schnelle Veränderungen der neuronalen Aktivität erfassen. Gehrinbilder-Archive Neue Entwicklung: Fokus nicht auf der Entwicklung neuer Bildgebungsverfahren sondern auf der Einrichtung von Gehirnbilder- Archiven. Mittlerweile reichen viele Bildgebungsforscher ihre Rohdaten aus zahlreichen Untersuchungen in ein Gehirnbilder-Archiv ein, zu dem andere Forscher Zugang haben. Kognitive Neurowissenschaftler können so die Rohdaten einer bestimmten Studie mit den Bildern aus dem Archiv vergleichen oder kombinieren. Transkranielle Magnetstimulation (TMS) PET, fMRT und MEG können zwar Zusammenhang zwischen kognitiver Aktivität und Gehirnaktivität aufzeigen, können aber nicht beweisen dass diese auch wirklich in einem kausalen Zusammenhang stehen. TMS könnte eine Möglichkeit eröffnen kausale Zusammenhänge zwischen der menschlichen kortikalen Aktivität und Kognition zu untersuchen. TMS = Verfahren, mit dem die Aktivität in einem Bereich des Cortex unterbrochen werden kann, indem ein Magnetfeld und einer Spule erzeugt wird, die neben dem Schädel positioniert ist. Tatsächlich schaltet die magnetische Stimulation vorübergehend Teile des Gehirns ab, und während dieser Zeit werden die Auswirkungen auf Kognition und Verhalten untersucht. Aktuell wird TMS zur Untersuchung der neuronalen Grundlagen der Kognition verwendet. Das volle Potential kann erst ausgeschöpft werden wenn grundlegendende Fragen über Sicherheit, Tiefe des Effekts und die Mechanismen der neuronalen Unterbrechung beantwortet sind. 1.2 Die Aufzeichnung psychophysiologischer Aktivität beim Menschen Methoden zur Aufzeichnung physiologischer Aktivität von der Oberfläche des menschlichen Körpers Elektroenzephalographie (EEG) = Maß der elektrischen Gesamtaktivität des Gehirns . Scheibenförmige Elektroden werden auf die Kopfhaut geklebt, das Oberflächen-EEG Signal spiegelt die Summer elektrischer Ereignisse im ganzen Kopf wieder. Ereignisse umfassen: Aktionspotentiale; postsynaptische Potentiale; elektrische Signale von der Haut, den Muskeln, dem Blut und den Augen (letztere werden eher ungewollt aufgezeichnet Störfaktoren) Bestimmte EEG- Wellen gehen mit bestimmten Bewusstseinszuständen einher (z.B. Alpha-Wellen regelmäßige hochamplitudige Wellen, mit 8 bis 12 Schwingungen pro Sekunde, die mit entspannter Wachheit verbunden sind) oder mit bestimmten cerebralen Pathologien (z.B. Epilepsie) Psychophysiolegen sind meist mehr an den EEG-Wellen interessiert, die mit bestimmten psychischen Vorgängen eihergehen, als an den EEG-Hintergrund-Signalen (= Spontan-EEG; werden i.A. als ereigniskorrelierte Potentiale [EKPs] bezeichnet). Eine häufig untersuchte Art der EKPs sind die sensorisch evozierten Potentiale (= Veränderungen im kortikalen EEG-Signal) die durch kurzzeitige Präsentation eines sensorischen Reizes ausgelöst wird. Das kortikale EEG, das auf einen sensorischen Stimulus folgt, hat 2 Komponenten: Die Reaktion auf den Reiz (das Signal) und die permanente EEG-Hintergrundaktivität (das Rauschen). Das Signal ist der interessante Teil. Problem: Rauschen ist oft stärker als das Signal. Methode zur Reduktion des Rauschens: SignalmittelungReaktion einer Vp auf einen Reiz wird viele Male aufgezeichnet z.B. 1000 Mal. Dann bestimmt ein Computer den Millivolt-Wert der 1000 Punkte. Als nächstes betrachtet er den Wert jeder der 1000 Spuren 1 Millisekunde (ms) nach ihrem Beginn und berechnet den Mittelwert dieser Werte. Vorgang wird bei 2-ms-Marke, 3 ms-Marke usw. wiederholt. Wenn diese Mittelwerte dann graphisch dargestellt werden, wird die durchschnittliche Reaktion, die das Klicken ausgelöst hat, deutlich sichtbar, da sich das zufällige Hintergrund-EEG über die Mittelung aufhebt. Bei der Analyse gemittelter evozierter Potentiale ist dann jede Welle durch Ausrichtung (positiv/negativ) und durch ihre Latenz gekennzeichnet. EEG allein reicht, wegen schlechter räumlicher Auflösung, nicht um Quelle der Signale zu lokalisieren. Allerdings erlaubt die Kombi EEG+MRT-Scan die Quelle sehr genau zu lokalisieren. 51 Muskelspannung Muskelfasern kontrahieren nach dem Alles oder Nichts-Prinzip. Zu jedem Zeitpunkt kontrahieren sich in jedem ruhenden Muskel wahrscheinlich ein paar Fasern, wodurch der Gesamttonus (Spannung) des Muskels aufrecht erhalten wird. Bewegung entsteht dann, wenn sich eine große Zahl an Muskelfasern gleichzeitig kontrahiert. Psychophysiologen verwenden den Grad der Ruhespannung in Muskeln als Indikator für psychische Aktiviertheit (arousal). Elektromyographie = das gebräuchliche Verfahren zur Messung der Muskelspannung. Die resultierende Aufzeichnung wird als Elektromyogramm (EMG) bezeichnet. Messung ähnlich wie bei EEG: EMG-Aktivität wird zw. 2 Elektroden abgeleitet, die über interessierenden Muskel befestigt sind Zunahme in der Muskelkontraktion bedeutet Zunahme in der Amplitude des EMG-Rohsignals, wobei das Rohsignal die Anzahl der aktivierten Muskelfasern widerspiegelt. Psychophysiologen arbeiten aber nicht mit den Rohsignalen sondern integrierten Signalen (d.h. die gesamte EMGAktivität pro Zeiteinheit; ähnlich wie Signalmittelung bei EEG) Augenbewegungen Verfahren zur Aufzeichnung von Augenbewegungen = Elektrookulographie. EOG basiert auf der Tatsache, dass zwischen Vorderseite (positiv) und Rückseite (negativ) des Augapfels eine konstante Potentialdifferenz besteht. Aufgrund dessen kann eine Augenbewegung in dem elektrischen Potential zwischen Elektroden, die um das Auge herum platziert werden, gemessen werden. Hautleitfähigkeit (elektrodermal Aktivität) Gemessen durch: Hautleitfähigkeitsniveau (SCL = skin conductance level) und die Hautleitfähigkeitesreaktion (SCR= skin conductance response). SCL= Maß für das Hintergrundniveau der Hautleitfähigkeit, das mit bestimmter Situation assoziiert ist. SCR= Maß für vorübergehende Veränderung in der Hautleitfähigkeit, die mit diskreten Ereignissen verknüpft sind. Physiologische Grundlagen der Hautleitfähigkeit sind noch weitgehend unerforscht. Zahlreiche Befunde bringen die Schweißdrüsen damit in Zusammenhang. Drüsen neigen nämlich auch dazu, in emotionalen Situationen aktiv zu werden. Kardiovaskuläre Aktivität Das Kard.v. System besteht aus 2 Teilen: den Blutgefäßen und dem Herz. Es ist ein System zur Verteilung von Sauerstoff und Nährstoffen zu den Geweben des Körpers, zur Entfernung von Abfallprodukten des Stoffwechsels und zur Übertragung chemischer Botschaften. In psychophysiologischer Forschung werden 3 Maße der kardiovaskulären Aktivität verwendet: Herzrate, arterieller Blutdruck und lokales Blutvolumen. Herzrate: Aufzeichnung der Schläge pro Minute durch EKG. Gesunder Erwachsener: 70 Schläge/Minute. Blutdruck: Zur Messung gehören 2 unabhängige Maße Maß fürs Druckmaximum während der Phasen der Herzkontraktion (Systolen) und ein Maß fürs Druckminimum während der Phasen der Entspannung (Diastolen). Blutdruck wird gewöhnlich als Verhältnis zwischen systolischem zu diastolischem Blutdruck in mmHg (Millimeter Quecksilbersäule) angegeben. Durchschnittswert: 130/70 mmHg. Chronisch über 140/90 Gesundheitsrisiko (Hypertonie) Unser Blutdruck wird oft mittels Sphygmomanometer (Sphygmos= Puls) (Druckmanschette mit Gummiball zum Aufpumpen und einer Druckanzeige) gemessen. In der Forschung werden aber zuverlässigere automatisierte Verfahren verwendet. Blutvolumen: Veränderungen im Blutvolumen in bestimmten Teilen des Körpers sind mit psychischen Vorgängen assoziiert. Bekanntestes Beispiel: Anschwellen der Genitalien bei sexueller Erregung. Verschiedene Verfahren zur Messung des Volumens werden als Plethysmographie (Plethysmos= Vergrößerung) bezeichnet. Bei einer dieser Methoden wird das Volumen des Zielgewebes über einen darumgewickelten Dehnungsmessstreifen erfasst. Nachteil: Anwendungsmöglichkeiten eingeschränkt. Bei einer anderen Methode wird Licht durch das Zielgewebe gesendet und die absorbierte Lichtmenge erfasst. Je mehr Blut im Gewebe, desto mehr Licht wird absorbiert. 1.3 Invasive physiologische Forschungsmethoden Da direkte Manipulation des menschlichen Gehirns aus ethischen Gründen untersagt ist, werden bei den direkten invasiven Verfahren statt Vp Labortiere verwendet. Diese Verfahren lassen sich 3 Kategorien zuordnen: Läsionsmethoden, elektrische Stimulationsmethoden und invasive Ableitungsmethoden. Vorerst wird aber die stereotaktische Chirurgie beschrieben: 52 Stereotaktische Chirurgie = Hilfsmittel durch das experimentelle Vorrichtungen präzise innerhalb des Gehirns positioniert werden. 2 Dinge werden benötigt: 1. Stereotaktischer Atlas nötig zur Lokalistation von Gehirnstrukturen. Alle Entfernungen von einem bestimmten Bezugspunkt sind in mm angegeben. 2. Und ein Instrument (zum Erreichen des zu untersuchenden Ortes) Stereoaktischer Apparat: besteht aus einer Kopfhalterung und einer Elektrodenhalterung. Läsionsmethoden Teile des Gehirns werden beschädigt, zerstört oder entfernt und anschließen das Verhalten des Versuchstieres sorgfältig beurteilt, um die Funktion en der geschädigten Struktur zu bestimmen. Vier Läsionstypen werden besprochen: Aspirationsläsionen Wenn Läsion im Bereich von kortikalem Gewebe ausgeführt werden soll, der den Augen und Instrumenten des Chirurgen zugänglich ist wird meistens Methode der Aspiration (Absaugung) verwendet. RadiofrequenzläsionenKleine subkortikale Läsionen: Über die Spitze einer stereotaktisch positionierten Elektrode wird Hochfrequenzstrom geleitet. Transektionen „Durchtrennung wird verwendet, um Weiterleitung in einem Nerven oder einem Trakt auszuschalten. Kryogene Blockade (reversible Läsionen) Alternative zu zerstörenden Läsionen: Kühlflüssigkeit wird durch eine implantierte Kryosonde gepumpt. Neuronen in Nähe dieser Sondenspitze werden abgekühlt, bis sie das „Feuern“ einstellen. Wenn sich Gewebe anschließen wieder erwärmt, kehrt die neuronale Aktivität wieder zurück. Interpretation von Läsionseffekten: =Nicht einfach! Auch bei sehr fähigen Chirurgen kann es vorkommen das auch benachbarte Strukturen zerstört werden. Deswegen größte Vorsicht bei Interpretationen! Bilaterale und unilaterale Läsionen: Generell gilt (außer bei wenigen bemerkenswerten Ausnahmen), dass die Verhaltenseffekte von unilateralen (auf eine Seite des Hirns beschränkten) Läsionen wesentlich leichter ausfallen als diejenigen von symmetrischen bilateralen (beide Seiten des Hirns betreffenden) Läsionen. Tatsächlich sind aber Verhaltenseffekte unilateraler Läsionen einiger Gehirnstrukturen schwer nachzuweisen. Somit basieren die meisten experimentellen Studien auf bilateralen Läsionen. Elektrische Stimulation Wird gewöhnlich durch eine bipolare Elektrode durchgeführt: Schwache Stromimpulse bedingen einen unmittelbaren Anstieg der Feuerrate von Neuronen in der Nähe der Spitze der Elektrode. Ist enorm wichtiges Forschungswerkzeug da sie oft zu Verhaltenseffekten führt, die gewöhnlich denen einer Läsion an derselben Stelle entgegengesetzt sind. Die spezielle Verhaltensantwort auf die Stimulation hängt von der Lage der Elektrodenspitze, den Parametern des Stroms und der Testumgebung ab. Invasive elektrophysiologische Ableitungsmethoden 1. Intrazelluläre Zellableitung: ermöglicht eine kontinuierliche Aufzeichnung der abgestuften Fluktuationen im Membranpotential eines einzelnen Neurons. 2. Extrazelluläre Zellableitung: Aktionspotential eines Neurons kann auch über Mikroelektrode aufgezeichnet werden. Liefert aber keine Info über das Membranpotential. 3. Summenableitung: Hier können Signale von mehreren Neuronen registriert werden. Aktionspotentiale werden in einen integrierenden Schaltkreis eingespeist und so addiert. 4. Invasive EEG-Ableitung: An Labortieren werden EEG-Signale über implantierte Elektroden aufgezeichnet. Kortikale EEG-Signale werden über rostfreie Schädelschrauben, subkortikale über stereotaktisch implantierte Drahtelektroden erfasst. 53 1.4 Pharmakologische Forschungsmethoden Forschungsstrategie: pharmakologische Substanzen werden verabreicht, die die Wirkung bestimmter Neurotransmitter entweder verstärken oder verringern, und deren Auswirkungen auf das Verhalten werden beobachtet. Applikation pharmakologischer Substanzen Arten diese Substanzen zu verabreiche: Tier fütter (oral), in den Magen injiziert (intragastral), unter die Haut injiziert, entweder in die Bauchfellhöhle des Abdomens (intraperitonal, IP), in einen Großen Muskel (intramuskulär, IM), in das Fettgewebe (subkutan, SK) oder in eine große Oberflächenvene (intravenös, IV). Problem: Viele Substanzen durchdringen Blut-Hirnschranke nicht leicht. Problemlösung: Kleine Mengen können auch über Kanüle (implantierte, dünne, hohle Röhre) verabreicht werden. Selektive chemische Läsionen Hierbei werden Neurotoxine (Nervengifte) injiziert, diese haben eine Affinität für bestimmte Komponenten des Nervensystems. Beispiele für selektive Neurotoxine: Kainsäure oder Ibotensäure werden bevorzugt von den Zellkörpern an der Spitze der Kanüle aufgenommen und zerstören diese Neuronen, lassen aber Neurone, deren Axone durchs Gebiet verlaufen, größtenteils unbeschädigt. 6Hydroxydopamin (6 –OHDA) wird nur von Neuronen aufgenommen, die die Neurotransmitter Noradrenalin oder Dopamin freisetzen. Messung der chemischen Aktivität des Gehirns Hierfür existieren viele Methoden, 2 davon haben sich als besonders hilfreich erwiesen: 1. 2-DesoxyglukoseTechnik: wird Versuchstier injiziert, dieses wird dann in eine Testsituation gebracht, in der es das interessierende Verhalten zeigt. 2-DG hat ähnliche Struktur wie Glukose und wird daher von den während des Tests aktiven Neuronen stark absorbiert, aber nicht metabolisiert. Nach Test wird das Versuchstier getötet, sein Gehirn entnommen und Schnitte angefertigt. Diese werden dann einer Autoradiographie unterzogen, dazu werden sie mit einer photographischen Emulsion bedeckt, ein paar Tage im Dunkeln gelagert und dann, wie ein Film, entwickelt. Bereiche des Hirns die viel radioaktive 2-DG absorbiert haben erscheinen auf den Abzügen als schwarze Flecken. Dichte der Flecken kann anschließend farbkodiert werden. 2. Cerebrale Dialyse: Verfahren zur Messung der extrazellulären Konzentration bestimmter neurochemischer Substanzen in aktiven Tieren. CD erfordert Implantation eines dünnen Röhrchens mit einem kurzen semipermeablen Abschnitt, welcher in der interessierenden Struktur positioniert wird, in das Gehirn. So können extrazelluläre chemische Substanzen aus dem Gewebe in das Röhrchen diffundieren. Substanz im Röhrchen kann dann entweder entnommen und zur späteren Analyse eingefroren werden oder in Lösung direkt mittels eines Chromatographen (Gerät zur Messung der chemischen Bestandteile von Flüssigkeiten oder Gasen) analysiert. Lokalisierung von Neurotransmittern und Rezeptoren im Gehirn Hierfür stehen 2 Techniken zur Verfügung, bei beiden werden die Gehirnschnitte einem markierten Liganden des zu untersuchenden Moleküls ausgesetzt (Ligand eines Moleküls ist ein anderes Molekül, das sich an dieses bindet. 1. Immunocytochemie: Wenn einem Tier ein fremdes Protein (Antigen) injiziert wird, so produziert es Antikörper, die sich an das Protein binden und dem Körper helfen, es zu entfernen oder zu zerstören Immunreaktion des Körpers. Die Immunocytochemie ist ein Verfahren zur Lokalisation eines bestimmten Neuroproteins im Hirn, indem dessen Antikörper mit einem Farbstoff oder radioaktiven Element markiert werden und anschließend Schnitte des Gehirngewebes den markierten Antikörper ausgesetzt werden. Regionen mit Ansammlung von Farbstoffe oder Radioaktivität markieren die Lage des interessierenden Neuroproteins. 54 Immunocytochemie eignet sich dazu, Neurotransmitter über die Bindung an ihre Enzyme zu lokalisieren. Dies wird erreicht, indem Gehirnschnitte markierten Antikörpers ausgesetzt werden, die an Enzyme binden, die nur in dem Neuron vorkommen, das den interessierenden Neurotransmitter enthält. 2. In-situ-Hybridisierung: Dieses Verfahren nutzt die Tatsache, dass alle Peptide und Proteine basierend auf den Sequenzen von Nukleotidbasen auf Strängen von messenger-RNA synthetisiert werden. Die Sequenzen von Nukleotidbasen, die die Synthese vieler Neuroproteine steuern, sind identifiziert und Hybridstränge von mRNA mit den komplementären Basensequenzen künstlich hergestellt worden. Die in-situ-Hybridisierung beinhaltet folgende Schritte: Als erstes braucht man Hybrid-RNA-Stränge mit der Basensequenz, die komplementär zu der mRNA ist, die die Synthese des Zielneuroproteins steuert. Dann werden die Hybrid-RNA-Stränge mit einem Farbstoff oder einem radioaktiven Element markiert. Schließlich werden die Gehirnschnitte dem markierten Hybrid-RNASträngen ausgesetzt; sie binden an die komplementären mRNA Stränge und markieren so die Position von Neuronen, die das Zielneuroprotein freisetzten. 1.5 Gentechnik Gen-Knockout Gen-Knockout-Techniken sind Verfahren, mit denen Organismen erzeugt werden, denen ein bestimmtes, zu untersuchendes Gen fehlt. Wenn solche Versuchstiere erzeugt sind, wird versucht möglichst jede beobachtbare neuronale oder Verhaltensanomalie zu identifizieren und zu analysieren. Interpretation der Verhaltensstudien: Auch hier Vorsicht geboten! Erstens werden die meisten Verhaltensmerkmale durch die Aktivität vieler interagierender Gene beeinflusst. Zweitens beeinflusst die Elimination eines Gens häufig die Expression anderer Gene, demzufolge könnte jede beobachtete Veränderung im Verhalten nur indirekt mit dem ausgeschalteten Gen in Beziehung stehen, oder umgekehrt könnten die Effekte eines ausgeschalteten Gens durch kompensatorische Veränderung anderer Gene verdeckt sein. Und drittes kann die Expression von Genen durch Erfahrung beeinflusst werden. Antisense Pharmaka können wahrscheinlich einige Probleme der Gene-Knockout-Techniken umgehen. Antisense-Konzept: Organismus entwickelt sich normal, anschließend wird ins Gehirn eingegriffen und die Expression eines bestimmten Genes gehemmt Moleküle mit einer Abfolge von Nukleinsäuren, die komplementär zu der zum Ziel-Gen gehörigen messenger-RNA ist, können die mRNA deaktivieren und die Genexpression blockieren. Praktische Umsetzung dieses Konzepts ist allerdings problematisch. Antisense-Pharmaka müssen dem Abbau durch den Körper widerstehen, dürfen nicht toxisch sein und müssen spezifisch für die mRNA sein, auf die sie abzielen. Außerdem müssen Verfahren verfügbar sein, mit denen die Antisense-Pharmaka an bestimmte neuronale Systeme abgegeben werden können. Genaustausch -Techniken eröffnen einige interessante Möglichkeiten für Entwicklungsforschung und Therapie. Z.Bsp. haben Wissenschaftler pathologische Gene aus menschlichen Zellen entfernt und sie in das Gnom von Mäusen eingefügt (Mäuse mit Genen einer anderen Spezies transgene Mäuse). Ebenso besteht die Möglichkeit ein Gen durch ein anderes zu ersetzen, das mit ihm bis auf einige zusätzliche Basen identisch ist. Diese können als Schalter fungieren, mit denen das Gen in Reaktion auf bestimmte chemische Substanzen an- oder ausgeschaltet werden kann. Diese chemischen Substanzen können dazu verwendet werden, ein Gen an einem bestimmten Punkt in der Entwicklung oder in einer bestimmten Gehirnstruktur zu aktivieren oder zu unterdrücken. 2. Methoden zur Untersuchung des Verhaltens 2.1 Die neuropsychologische Untersuchung = für Patienten mit Veränderungen in perzeptiven, emotionalen, motivationalen oder kognitiven Funktionen. Solche Untersuchungen helfen in dreierlei Hinsicht: a; Durch ihren Beitrag bei der Diagnose einer neuronalen Störung (besonders in Fällen, in denen EEG und neurologische Untersuchungen keine eindeutigen Befunde erbringen) b; Als Grundlage für Beratung und Betreuung der Patienten c; Als Grundlage für objektive Bewertung der Wirksamkeit der Behandlung und der Ernsthaftigkeit ihrer Nebenwirkungen 55 Moderne neuropsychologische Ansätze Einzeltestverfahren (vor 1950): blieben erfolglos , da ein einziger Test nicht sensitiv genug ist für die vielen verschiedenen und komplexen psychischen Symptome, die bei einer Hirnschädigung auftreten können. Standardisierte Testbatterie (1960): Damals weitverbreitet: Halstead-Reitan Neuropsychological Test Batterie) und Tübinger Luria-Christensen-Neuropsychologische Untersuchungsreihe (TÜLUC) Ersteres ist z.B. eine Zusammenstellung von Tests, bei denen hirnschädigten Patienten im Vgl. zu anderen (gesunden) Patienten. Diese Methode ist nur teilweise erfolgreich, weil sie effektiv zwischen neurologischen und hirngesunden Patienten unterscheiden kann, aber nicht zwischen neurologischen und psychiatrischen. Individualisierte Testung: Ziel einer modernen neuropsychologischen Untersuchung: nicht nur Patienten mit Hirnschädigung zu identifizieren, sondern auch die psychologischen Defizite zu klassifizieren. Ablauf: begonnen wird mit einem allgemeinen Test um Hinweise auf allgemeine neuropsychologische Symptome zu erhalten. Danach wird individualisierter Test vorgegeben um die Ergebnisse des allgemeinen Tests detaillierter zu beschreiben. Unterschied zu älteren Methoden: die neuen Testungen basieren auf aktuellen Forschungsergebnissen, die Interpretation beruht auf der kognitiven Strategie, die der Patient bei der Durchführung verwendet (also nicht wie gut der Patient abschneidet) und zur Vorgabe und Durchführung können nur sehr erfahrene und kompetente Neuropsychologen herangezogen werden. Die neuropsychologische Standard-Testbatterie Intelligenz: eigentlich schlechtes Maß für Hirnschädigung, wird aber trotzdem fast immer zu Beginn in der Batterie neuropsychologischer Tests verwendet. Viele Testungen fangen mit dem Wechsler Intelligenztest für Erwachsene (auch bekannt als HAWIE) an. Grund: Kenntnis des IQ eines Patienten helfen bei der Interpretation spezifischer Ergebnisse. Außerdem kann schon anhand eines Defizitmusters in den Untertest eine erste Schlussfolgerung über die neuropsychologische Funktionsstörung gezogen werden. Gedächtnis: HAWIE übersieht oft schwere und spezifische Gedächtnisdefizite. Diese werden eher vom Neuropsycholegen während einem Gespräch mit dem Patienten entdeckt oder sogar selber vom Patienten oder seiner Familie berichtet. Sprache: Funktionstüchtigkeit kann durch HAWIE (verbaler Teil) und durch den Token-Test untersucht werden. Token-Test: 20 Plättchen (Token) in 2 Formen (Kreis + Quadrat) 2 Größen (klein, groß) und 5 verschiedenen Farben liegen vor dem Probanden. Untersucher liest Instruktionen vor (Berühren Sie den roten Kreis…) und Proband führt diese durch. Schwierigkeitsgrad wird gesteigert. Schließlich wird der Proband gebeten, die Instruktion selbst laut vorzulesen und sie auszuführen. Sprachlateralisierung: Welche Hemisphäre des Hirns ist dominant für die Sprache? Natrium-Amytal-Test: Natrium-Amytal wird in die Karotisarterie injiziert Dadurch wird die ipsilaterale (auf derselben Seite liegende) Hemisphäre vorübergehend betäubt während die kontralaterale (auf der gegenüber Seite liegende) unbeeinträchtigt bleibt. Während die ipsilaterale anästhesiert ist, werden schnell einige Tests zur Sprachfunktion durchgeführt. Später wird Vorgang für die andere Hälfte des Hirns wiederholt. Injektion auf der für die Sprache dominanten Seite des Gehirns führt dazu, dass der Patient für ungefähr 2 Minuten völlig stumm ist. Diese Methode wird gewöhnlich vor Gehirnoperationen angewendet. Dichtotischer Hörtest: Probanden hören über Stereokopfhörer gesprochene Ziffernfolgen. Beiden Ohren werden gleichzeitig 2 unterschiedliche Folgen von 3 Ziffern genannt. Proband muss dann so viele der 6 Ziffern wie möglich berichten. Hier wurde entdeckt, dass die Probanden mehr von den Ziffern richtig wiedergeben, die sie mit dem Ohr gehört hatten, das kontralateral zu ihrer sprachdominanten Hemisphäre liegt. Tests für spezifische neuropsychologische Funktionen Spezifischere Testes, die von Neuropsychologen ausgewählt werden können Gedächtnis: Im Anschluss auf einen Allgemeinen Test müssen 4 Fragen beantwortet werden: 1; Ist das Kurzzeit- oder Langzeitgedächtnis betroffen oder beide? 2; Sind Defizite im Langzeitgedächtnis anterograd (beeinträchtigen sie die Speicherung von Dingen, die nach der Schädigung gelernt wurden), retrograd (vor der Schädigung) oder beides? 3; Ist das semantische Gedächtnis (Erinnerung an allgemeines Wissen) oder das episodische Gedächtnis (Erinnern an persönliche Erfahrungen) von etwaigen Defiziten im Langzeitgedächtnis betroffen? 4; Ist das explizite Gedächtnis (Erinnerungen, denen sich der Patient bewusst ist und die er daher verbal ausdrücken kann) oder das implizite Gedächtnis (Erinnerung die durch die verbesserte 56 Leistung des Patienten nachgewiesen werden, obwohl sich der Patient ihrer nicht bewusst ist) von Defiziten im LZG betroffen oder beide? Häufigstes Erscheinungsbild: Schwere Defizite im expliziten Gedächtnis, ohne dass das implizite Gedächtnis betroffen ist. Repetition-Priming-Tests sind bei Beurteilung und Erforschung dieser Gedächtnisprobleme sehr hilfreich. Bei solchen Tests wird Patienten eine Wortliste vorgelegt, später sollen sie eine Liste mit Wortfragmenten vervollständigen. Sprache: Funktionsstörung kann mit 3 Arten von grundlegenden Problemen einhergehen: Phonologie (die Regeln des Klanges der Sprache), Syntax (Grammatik) und Semantik (Bedeutung). Hier müssen Tests in der Lage sein, zwischen verschiedenen Störungsmustern zu differenzieren. Frontallappenfunktionen: Hilfreich zur Diagnose einer Störung: Wisconsin-Card-Sorting-Test Auf jeder Karte des Tests befinden sich entweder 1 Symbol, oder 2,3 oder 4 identische Symbole. Symbole sind entweder Dreiecke, Sterne, Kreise oder Kreuze und sie sind entweder rot, grün, gelb oder blau. Zu Beginn wird der Patient mit 4 Stimuluskarten konfrontiert, die sich voneinander hinsichtlich Form, Farbe und Anzahl der Symbole unterscheiden. Aufgabe besteht darin die Karten aus einem Kartendeck anhand der Stimuluskarten in Stapel zu sortieren. Es werden aber keine direkten Hinweise gegeben wie der Patient die Karten sortieren soll, sondern lediglich Rückmeldungen ob die gerade verwendete Sortierart richtig oder falsch ist. Der Patient ist so quasi gezwungen seine Sortierart nach einziger Zeit immer zu ändern. Patienten mit einer Schädigung des Frontallappen sortieren oft noch 100 oder mehr Durchgänge nach einem Sortierprinzip weiter, das dann aber mittlerweile nicht mehr korrekt ist. 2.2 Verhaltensbezogene Methoden der Kognitiven Neurowissenschaft 2 Annahmen: Die erste besagt, dass jeder komplexe kognitive Prozess aus der kombinierten Aktivität einfacher kognitiver Prozesse, den so genannten konstituierenden kognitiven Prozessen, resultiert. Entsprechend der zweiten Annahme wird jeder konstituierende kognitive Prozess über neuronale Aktivität in einem bestimmten Bereich des Gehirns vermittelt. Eines der Hauptziele der Kognitiven Neurowissenschaft besteht darin, die Teile des Gehirns zu lokalisieren, die unterschiedliche konstituierende kognitive Prozesse vermitteln. In diesem Sinne ist das Subtraktionsverfahren eine der entscheidenden Methoden der Verhaltensforschung im Bereich der Kognitiven Neurowissenschaft. Bei diesem Verfahren werden während der Durchführung mehrerer verschiedener kognitiver Aufgaben PET- oder fMRT-Bilder erstellt. Idealerweise sind die Aufgaben so konstruiert, dass sich Paare von ihnen allein hinsichtlich eines einzigen konstituierenden kognitiven Prozesses unterscheiden. Folglich kann die Gehirnaktivität, die mit diesem Prozess assoziiert ist, abgeschätzt werden, indem die Aktivität in dem Bild, das mit der einen oder zwei Aufgaben verknüpft ist, von der Aktivität in dem Bild abgezogen wird, das mit der anderen Aufgabe verknüpft ist. Das resultierende Differenzbild zeigt dann denjenigen Bereich, der speziell bei dem konstituierenden kognitiven Prozess aktiv ist. Um Störfaktoren, wie z.B. das „Rauschen“, welches durch zufällige cerebrale Vorgänge zustande kommt, auszuschalten werden viele individuelle Differenzbilder (also von mehreren Patienten) gemittelt (Vgl. Signalmittelung) 2.3 Biopsychologische Paradigmen des Verhaltens von Tieren Paradigmen zur Erfassung artspezifischen Verhaltens (By the way: Paradigmen sind im diesem Sinne ein Repertoire zur Erfassung und Beschreibung eines Untersuchungsgegenstandes) Zu den häufig untersuchten artspezifischen Verhaltensweisen gehören das Putz-, Fress-, Trink-, Kopulations-, Kampf- und Nestbauverhalten (in diesem Fall von Laborratten). Offenes-Feld-Test (openfield-Test): Versuchstier wird in eine große, leere Kammer gesetzt und seine Aktivität wird registriert. Zwar reagieren Ratten anfangs ängstlich in einer neuen Kammer, die Ängstlichkeit nimmt aber mit wiederholter Exposition gegenüber demselben Feld ab. Tests zum Aggressions- und Defensiverhalten: Kolonie-Eindringlings-Paradigma Alpha-Männchen einer Kolonie verteidigt sein Revier und zeigt somit Aggressionsverhalten während der sich schützende Eindringling defensive Verhaltensweisen aufzeigt. Beim erhöhten Plus Labyrinth (vierarmiges Labyrinth in Form eines Pluszeichens) handelt es sich um einen Test für Defensivverhalten, der gewöhnlich zur Untersuchung der anxiolytischen (angstreduzierenden) Wirkungen pharmakologischer Substanzen an Ratten eingesetzt wird. Zwei Arme des Labyrinths haben Seitenwände, die anderen beiden nicht. Als Maß für Defensivverhalten oder Angst wird der Anteil der Zeit verwendet den die Ratten in den geschützten, geschlossenen Armen verbringen im Vergleich zu den offenen Armen. Durch solche Untersuchungen konnte die Wirksamkeit anxiolytischer 57 Substanzen bestätigt werden und somit können diese heute auch bei der Behandlung von Menschen eingesetzt werden. Tests zur Erfassung des Sexualverhaltens: Drei häufige Maße für das Sexualverhalten der männlichen Ratte sind: 1; Anzahl der Besteigungen, die benötigt werden um eine Intromission (Einführung des Penis in die Vagina) zu erreichen 2; Anzahl der Intromission, die benötigt werden um eine Ejakulation zu erreichen 3; Das Intervall zwischen Ejakulation und der Wiederaufnahme des Besteigens. Maß für Sexualverhalten einer weiblichen Ratte ist der Lordosequotient (Lordose = Paarungsstellung der weiblich Ratte Heben des Hinterteils, u-förmige Haltung des Rückens, Schwanz wird zur Seite gelegt. Traditionelle Konditionierungsparadigmen Klassische Konditionierung (Pawlow`scher Hund): Konditionierter Reiz (Ton) wird mit unkonditioniertem Reiz (Fleisch) gepaart, welcher eine unkonditionierte Reaktion (Speichelfluss) auslöst. Folge dieser Paarung: Konditionierter Reiz kann alleine die unkonditionierte Reaktion auslösen. Operante Konditionierung: Wenn Raten für bestimmte willkürliche Aktion bestraft werden führen sie diese weniger oft aus (genauso umgekehrt wird Ratte belohnt führt sie die Aktion öfter durch) Häufig verwendetes operantes Konditionierungsparadigma: Selbststimulationsparadigma: Tiere drücken einen Hebel, um eine elektrische Stimulation an bestimmten Stellen in ihrem eigenen Gehirn zu erhalten, diejenigen Strukturen die Selbststimulation fördern werden oft als Belohnungszentrum oder Lustzentren bezeichnet. Seminaturalistische tierexperimentelle Lernparadigmen Lernverhalten des Tieres in der „freien Wildnis“ (im Labor nachgeahmt) Konditionierte Geschmacksversion: Wenn Ratten bestimmte Nahrung essen, bei der sie im nachhinein krank werden oder die Übelkeit auslöst dann meiden sie diese Nahrung oder geschmacksähnliches Futter. Dieser Lernprozess findet überraschend schnell statt. Radioalarmlabyrinth: Dient der Überprüfung der räumlichen Fähigkeit von Nagetieren im Bezug auf die Futtersuche. Die räumliche Fähigkeit ist bei Ratten eine komplexe Struktur, da das Tier lernen und behalten muss wo wahrscheinlich Futter zu finden ist und sich auch merken muss welche Futterstellen sie zuletzt leer gefressen hat. Bei dem Radioalarmlabyrinth handelt es sich um eine Anordnung von Armen die um eine zentrale Startzone herum sternförmig angeordnet sind. Am Ende jedes Armes befindet sich ein Futternapf der entweder Futter enthält oder nicht. In einer Version dieses Paradigmas, in der eine Ratte jeden Tag in ein Labyrinth gesetzt wurde bei dem jedes Mal dieselben Arme Futter enthalten wurde festgestellt das Ratten die Arme ohne Futter nach einigen Tagen nur mehr selten inspizieren und auch die Futterstellen die sie leer gefressen hatten nur mehr selten am selben Tag inspizieren. Da die Arme des Labyrinths ident sind, müssen sich die Ratten unter Bezug auf äußere Hinweisreize im Raum orientieren. Morris-Wasserlabyrinth: Dient ebenso wie letzteres der Untersuchung der räumlichen Fähigkeiten von Ratten. Die Nagetiere werden in ein rundes Becken gesetzt und müssen so lange schwimmen bis sie die Rettungsplattform, die unsichtbar dicht unter der Wasseroberfläche liegt, entdeckt haben. Das Vorgehen wird wiederholt und die Startposition wird von Durchgang zu Durchgang variiert. Die Ratten lernen aber schon nach wenigen Durchgängen direkt zur Plattform zu schwimmen, indem sie wahrscheinlich räumliche Hinweisreize aus dem Zimmer als Bezugspunkt verwenden. Das MWLabyrinth hat sich als äußert nützlich zur Beurteilung der Navigationsfähigkeiten von Tieren erwiesen, denen Läsionen gesetzt oder denen pharmakologische Substanzen verabreicht wurden. Konditioniertes defensives Vergraben: Wenn Ratten von einem Objekt, das an der Wand ihrer Kammer befestigt ist, einen Schock erhalten, identifizieren sie dieses Objekt als Bedrohung und begraben es nach nur einem Schock) mit Streu, welches in ihrer Kammer liegt. Angstreduzierende Pharmaka verringern das Ausmaß des konditionierten Vergrabens, daher wird dieses Paradigma dazu verwendet, die neurochemische Grundlage von Angst zu untersuchen. 58 Kapitel 6 Das visuelle System 6.2 Licht fällt in die Augen und trifft auf die Retina In vollkommener Dunkelheit können wir nichts sehen – Ohne Licht ist sehen also nicht möglich. Somit ist Licht der adäquate Reiz für die Augen. Licht kann auf zwei verschiedene Weisen betrachtet werden: • Energieteilchen (Photonen) • elektromagnetische Wellen Sichtbares Licht für das menschliche Auge ist im Bereich von 380 – 760 Nanometer. Wellenlänge und Intensität sind zwei wichtige Eigenschaften des Lichts, weil - Wellenlänge spielt eine Rolle bei der Farbwahrnehmung - Intensität spielt eine wichtige Rolle bei der Wahrnehmung von Helligkeit. Bestandteile des Auges Licht fällt durch die Pupille in das Auge ein. Die Pupille ist die Öffnung in der Iris – als in das Auge. Die Pupille passt sich den Beleuchtungsverhältnissen an und die Iris ändert die Öffnungsweite. Dies stellt einen Kompromiss zwischen Sensitivität (Fähigkeit schwach beleuchtete Gegenstände zu entdecken) Sehschärfe (Auflösungsvermögen, zum Sehen von Details) im Dunklen: Die Pupille weitet sich aus, um mehr Licht einfangen zu können -> weniger Tiefenschärfe, weniger Sehschärfe im Hellen: Pupille verängt sich, weil sie nicht so viel Licht einfangen muss -> Sehschärfe und Tiefenschärfe sind erhöht. Hinter der Pupille befindet sich die Linse. Sie hat eine kugelförmige Gestalt. Jedoch wird die Linse durch die Zugkraft der Ligamente abgeflacht. Die Ligamente sind mit den Ziliarmuskeln verbunden, Kontraktionen ausführen können: • bei Nahsicht (Blick auf etwas in der Nähe): Die Zugkraft der Ligamente wird durch die Kontraktion der Ziliarmuskeln reduziert, wodurch die Linse kugelförmiger wird. • bei Fernsicht (Blick auf etwas in der Ferne): Die Ziliarmuskeln entspannen sich, die Zugkraft der Ligamente wird verstärkt, die Linse wird abgeflacht (ovaler). Diese Justierung der Linse zur Schrfstellung von Bildern auf der Retina wird als Akkomodation bezeichnet 59 Menschen haben zwei Augen an der Vorderseite des Kopfes um dreidimensionale (Tiefensehen) Bilder zu erkennen. Augen müssen konvergieren (sich seitwärts drehen), damit jeder Punkt der visuellen Umwelt auf korrespondierende Netzhautpunkte der zwei Augen projiziert wird. Dreidimensionales Sehen wird also durch binokulare Disparität erzeugt, zwei sich überlappende Bilder. Genauere Anatomie: 6.3 Die Retina und die Übersetzung des Lichts in neuronale Signale Die Retina Die Retina besteht aus 5 Schichten unterschiedlicher Neuronenarten: • retinale Ganglienzellen • amakrine Zellen • Bipolarzellen • Horizontalzellen • Rezeptoren ( Zapfen und Stäbchen) Im Auge gibt es eine „verkehrte Situation“: Das Licht erreicht die Rezeptorschicht nur, nachdem es die anderen vier Schichten passiert hat. Dann, nachdem die Rezeptoren aktiviert wurden, wird die neuronale Botschaft zurück durch die Netzhautschichten zu den retinalen Ganglienzellen übertragen. Deren Axone projizieren, bevor sie sich in einem Bündel sammeln und den Augapfel verlassen. Dadurch ergeben sich 2 Probleme: • das einfallende Licht wird durch das Netzhautgewebe verzerrt • für das Bündel der Axone muss es eine Lücke geben, durch die sie das Auge verlassen. Diese Lücke wird auch als blinder Fleck bezeichnet. Die Lösung des ersten Problems (Verzerrung) wird durch die Fovea centralis gelöst. - Sie ist eine Einbuchtung der Retina von 0,33cm Durchmesser im Zentrum der Retina - Stelle des schärfsten Sehens 60 - Diese Verdünnung vermindert die Verzerrung des ankommenden Lichtes. 6.3.1 Sehen mit Zapfen und Stäbchen Es gibt zwei Arten von Rezeptoren: • Zapfen • Stäbchen Nach der Duplizitätstheorie des Sehens vermitteln Zapfen und Stäbchen verschiedene Arten des Sehens: zapfenvermittelte Sehen = photopisches Sehen: + bei guter Beleuchtung + liefert scharfe, farbige Wahrnehmungen + weniger Empfindlichkeit + direkte Verschaltung + niedrige Konvergenz stäbchenvermittelte = skotopische Sehen + bei dämmriger Beleuchtung + sensitiveres Sehen + es fehlt die Detailgenauigkeit – weniger Schärfe + hohe Konvergenz In der Fovea centralis gibt es überhaupt keine Stäbchen, sondern nur Zapfen. In der nasalen Hemiretina gibt es mehr Stäbchen als in der temporalen Hemiretina Spektrale Empfindlichkeit Lichter derselben Intensität können abhängig von ihrer Wellenlänge unterschiedlich hell wahrgenommen werden! Die relative Helligkeit von Lichtern derselben Intensität kann graphisch in Form von so genannten spektralen Empfindlichkeitskurven dargestellt werden. Bei Vorhandensein von Zapfen und Stäbchen gibt es zwei spektrale Empfindlichkeitskurven Photopische spektrale Empf.kurve Skotopische spektrale Empf.kurve 61 Beim Übergang vom photopischen zum Skotopischen Sehen (Dämmerung) kann es zu interessanten Phänomenen kommen -> Purkinje-Effekt 6.3.2 Augenbewegungen Die meisten Zapfen befinden sich in der Fovea centralis, dennoch nehmen wir eine ausgedehnte farbige Umwelt dar, denn wie können unsere Augen bewegen. Die Augen tasten das Sehfeld ständig ab, wobei es zu eine Reihe von Fixationen kommt, die durch sehr schnelle Augenbewegungen, sog. Sakkaden, miteinander verbunden werden. Eine weitere Funktion der Augenbewegungen besteht darin, das retinale Bild hin- und herzubewegen, denn die Neurone des visuellen Systems reagieren eher auf Veränderungen als auf konstante Stimulation. Eine Blockierung der Augenbewegungen würde dazu führen, dass das retinale Bild nach einigen Sekunden verschwindet und ein merkmalsloses graues Feld hinterlässt. Nach ein paar Sekunden würde das Bild oder ein Teil davon zwar spontan wieder wahrgenommen, es würde im nächsten Moment aber auch wieder verschwinden. 6.3.3 Phototransduktion: Umwandlung von Licht in neuronale Signale Abb.: Die inhibitorische Reaktion der Stäbchen auf Licht. Wenn Licht die Rhodopsinmoleküle bleicht, schließen sich die Natriumkanäle der Stäbchen; als Folge werden die Stäbchen hyperpolarisiert und setzen weniger Glutamat frei Transduktion Umwandlung Phototransduktion: Umwandlung von Licht durch die visuellen Rezeptoren in neuronale Signale. Pigment: Ein Pigment ist jede Substanz, die Licht absorbiert. Es wurde ein rotes Pigment aus der mit Stäbchen besetzten Retina des Frosches extrahiert. Dieses Pigment (Rhodopsin) hatte eine besondere Eigenschaft: -> Wenn es konstantem, 62 intensivem Licht ausgesetzt war, bleichte es aus und verlor die Fähigkeit Licht zu absorbieren -> Wenn es ins dunkel zurückgebracht wurde, erlangte es die Röte und die licht – absorbierende Fähigkeit wieder. Die Absorption von Licht und das Ausbleichen des Rhodopsins sind der erste Schritt stäbchen-vermittelten Sehens – skotopisches Sehen ist also Rhodopsin abhängig Rhodopsin: • ist ein G – Protein gekoppelter Rezeptor, der auf Licht reagiert • Rhodopsinrezeptoren stoßen eine Kaskade intrazellulärer chemischer Vorgänge an, wenn sie aktiviert werden: Stäbchen im Dunkeln: 1.) Rhodopsinmolekühle sind inaktiv 2.) Natriumkanäle werden durch zyklisches GMP offen gehalten 3.) Natriumjonen fließen in die Stäbchen ein und depolarisieren sie teilweise 4.) Stäbchen setzen kontinuierlich Glutamat frei Stäbchen im Hellen: 1.) Licht bleicht die Rhodopsinmolekühle aus 2.) Als Folge wird das zyklische GMP abgebaut und die Natriumkanäle schließen sich 3.) Natriumjonen können nicht in die Stäbchen eindringen, die Stäbchen werden also hyperpolarisiert. 4.) Die Glutamatfreisetzung ist reduziert. Die Funktionsweisen der Zapfen sind weniger bekannt. – dürfte der Funktionsweise der Stäbchen ähnlich sein. 6.4 Von der Retina zum primären visuellen Cortex Die größte Bahn, die visuelle Information überträgt ist die retino – geniculo – striäre Sehbahn.. Die Signale werden von jeder Retina über das Corpus geniculatum laterale (im Thalamus) zum primären visuelle Kortex (= Area striata) geleitet. Wichtiges zur ABBILDUNG: • Alle Signale vom linken Gesichtsfeld erreichen den rechten primären visuellen Cortex, entweder - ipsilateral über die temporale Hemiretina des rechten Auges oder - kontralateral über die nasale Hemiretina des linken Auges • Das genaue Gegenteil gilt für alle Signale vom rechten Gesichtsfeld Das Corpus geniculatum laterale besteht aus 6 Schichten - 3 Schichten erhalten Input ipsilateral von einem Auge - 3 Schichten erhalten Input kontralateral vom anderen Auge Die meisten Neuronen enden in der Schicht IV, da diese Schicht charakteristische Streifen hat, wird sie auch als Area striata bezeichnet. ---> Retinotrope Organisation Das retino – geniculo – striäre System ist retinotop organisiert. Dies bedeutet, dass Reize, die benachbarten Bereiche der Retina präsentiert werden, auf allen Ebenen des Systems benachbarte Neuronen erregen. Auffallend ist, dass die Fovea einen überproportional großen Anteil im primären visuellen Kortex ausmacht. ---> Die M – und P – Kanäle Es verlaufen zwei unabhängige Kommunikationskanäle durch jedes Corpus ceniculatum laterale. 63 1.) der P – Kanal oder parvozelluläre Kanal: • Er verläuft durch die vier oberen Schichten • bestehen aus langsam leitenden Neuronen mit kleinen Zellkörpern • Parvozelluläre Neuronen reagieren besonders auf Farbe, feine Musterdetails, stationäre • oder sich langsam bewegende Objekte • Zapfen liefern den Hauptinput 2.) der M – Kanal oder magnozelluläre Kanal: * verläuft durch die beiden unteren Schichten * bestehen aus schnell leitenden Neuronen mit großen Zellkörpern * Die Neuronen reagieren besonders gut auf Bewegung * Stäbchen liefern den Hauptinput Die parvozellulären und magnozellulären neuronen projizieren zu leicht unterschiedlichen Orten im unteren Teil der Schicht IV. -> Die magnozellulären Neurone enden genau über den parvozellulären Neuronen. Diese Mund P Teile der Schicht IV projizieren wiederum zu verschiedenen Teilen des visuellen Kortex. 6.5 Kanten Sehen Kanten sind die informativsten Merkmale jeder visuellen Darstellung, da sie die Ausdehnung und Position der verschiedenen Gegenstände in ihr definieren. Definition von visueller Kante: • Sie ist ein Ort, an dem zwei Flächen eines visuellen Bildes zusammentreffen also • die Wahrnehmung eines Kontrasts zwischen zwei benachbarten Stellen des Gesichtsfeldes also • die Wahrnehmung zwischen Bereichen, die sich in ihrer Helligkeit unterscheiden. 64 6.5.1 Laterale Hemmung und Kontrastverstärkung Laterale Inhibition: Hemmung von benachbarten Neuronen oder Rezeptoren d. h.. ein Rezeptor hemmt, wenn er feuert seine Nachbarn über das laterale neuronale Netzwerk.Der Grad der lateralen Inhibition, die von einem Rezeptor ausgeht, nimmt mit der Lichtintensität zu und wirkt auf Rezeptoren in der unmittelbaren Nachbarschaft am stärksten. Kontrastverstärkung: An jeder Kante erscheint der helle Streifen heller und der dunkle Streifen dunkler, als sie es in Wirklichkeit sind. Die nicht vorhandenen hellen und dunklen Streifen unmittelbar an der Kante werden als Mach-Bänder bezeichnet. Dadurch, dass sie den Kontrast an jeder Kante verstärken, erleichtern sie das Entdecken von Kanten. Die neuronale Basis der Kontrastverstärkung: Die Kontrastverstärkung entsteht, weil der Rezeptor D, der unmittelbar an der Kante auf der lichtintensiveren Seite liegt, stärker feuert als die anderen Rezeptoren A, B ,C auf derselben Seite, während der Nachbar E dieses Rezeptors auf der weniger schwächer beleuchteten Seite, weniger stark feuert als die anderen Rezeptoren F, G, H auf der dunkleren Seite. Diese Unterschiede lassen sich durch die laterale Inhibition erklären: Die Rezeptoren A, B, C feuern alle gleich stark, da sie alle gleich stark stimuliert und gleich stark durch ihre Nachbarn gehemmt werden. Rezeptor D feuert stärker als A, B, C, da er bei gleicher Stimulation weniger gehemmt wird, weil von seinen Nachbarn auf der schwächer beleuchteten Seite der Kante eine geringere laterale Hemmung auf ihn ausgeübt wird. Bei den Rezeptoren auf der dunkleren Seite feuern F, G, H gleich stark, da sie alle mit der gleich schwachen Lichtintensität gereizt werden und von den Nachbarn gleich schwach gehemmt werden. Rezeptor E feuert jedoch noch schwächer, das er bei gleich schwacher Erregung stärker durch Rezeptor D auf der helleren Seite gehemmt wird. 6.5.2 Rezeptive Felder der visuellen Neurone Das rezeptive Feld eines visuellen Neurons ist der Bereich des Gesichtsfeldes, in dem es für einen visuellen Reiz möglich ist, das Feuern dieses Neurons zu beeinflussen. Visuelle Neurone sind kontinuierlich aktiv, daher sind wirksame Reize solche, die die Feuerrate entweder erhöhen oder senken. Erforscht wurden diese rezeptiven Felder mittels invasiven Methoden bei Affen und Katzen von Hubel und Wiesel. Die Augenbewegungen wurden mit Curare blockiert und die Linsen auf der Retina scharf gestellt. Dann wurde mit einer Mikroelektrode in einem einzelnen neuron im visuellen Kortex positioniert. Dieser Vorgang wurde immer wieder wiederholt, wodurch die rezeptiven Felder der visuellen Neuronen identifiziert wurden und die entsprechenden Reizarten ebenfalls 65 6.5.3 Rezeptive Felder: Neurone des retino-geniculo-striären Systems Hubel und Wiesel untersuchten Neurone auf drei Ebenen: • retinale Ganglienzellen • Neurone des corpus geniculatum laterale • striäre Neurone der unteren Schicht IV Sie konnten 4 Gemeinsamkeiten entdecken: 1.) Die rezeptiven Felder des fovealen Bereichs der Retina waren kleiner als diejenigen in der Peripherie 2.) Alle Neuronen hatten kreisförmige rezeptive Felder 3.) Alle Neuronen waren monokular, d. h. Jedes Neuron hat ein rezeptives Feld in einem Auge, aber nicht in dem anderen Auge 4.) Alle Neuronen hatten rezeptive Felder, die aus einem erregenden und einem hemmenden Bereich bestanden. Diese Bereiche sind durch eine kreisförmige Grenze getrennt. Wir unterscheiden On – Zentrum – Zellen: Sie reagieren auf Licht, das in den zentralen Bereich ihres rezeptiven Feldes gestrahlt wird, mit einer On – Reaktion und auf Licht, das in die Peripherie ihres rezeptiven Feldes gestrahlt wird mit einer Hemmung, gefolgt von einer Off – Reaktion wenn das Licht ausgeschaltet wird. 66 Off – Zentrum Zellen: Sie reagieren mit einer Hemmung und einer Off – Reaktion als Antwort auf Licht im Zentrum ihres rezeptiven Feldes und mit einer On – Reaktion auf Licht in der peripherie ihres rezeptiven Feldes. Am besten reagieren On und Off – Zellen auf Kontrast. Die effektivste Methode, um das Feuern einer On – Zentrum Zelle oder einer Off Zentrum Zelle zu maximieren, besteht darin, entweder die On oder die Off Zone ihres rezeptiven Feldes vollständig auszuleuchten Wenn beide Bereiche des rezeptiven Feldes einer Zelle zusammen beleuchtet werden, reagiert die Zelle nur schwach. Die Neurone der Area striata stellen Ausnahmen dar – sie unterscheiden sich von den übrigen Neuronen 6.5.4 Rezeptive Felder: Einfache kortikale Zellen Einfache Zellen sind im primären visuellen Kortex zu finden – sie gehören zu zwei Klassen: Einfache Zellen: + haben rezeptive Felder, die in antagonistische On – Off – Regionen unterteil werden können + sie reagieren nicht auf diffuses Licht + sie sind monokular + Die Grenzen sind eher gerade Linien und keine Kreise. + Sie reagieren am stärksten - auf Lichtstreifen in einem dunklen Feld - dunkle Streifen in einem hellen Feld - einzelne gerade Kanten zwischen dunklen und hellen Zonen + Sie reagiert nur dann maximal wenn sich ihr bevorzugter grad – kantiger Reiz in einer bestimmten Position und in einer bestimmten Orientierung befindet + die rezeptiven Felder sind eher rechteckig als kreisförmig aufgebaut. 6.5.5 Rezeptive Felder: Komplexe kortikale Zellen + sind zahlreicher vorhanden als einfache Zellen + Sie haben ein rechteckiges rezeptives Feld + reagieren am stärksten auf geradlinige Reize in einer bestimmten Orientierung + reagieren nicht auf diffuses Licht + Komplexe Zellen unterscheiden sich von einfachen in drei verschiedenen Arten: 1.) Sie haben größere rezeptive Felder 2.) Es ist nicht möglich ihre rezeptiven Felder in statische On – Off Bereiche zu unterteilen: Eine komplexe Zelle reagiert, wenn eine gerade Kante einer bestimmten Orientierung als Reiz dargeboten wird, aber diese Reaktion ist unabhängig von der Position der Kante innerhalb des rezeptiven Feldes der Zelle. Bewegt man also einen Stimulus, der eine On- Reaktion hervorruft über das rezeptive Feld der Zelle, dann wird sie weiterhin mit gleichbleibender Intensität feuern. Viele komplexe Zellen bevorzugen jedoch eine bestimmte Bewegungsrichtung. 3.) Viele komplexe Zellen sind binokular, während nahezu alle einfachen Zellen monokular sind. Monukular: Die Zellen reagieren nur auf die Stimulation eines Auges. Binokular: Die Zellen reagieren auf die Stimulation jedes der beiden Augen. Binokulare Zellen reagieren auf die Stimulation beider Augen stärker, als wenn nur ein Auge stimuliert wird. Mehr als die Hälfte der binokularen Zellen im primären Cortex des Affen zeigen jedoch eine okuläre Dominanz, d.h. sie reagieren bei einem Auge stärker auf eine Stimulation als beim anderen Auge. Einige Zellen reagieren am stärksten, wenn der Reiz beide Augen gleichzeitig aber in versetzter Position stimuliert. => Diese Zellen spielen vermutlich bei der Tiefenwahrnehmung eine Rolle. 6.5.6 Die säulenartige Organisation des primären visuellen Cortex Untersuchungen zu komplexen und einfachen rezeptiven Feldern haben zu zwei Schlussfolgerungen geführt: 67 Wie werden Signale von Neuronen mit einfachen rezeptiven Feldern zu denjenigen mit komplexen rezeptiven Feldern weitergeleitet Es sieht folgendermaßen aus: Die Signale von On – Zentrum Zellen und Off Zentrum Zellen der unteren Schicht IV werden zu einfachen Zellen und von denen zu komplexen Zellen weitergeleitet. Neuronen im primären visuellen Kortex sind in funktionalen vertikalen Säulen (Kolumnen) organisiert. - Die rezeptiven Felder der verschiedenen Zellen in derselben Säule liegen ungefähr im gleichen Bereich des Gesichtsfeldes. Die Fläche des Gesichtsfeldes, die von allen diesen rezeptiven Feldern überdeckt wird, wird als aggregiertes Feld der Säule bezeichnet. Die Zellen derselben Säule reagieren am stärksten auf gerade Linien mit einer bestimmten, für alle Zellen gleichen, Orientierung. - Die Zellen, die horizontal nebeneinanderliegen, weisen leicht versetzte rezeptive Felder auf. Diese Zellen reagieren am stärksten auf gerade Linien mit etwas unterschiedlichen Ausrichtungen. Auch wechseln sich in horizontaler Richtung bereiche mit rechtsäugiger und linksäugiger Dominanz ab. - Alle funtionellen Säulen des primären visuellen Cortex, die den Input von einem bestimmten Gebiet der Retina verarbeiten, liegen in einem Cluster zusammen. Dabei erhält jeweils die Hälfte des Clusters Signale vom linken, die andere Hälfte vom rechten Auge. - 6.5.7 Die Ortsfrequenztheorie Die Ortsfrequenztheorie besagt, dass der visuelle Cortex nicht mit einem Code gerader Linien und Kanten, sondern mit einem Ortsfrequenzcode arbeitet. So reagieren Neurone des visuellen Cortex noch stärker auf Streifenmuster mit sinusförmigen Helligkeitsschwankungen (=Sinuswellengitter), als auf Balken und Kanten gleicher Orientierung, wobei die meisten Neurone des visuellen Cortex auf Sinuswellengitter mit einer bestimmten Ortsfrequenz und einem bestimmten Orientierungswinkel an einer bestimmten Stelle im visuellen Feld reagieren. Ein Sinuswellengitter besteht aus abwechselnd dunklen und hellen Streifen, wobei die Lichtintensität von Streifen zu Streifen einer sinusförmigen Funktion folgt. Sinuswellengitter unterscheiden sich in a) ihrer Ortsfrequenz (der Anzahl der Streifen pro Längeneinheit), b) ihrer Amplitude (den maximalen Intensitätsunterschiedne zwischen hellen und dunklen Streifen) und c) in ihrem Orientierungswinkel. Die Reizmuster aus gradlinigen Kanten lassen sich aber einfach in Sinuskurven umformen. 68 6.6 Farbe sehen achromatische Farben: • schwarz. wird bei Abwesenheit von Licht wahrgenommen • weiß: wird durch eine intensive Mischung der bandbreite an Wellenlängen in einem annährend gleichen Anteil erzeugt • grau: wird durch dasselbe Mischverhältnis bei niedrigen Intensitäten erzeugt chromtaische Farben: • z.B. Rot, Gelb, Blau • die korekte Bezeichnung ist Farbtöne; umgangssprachlich: Farbe Zu einem großen Anteil hängt die Wahrnehmung der Farbe eines Objektes von den Wellenlängen ab, die ins Auge reflektiert werden. Aber: Außerhalb des Labors trifft man selten Gegenstände, die einzelne Wellenlängen reflektieren. Das Sonnenlicht und künstliche Lichtquellen beinhalten eine komplexe Mischung von sichtbaren Wellenlängen 6.6.1 Die Dreifarben- und Gegenfarbentheorie Die Dreifarbentheorie oder trichromatische Theorie (Young, Helmholtz): Dieser Theorie zufolge gibt es 3 unterschiedliche Zapfenarten, die jeweils eine andere spektrale Empfindlichkeit aufweisen. Die wahrgenommene Farbe ist abhängig von der Stärke der Aktivierung, die ein Lichtreiz in den unterschiedlichen Zapfentypen hervorruft. Die Theorie stützt sich auf die Beobachtung, dass sich jede Farbe des sichtbaren Spektrums aus einer Mischung 3 verschiedenen Wellenlängenkomponenten des Lichts erzeugen lässt. Man kanndies mit 3 beliebigen Wellenlängen erreichen, wobei keine der 3 aus den anderen beiden Wellenlängen herstellbar sein darf. Die Gegenfarbentheorie (Hering): Gegenfarben sind Paare von Farben, die Weiß oder Grau ergeben, wenn man sie zu gleichen Teilen mischt. • Hiernach gibt es im visuellen System 2 Klassen von Zellen zur Farbsignalisierung und eine weitere zur Helligkeitssignalisierung. Jede der 3 Klassen ist für 2 komplementäre Empfindungen verantwortlich: Bei den farbsignalisierenden Zellen signalisiert eine Klasse durch Änderung ihrer Aktivität in eine Richtung (z.B. Hyperpolarisierung) die Farbe Rot (Blau), während eine Änderung der Aktivität in die entgegengesetzte Richtung (z.B. Depolarisierung) die Komplementärfarbe Grün (Gelb), signalisiert. Die 3 Klasse von Zellen ist auf die selbe Art und Weise für die Signalisierung von Schwarz und Weiß zuständig. • Stützt sich auf die 2 Beobachtungen: 1) Komplementärfarben treten niemals zusammen in einem Farbton auf (es gibt kein rötliches Grün) und 2) Nachbilder: Wenn man eine rote Fläche intensiv betrachtet und dann eine Weiße Fläche, sieht man ein grünes Nachbild. Diese beiden Theorien stehen nicht im Widerspruch zueinander, sondern im visuellen System sind beide Mechanismen bei der Farbwahrnehmung wirksam Mikrospektrophotometrie: Verfahren zur Messung des Absorptionsspektrums von Photopigmenten in einer einzelnen Zelle 6.6.2 Farbkonstanz und Retinex-Theorie Farbkonstanz bezieht sich auf die Tatsache, dass die wahrgenommene Farbe eines Gegenstandes nicht eine einfache Funktion der Wellenlänge ist, die von ihm reflektiert werden. Farbkonstanz zeigt sich darin, dass ein Gegenstand normalerweise dieselbe Farbe hat, trotz großer Veränderungen in den Wellenlängen des Lichts, das er reflektiert. Farbsehen ohne Farbkonstanz wäre mühsam, denn der Nutzen liegt darin, dass wir Gegenstände so unterscheiden können, dass wir sie einprägen können. 69 Land demonstrierte, dass blaue Gegenstände blau bleiben, und grüne grün,.... – unabhängig von den Wellenlängen, die sie reflektieren. Diese Farbkonstanz besteht so lange, wie der Gegenstand als Teil einer Szene und nicht isoliert betrachtet wird. Retinex – Theorie von Land: Die Farbe eines Gegenstandes wird durch seine Reflaktanz bestimmt. Reflaktanz ist Anteil des Lichts verschiedener Wellenlänge, den eine Oberfläche reflektiert. Nach dieser Theorie berechnet das visuelle System die Reflaktanz von Oberflächen und nimmt somit ihre Farben wahr, indem es das Licht, das von benachbarten Oberflächen in mind. 3 verschiedenen Wellenlängenbändern (kurz, mittel, lang) reflektiert wird. Im Bereich der Neuropsychologie ist dies sehr bedeutsam, weil entscheidende Neuronen tatsächlich auf Farbkontrast reagieren. Doppelte Gegenfarbenzellen im visuellen Kortex des Affen reagieren mit einer sehr starken On – Reaktion, wenn das Zentrum ihres kreisförmigen rezeptiven Feldes mit einer Wellenlänge wie z.B. Grün beleuchtet wird und die Einfassung gleichzeitig mit einer anderen Farbe z.B. Rot. Doppelte Gegenfarbenzelllen sind nicht gleichmäßig über den visuellen Kortex verteilt. Die Neuronen im promären visuellen Cortex sind in stabartige Säuelen konzipiert, die die Schichten des pr. vis. Cortex des Affen durchdringen, nicht aber Schicht IV. Viele dieser Neuronen enthalten das Enzym Cytochromoxidase. Diese stabartigen, cytochromoxidasereichen Gegenfarbenzellsäulen nennt man Blobs. Blobs wurden eher in der Mitte von okularen Dominanzsäulen gefunden. 70 Kapitel 7 Mechanismen der Wahrnehmung, des 7.2. Organisationsprinzipien des sensorischen Systems Es gibt 3 verschiedene Arten von Gebieten: Primärer sensorischer Kortex: = das Gebiet des sensorischen Cortex, enthält den größten Teil seiner Inputs von thalamischen Relaiskernen dieses Systems Sekundärere sensorischer Kortex: = das Gebiet des sensorisches Cortex, das den größten Teil seiner Inputs vom primären sensorischen Cortex dieses Systems erhält, bzw. von anderen Gebieten des sekundären sensorischen Cortex desselben Systems. Der Assoziationscortex ist jener Bereich des Cortex, der Input aus mehr als einem sensorischen System erhält. Der meiste Input kommt über Bereiche des sekundären sensorischen Cortex. Die Interaktion zwischen den 3 Typen des sensorischen Cortex lassen sich durch 3 Hauptprinzipien beschreiben: Hierarchische Organisation Funktionelle Trennung Parallele Verarbeitung 7.2.1 Hierarchische Organisation Sensorische Systeme sind durch Hierarchische Organisation charakterisiert. Hierarchie = ein System, dessen Mitglieder in Relation zueinander bestimmten Ebenen oder Rängen zugeordnet werden können. Beispiel: Armee Jede Ebene der sensorischen Hierarchie erhält ihren Input von niedrigeren Ebenen und fügt eine weitere Analyseebene hinzu und leitet die Info in der Hierarchie weiter nach oben. Die hierarchische Organisation des sensorischen Systems wird durch einen Vergleich der Auswirkungen von Schädigungen auf verschiedenen Ebenen deutlich. je höher die Ebenen der Schädigung, desto spezifischer und komplexer das Defizit. Beispiel: Zerstörung von Rezeptoren eines sensorischen Systems bewirkt einen vollständigen Verlust der Fähigkeit, in dieser sensorischen Modalität wahrzunehmen (völlige Blindheit oder Taubheit) Die Zerstörung von Bereichen des Assoziationskortex oder des sekundären sensorischen Cortex bewirkt typischerweise komplexe und spezifische sensorische Defizite, die grundlegenden sensorischen Fähigkeiten bleiben erhalten. Allgemeiner Ablauf des Wahrnehmens kann in 2 Phasen unterteilt werden. Empfindung Wahrnehmung Empfindung entspricht dem Prozess, die Anwesenheit eines Reizes zu entdecken Wahrnehmung ist der höhere Prozess des Integrierens, Erkennens und Interpretierens gesamter Empfindungsmuster. 7.2.2 Funktionelle Trennung Forschung hat gezeigt, dass es eine funktionelle Trennung und nicht eine funktionelle Homogenität für den Aufbau der sensorischen Systeme gibt. Funktionelle homogen = auf einer beliebigen Ebene der sensorische Hierarchie wirken alle Bereiche des Cortex zusammen, um dieselbe Funktion zu erfüllen 71 Jede der 3 Ebenen der Großhirnrinde – primärer, sekundärer und Assoziationskortex – jedes sensorischen Systems beinhaltet funktionell unterschiedliche Bereiche, die auf verschiedene Arten von Analysen spezialisiert sind. 7.2.3. Parallele Verarbeitung Sensorische Systeme sind parallele Systeme, nicht wie früher angenommen serielle Systeme ( = Info fließt nur über eine Bahn). Bei den parallelen Systemen fließt die Info über mehrere Bahnen durch die Komponenten. Parallele Systeme realisieren parallele Verarbeitung – d.h. ein Signal wird gleichzeitig auf unterschiedliche Arten durch die multiplen parallelen Bahnen eines neuronalen Netzwerks analysiert. 2 grundlegend verschiedene Arten von parallelen Analysewegen: Einer, der unser Verhalten beeinflussen kann, ohne dass wir dies bewusst bemerken und einer, der unser Verhalten beeinflusst, indem bewusste Prozesse angestoßen werden. 7.2.4. das aktuelle Modell der Organisation des sensorischen Systems Abb 7.2.: Zwei Modelle der Organisation des sensorischen Systems: Das frühere Model war hierarchisch, funktionell homogen und seriell; das aktuelle Modell, das eher mit den Befunden übereinstimmt, ist hierarchisch, funktionell getrennt und parallel. Im aktuellen Modell sind absteigende Bahnen, die für Feedback von höheren Ebenen zu niedrigeren Ebenen sorgen, nicht dargestellt. Sensorische Systeme sind durch Arbeitsteilung charakterisiert: mehrere spezialisierte Bereiche auf mehreren Ebenen, verbunden über mehrere parallele Bahnen. Komplexe Reize werden als ein integriertes Ganzes wahrgenommen, nicht als Kombinationen unabhängiger Merkmale (= Bindungsproblem) es gibt auch viele Bahnen, die durch die sensorischen Hierarchien absteigen (nicht gezeigt in Abb. 7.2) z.B.: kortikofugale Bahnen = Neuronengruppen, die Info aus kortikalen sensorischen Gebieten zu subkortikalen Gebieten leiten. Kortikofugale Bahnen sind eine der Möglichkeiten, über die kognitive Prozesse – also z.B. Aufmerksamkeit – die Wahrnehmung beeinflussen können. = top-down- Einfluss 72 7.3. Kortikale Mechanismen des Sehens Beim Sehen sind der ganze Occipitalcortex sowie große Bereiche des Temporalcortex und des Parietalcortex beteiligt. Abb.7.3. Primärer visueller Cortex: in der posterioren Region des Occipitallappens, zu einem großen Teil versteckt in der Fissura longitudinalis. Sekundärer visueller Cortex: 2 Hauptregionen: im prästriären Cortex (dies is der Gewebestreifen im Occipitallappen, der den primären visuellen Cortex umgibt) und im inferotemporalen Cortex (dies ist der inferiore Teil des Temporallappens) Die Bereiche des Assoziationscortex, die visuellen Input erhalten, sind in verschiedenen Bereichen der Großhirnrinde lokalisiert, wobei der größte einzelne Bereich der posteriore Parietalcortex ist. Der Hauptfluss der visuellen Info erfolgt vom primären visuellen Cortex zu den verschiedenen Bereichen des sekundären visuellen Cortex und von dort zu den Bereichen des Assoziationskortex. Je weiter oben in der Hierarchie, desto größer werden die rezeptiven Felder der Neurone und desto spezifischer und komplexer die Reize, die auf die Neuronen reagieren. 7.3.1 Skotome: Wahrnehmungsergänzung Skotom = ein blinder Bereich im korrespondierenden Bereich des kontralateralen Gesichsfeld beider Augen, hervorgerufen durch eine Schädigung eines Bereiches des primären visuellen Cortex Abb. 7.4. Neurologische Patienten mit einer mutmaßlichen Schädigung werden mittel Perimetrie untersucht. Als Ergebnis erhält man eine Karte vom Gesichtsfeld jeden Auges. Diese Karte bildet etwaige Bereiche von Blindheit ab. Abb.7.4. Viele Patienten mit großflächigen Skotomen sind sich ihrer Defizite nicht bewusst. Dies ist durch das Phänomen der Wahrnehmungsergänzung erklärbar (sehen z.B. ein vollständiges Bild einer komplexen Gestalt obwohl ein Teil davon in dem Skotom liegt). In einigen Fällen kann diese Wahrnehmungsergänzung von residualen visuellen Fähigkeiten im Skotombereich abhängen, muss aber nicht sein, da auch Patienten, die hemianopisch sind ( d.h. dass das Skotom sich über die Hälfte des Gesichtsfeldes erstreckt), ein vollständiges Gesicht sehen können, wenn sie die Nase einer Person fokussieren. 7.3.2 Skotome: Blindsehen ( bei Schädigungen des primären visuellen Cortex) Blindsehen (Kortikale Blindheit) = Fähigkeit eines Patienten, auf visuelle Reize in ihren Skotomen zu reagieren, obwohl sie keine bewusste Wahrnehmung dieser Reize besitzen. Am wahrscheinlichsten bleibt von allen visuellen Fähigkeiten die Bewegungswahrnehmung erhalten. (Beispiel: Patienten greift nach einem sich in ihrem Skotom bewegenden Objekt, kann es auch ergreifen, obwohl sie behauptet, es die ganze Zeit nicht gesehen zu haben). 2 neurologische Interpretationen: Die Area striata ist nicht vollständig zerstört, daher sind die erhaltenen Inseln funktionstüchtiger Zellen in der Lage, einige visuelle Fähigkeiten zu vermitteln – ohne dass bewusste Wahrnehmung stattfindet. Diejenigen visuellen Bahnen, die von subkortikalen visuellen Strukturen direkt zum sekundären visuellen Cortex aufsteigen, ohne den primären visuellen Cortex zu passieren, sind in der Lage, einige visuelle Fähigkeiten – bei Fehlen eines kognitiven Bewusstseins – aufrechtzuerhalten. 73 7.3.3. Bewusste visuelle Wahrnehmung und neuronale Aktivität Die Aktivität visueller kortikaler Neurone ist oft mit den Eigenschaften der Wahrnehmung assoziiert und nicht mit dem physikalischen Reiz. Abb.7.6. zeigt diesen Punkt deutlicher, indem sie zeigt, dass wir oft visuelle Konturen sehen, wo keine vorhanden sind. Dies nennt man subjektive Konturen oder Scheinkonturen. Grund dafür sind prästriäre Neurone, die auf Scheinkonturen der passenden Orientierung in ihren rezeptiven Feldern so reagieren, als ob reale Konturen vorhanden wären. Abb.: Neurone des prästriären und des primären visuellen Cortex eines Affen reagieren auf Scheinkonturen einer bestimmten Orientierung (adaptiert nach Cortex Peterhans & von der Heydt, 1991). 7.3.4. Funktionelle Areale des sekundären visuellen Cortex und des visuellen Assoziationscortex Sekundärer visueller Cortex und Teile des Assoziationscortex, die an der visuellen Analyse beteiligt sind, setzen sich beide aus verschiedenen Arealen zusammen, von denen jedes für eine best. Art der visuellen Analyse spezialisiert sind. Beispiel: Makakken – Affe (visueller Cortex besitzt mind. 30 verschiedene funktionelle Areale, wobei die verschiedenen Areale des sekundären visuellen Cortex und des visuellen Assoziationscortex des Makakken sehr stark miteinander verbunden sind) Um die verschiedenen Areale des visuellen Cortex beim Menschen zu identifizieren bedarf es der Methoden wie PET (Positronen Emissions Tomographie) und fMRT . Abb. 7.8. zeigt die Areale, die hinsichtlich Lage, anatomischer Merkmale und Funktion den Arealen des Makakken großteils entsprechen. 7.3.5. Dorsale und ventrale Bahnen Im primären visuellen Cortex wird Info vom Corpus geniculatum laterale empfangen, kombiniert und dann auf mehrere Verarbeitungswege verteilt, die dann getrennt zu den verschiedenen funktionellen Arealen des sek. Visuellen Cortex und auch zum Assoziationscortex projizieren. Viele der Bahnen, die Info vom primären visuellen Cortex zum sekundären- und zum Assoziationscortex leiten, sind Teil zweier Bahnen: 74 Die dorsale Bahn: vom primären visuellen Cortex -> dorsalen prästriären Cortex -> posterioren Parietalcortex Ventrale Bahn: vom primären visuellen Cortex -> ventraler prästriärer Cortex -> inferotemporaler Cortex … Abb. 7.9. Dorsale Bahn ist entscheidend für die Wahrnehmung „wo“ sich Objekte befinden Die ventrale Bahn ist entscheidend für die Wahrnehmung „was“ die Objekte sind Die wichtigste Implikation der „wo versus was“ Theorie ist, dass eine Schädigung mancher Areale des Cortex bestimmte Aspekte des Sehens zerstört, während andere unbeeinflusst bleiben. Beispiel: Patienten mit einer Schädigung des posterioren Parietalcortex haben Schwierigkeiten, präzise nach Gegenständen zu greifen. Sie können diese aber problemlos beschreiben. Goodale und Milner behaupten hingegen, dass der Hauptunterschied zwischen der dorsalen und ventralen Bahn nicht in der Art der Info besteht, die sie weiterleiten, sondern wozu die Info genutzt wird. Funktion der dorsalen Bahn: Verhaltensinteraktionen mit Objekten Funktion der ventralen Bahn: die bewusste Wahrnehmung von Objekten zu vermitteln Diese Theorie nennt man „Verhaltenskontrolle versus bewusste Wahrnehmung“ Theorie. Diese Theorie besagt, dass Patienten mit einer Schädigung der dorsalen Bahn schlecht in Tests zu Lage und Bewegung sind, da diese auf Verhaltensmaßen beruhen, und Patienten mit einer Schädigung der ventralen Bahn schlecht in Tests zu visueller Widererkennung sind, weil diese Tests auf verbalen und somit bewussten Angaben beruhen. 2 wichtigste Aussagen: Patienten mit bilateralen Läsionen der ventralen Bahn haben keine bewusste visuelle Wahrnehmung und sind dennoch in der Lage, mit Objekten unter visueller Lenkung zu interagieren Patienten mit bilateralen Läsionen der dorsalen Bahn können bewusst Objekte sehen, aber unter visueller Kontrolle nicht mit ihnen interagieren. 7.3.6. Prosopagnosie Darunter versteht man eine neuropsychologische Störung des visuellen Erkennens. Kurz gesagt: eine visuelle Agnosie für Gesichter Agnosie = Ausfall des Erkennens, ist nicht auf eine verbale oder intellektuelle Beeinträchtigung zurückzuführen Visuelle Agnosie man kann visuelle Reize sehen, aber man weiß nicht, was sie sind spezifisch für bestimmte Aspekte z.B. Bewegungsagnosie, Objektagnosie, Farbagnosie resultiert aus einer Schädigung des sekundären visuellen Cortex, der die Erkennung dieser bestimmten Eigenschaft vermittelt Prosopagnostiker sind visuelle Agnostiker mit einer spezifischen Schwierigkeit beim Erkennen von Gesichtern können Gesichter erkennen, aber sie haben Probleme damit, zu erkennen, wessen Gesicht es ist. Berichten oft ein Durcheinander einzelner Gesichtsteile In extremen Fällen: erkenne sich selbst nicht 75 Sorgfältige Untersuchungen haben ergeben, dass Prosopagnostiker nicht nur Defizite beim Erkennen von Gesichtern haben, sondern ein allgemeines Problem damit haben, spezifische Objekte zu erkennen, die zu komplexen Klassen von Objekten gehören (z.B. bestimmte Autos) Die Diagnose ist gewöhnlich mit einer Schädigung der ventralen Bahn im Bereich der Grenze zwischen den Occipital – und Temporallappen assoziiert. Dieses Gebiet bezeichnet man als fusiformes Gesichtsareal. Prosopagnosie resultiert aus einer bilateralen Schädigung der ventralen Bahn, daher legt das nahe, dass die Funktion der dorsalen Bahn intakt ist. Prosopagnostiker könnten somit in der Lage sein, Gesichter unbewusst zu erkennen, die sie bewusst nicht erkennen können. 7.3.7. Bereiche der ventralen Bahn, die für das Erkennen bestimmter Objektklassen spezialisiert sind Die funktionelle Bildgebung des Gehirns hat gezeigt, dass das Erkennen von Gesichtern, nicht aber von anderen Objekten, mit einer ausgeprägten Zunahme der Aktivität im fusiformen Gesichtsareal einhergeht. 2 wichtige Aussagen: Es reagiert mehr als ein Gebiet der ventralen Bahn auf jede Objektklasse Es gibt eine große Überlappung zwischen den Bereichen, die auf verschiedene Objektklassen reagieren. Neuronale Schaltkreise im menschlichen visuellen Cortex, die spezifisch für die Erkennung best. Objektklassen sind, scheinen mit Schaltkreisen zur Erkennung anderer Objekte verwoben zu sein. 7.4. Hören Funktion des auditorischen Systems: Wahrnehmung von Geräuschen – präziser: Wahrnehmung von Objekten und Ereignissen über den Schall, den sie erzeugen Abb.: Die Beziehung zwischen den physikalischen und perzeptuellen Dimensionen des Schalls. Schall = Schwingung von Luftmolekülen, die das auditorische System stimuliert (Menschen hören molekulare Schwingungen zwischen 20 und 20 000 Hertz ) 1 Hertz = 1 Zyklus pro Sekunde Amplitude, Frequenz und Komplexität der molekularen Schwingungen werden als Lautstärke, Tonhöhe und Klangfarbe wahrgenommen. Reine Töne nur in Laboratorien. Im echten Leben besteht Schall aus komplexen Schwingungsmustern. Jede komplexe Schallwelle kann in eine Reihe von Sinuswellen verschiedener Frequenz und Amplitude zerlegt werden. Dies wird mittels Fourier-Analyse festgestellt. 76 7.4.1 Das Ohr Schallwellen -> wandern Gehörgang entlang -> verursachen Schwingungen des Trommelfells ( Membrana tympanica) -> 3 Gehörknöchelchen (Ossicula auditus) - Malleus (Hammer), Incus (Amboss) und Stapes (Steigbügel) Schwingungen des Stapes lösen Schwingungen der Membran aus, die als das ovale Fenster bezeichnet wird, das wiederum die Schwingungen auf die Flüssigkeit in der schneckenförmigen Cochlea überträgt. Die Cochlea = lange, aufgerollte Röhre mit einer inneren Membran. Diese innere Membran ist das auditorische Rezeptororgan (Corti-Organ) Corti-Organ: Besteht aus 2 Membranen, der Basilarmembran und der Tektorialmembran. Die auditorischen Rezeptoren, also die Haarzellen, sitzen auf der Basilarmembran. Die Tektorialmembran liegt auf den Haarzellen. Eine Auslenkung des Corti-Organs erzeugt eine Scheerkraft auf die Haarzellen derselben Stelle -> diese Kraft stimuliert die Haarzellen -> Aktionspotentiale in den Axonen des Nervus cochlearis (Hörnerv, ein Ast des VIII. Hirnnervs, des Nervus vestibulocochlearis) werden erzeugt -> Schwingungen der Cochlearflüssigkeit werden durch das runde Fenster, eine elastische Membran in der Wand der Cochlea, abgeleitet. Hauptprinzip der cochlearischen Kodierung: Unterschiedliche Frequenzen stimulieren die Haarzellen an unterschiedlichen Stellen maximal -> die vielen, durch ein einzelnes komplexes Geräusch hervorgerufenen Signale werden über viele verschiedene auditorische Neurone aus dem Ohr weitergeleitet. Organisation der Cochlea ist tonotop, die des visuellen Systems retinotop. 77 Das auditorische System schafft es, viele einzelne Frequenzbotschaften in separaten Kategorien zu sortieren und sie so zu kombinieren, dass man sämtliche Quellen komplexer Geräusche unabhängig voneinander hören kann (Raum voller Mensche, tanzen zur Musik, zahlreiche Gespräche) Das vestibuläre System erzeugt Informationen über die Richtung und Intensität von Kopfbewegungen, es hilft daher, unser Gleichgewicht zu halten. 7.4.2. vom Ohr zum primären auditorischen Cortex Keine Hauptbahn zum auditorischen Cortex, sondern mehrere auditorische Bahnen. Die Axone jedes Nervus cochlearis bilden synaptische Verbindungen mit den ipsilateralen Nuclei cochleares, von denen viele Projektionen zum superioren Olivenkern ( Nucleus olivaris superior) auf derselben Ebene führen. Die Axone der Olivenneurone projizieren über den Lemniscus lateralis (seitliche Schleifenbahn) zu dem Colliculus inferior, wo sie synaptische Verbindungen mit Neuronen bilden, die dann zum Corpus geniculatum mediale(mittlerer Kniehöcker) des Thalamus projizieren. Diese wiederum projizieren zum primären auditorischen Cortex. 7.4.3. Der primäre auditorische Cortex Im Temporallappen, größtenteils im Sulcus lateralis versteckt Sekundärer auditorischer Cortex wird durch eine Gürtelregion (belt region) dargestellt. 2 wichtige Organisationsprinzipien des primären aud. Cortex: Ist in funktionellen Säulen organisiert Tonotop organisiert: posteriore Bereiche sind sensitiver gegenüber höheren Frequenzen Über die Neurone des sekundären aud. Cortex ist wenig bekannt, weil sie schwach und inkonsistent auf reine Töne reagieren. 7.4.4 Schalllokalisation Die Lokalisation von Geräuschen im Raum wird über den lateralen und medialen superioren Olivenkern vermittelt, die unterschiedlich arbeiten. Wenn ein Geräusch links von einem -> geht zuerst ins linke Ohr -> im linken Ohr lauter 78 Mediale und laterale Olivenkerne projizieren zum Colliculus superior und zum Colliculus inferior. Die oberen Schichten des Colliculus superior, die visuellen Input erhalten, sind retinotop organisiert. Vermutung der Hauptfunktion des Colliculus superior: Lokalisation von sensorischen Reizen im Raum 7.4.5. Auswirkungen einer Schädigung des auditorischen Cortex Untersuchungen waren schwer, da der größte Teil des aud. Cortex tief im Sulcus lateralis liegt. Daher ist der auditorische Cortex auch nur selten ganz zerstört, daher fast nur Untersuchungen an Tieren möglich. Vollständige bilaterale Läsionen des prim. aud. Cortex bei Säugetieren, also Laborratten, verursachen keine dauerhaften Defizite in der Fähigkeit zu erkennen, ob Geräusche vorhanden sind oder nicht, sogar wenn die Läsionen wesentliche Bereiche des sek. aud. Cortex miteinschließen. Diese Läsionen zerstören aber die Fähigkeiten, kurze Geräusche zu lokalisieren. 7.5. Somatosensorik: Berührung und Schmerz Breite Vielfalt an Empfindungen, die vom Körper ausgehen = Somatosensationen Somatosensorisches System besteht aus 3 getrennten, aber interagierenden Systemen: Exterozeptives System: registriert externale Reize, die auf Haut treffen Propriozeptives System: überwacht die Info über die Position des Körpers, die von den Muskeln, den Gelenken und den Gleichgewichtsorganen stammen Interozeptives System: liefert allgemeine Infos über Bedingungen innerhalb des Körpers (Blutdruck, Temperatur) Exterozeptives System: Besteht aus 3 getrennten Abteilungen: Bereich zur Wahrnehmung mechanischer Reize (Berührung) Bereich zur Wahrnehmung thermischer Reize (Temperatur) Bereich zur Wahrnehmung nozizeptiver Reize (Schmerz) 7.5.1. Hautrezeptoren In der Haut: mehrere Arten von Rezeptoren 4 Arten von Rezeptoren in behaarter Haut und auch in ungehaarter Haut (Handflächen) Einfachste Hautrezeptoren: Freie Nervenendigungen: sind besonders sensitiv gegenüber Temperaturveränderungen und Schmerz Größte und am tiefsten liegende Hautrezeptoren: Zwiebelartige Pacini- Körperchen: adaptieren schnell, reagieren am besten auf plötzliche Verschiebungen der Haut Im Gegensatz dazu adaptieren die MerkelZellen (Tastscheiben) und die RuffiniKörperchen langsam und reagieren am besten auf langsame, kontinuierliche 79 Veränderungen von Druck und Dehnung der Haut Stereognosie = die Identifizierung von Objekten über Berührung 7.5.2. Dermatome Nervenfasern, die Info von Hautrezeptoren und anderen somatosensorischen Rezeptoren übertragen, werden zu Nerven zusammengeführt und treten dann über die Hinterwurzeln in das Rückenmark ein. Dermatom = jener Bereich des Körpers, der über die linke und rechte Hinterwurzel eines gegebenen Rückenmarksegements innerviert wird Abb.: Dermatome des menschlichenKörpers. S, L, T und C bezeichnendie sakralen, lumbalen, thorakalenund zervikalenAbschnittederWirbelsäuleV1, V2 und V3 bezeichnendie dreiÄstedes N. trigeminus 7.5.3. Die zwei großen aufsteigenden somatosensorischen Bahnen Somatosensorische Info wird über 2 großen aufsteigenden somatosensorischen Bahnen zum Cortex gebracht Hinterstrang- Lemniscus-medialisSystem: überträgt Info über Berührung und Propriozeption Anterolaterale System (Vorderseitenstrangsystem): überträgt Info über Schmerz und Temperatur Abb. Hinterstrang- Lemniscus-medialisSystem Die sensorischen Neurone dieses Systems treten über die Hinterwurzel in das Rückenmark ein -> steigen ipsilateral im Hinterstrang auf, und bilden Synapsen in den Hinterstrangkernen der Medulla. Die Axone der Neurone der Hinterstrangkerne kreuzen (= auf die andere Seite des Gehirns ziehen) und steigen im Lemniscus medialis (mediale Schleifenbahn) zum kontralateralen Nucleus ventralis posterior des Thalamus auf. 80 Meisten Neuronen des Nucleus ventr. post. projizieren zum primären somatosens. Cortex, andere zum sekundären somatosens. Cortex. Nucleus ventralis post. empfängt auch Äste des Nervus trigeminus. Abb.: Anterolaterale System Meisten Hinterwurzelneurone bilden synaptische Verbindungen, sobald sie ins Rückenmark eingetreten sind. Das anterolaterale System besteht aus 3 verschiedenen Bahnen: Dem Tractus spinothalamicus, der zum Nucleus ventralis posterior des Thalamus projiziert Dem Tractus spinoreticularis, der zur Formatio reticularis zieht Dem Tractus spinotectalis, der zum Tectum (Colliculi) zieht Die 3 Äste des Nervus trigeminus, die zu den identischen Orten im Thalamus ziehen, übertragen Schmerz – und Temperaturinfos vom Gesicht. Bilaterale Läsionen den Nucleus ventralis post., der Input vom Tractus spinothalamicus aber auch vom Hinterstrang- Lemniscusmedialis-System erhält, bedingten nur geringe Verluste in der Sensitivät der Haut gegenüber Berührung, Temperaturveränderungen und stechendem Schmerz. Die Läsionen hatten aber keinen Effekt auf chronischen Tiefenschmerz. 7.5.4 Kortikale Areale der Somatosensation Bei Stimulation des Gyrus postcentralis berichteten Patienten über somatosensorische Empfindungen in verschiedenen Körperteilen. So wurde auch (von Penfield) die somatotope Organisation des menschl. primären somatosensorischen Cortex, also eine Organisation entsprechend einer Karte der Körperoberfläche, entdeckt. -> Abb. links Diese Karte wird als somatosensorischer Homunkulus bezeichnet (Homunkulus steht für „Menschlein“) Ein zweites somatotop organisiertes Gebiet, der sekundär somatosens. Cortex (SII), liegt genau ventral vom primären somatosens. Cortex (SI) im Gyrus postcentralis. 81 SII empfängt Input größtenteils von SI -> daher auch sekundär somatosens. Cortex. SI empfängt hauptsächlich kontralateralen Input, SII Input von beiden Seiten des Körpers. Großer Teil des Outputs von SI und SII geht zum Assoziationskortex des posterioren Parietallappens. Man kann die rezeptiven Felder des prim. somatosens. Cortex in exzitatorische und inhibitorische Bereiche unterteilen. 7.5.5 Auswirkungen einer Schädigung des prim. somatosens. Cortex Die Auswirkungen einer Schädigung des prim. somatosens. Cortex sind gering. Untersuchungen von somatosens. Fähigkeiten an epileptischen Patienten sowohl vor als auch nach einer Exzision (Herausschneiden von Gehirngewebe) haben gezeigt, dass nach der OP die Patienten 2 geringe kontralaterale Defizite zeigten: Herabgesetzte Fähigkeiten bei der Entdeckung leichter Berührungen Und bei der Identifikation von Objekten durch Berührung 7.5.6. somatosensorische Agnosie 2 Haupttypen: Astereognosie: Unfähigkeit, Objekte durch Berührung zu erkennen Asomatognosie: Unfähigkeit, Teile des eigenen Körpers zu erkennen; ist gewöhnlich unilateral (betrifft nur de linke Körperseite) Asomatognosie geht oft mit einer Anosognosie ( = Unfähigkeit neurologischer Patienten, ihre eigenen Symptome zu erkennen) oder mit einem kontralateralen Neglect (also nicht auf Reize zu reagieren) einher. 7.5.7. Paradoxien des Schmerzes Paradoxon = logischer Widerspruch Es gibt 3 Paradoxien des Schmerzes: 1. Adaptivität des Schmerzes 2. Fehlen eindeutiger kortikaler Schmerzrepräsentationen 3. Absteigende Schmerzkontrolle Ad1) es gibt keinen bestimmten Reiz für Schmerz, Schmerz ist eine Reaktion auf übermäßige (schädliche) Stimulation jeder Art. Ad2) Schmerz weist keine offensichtlich kortikale Repräsentation auf. d.h. dass schmerzhafte Reize häufig Bereiche des Cortex aktivieren, aber dass diese Aktivierungszonen stark variieren. Das kortikale Gebiet, das am häufigsten mit dem Schmerzerleben in Verbindung gebracht wird, ist der anteriore cinguläre Cortex (der Cortex des anterioren Gyrus cinguli) Der cinguläre Cortex ist eher an der emotionalen Reaktion auf Schmerz beteiligt als an der Wahrnehmung des Schmerzes an sich. Ad3) Schmerz kann durch kognitive und emotionale Faktoren unterdrückt werden (Beispiel: Soldaten im Krieg -> schwere Wunden -> empfinden oft geringen Schmerz Gate- Control-Therie: versucht zu erklären, wie kognitive und emotionale Faktoren Schmerz blockieren. Es wird vermutet, dass vom Gehirn absteigende Signale neuronale Kontrollschaltkreise (gating circuits) im Rückenmark aktivieren, um auf diese Weise eintreffende Schmerzsignale zu blockieren. 82 3 Entdeckungen haben bei der Identifikation eines absteigenden Schmerzhemmsystems beigetragen: Eine elektrische Stimulation des periaquäduktalen Graus (PAG) hat schmerzhemmende (analgetische) Effekte. PAG und andere Bereiche des Gehirns haben spezialisierte Rezeptoren für opioide Analgetika wie Morphin. Es konnten endogene (körpereigene) opioide Analgetika isoliert werden. Abb. absteigendes Schmerzhemmungsystem von Basbaum und Fields Der Output aus dem PAG erregt die serotonergen Neurone des Nuclei raphé -> diese projizieren abwärts in den Hinterstrang des Rückenmarks > erregen Interneurone -> diese blockieren die eintreffenden Schmerzsignale in Hinterhorn 7.6. die chemischen Sinne: Riechen und Schmecken Olfaktion (Geruch) und Gustation (Geschmack) werden deshalb als chemische Sinne bezeichnet, da ihre Funktion in der Überwachung des chemischen Gehalts der Umwelt besteht. Beim Essen: Geruch und Geschmack arbeiten zusammen durch die Nahrungsmoleküle, da diese sowohl Geruchs – als auch Geschmacksrezeptoren aufweisen. Dieser integrierte sensorische Eindruck = Geschmack oder Aroma Mitglieder vieler Spezies setzten Pheromone frei. Dies sind chemischer Verbindungen, die die Physiologie und das Verhalten ihrer Artgenossen beeinflussen. Beispiel: bei Hamstern steht das Sexual –und das Aggressionsverhalten unter pheromonaler Kontrolle. Menschen können ebenfalls Sexualphermone freisetzen. Beispiele: Die olfaktorische Sensitivität von Frauen ist während der Ovulation (Eisprung) am größten Frauen, die zusammenleben, haben gehäuft synchronisierte Menstruationszyklen. Menschen, besonders Frauen, können das Geschlecht einer Person aufgrund des Atem- bzw. Axelhöhlengeruchs bestimmen Männer können das Stadium des Menstruationszyklus einer Frau auf der Grundlage ihres Vaginalgeruchs bestimmen Allerdings noch kein direkter Beweis, dass menschliche Gerüche als Sexuallockstoff dienen könnten. Weitere Besonderheit der chemischen Sinne ist die Beteiligung am Lernen. 83 Tiere, die nach dem Verzehr einer bestimmten Nahrung unter Magen-DarmVerstimmungen litten, entwickeln eine konditionierte Aversion gegenüber deren Geschmack 7.6.1. das olfaktorische System Im oberen Teil der Nase: olfaktorische Rezeptoren (Geruchsrezeptoren), eingebettet im Riechepithel (schleimbedecktes Gewebe) Olfaktorische Rezeptoren besitzen eigene Axone, die durch die Siebbeinplatte (Lamina cribrosa) in de Bulbus olfaktorius (Riechkolben) eintreten. -> dort bilden sie synaptische Verbindungen mit Neuronen, die über den Tractus olfactorius zum Gehirn ziehen. Es gibt über 1000 Arten von Rezeptorproteinen, von denen jedes sensitiv gegenüber unterschiedlichen Gerüchen ist. Bei Säugetieren: Jede olfaktorische Rezeptorzelle enthält eine Art von Rezeptorproteinmolekül = „ein – olfaktorischer – Rezeptor – ein olfaktorisches – Neuron“ – Regel Unterschied zwischen olfaktorischen Rezeptorzellen und den Rezeptorzellen anderer sensorischer Systeme: Olfaktorische Rezeptorzellen werden während des gesamten Lebens immer wieder neu erzeugt -> ersetzen die funktionsunfähig gewordenen Rezeptorzellen Tractus olfactorius projiziert zu verschieden Strukturen des medialen Temporallappens, der Amygdala und des präpiriformen Cortex (dieser ist wahrscheinlich der primäre olfaktorische Cortex). Das olfaktorische System is das einzige sensorische System, dessen sensorische Hauptbahn die Großhirnrinde erreicht, ohne den Thalamus zu passieren. 2 Hauptbahnen verlassen das Amygdala-präpiriforme Gebiet: Eine projiziert zum limbischen System, die andere über den Nucleus mediodorsalis des Thalamus zum orbitofrontalen Cortex (liegt bei der Orbita = Augenhöhle) Das Limbisches System vermittelt die emotionale Reaktion auf Gerüche Die Thalamo-orbitofrontale Projektion ist für die bewusste Wahrnehmung von Gerüchen verantwortlich. 7.6.2 das gustatorische System Geschmacksrezeptoren auf Zunge und in der Mundhöhle 84 - Bilden Gruppen von 50 Rezeptoren = Geschmacksknospen Geschmacksknospen sind auf der Zunge um kleine Ausstülpungen, so genannten Papillen, angeordnet. Früher ging man von 4 Geschmacksqualitäten aus – süß, sauer, salzig, bitter Heute geht man von 5 aus, die 5. Geschmacksqualität ist umami (=wohlschmeckend oder pikant) Für einige Geschmacksrezeptoren (salzig oder sauer) gibt es keine spezifischen Rezeptoren. Abb. Hauptbahnen, die die gustatorischen Signale zum Cortex weiterleiten Afferente gustatorische Neurone verlassen den Mund als Teil des Nervus facialis (VII Hirnnerv), Nervus glosspharyngeus (IX. Hirnnerv) und Nervus vagus ( X. Hirnnerv), die die Infos vom der Zungenspitze, dem hinterenTeil der Zunge und dem hinteren Teil der Mundhöhle übertragen. Diese Nerven enden alle in den Nervus solitarius, der Medulla, wo sie synaptische Verbindungen mit Neuronen bilden, die zum Nucleus ventralis posterior des Thalamus projizieren. Die gustatorischen Axone des Nucleus ventralis post. projizieren dann zum prim. und sekundären gustatorischen Cortex. Die Projektionen des gustatorischen Systems sind hauptsächlich ipsilateral. Die meisten gustatorischen Neurone reagieren auf eine Vielzahl unterschiedlicher Geschmacksqualitäten und ein bestimmter Geschmack scheint im Gehirn über ein Aktivitätsprofil von Gruppen von Neuronen kodiert zu werden. 7.6.3. Hirnschädigung und die chemischen Sinne Anosmie = Unfähigkeit, zu riechen Ageusie = Unfähigkeit, zu schmecken Häufigste Ursache für Anosmie ist ein Schlag auf den Kopf, der zu einer Verschiebung des Gehirns im Schädel führt und die olfaktorischen Nerven dort abschneidet, wo sie die Lamina cribrosa passieren. Weniger vollständige Defizite im Geruchsvermögen gehen mit einer Reihe von neurologischen Störungen, wie der Alzheimer-Erkrankung, des Down-Syndroms, der 85 Epilepsie, der MS (Multiple Sklerose) oder auch der Parkinson Erkrankung oder des Korsakoff-Syndroms einher. Ageusie ist selten -> da es 3 getrennte Bahnen aus dem Mund für die sensorischen Signale gibt Partielle Ageusie: ist beschränkt auf die vorderen 2 Drittel einer Seite einer Zunge und wird oft mit einer Schädigung des Ohrs auf derselben Körperseite beobachtet. Grund: der Ast des Nervus facialis, der die gustatorische Info von den vorderen 2 Dritteln der Zunge weiterleitet, passiert das Mittelohr. 7.7 Selektive Aufmerksamkeit Selektive Aufmerksamkeit = nur ein kleiner Teil der vielen Reize wird bewusst wahrgenommen 2 Aspekte der selektiven Aufmerksamkeit: Sie verbessert die Wahrnehmung der Reize, die gerade in ihrem Fokus sind Sie interferiert mit der Wahrnehmung der Reize, die nicht in ihrem Fokus sind 2 unterschiedliche Arten der Aufmerksamkeitsfokussierung: a) durch internale kognitive Prozesse = endogene Aufmerksamkeit b) durch externale Ereignisse = exogene Aufmerksamkeit Beispiel: Aufmerksamkeit wird auf Tisch gerichtet, da ich Schlüssel suche (endogene Aufmerksamkeit) Aufmerksamkeit wird auf Tisch gerichtet, weil Katze ein Glas umgestoßen hat (exogene Aufmerksamkeit) Endogene Aufmerksamkeit wird über neuronale top-down (= von der höheren zur niedrigeren Ebene) Mechanismen vermittelt Exogene Aufmerksamkeit über neuronale bottom- up (= von der niedrigeren zur höheren Ebene) Mechanismen Aufmerksamkeit: Ist ein wichtiger Aspekt der Wahrnehmung Phänomen der Veränderungsblindheit ( change blindness) : Abb.7.26 Probanden werden Bilder gezeigt -> sollen Veränderungen am Bild bekannt geben, sobald sie sie sehen -> Ein Bild besteht aus 2 Bildern, wobei auf einem z.b ein Gegenstand weggelassen wird -> diese 2 Bilder werden abwechselnd (mit einem kurzen Intervall: weniger als 0,1 sec) präsentiert Ergebnis: meisten Probanden schauen Bild mehrere Sekunden lang an, ehe ihnen ein Unterschied auffällt -> Warum trifft Veränderungsblindheit auf? Grund: Tritt auf, weil beim Betrachten eines Bildes man sich nicht an alle Teile der Szene erinnern kann, die nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit gelegen sind Veränderungsblindheit trifft aber nur auf, wenn die Bildpräsentation durch kurze Intervalle (also weniger als 0,1 sec) getrennt sind. Experimente, die die Auswirkungen von Aufmerksamkeit auf die neuronale Aktivität im visuellen System nachwiesen: Moran und Desimone (1985): waren die ersten, die dies untersuchten, an Affen Corbetta und Collegen (1990): untersuchten Menschen Präsentierten eine Reihe sich bewegender, farbiger Reize verschiedener Formen und baten die Probanden, zwischen den Reizen aufgrund von Bewegung, Farbe oder Form zu unterscheiden Aufmerksamkeit gerichtet auf Farbe oder Form bedingte eine erhöhte Aktivität in den Bereichen der ventralen Bahn Aufmerksamkeit gegenüber Bewegung eine erhöhte Aktivität in den Bereichen der dorsalen Bahn 86 Selektive Aufmerksamkeit funktioniert über eine Verstärkung der Repräsentationen der beachteten Aspekte und eine Abschwächung der anderen. Im Allgemeinen erhöht die Antizipation eines Reizes die neuronale Aktivität in den gleichen Schaltkreisen, die auch durch den Reiz selbst beeinflusst werden. Augenbewegungen spielen bei der visuellen Aufmerksamkeit eine wichtige Rolle. Allerdings lässt sich die visuelle Aufmerksamkeit verschieben, ohne die Richtung des visuellen Fokus zu verlagern -> siehe Buch Seite 240 Ein weiteres wichtiges Merkmal der selektiven Aufmerksamkeit: Cocktail-Party-Phänomen: selbst wenn man sich so aufmerksam auf ein Gespräch konzentriert, dass die Inhalte in den Gesprächen um einen herum nicht bewusst wahrgenommen werden, so wird man trotzdem die Erwähnung des eigenen Namens in einem der Gespräche sofort bewusst wahrnehmen. zeigt, dass das Gehirn den Zugang zum Bewusstsein für Reize, außer einem ganz bestimmten, blockiert. Gleichzeitig werden aber die dem Bewusstsein zugänglichen Reize überwacht, für den Fall, dass etwas auftaucht, was Aufmerksamkeit erfordert. Visuelle Simultanagnosie = man hat ein Problem damit, mehr als ein visuelles Objekt gleichzeitig zu beachten (siehe Beispiel Seite 202) Grund: die dorsale Bahn ist für Lokalisierung von Objekten im Raum zuständig. Und bei dieser Form der Agnosie ist dieser Bereich geschädigt. Die Schädigung ist üblicherweise bilateral. 87 Kapitel 8: Das sensomotorische System 8.2. Drei sensomotorische Funktionsprinzipien 8.2.1 Das sensomotorische System ist hierarchisch organisiert Die hierarchische Organisation des sensomotorischen Systems kann mit der Organisation eines Unternehmens verglichen werden. Das Unternehmen wird durch Befehle gesteuert, die die Hierarchieebenen nach unten verlaufen – vom Assoziationskortex zu den Muskeln. Der Assoziationskortex gibt dabei eher allgemeine Ziele, als spezifische Handlungspläne vor. Der Hauptvorteil der hierarchischen Organisation besteht darin, dass die höheren Ebenen komplexere Funktionen verrichten können. Das sensomotorische System ist parallel und hierarchisch organisiert, d.h. die Signale zwischen den Ebenen laufen gleichzeitig über mehrere Bahnen. Der parallele Aufbau ermöglicht dem Assoziationskortex niedrigere Hierarchieebenen zu kontrollieren. (z.B.: Assoziationskortex kann Lidschlussreflex hemmen um Kontraktlinseneinsetzen zu ermöglichen) Die sensomotorischen Hierarchien sind außerdem durch eine funktionelle Trennung charakterisiert. Jede Ebene einer sensomotorischen Hierarchie besteht aus unterschiedlichen Einheiten (neuronale Strukturen oder Abteilungen), von denen jede eine unterschiedliche Funktion erfüllt. Der Hauptunterschied zwischen dem sensorischen und sensomotorischen System besteht in der Hauptrichtung des Informationsflusses. In sensorischen Systemen verläuft der Informationsfluss hauptsächlich die Hierarchie hinauf, in sensomotorischen Systemen verläuft der Informationsfluss hauptsächlich die Hierarchie hinab. 8.2.2 Motorischer Output wird durch sensorischen Input gesteuert Die Augen, Gleichgewichtsorgane und die Rezeptoren in der Haut, in den Muskeln und den Gelenken überwachen die körperlichen Reaktionen und speisen diese Information wieder in die sensomotorischen Schaltkreise ein. Dieses sensorische Feedback spielt vor allem bei der Weiterleitung eine wichtige Rolle. (Ballistische Bewegungen = kurze, schnelle, Allesoder- Nichts Bewegungen, werden nicht vom sensorischen Feedback beeinflusst) Viele Anpassungen im motorischen Output, die als Antwort auf sensorisches Feedback stattfinden, werden durch die niedrigeren Ebenen der sensomotorischen Hierarchie unbewusst, und ohne Beteiligung der höheren Ebenen kontrolliert. („automatisch) Der Fall G.O. (Dartspieler): Ausfall von nur einer Art von sensorischem Feedback: dem Feedback aus den somatosensorischen Nerven des Arms; Infektion zerstörte somatosensorische Nerven in Armen; große Schwierigkeiten bei visueller Kontrolle, große Schwierigkeiten durch Unfähigkeit motorischen Output an unerwartete äußere Störungen anzupassen; konnte Stärke der Muskelkontraktion nicht konstant halten – musste daher jede Aufgabe, die einen konstanten motorischen Output zur Hand erforderte visuell kontrollieren; 8.2.3 Lernen verändert die Art und den Ort der sensomotorischen Kontrolle Während der Anfangsstadien des motorischen Lernens wird jede einzelne Reaktion unter bewusster Kontrolle ausgeführt, dann, nach einiger Übung, werden einzelne Reaktionen in kontinuierliche, integrierte Handlungssequenzen organisiert, die glatt ablaufen und über sensorisches Feedback, ohne bewusste Regulationsprozesse korrigiert werden. Sensorisches Lernen besteht größtenteils darin einzelne Reaktionen in zusammenhängende motorische Programme zusammenzufassen und deren Kontrolle auf niedrige Ebenen des Nervensystems zu übertragen. (Also dass auch „niedrigere“ Ebenen die Handlungen kontrollieren können, und die höheren Ebenen sich mit wichtigerem beschäftigen können) 88 8.2.4 Ein allgemeines Modell der Funktionsweise des sensomotorischen Systems Die Kontrolle willkürlichen Verhaltens beginnt auf der Ebene des Assoziatinoskortex und folgt den wichtigen motorischen Signalen durch die sensomotorische Hierarchie hinunter bis zu den Skelettmuskeln, die am Ende die Bewegungen ausführen. 8.3 Der sensomotorische Assoziationskortex Wie in dem oben skizzierten Modell ersichtlich steht der Assoziationskortex an der Spitze der Hierarchie. Er besteht aus 2 Hauptgebieten: dem posterioren parientalen Assoziationskortex und dem dorsolateralen präfrontalen Assoziationskortex. Beide sollen aus mehreren Schichten bestehen, die aber noch nicht definiert sind. 8.3.1 Der posteriore parientale Assoziationskortex Bevor eine tatsächliche Bewegung initiiert werden kann, muss das Nervensystem die Ausgangsposition der zu bewegenden Körperteile und die Position der externen Objekte erkennen, mit denen der Körper interagieren will. Der posteriore parientale Assoziationskortex spielt bei der Integration dieser beiden Arten von Information und bei der Steuerung der Aufmerksamkeit eine große Rolle. Der posteriore parientale Assoziationskortex empfängt Information von den drei sensorischen Systemen, die eine Rolle bei der Lokalisation des Körpers und externer Objekte im Raum spielen: dem visuellen System, auditorischen System, und dem somatosensorischen System. Ein Großteil des Outputs des posterioren parientalen Assoziationskotex gehen zum dorsolateralen präfrontalen Assoziationskortex, zu verschiedenen Gebieten des sekundären motorischen Kortex und zum frontalen Augenfeld (steuert Augenbewegungen). Eine Schädigung des posterioren parientalen Assoziationskortex kann verschiedene sensomotorische Defizite hervorrufen: Störungen • in der Wahrnehmung und dem Gedächtnis für räumliche Beziehungen • beim präzisen Angreifen und Aufheben • bei der Steuerung der Augenbewegungen • bei der Aufmerksamkeit. 89 Apraxie Störung der Willkürbewegungen, die nicht auf ein einfaches motorisches Defizit oder auf irgendein Verständnis- oder Motivationsdefizit zurückgeführt werden kann. Der Betroffene hat beachtliche Schwierigkeiten spezifische Bewegungen bei Aufforderung auszuführen, besonders, wenn sie aus dem Zusammenhang gerissen sind. Obwohl die Symptome bilateral auftreten wird die Schädigung oft durch eine unilaterale Schädigung des linken posterioren Parientallappens oder seiner Verbindung verursacht. Kontralateraler Neglekt Störung der Fähigkeit auf Reize zu reagieren, die auf der Körperseite gegenüber einer Gehirnläsion auftauchen (bei gleichzeitiger Abwesenheit sensorischer und motorischer Defizite). Der kontralaterale Neglekt ist häufig mit großen Läsionen des rechten posterioren Parientallappens verbunden. Es treten Reaktionsdefizite bei Reizen links vom Körper der Betroffenen auf, was als egozentrisches Links (wird tw. Über Gravitationskoordinaten definiert) bezeichnet wird. Viele Patienten neigen auch dazu nicht auf die linke Seite von Objekten zu reagieren (also objektbezogen). - Im Parientalkortex von Primaten wurden Neurone mit egozentrischen rezeptiven Feldern und andere mit objektbezogenen rezeptiven Feldern nachgewiesen. Nur weil ein Objekt in der linken Hälfte nicht bewusst wahrgenommen werden kann, muss es nicht fordernd auch unbewusst nicht wahrgenommen werden. Personen mit K.N neigen dazu nach wiederholter Darbietung eines Objekts an derselben linken Stelle genau an diese Stelle zu schauen, obwohl ihnen die Objekte nicht bewusst waren. Unvollständige Zeichnungen konnten bei der Darbietung auf der rechten Seite besser identifiziert werden, wenn sie zuvor auf der linken Seite gezeigt wurden. 8.3.2 Der dorsale präfrontale Assoziationskortex Der dorsale präfrontale Assozationskortex ist wichtig für sensomotorische Funktionen und erhält/sendet Projektionen vom/zum posterioren Parientalkortex und sendet Projektionen zu Gebieten des sekundären motorischen Kortex und zum frontalen Augenfeld. Er scheint eine Rolle bei der Bewertung externer Reize und der Initiierung von auf sie bezogenen willkürlichen Reaktionen zu spielen. Diese Annahme wird durch die Antwortcharakteristiken von Neuronen in diesem Bereich des Assoziationskortex unterstützt. Die Aktivität von Neuronen hängt entweder von den Eigenschaften des Objektes ab, oder von der Position des Objektes, oder von einer Kombination aus beidem. Jedoch: die Aktivität wieder anderer Neuron zeigt eher eine Beziehung zur Reaktion, und nicht zu den Objekten: diese Neuronen beginnen dann vor der Reaktion zu feuern, und feuern weiter, bis die Reaktion dann abgeschlossen ist. Die Antworteigenschaften dorsolateraler präfrontaler Neurone und das Muster der Verbindungen zwischen diesem und anderen Gebieten des sensomotorischen Kortex 90 weisen darauf hin, dass die Entscheidungen für die Initiierung von Willkürbewegungen in diesem Bereich des Cortex getroffen werden. Jedoch ist es wahrscheinlicher, dass Entscheidungen für die Initiierung von Willkürbewegungen aus einer Interaktion des dorsolateralen präfrontalen Kortex und des posterioren parientalen Kortex entstehen. 8.4 Der sekundäre motorische Cortex Abb.: Vier Areale des sekundären motorischen Cortex –das supplementär-motorische Areal, der prämotorische Cortex und zwei motorische Areale des Gyrus cinguli –und ihr Output zum primären motorischen Cortex. Abgebildet sind die laterale Oberfläche der linken Hemisphäre und die mediale Oberfläche der rechten Hemisphäre. Zum sekundären motorischen Cortex gehören die Gebiete, die einen großen Teil ihres Inputs vom Assoziationskortex empfangen und einen großen Teil ihres Outputs zum primären motorischen Cortex senden. Das supplementär motorische Areal • legt sich um die Oberseite des Frontallappens, anterior zum primären motorischen Cortex • erstreckt sich herunter in die Fissura longitutinalis Der prämotorische Cortex • verläuft in einem Streifen vom supplementär- motorischen Areal zum Sulcus lateralis Viele Jahre waren nur diese beiden Gebiete vom sekundären motorischen Cortex bekannt. Später wurden dann mehrer Areale bekannt: 2 unterschiedliche supplementär motorische Areale, 2 unterschiedliche prämotorische Areale und drei kleine Gebiete im Cortex des Gyrus Cinguli: die motorischen Areale des Gyrus cinguli. Allerdings besteht immer noch kein Konsensus über die genauen Grenzen dieser Areale. Um als sekundärer motorischer Kortex zu gelten, muss ein Areal mit anderen sensomotorischen Gebieten passend verknüpft sein. Funktionell betrachtet ruft eine elektrische Stimulation eines Areals des sekundären motorischen Cortex normalerweise komplexere Bewegungen hervor, die oft auf beiden Körperhälften auftreten. Neurone im sekundären motorischen Cortex erhöhen oft genau vor der Einleitung einer Willkürbewegung ihre Aktivität und bleiben während der Bewegung aktiv. Es wird davon ausgegangen, dass die Gebiete des sekundären motorischen Kortex für an der Programmierung spezifischer Bewegungsmuster beteiligt sind, nachdem sie allgemeine Instruktionen vom dorsolateralen präfrontalen Cortex erhalten haben. (Bsp. Parson und Kollegen: erhöhte PET Aktivität im supplementär motorischen Areal während Probanden sich vorstellten nach einem bestimmten Objekt zu greifen) Graziano und Gross erforschten wie Neurone des prämotorischen Kortex räumliche Beziehungen koordinieren. Viele prämotorischen Neurone reagieren auf Berührung. Jedes Neuron besitzt ein somatosensorisches rezeptives Feld in einem bestimmten Körperteil. Viele Neurone reagieren auch auf visuellen Input. (bimodale Neurone: Neurone, die auf Reize aus zwei verschiedenen Reizmodalitäten reagieren) Das visuelle Feld eines bimodalen Neurons grenzt immer an sein somatosensorisches rezeptives Feld. 91 8.5 Der primäre motorische Cortex Der primär motorische Cortex befindet sich im Gyrus parientalis des Frontallappens. Es ist der wichtigste Konvergenzpunkt der kortikalen sensomotorischen Signale, und der wichtigste Ausgangspunkt für sensomotrische Signale aus der Großhirnrinde. Der primär motorische Cortex ist somatotrop organisiert. Der somatotrope Aufbau wird als der motorische Homunkulus bezeichnet. Die Stimulation von Stellen im primären motorischen Cortex ruft einfache Bewegungen hervor. Der Größte Teil des primären motorischen Cortex ist für die Kontrolle von Körperteilen bestimmt, die zu komplizierten Bewegungen in der Lage sind. (Hände, Mund, ect.) Der Bereich im primären motorischen Cortex kontrolliert Bewegungen bestimmter Muskelgruppen, und jeder empfängt über den somatosensorischen Cortex somatosensorisches Feedback von Rezeptoren in diesen Muskeln und Gelenken. Affen haben zwei unterschiedliche Handareale im primären motorischen Cortex in jeder Hemisphäre. Ein Areal erhält einen Input von Rezeptoren in der Haut. Diese Anpassung erleichtert vermutlich die Stereognosie (Vorgang der Identifikation von Objekten durch Berührung) Die Neurone im Armareal des primären motorischen Kortex feuern maximal, wenn sich der Arm in eine bestimmte Richtung ausstreckt. Jedes Neuron besitzt eine andere bevorzugte Richtung. Größe Läsionen des primären motorischen Kortex können • die Fähigkeit beeinträchtigen, ein Körperteil unabhängig von den anderen zu bewegen • eine Astereognosie (Defizite in der Stereognosie) hervorrufen • Geschwindigkeit, Genauigkeit und Kraft der Bewegungen reduzieren. 8.6 Cerebellum und Basalganglien Das Cerebellum und die Basalganglien sind wichtige sensomotorische Strukturen und interagieren mit verschiedenen Ebenen der sensomotorischen Hierarchie und koordinieren und modulieren ihre Aktivität. Man geht davon aus, dass die wechselseitigen Verbindungen zwischen den motorischen und sensorischen Bereichen über das Cerebellum und die Basalganglien der Grund dafür sind, warum eine Schädigung der kortikalen Verbindungen zwischen dem visuellen Cortex und den frontalen motorischen Arealen keinen Ausfall von visuell gesteuerten Reaktionen bedingt. 8.6.1 Cerebellum Das Cerebellum erhält Informationen • vom primären und sekundären motorischen Cortex • über absteigende motorische Signale von den motorischen Kernen des Hirnstamms • über die somatosensorischen und vestibulären Systeme Feedback über motorische Reaktionen. Man nimmt an, dass das Cerebellum diese drei Quellen von Input vergleicht und ablaufenden Bewegungen, die von ihrem intendierten Verlauf abweichen, korrigiert. Das Cerebellum spielt eine Rolle beim motorischen Lernen, besonders beim Lernen von Bewegungsfolgen. Die Folgen einer Schädigung sind für die motorischen Funktionen verheerend: • Der Patient verliert die Fähigkeit Richtung, Kraft, Geschwindigkeit und Amplitude von Bewegungen präzise zu kontrollieren und diese an sich verändernde Bedingungen anzupassen. • Dem Patient fällt es schwer eine Körperhaltung beizubehalten. • Es treten schwere Störungen des Gleichgewichts, des Gangs, der Sprache und der Kontrolle der Augenbewegungen auf • neue motorische Abläufe werden nur schwer erlernt. 92 Die Auffassung, dass sich die Funktion des Cerebellums auf die Feinabstimmung und das Erlernen motorischer Reaktionen beschränkt wurde in Frage gestellt. 8.6.2 Die Basalganglien Die Basalganglien sind eine komplexe, heterogene Ansammlung miteinander verbundener Kerne. Sie erfüllen eine modulatorische Funktion. Sie sind Bestandteil neuronaler Schleifen, die kortikalen Input von verschiedenen kortikalen Gebieten empfangen und ihn über den Thalamus zurück zu den verschiedenen Arealen des motorischen Cortex übertragen. Die Funktionen bestehen unter anderem in der Modulation des motorischen Outputs und in der Beteiligung an vielen kognitiven Funktionen: Die Basalganglien projizieren zu kortikalen Gebieten, die kognitive Funktionen haben. 8.7 Absteigende motorische Bahnen Neuronale Signale werden vom primären motorischen Cortex über vier verschiedene Bahnen zu den Motoneuronen des Rückenmarks geleitet. Zwei Bahnen steigen im dorsalen Bereich des Rückenmarks ab, zwei im ventromedialen Bereich des Rückenmarks. Die Bahnen wirken bei der Kontrolle von Willkürbewegungen zusammen. 8.7.1 Die dorsolaterale Bahn: Tractus corticospinalis lateralis und Tractus corticorubrospinalis tractus corpticospinalis (direkt) Gruppe von Axonen, die vom primären motorischen Cortex zu den Pyramiden der Medulla absteigen – zwei Wülsten auf der ventralen Seite der Medulla – kreuzen dort und steigen weiter in der kontralateralen dorsolateralen weißen Substanz des Rückenmarks ab. Die Axone der Betz- Zellen (extrem große Pyramidenzellen (Neurone) des motorischen Cortex) enden in den unteren Bereichen des Rückenmarks auf Motoneuronen, die zu den Muskeln der Beine projizieren. Sie dienen der Kontrolle schneller, kraftvoller, willkürlicher Bewegungen. 93 Die meisten Axone haben Verbindungen mit kleinen Interneuronen der grauen Substanz der Rückenmarks, die Synapsen mit Motoneuronen der distalen Muskeln der Handgelenke, Hände, Finger und Zehen haben. Alle Säugetiere, die in der Lage sind, Finger und Zehen unabhängig voneinander zu bewegen, haben Neurone im tractus corticospinalis lateralis die direkt Synapsen auf den Motoneuronen der Finger und Zehen bilden. Tractus cortico rubrospinalis (indirekt) Gruppe von Axonen, die vom primären motorischen Cortex absteigen, hat Synapsen im nucleus ruber (roter Kern) des Mittelhirns. Die Axone der Neurone im nucleus ruber kreuzen anschließend und steigen durch die Medulla ab. Einige enden in der Medulla auf den Kernen der Hirnnnerven, die die Gesichtsmuskeln kontrollieren. Andere steigen im dorsolateralen Teil des Rückenmarks weiter ab. Die Axone des Trakts bilden Synapsen auf Interneuronen, die Synapsen auf Motoneuronen haben, die zu den distalen Muskeln der Arme und Beine projizieren. 8.7.2 Die ventromediale Bahn: Tractus corticospinalis anterior und Tractus corticobulbospinalis tractus corpticospinalis anterior (direkt) Die langen Axone des tractus corticospinalis anterior steigen vom primären motorischen Cortex ipsilateral direkt im ventromedialen Bereichen der weißen Substanz des Rückenmarks. Während jedes Axon des tractus corpticospinalis anterior absteigt, verzweigt es sich diffus und innerviert Interneuronenschaltkreise in mehreren verschiedenen Rückenmarkssegmenten auf beiden Seiten der grauen Substanz. Tractus corticobulbospinalis Er besteht aus Axonen, des motorischen Cortex, die zu einem komplexen Netzwerk von Hirnstammstrukturen führen. Die Axone von einigen der Neurone in diesem komplexen motorischen Hirnstammnetzwerk steigen dann bilateral im ventromedialen Teil des Rückenmarks ab. Jede Seite überträgt Signale von beiden Hemisphäre und jedes Neuron 94 bildet Synapsen auf Interneuronen von mehreren verschiedenen Rückenmarkssegmenten, die die proximalen Muskeln des Rumpfes und der Gliedmaßen steuern. 4 wichtige Strukturen interagieren mit dem coricobulbospinalis: 1) Tectum: erhält auditorische und visuelle Information über räumliche Positionen 2) Nucleus vestibularis: empfängt Information über das Gleichgewicht von Rezeptoren der Bogengänge des Innenohrs 3) Formatio reticularis: enthält motorische Programme, die komplexe arttypische Bewegungen regulieren 4) motorische Kerne der Hirnnerven: kontrollieren die Gesichtsmuskeln 8.7.3 Vergleich der 2 dorsolateralen motorischen Bahnen mit den 2 ventromedialen motorischen Bahnen Gemeinsamkeiten • Alle 4 absteigenden Bahnen haben den Ursprung in der Großhirnrinde – man nimmt an, dass sie Willkürbewegungen vermitteln; die Bahnen weisen allerdings große Unterschiede in ihrem Verlauf und ihren Zielorten auf; (Lawrence & Kuypers 1968) • Beide bestehen aus zwei Hauptfaserzügen, einem mit direkt zum Rückenmark absteigenden Axonen und einem mit Axonen, die im Hirnstamm auf Neurone umgeschaltet werden, die zum Rückenmark absteigen. Unterschiede Zwei ventromediale Bahnen sind diffuser: viele ihrer Axone innervieren Interneurone auf beide Seiten der grauen Substanz im Rückenmark und in mehreren unterschiedlichen Rückenmarkssegmenten. Motorneurone, die über die ventromediale Bahn aktiviert werden, projizieren zu den proximalen Muskeln des Rumpfes und der Gliedmaßen sind an der Korntrolle der Haltung und der Kontrolle von Ganzkörperbewegungen beteiligt kontrollieren die beiden dorsolateralen Bahnen – die Bewegungen der Gliedmaßen Zwei dorsolaterale Bahnen Ihre Axone enden in der kontralateralen Hälfte des Rückenmarksegments, manchmal direkt auf einem Motoneuron Motoneurone, die von den dorsolateralen Bahnen aktiviert werden, projizieren zu distalen Muskeln Nur der corticospinale Teil der dorsalen Bahnen ist in der Lage unabhängige Bewegungen der Finger und Füße zu vermitteln; 1. Exp. von Lawrence & Kuypers Bei Affen, durchtrennen des linken und rechten tractus corticospinalis lateralis auf der Höhe der Pyramiden der medulla, über der Kreuzung der Bahnen; Affen konnten stehen, laufen, relativ normal klettern; Fähigkeit Gliedmaßen für andere Aktivitäten zu nutzen war einbeeinträchtig; (z.B. Greifbewegungen waren schwach und wenig gerichtet); es zeigte sich eine wesentliche Verbesserung der Greifbewegungen in den folgenden Wochen, es bleiben jedoch Defizite bestehen: Finger unabhängig voneinander zu bewegen war unmöglich und Objekte, die einmal ergriffen wurde, konnten nicht mehr losgelassen werden; beim Klettern hatten die Tiere keine großen Schwierigkeiten: das zeigt, dass dieselbe Reaktion in einem anderen Kontext ausgeführt, durch unterschiedliche Teile des ZNS kontrolliert werden kann. 2. Exp. von Lawrence und Kuypers (Aufbauend auf Exp. 1) 1. Gruppe: Die beiden führten in diesem Exp. zusätzlich Transsektionen (~Quereinschnitt?) bei den Affen durch, deren tractus corticospinalis lateralis schon durchtrennt worden war. Affen konnten stehen, laufen, klettern. Beim Sitzen hingen 95 Arme schlaff nach unten. Motorische Beeinträchtigung der Arme beim Greifen nach Dingen; 2. Gruppe: es wurden zusätzlich beide ventromediale Bahnen durchtrennt; schwere Haltungsabnormalitäten: Schwierigkeiten beim Laufen und Sitzen; 8.8 Sensomotorische Schaltkreise im Rückenmark 8.8.1. Muskeln Motorische Einheiten = kleinsten Einheiten der motorischen Aktivität Jede Motorische Einheit besteht aus einem einzigen Motorneuron und allen von ihm innervierten Skelettmuskelfasern Motorneuron feuert -> alle Muskelfasern einer Einheit kontrahieren gemeinsam Motor. Einheiten unterscheiden sich in der Zahl der dazugehörenden Muskelfasern -> die Einheiten mit den wenigsten Fasern (bei den Fingern und im Gesicht) erlauben den höchsten Grad an feinmotorischer Kontrolle 1 Skelettmuskel besteht aus hunderttausenden fadenförmigen Muskelfasern -> diese sind von einer festen Membran umschlossen und über eine Sehne an einem Knochen befestigt Acetylcholin: veranlasst Kontraktion der Muskelfaser, da die Motorneurone Acetylcholin an den neuromuskulären Synapsen freisetzen und so die motorische Endplatte aktivieren Motorischer Pool = alle Motorneurone, die die Fasern eines Muskels innervieren 2 Typen von Skelettmuskelfasern: Schnelle Muskelfasern: kontrahieren und entspannen schnell, ermüden schnell Langsame Muskelfasern: sind zu längerer Kontraktion fähig 2 Kategorien von Muskeln: Flexoren (Beuger):beugen ein Gelenk Extensoren (Strecker) Abb. 8.10: Bizeps und Trizeps = antagonistische Muskeln (spielen gegeneinander) Synergistische Muskeln = 2 Muskeln, deren Kontraktion dieselbe Bewegung erzeugt 2 Arten von Muskelkontraktionen: Isometrische Kontraktion = Muskel verkürzt sich bei Spannung auf den Knochen nicht -> Knochen bewegt sich aber trotzdem Isotonische Kontraktion = Muskel verkürzt sich und die Knochen ziehen sich zusammen 8.8.2. Rezeptororgane der Sehnen und Muskeln 2 Arten von Rezeptoren überwachen die Aktivität des Skelettmuskels: Golgi –Sehnenorgane: sind in den Sehnen eingebettet, die jeden Skelettmuskel mit dem Knochen verbinden Muskelspindeln: liegen im Muskelgewebe selbst Golgi- Sehnenorgane reagieren auf die Zunahme der Muskelspannung (d.h. auf den Zug des Muskels an einer Sehne), sind aber vollständig unempfindlich gegenüber Veränderungen in der Muskellänge Muskelspindeln reagieren auf Veränderungen in der Muskellänge, jedoch nicht auf Veränderungen in der Muskelspannung Abb. 8.11. Feedbackschaltkreis der Muskelspindeln 96 Jede Muskelspindel besitzt eigene fadenähnliche intrafusale Muskelfasern, die durch ein eigenes intrafusales Motorneuron innerviert werden. Ohne den intrafusalen motorischen Input würde eine Muskelspindel jedes Mal erschlaffen, wenn ihr Skelettmuskel (extrafusale Muskelfaser) kontrahiert. 8.8.3 Der Dehnungsreflex Dehnungsreflex = ein Reflex, der durch eine plötzliche, von außen bewirkte Dehnung des Muskels auslöst z.B. Patellarsehnenreflex (patella = Kniescheibe) Arzt beklopft Knie mit Gummihämmerchen -> wenn er die Sehne trifft -> Streckmuskel, der durch Oberschenkel verläuft, dehnt sich -> Dehnung des Oberschenkelmuskels -> Dehnung der Muskelspindel-Dehnungsrezeptoren -> löst Salven von Aktionspotentialen aus -> diese Aktionspotentiale werden mittels afferenter Spindelneurone über die Hinterwurzel ins Rückenmark übertragen Diese Salve von Aktionspotentialen erregt Motorneurone im Vorderhorn des Rückenmarks, die dann Aktionspotentiale zurücksenden an den Muskel, dessen Dehnung sie ursprünglich erregt hat Diese Impulse bewirken dann am Ausgangspunkt der Erregung eine kompensatorische Muskelkontraktion -> Streckung des Beines Funktion der Dehnungsreflexe: Sollen eine gewünschte Körperposition trotz extern wirkender Kräfte konstant halten Abb.8.14 zeigt den Mechanismus, über den der Dehnungsreflex die Stabilität der Gliedmaßen gewährleistet 2 wichtige Funktionsprinzipien des sensomotorischen Systems: Wichtige Rolle des sensorischen Feedbacks bei der Regulation des motorischen Outputs Fähigkeit von untergeordneten motorischen Schaltkreisen „Detailangelegenheiten“ ohne Beteiligung höherer Ebenen zu reagulieren 8.8.4 Der Schutzreflex Der Schutzreflex ist nicht monosynaptisch. Nach Auftreten eines schmerzhaften Reizes an der Hand, treten erste Reaktionen in den Motoneuronen des Armreflexors ~ 1,6 ms später auf. Die kürzeste Strecke im Schaltkreis des Schutzreflexes beinhaltet ein Interneuron. Nach der Initiierungssalve weitere Reaktionen in den Motoneuronen des Armreflexors. Diese Reaktionen werden durch Signale ausgelöst, die über multisynaptische Bahnen laufen. 97 8.8.5 Reziproke Innervation Die reziproke Innervation ist ein wichtiges Prinzip der Schaltkreise im Rückenmark. Antagonistische Muskeln sind so innerviert, dass eine glatte, unbehinderte motorische Reaktion möglich ist- wenn der eine Muskel kontrahiert, entspannt der andere. Die Aktivitäten von Agonisten und Antagonisten werden über die inneren Schaltkreise des Rückenmarks automatisch koordiniert. Abb. : reziproke Innervation von antagonistischen Armmuskeln. Während eines Schutzreflexes werden die Ellenbogenflexoren erregt, und die Ellenbogenextensoren gehemmt: Die Signale (Input = Schmerz) erregen sowohl exzitatorische als auch inhibitorische Motoneurone: Am schnellsten sind Bewegungen, bei gleichzeitiger Erregung aller Agonisten und Hemmung aller Antagonisten. Bei Willkürbewegungen kontrahieren die meisten Muskeln immer zu einem gewissen Ausmaß, und Bewegungen entstehen durch Anpassung der Stärke der relativen Kontraktion der Antagonisten. Bewegungen, die durch Kontraktion erzeugt werden sind glatt, und können durch eine geringe Erhöhung der Kontraktion des Antagonisten gestoppt werden. Die Kontraktion schützt vor unterwartet einwirkenden äußeren Kräften – also vor „Überdehnung“. 8.8.6 Rekurrente kollaterale Hemmung Für Pausen der Muskelfasern und ihren innervierenden Neuronen sorgen inhibitorische Motoneurone im Rückenmark. Jedes Motoneuron verzweigt sich bevor es das Rückenmark verlässt und seine Äste bilden Synapsen mit einem kleinen inhibitorischen Interneuron, das dann das Motoneuron hemmt, von dem es seinen Input erhält. Die Hemmung die diese lokalen Feedbackschaltkreise erzeugen wird rekurrente kollaterale Hemmung genannt, ihre Interneurone heißen Renshaw- Zellen. Die Folge dieser Hemmung ist, dass nachdem ein Motoneuron gefeuert hat, es sich gleich darauf selbst hemmt. 8.8.7 Gehen – ein komplexer sensomotorischer Reflex Die meisten Reflexe sind viel komplexer als der Schutz- und Dehnreflex. Ein solches komplexes Programm, wie Gehen, muss visuelle Informationen von den Augen integrieren, somatosensorische Informationen von den Füßen, Knien, Hüften, Armen usw. und Information über das Gleichgewicht aus den Bogengängen des Innenohrs. Auf Grundlage dieser Information muss es dann eine integrierte Folge von Bewegungen erzeugen, an denen die Muskeln des Rumpfes, der Beine, der Füße und der Oberarme beteiligt sind. Außerdem muss dieses Programm flexibel sein: der Output muss unmittelbar an Veränderungen im Gefälle eines Geländes angepasst werden können. Grillner (1985): Das Gehen kann über Schaltkreise kontrolliert werden (Katzen wurde das Gehirn vom Rückenmark getrennt, wurden dann über ein Laufband gehängt; wenn das 98 Laufband gestartet wurde, und Katzen so ein sensorisches Feedback erhielten, begannen sie zu laufen; ) Beim Menschen spielen absteigende motorische Bahnen eine größere Rolle. 8.9 Zentrale sensomotorische Programme Eine Theorie der sensomotorischen Funktion besagt, dass das sensomotorische System eine Hierarchie zentraler sensomotorischer Programme enthält. Alle Ebenen des sensomotorischen Systems –Ausnahme die höchste Ebene – haben bestimmte Aktivitätsmuster einprogrammiert. Komplexe Bewegungen werden über die Aktivierung der passenden Kombination hervorgerufen.(Bsp.: Zeitschrift ansehen: auf höchster Ebene werden kortikale Programme aktiviert -> diese aktivieren spinale Programme -> Muskel werden veranlasst, das Ziel zu realisieren), Die meisten Aktivitäten (Reaktionskomponenten) werden ohne direkte kortikale Beteiligung ausgeführt und werden kaum bewusst sondern jede Ebene des sensomotorischen Systems operieren auf der Basis des sensomotorischen Feedbacks. Wie z.B. der Generaldirektor auch nur einen Befehl an seine Führungskräfte erteilt, die die richtigen Leute weiter unten in der Hierarchie Befehle erteilen. Im sensomotorischen System sind vermutlich Cerebellum und Basalganglien dafür verantwortlich. 8.9.1 Zentrale sensomotorische Programme ermöglichen motorische Äquivalenz Motorische Äquivalenz= dieselbe einfache Bewegung kann auf verschiedene Weise mit verschiedenen Muskeln ausgeführt werden. Bsp: Name wird mit stereotypen Fingerbewegungen geschrieben; auch die Zehen schreiben den Namen mit typischen Merkmalen. Diese motorische Äquivalenz zeigt, dass die sensomotorischen Programme, welche für das Schreiben verantwortlich sind, nicht in den neuronalen Schaltkreisen gespeichert sind, die direkt die Hand steuern, sondern höher in der sensomotorischen Hierarchie 8.9.2 Sensorische Information, die zentrale sensomotorische Programme steuert, muss nicht bewusst sein Gibt es bei gesunden Menschen die Trennung von Wahrnehmung und sensorischer Kontrolle des Verhaltens? Haffenden und Goodale (1998) lieferten den Beweis: Die innere Scheibe der rechten „Blume“ ist ebenso gross wie die der Linken (Ebbinghaus Täuschung). Sie erscheinen unterschiedlich gross. Zeigen die Probanden die Grösse der zentralen Scheibe mit Daumen und Zeigefinger an, beurteilten sie die Scheibe der grösseren Abbildung kleiner als die der Kleineren Abbildung. Wenn die Probanden danach Greifen, entsprach der Abstand zwischen ihren Daumen und Zeigefinger der tatsächlichen Grösse der Scheibe und nicht der bewusst wahrgenommenen Grösse. 8.9.3 Zentrale sensomotorische Programme können ohne Übung entstehen Zentrale sensomotorische Programme entwickeln sich für viele arttypische Verhaltensweisen ohne explizite Übung. Fentress (1973) untersuchte Mäuse, die ohne Vordergliedmaßen zur Welt kamen. Sie zeigten obwohl sie keine Vorderpfoten hatten, die notwendingen Schulterbewegungen für das Putzen – auch die Zungen,-Kopf,- und Augenbewegungen (Blinzeln, wenn Schulterbewegungen ausgeführt wurden, da die Pfote in die Nähe des Auge gekommen wäre). Den Mäusen fehlte das sensomotorische Feedback -> sie unterbrachen das scheinbare Putzen, um kurz den Boden zu lecken. 99 8.9.4 Zentrale sensomotorische Programme können durch Übung entstehen Übung ist ein sicherer Weg, um sensomotorische Programme zu erzeugen oder zu modifizieren, obwohl sie sich auch ohne Übung entwickeln. Zwei Prozesse von Theorien des Lernens, welche den Erwerb sensomotorische Programme beeinflussen: • Response Chunking • Verlagerung der Kontrolle auf untergeordnete Ebenen des sensomotorische Systems Response Chunking: Übung verbindet die zentralen sensomotorischen Programme, die einzelnen Reaktionskomponeten kontrollieren. So werden die Sequenzen von Verhalten kontrolliert (Chunks). Das Tippen eines Wortes auf einer Schreibmaschine -> für Anfänger werden die Reaktionen einzeln ausgelöst. Bei einer geübten Tippse werden Abfolgen von Buchstabe als eine Einheit gebildet. Dies führt zur Steigerung der Geschwindigkeit. Chunks können auch zu chunks höherer Ordnung kombiniert werden. Verlagerung der Kontrolle auf untergeordnete Ebenen des sensomotorische Systems: Während des Erlernens eines zentralen sensomotorischen Programmes wird die Kontrolle von höherer Ebene der sensomotorischen Hierarchie auf untergeordnete Ebenen verlagert. Dadurch können sich die höheren Ebenen des Systems mit mehr abstrakten Aspekten beschäftigen und eine höhere Geschwindigkeit kann erreicht werden (Schaltkreise der unteren Ebene agieren gleichzeitig). 8.9.5 Funktionelle Bildgebung des sensomotorischen Lernens ->erlaubt die Gehirnaktivität während des Erlernens zu untersuchen. Jenkins und Kollegen (1994) untersuchten die PET- Aktivität von Probanden, die zwei verschiedene Sequenzen von Tastendrücken ausführten. Es gab drei Untersuchungsbedingungen: die Ruhekontrollbedingung, und weiters, wo Prabanden neu erlernte Sequenz und eine gut geübte Sequenz ausführten. • Posteriore Parietalcortex: sehr aktiv während der neu erlernten und aktiv während der gut geübten Sequenz. Der Posteriore Parietalcortex integriert sensorische Reize -> während dem Lernen werden Reize viel stärker beachtet. • Dorsolaterale präfrontale Coortex: aktiv während der Ausführung der neugelernten Sequenz, nicht aktiv während der gut geübten Sequenz. Der Dorsolaterale präfrontale Coortex spielt eine besonders wichtige Rolle bei der motorischen Ausführung unter bewusster Kontrolle • Areale des sekundären motorischen Cortex: der kontralaterale präfrontale Cortex war aktiver während der Ausführung der neugelernten Sequenz (spielt eine Rolle, wenn das Verhalten über sensorische Reize gesteuert wird) , das bilaterale supplementärmotorische Areal war während der gut geübten Sequenz aktiver (wenn Verhalten unabhängig von sensorischen Reizen erfolgt- automatische ablaufende Sequenzen). Kontrlaterale primäre motorische und somatosensorische Cortex: sowohl aktiv während der Ausführung der neugelernten Sequenz, als auch aktiv während der gut geübten Sequenz. Motorische Elemente beider Sequenzen sind dieselben, deshalb gleichermassen aktiv! • • Kontralateralen Basalganglien: aktiv während der Ausführung der neugelernten Sequenz, als auch aktiv während der gut geübten Sequenz. dzt. noch nicht eindeutig geklärt, ob unterschiedliche Subpopulationen der Neurone aktiv sind. Cerebellum: aktiv während der Ausführung der neu gelernten Sequenz (hier in einem stärkeren Ausmass), als auch aktiv während der gut geübten Sequenz. Cerebellum spielt eine bedeutende Rolle beim motorischen Lernen. 100 Kapitel 9: Die Entwicklung des Nervensystems 9.1 Von der befruchteten Eizelle zum erwachsenen Organismus Das NS (Nervensystem) ist kein statisches Netzwerk von Schaltkreisen; es ist ein plastisches, veränderbares, lebendes Organ. Aufgrund seiner genetischen Programme und der Interaktion mit der Umwelt wächst und verändert es sich kontinuierlich. Der Prozess der neuronalen Entwicklung startet mit einer einzigen Eizelle und endet mit einem funktionsfähigen erwachsenen Gehirn. Menschen unterschätzen die Rolle der Erfahrung bei der neuronalen und psychischen Entwicklung. Bsp.: Der Fall von Genie Mädchen (13Jahre), 1,35m, 28,1kg, stehen nicht möglich, feste Nahrung kauen war nicht möglich, Blasen und Darmkontrolle nicht möglich. Seit dem 20 Monat war Genie in einem dunklen Raum an einem Töpfchen angebunden. Die Nacht verbrachte es in einem Gitterbett in einer Zwangsjacke. Wurde geschlagen, wenn sie einen Mucks von sich gab.. Diese Kindheitsdeprivation hinterliess schwerwiegende Narben. Genie erreichte nie eine annähernd normale psychische Entwicklung. Sie reagiert nicht auf extreme Wärme od. Kälte, hat Wutanfälle, erschrak leicht, starke Angstreaktionen. Dieser Fall zeigt: Erfahrung spielt eine wichtige Rolle bei den Prozessen der neuronalen Entwicklung. 9.2 Phasen der neuronalen Entwicklung Durch Verschmelzung von einer Eizelle und einer Samenzelle entsteht eine Zygote. Diese teilt sich in zwei Tochterzellen.. Diese teilen sich in vier Tochterzellen, diese vier in acht Tochterzellen usw. bis sich ein ausgereifter Organismus entwickelt hat. Ausser der Zellvermehrung müssen noch drei weitere Dinge stattfinden: Die Zellen müssen sich differenzieren (Muskelzellen, Gliazellen, multipolare Neuronen,..) Die Zellen müssen ihre Bestimmungsorte erreichen und sich mit den Zellen um sie herum zusammen schliessen. Die Zellen müssen geeignete funktionelle Verbindungen mit anderen Zellen aufbauen. Dies wird von den Neuronen in fünf Phasen erreicht. 9.2.1 Induktion der Neuralplatte Drei Wochen nach der Empfängnis -> Gewebe wird als Neuralplatte (ektodermaler Fleck an der dorsalen Oberfläche des Embryos) erkennbar. Ektoderm=äußere der drei Schichten embryonaler Zellen: Ektoderm, Mesoderm, Entoderm. Die Entwicklung der Neuralplatte scheint durch chemische Signale des darunterliegenden Mesoderms induziert (= Organisator). Die Suche nach der Substanz, die durch den Organisator freigesetzt wird und die Entwicklung der Neuralplatte induziert, ist im vollen Gange. Entscheidender Vorgang ist wahrscheinlich die Hemmung einer Klasse von Proteinen, die normalerweise die neuronale Entwicklung unterdrücken. Zum dem Zeitpunkt, wenn die Neuralplatte erkennbar ist, verändern sich die Zellen des NS. Die frühesten Zellen sind totipotent (= können sich zu jeder Art der Körperzelle entwickeln, wenn sie an der 101 entscheidenden Stelle transplantiert werden). Es folgt dann eine weitere Spezifizierung. Durch die Entwicklung der Neuralplatte büssen die Zellen viel von ihrem Potential ein; d.h. sie können nicht mehr unterschiedliche Arten von Zellen werden. Aber jede Zelle der Neuralplatte hat noch immer das Potential, sich zu jeder Zellart des reifen NS zu entwickeln (=multipotente Zelle) Zellen der Neuralplatte = embryonale Stammzellen: besitzen unbegrenzte Kapazität zur Selbsterneuerung besitzen die Fähigkeit, sich zu verschiedenen Arten ausgereifter Zellen des adulten NS zu entwickeln Während der Entwicklung des Neuralrohrs spezifizieren sich einige seiner Zellen zu Gliazellen verschiedener Arten und andere zu zukünftigen Neuronen verschiedener Arten. Diese sind immer noch unbegrenzt selbsterneuernd und multipotent; deshalb werden sie als gliale Stammzellen und neuronale Stammzellen bezeichnet. ( wird derzeit intensiv erforscht – Stammzellentherapie) Die Neuralplatte faltet um den 18 bis 21.Tag zur Neuralrinne, die Ränder verschmelzen und bilden das Neuralrohr. Das innere wird zu den cerebralen Ventrikel und dem Zentralkanal. 40 Tage nach der Befruchtung entwickeln sich aus dem Neuralrohr Vorderhirn, Mittelhirn und das Rautenhirn. 9.2.2 Neuronale Proliferation Nach der Bildung des Neuralrohrs beginnen die Zellen dessen zu poliferieren. Diese neuronale Poliferation tritt nicht gleichzeitig und gleichmässig in allen Teilen des Rohrs auf. Durch diese entstehen Muster – Verdickungen und Faltungen - das dem Gehirn seine arttypische Gestalt gibt. Der Grossteil findet in der ventrikulären Zone statt. 9.2.3 Migration und Aggregation Migration: Zellen (unreif- Fortsätze fehlen) wandern in der ventrikulären Zone des Neuralrohres zu ihren Bestimmungsorten. Zwei Arten der Zellmigration: Radiale Migration: verläuft von der ventrikulären Zone in einer geraden Linie nach aussen zu der äusseren Wand des Rohres Tangentiale Migration: erfolgt im rechten Winkel zur radialen Migration (paralell zu den Wänden des Rohrs) Die meisten Zellen nutzen beide um zum Bestimmungsort zu gelangen. Somale Translokation: aus der Zelle wächst eine Ausdehnung in Richtung Migration – es entstehen wegweisende Fortsätze – Zellkörper bewegt sich entlang des sich ausdehnenden Zellkörpers – Fortsätze werden eingezogen. Glia-vermittelte Migration: es entsteht ein Netzwerk von Gliazellen (Radialgliazellen); die radial migrierenden Zellen bewegen sich entlang dieses Netzwerkes radialer Gliazellen. Das Timing ist wichtig! Die Neurone der sechs Schichten des Cortex entstehen und migrieren zu sechs unterschiedlichen Zeitpunkten – entwickeln anschliessend schichtspezifische anatomische und funktionelle Merkmale. Radiale Muster der Cortexentwicklung = Inside-out pattern: Zellen rücken von tieferern zu oberflächicheren Schichten vor; Zellen wandern durch bereits gebildeten unteren Schichten. 102 Neuralleiste: liegt unmittelbar dorsal vom Neuralrohr; die Zellen der Neuralleiste entwickeln sich zu Neuronen und Gliazellen des peripheren NS -> müssen sehr weit wandern! Aggregation: Neuronen müssen sich nach erfolgter Migration neu ausrichten und das NS aufbauen. Migration und Aggregation werden vermutlich über Zelladhäsionsmolekühle vermittelt (CAMs=celladhesion molecules). Diese erkennen andere Zellen und heften sich an sie an. 9.2.4. Axonwachstum und Synapsenbildung Axonwachstum: Sobald Migration und Aggregation vollzogen, beginnen Axone und Dendriten zu angemessenen Zielorten auszuwachsen. An jeder Spitze eines Axons oder Dendriten sitzt ein Wachstumskegel. Diese erreichen meist die richtigen Zielorte, auch wenn sie sehr weite Entfernungen zurücklegen müssen. Dieser hat Filopodien (fingerartige cytoplasmatische Ausläufer), die nach dem richtigen Weg suchen. Sperry (ca 1940) durchtrennte die Sehnerven von Fröschen, drehte die Augäpfel um 180° und wartete, dass die Axone der retinalen Ganglienzellen sich regenerieren (bei Fröschen möglich). Er untersuchte dann die visuellen Fähigkeiten nach der Regeneration. Die visuelle Welt hatte sich um 180° gedreht. Die retinalen Ganglienzellen wächst zurück zu derselben Stelle des Tectum opticum (entspricht dem colliculus siperior beim Säugetier) mit der sie ursprünglich verbunden war. Nach Durchtrennung des Sehnervs, Augendrehung um 180° und Regeneration des Sehnervs springt ein Frosch um 180° falsch. Die Nervenfasern haben wieder ihre alten Zielgebiete innerviert (ohne Rücksicht auf die erfolgte Drehung des Auges). Nicht die visuelle Erfahrung, sondern die differentielle chemische Affinität von Axonen unterschiedlicher retinaler Herkunft erklärt diesen Befund. (Aus Sperry 1963.) Die Auf der Grundlage seiner Untersuchungen schlug Sperry die Chemoaffinitätshypothese vor, welche besagt, dass auswachsende Axone zu Zellen ihrer Umgebung spezifische Affinitäten haben, die ihnen eine Orientierung ermöglichen. Während der neuronalen Entwicklung und auch der Regeneration wird eine chemische Signatur freigesetzt. Das wachsende Axon wird dadurch zum Zielort angezogen. Weitere Untersuchungen führten zu einer Weiterentwicklung der Chemoaffinitätshypothese. Das Wachstum der Axone scheint von chemischen Signalen (Leitsignale) entlang des Weges beeinflusst. Einige Leitsignale ziehen das Axon an, andere stossen sie ab. 103 Einige Leitsignale werden von Gliazellen freigesetzt. Auch benachbarte wachsende Axone senden Signale. Pionierwachstumskegel sind die ersten Wachstumskegel, die im entwickelnden NS einen bestimmten Weg wandern, interagieren mit Leitsignalen entlang der Route. Nachfolgende Wachstumskegel folgen dann dieser markierten Route = Faszikulation. Das Wachstum hält die topographische Anordnung von Neuronen aus der ersten Anordnung bei. Untersuchungen zur Regeneration von retino-tectalen Projektionen zeigten folgendes: Der Sehnerv von Fröschen und Fischen wurde durchtrennt. Dann wurden Teile der Retina oder des Tectum zerstört – die Axone wuchsen nicht zu Ihren ursprünglichen Verbindungsstellen, sondern wuchsen aus, um den verfügbaren Raum auszufüllen. Wenn die Hälfte der Retina zerstört und der Sehnerv durchtrennt wurde, projizierten die retinalen Ganglienzellen von der verbleibenden Hälfte der Retina zum gesamten Tectum. Wenn die Hälfte des Tectum opticum zerstört und der Sehnerv durchtrennt wurde, projizierten die retinalen Ganglienzellen von der Retina zur verbleibenden Hälfte des Tectums. Abb.: Die Regeneration des Sehnervs des Frosches, nachdem entweder Teile der Retina oder des Tectum opticum zerstört wurden. Diese Befunde unterstützen die topographische Gradientenhypothese. Topographische Gradientenhypothese: erklärt das präzise axionale Wachstum in Zusammenhang mit einer topographischen Anordnung im sich entwickelnden Gehirn. Die wachsenden Axone werden durch zwei sich überschneidenden Signalgradienten (anteriorporterior Gradienten & medial-lateral Gradienten) zu ihren Bestimmungsort gelenkt. Synapsenbildung: Neuron braucht die koordinierte Aktivität von zumindest zwei Neuronen um eine Synapse zwischen ihnen zu bilden. Synaptogenese = Bildung neuer Synapsen: hängt von der Anwesenheit von Gliazellen (insbes. Von Astrocyten) abhängt! Während der Synapsenbildung sind Neuronen auf hohen Cholesterolspiegel angewiesen -> wird von Astrocyten bereitgestellt Welche chemischen Signale zwischen prä- und postsynaptischen Neuronen damit eine Synapse entsteht ausgetauscht werden ist nicht genau erforscht. Es scheint als ob die Entstehung dieser nicht durch einen einzelnen Satz chemischer Signale kontrolliert wird – wahrscheinlicher ist ein hierarchischer Prozess (synapsenfördernder und hemmender Signale, damit Synpse mit der am besten geeigneten Zelle gebildet wird). 9.2.5 Neuronentod und Synapsenneuanordnung Neuronentod: normaler und wichtiger Bestandteil der neuronalen Entwicklung (survival oft he fittest). Etwa 50% mehr Neuronen gebildet, als gebraucht werden! Neuronen sterben ab, 104 weil sie nicht um lebenserhaltende chemische Substanzen konkurrieren konnten, welche von ihren Zielorten geliefert werden. Die Implantation zusätzlicher Zielorte verringert den Neuronentod. Bsp: Transplantation einer zusätzlichen Gliedmasse eines Hühnerembryos reduziert das Absterben von Motoneuronen auf dieser Seite) Zerstörung einiger Neuronen erhöht Überlebensrate der verbleibenden Neuronen Eine Erhöhung der Zahl der Axone bedingt, das der Anteil der überlebenden Neurone sinkt Neurotrophine= Bekannteste Klasse der chemischen Substanz, welche von den Zielorten an die Neuronen geliefert werden; das erste NEurotrophin war der Nervenwachstumsfaktor (nerv growth factor) Funktion von Neutrophine: fördern das Wachstum und das Überleben von Neuronen Wirken als Leitsignale für Axone Stimulieren die Synaptogenese Passiver Zelltod= Nekrose (Zellen fallen auseinander -> Entzündung) Aktiver Zelltod= Apoptose Der Zelltod während der Entwicklung ist ein aktiver Prozess. Das Fehlen der geeigneten Neutrophine kann ein genetisches Programm auslösen, dass die Zelle veranlasst aktiv Suizid zu begehen. Bei der Apoptose werden Fresszellen angezogen, welche eine Entzündung verhindern. Werden die genetischen Programme für die Apoptose gehemmt, kann Krebs entstehen; werden die Programme unangemessen aktiviert, kann eine neurodegenerative Erkrankung die Folge sein. Synapsenneuanordnung: Durch den Zelltod, wird auf der postsynaptischen Membran Raum freigegeben. Dieser wird von den ausspriessenden Axonendigungen der anderen überlebenden Neurone ausgefüllt = Neuanordnung der synaptischen Verbindungen-> Selektivität der Übertragung wird erhöht. Abb.9.8 9.3 Postnatale Entwicklung bei Kindern Das menschliche Gehirn entwickelt sich viel langsamer als andere Arten; erreicht seine Reife erst in der späten Adoleszenz. 9.3.1 Postnatales Wachstum des menschlichen Gehirns Alle Neuronen, die das adulte Gehirn bilden werden, sind bereits im 7ten Monat der pränatalen Entwicklung entstanden und zu den Zielorten gewandert. Zwischen der Geburt und dem Erwachsenenalter vervierfacht sich das Volumen des Gehirns. Zunahme der Grösse resultiert nicht aus der Zunahme von Neuronen, sondern vermutlich auf: der Synaptogenese der Myelinisierung vieler Axone Verzweigung der Dendriten Nach der Geburt nimmt die Synapsenbildung überall im Gehirn zu; es gibt Unterschiede in den kortikalen Regionen (Bsp.: explosionsartige Zunahme der Synaptogenese im 4 postnatalen Monat im primären auditiven und visuellen Cortices) Die Myelinisierung erhöht die Geschwindigkeit axionalen Leitung. Die Myelinisierung der verschiedenen Bereiche im Gehirn erfolgt parallel zu ihrer funktionellen Entwicklung. ( sensorischer Bereich: ersten paar Monate nach der Geburt, motorische Bereiche erfolgen kurz darauf; präfrontale Cortex: Adoleszenz). Das Muster der Dendritenverzweigung erfolgt nach dem Muster der neuronalen Migration. Auch die Dendritenverzweigung schreitet von tieferen zu oberflächigen Schichten fort. Es gibt in der postnatalen Gehirnentwicklung sowohl Wachstum als auch rückläufige Veränderungen (primärer visueller Cortex geht mit 3a auf Erwachsenenniveau zurück). 9.3.2 Die Entwicklung des präfrontalen Cortex -> längste Entwicklungszeit! 105 Drei Arten von kognitiven Funktionen: Spielt beim Arbeitsgedächtnis (relevante Info während der Erledigung einer Aufgabe behalten) eine Rolle Planen und Ausführen von Handlungsfolgen Hemmung von Reaktionen, welche im aktuellen Kontext unpassend sind Piagets Studien zur Entwicklung des präfrontalen Cortex an Babys: Lerndurchgänge mit 7 Monate alte Kinder, wobei ein Gegenstand immer hinter einem von zwei Sichtschutzschirmen gestellt wird – immer hinter dem Gleichen. Alle konnten den Gegenstand richtig hervorholen. Nach Lerndurchgängen wird das Spielzeug hinter dem anderen Schirmchen gestellt -> trotzdem griffen die Kinder grossteils weiter hinter dem ehemals richtigen Schirm => Perseverationsfehler (zw. 7-12 Monaten) Diamond stellte Hypothese auf, dass dieser Perseverationsfehler auftrat, weil der neuronale Schaltkreis des präfrontalen Cortex noch nicht voll entwickelt ist. 9.4 Auswirkungen von Erfahrung auf die frühe Entwicklung, Erhaltung und Reorganisation neuronaler Schaltkreise Die neuronale Entwicklung entfaltet sich durch Wechselwirkungen zwischen Neuronen und ihrer Umwelt. Hauptprinzip: Neurone und Synapsen, die nicht durch Erfahrung aktiviert werden, überleben gewöhnlich nicht. nutze es oder verliere es („use it or lose it“) Die neuronale Entwicklung beim Menschen läuft einmalig langsam ab. Vorteil der Langsamkeit dass sich dadurch der Erfahrung viele Gelegenheiten bieten, die sich entwickelnden Systeme fein abzustimmen. 9.4.1 Erste Untersuchungen über Erfahrung und neuronale Entwicklung Erste Nachweise über den Einfluss von früher Erfahrung auf die neuronale Entwicklung aus zwei Forschungsrichtungen: Untersuchungen über Auswirkung einer frühen visuellen Deprivation Untersuchungen einer frühen Auseinandersetzung mit einer angereicherten, stimulierenden Umwelt. Beispiel: Ratten, die von Geburt an im Dunkeln aufgezogen wurden, haben in ihrem primären visuellen Cortex weniger Synapsen und weniger dendritische Dornen und haben als erwachsene Tiere Defizite im Tiefen- und Mustersehen. Ratten, die in angereicherten, komplexen Gruppenkäfigen (anstatt einzeln in kargen Käfigen) aufgezogen wurden, haben einen dickeren Cortex mit mehr dendritischen Dornen und besitzen mehr Synapsen pro Neuron. 9.4.2 Erfahrung und neuronale Entwicklung stehen im Wettstreit Abb.: Die Auswirkungen einiger weniger Tage früher monokularer Deprivation auf die Struktur der Axone, die vom Corpus geniculatum laterale in die Schicht 4 des primären visuellen Cortex projizieren. Axone, die Informationen vom deprivierten Auge übertragen, zeigten eine wesentlich 106 geringere Verzweigung (adaptiert von Antonini und Stryker, 1993) Erfahrung fördert zwar Entwicklung aktiver neuronaler Schaltkreise und Aufrechterhaltung oder Regeneration bereits existierender, gleichzeitig scheint es dabei aber auch einen komplexen Aspekt zu geben: Wenn ein Auge verbunden wird, ist die Fähigkeit dieses Auges, den visuellen Cortex zu aktivieren, reduziert, wohingegen die Fähigkeit des anderen Auges (das nicht verbunden ist) erhöht. Effekte treten auf, weil eine frühe monokulare (=einäugig) Deprivation das Muster des synaptischen Inputs in die Schicht IV des primären visuellen Cortex verändert. Wenn jedoch nur eines der beiden Augen irgendwann während der ersten paar Lebensmonate für einige Tage gegenüber Licht depriviert wird, wird das System reorganisiert: Die Breite der Säulen, die Input vom deprivierten Auge erhalten, wird verringert, und die Breite der Säulen, die Input vom nicht deprivierten Auge erhalten, wird erhöht. Der genaue Ablauf der sensitiven Phase für diesen Effekt ist für jede Art spezifisch. Die negativen Auswirkungen einer frühen monokularen Deprivation manifestieren sich innerhalb weniger Tage. Es kommt zu einer massiven Abnahme in der axionalen Verzweigung der Neurone des Corpus geniculatum laterale, die normalerweise Signale vom deprivierten Auge zur Schicht IV des primären visuellen Cortex übertragen. 9.4.3 Auswirkungen von Erfahrung auf topografische Karten des sensorischen Cortex Bei Frettchen wurde der Verlauf der sich entwicklenden Axone der retinalen Ganglienzellen chirurgische so verändert, dass die Axone Synapsen im Corpus geniculatum mediale des auditorischen Systems bildeten, anstatt im Corpus geniculatum laterale des visuellen Systems. Die Erfahrung von visuellem Input in den auditorischen Cortex der Frettchen bedingte, dass sich dieser retinotrop organisierte (aufgebaut wie eine Karte der Retina). Schleiereulen wurden mit Prismen vor den Augen aufgezogen. Ihre visuelle Welt war um 23° nach rechts verschoben und ihre auditorische Karte ebenfalls um 23° nach rechts verschoben, d.h. die Objekte wurden von dieser Eule dort gehört, wo sie von ihr gesehen wurden. Mehrere Studien zeigten, dass eine frühe musikalische Ausbildung die Organisation des menschlichen auditorischen Cortex beeinflussen. Frühe musikalische Ausbildung geht mit einer Ausdehnung des auditorischen Cortex einher, der auf komplexe musikalische Klänge reagiert, und Verhaltensstudien haben gezeigt, dass eine frühe musikalische Ausbildung zur Entwicklung eines absoluten Gehörs führt (der Fähigkeit, die Höhe eines beliebigen Tons zu identifizieren). 9.4.4 Mechanismen, über die Entwicklung die neuronale Entwicklung beeinflussen könnte Es ist zwar nachgewiesen, dass Erfahrung die Entwicklung und Aufrechterhaltung neuronaler Schaltkreise entscheidend beeinflussen kann, aber die Mechanismen, über die Erfahrung diese Wirkungen ausübt, sind noch nicht gut verstanden. 3 Möglichkeiten: Neuronale Aktivität reguliert die Expression von Genen, die die Synthese von Zelladhäsionsmolekülen steuert. Somit könnte Erfahrung über ihre Wirkung auf die neuronale Aktivität Veränderungen in der Zelladhäsion bewirken. Neuronale Aktivität beeinflusst die Freisetzung von Neurotrophinen. Somit könnte Erfahrung über ihre Wirkung auf die neuronale Aktivität das Wachstum von Neuronen steuern und ihr Überleben beeinflussen. Einige neuronale Schaltkreise sind früh im Verlauf der Gehirnentwicklung spontan aktiv, und die Aktivität dieser Schaltkreise ist für den normalen Fortgang einiger Aspekte der Gehirnentwicklung notwendig. Somit könnte Erfahrung den verlauf der Gehirnentwicklung beeinflussen, idem sie die Spontanaktivität aktiver neuronaler Schaltkreise. 107 Bis ins letzte Jahrhundert ging man davon aus, dass die Neuroplastizität auf die Phase der Gehirnentwicklung beschränkt ist. Man betrachtete Gehirne gewissermaßen als festgelegt, unfähig zu einer wesentlichen Reorganisation. Heute ist deutlich, dass das reife Gehirn kein statisches Organ ist, sondern sich kontinuierlich verändert und anpasst. 9.5 Neuroplastizität bei Erwachsenen 9.5.1 Neurogenese bei erwachsenen Säugetieren 2 wichtige Prinzipien der Gehirnentwicklung: Das menschliche Gehirn fängt in der Gebärmutter zu funktionieren an und hört niemals auf zu arbeiten, bis zu dem Zeitpunkt, zu dem man aufsteht, um eine öffentliche Rede zu halten. Bei Erwachsenen findet keine Neurogenese statt. falsch Früher dachte man, dass alle Neurone während früher Phasen der Entwicklung entstehen. Dementsprechend wurde die nachfolgende Gehirnentwicklung als ein Abwärtsgefalle angesehen: Neurone sterben während der Lebenszeit eines Menschen kontinuierlich ab, und man ging davon aus, dass die verlorenen Zellen niemals durch neue ersetzt werden. In den 1980er Jahren entdeckte man, dass die für das Singen wichtige Gehirnstrukturen bei Singvögeln direkt vor jeder Paarungssaison zu wachsen beginnen und dass dieses Wachstum eine Zunahme in der Anzahl der Neurone zurückzuführen ist. Es wurde entdeckt, dass im Bulbus olfactorius von Erwachsenen kontinuierlich nee Neuronen hinzukommen. Somit scheint die Neurogenese bei erwachsenen Säugetieren auf den Bulbus olfactorius und den Hippocampus beschränkt zu sein. Adulte neuronale Stammzellen werden an bestimmten Orten im Ependym, das die Ventrikel auskleidet, und in den angrenzenden Schichten neuronalen Gewebes erzeugt. Von dort wandern sie zum Bulbus olfactorius. Im Gegensatz dazu scheinen neue hippocampale Zellen in der Nähe ihrer endgültigen Position erzeugt werden. Beispiel: Adulte Ratten, die in einer stimulierenden, angereicherten Umwelt leben 60% mehr neue Neurone im Hippocampus produzieren als adulte Ratten, die in einer nicht angereicherten Umwelt leben. Der Effekt beruht größtenteils auf der Intensivierung der körperlichen Aktivität, zu der es typischerweise in einer stimulierenden Umgebung kommt. Angesichts der Tatsache, dass der Hippocampus an manchen Gehirnprozessen beteiligt ist, könnte vielleicht körperliche Bewegung zur Behandlung von Menschen mit Gedächtnisproblemen eingesetzt werden. 9.5.2 Auswirkungen von Erfahrung auf die Reorganisation des adulten Cortex Erfahrung im Erwachsenenalter kann zur Reorganisation der sensorischen und motorischen Karten führen. Beispiele: Tinnitus (ein Klingeln in den Ohren) ruft eine größere Reorganisation des primären auditorischen Cortex hervor. Erwachsene Musiker, die Streichinstrumente spielen, die mit den Fingern der linken Hand gespielt werden, weisen eine vergrößerte Repräsentation des Handareals in ihrem rechten somatosensorischen Cortex auf. Training von Fertigkeiten und nicht Kraft- oder Ausdauertraining ist entscheidende für eine Reorganisation des motorischen Cortex. 9.6 Störungen der neuronalen Entwicklung: Autismus und Williams- Syndrom 9.6.1 Autismus Komplexe neuronale Entwicklungsstörung, die ca. bei 4 von 10.000 Menschen auftritt 108 Zeichnet sich ab dem Alter von 3 Jahren ab und ändert sich danach wenig 3 Kernsymptome: reduzierte Fähigkeit, die Emotionen und Absichten anderer zu interpretieren reduzierte Fähigkeit zur sozialen Interaktion und Kommunikation eine übermäßige Beschäftigung mit einem einzelnen Thema oder einer einzelnen Aktivität 75% der Autisten sind männlich, 75% leiden an geistiger Behinderung, 35% leiden an Epilepsie Meisten Autisten haben Schwierigkeiten die Gesten anderer nachzuahmen Schwer zu behandelnde Störung Intensive Verhaltenstherapie kann Leben verbessern, es ist aber kaum möglich für einen Autisten selbstständig zu leben Autismus ist eine heterogene Störung: nicht alle autistischen Patienten zeigen dasselbe Muster von Defiziten und ausgesparten Fähigkeiten, was die Untersuchung dieser Störung stark erschwert Bei den meisten Autisten sind folgende Fähigkeiten erhalten (sogar bei denen, die schwer retardiert sind): Auswendiglernen, die Fähigkeit Puzzles zu lösen, musikalische Fähigkeiten und künstlerische Fähigkeiten Sogar innerhalb der Kategorie gibt es oft ein sehr heterogenes Muster an Defiziten Bei ca. ¼ der Autisten ist die Sprachfähigkeit gering ausgeprägt oder überhaupt nicht vorhanden. Autistische Savants: Savants sind geistig behinderte Menschen die nichtsdestotrotz erstaunliche spezifische kognitive oder künstlerische Begabungen zeigen Ca. einer von 10 Autisten weist Savants- Fähigkeiten auf Am Meisten verbreitetste Savants- Fähigkeiten: Gedächtniskunststücke, Nennen des Wochentages für ein beliebiges zukünftiges oder vergangenes Datum, Identifizierung von Primzahlen, Zeichnen und Musikinstrumente spielen Savant- Fähigkeiten entstehen nicht durch Auswendiglernen oder Übung: sie scheinen spontan zu entstehen. Savants mit Sprachfähigkeiten können ihre eigenen Meisterleistungen nicht erklären. Es wird spekuliert, dass Savant- Fähigkeite entstehen, wenn eine Schädigung der linken Hemisphäre eine kompensatorische funktionelle Verbesserung in der rechten Hemisphäre auslöst. Neuronale Basis des Autismus: Autismus tritt in Familien gehäuft auf- für Geschwister von Menschen mit Autismus besteht eine 5%ige Chance, dass bei ihnen die Störung diagnostiziert wird Autismus tritt bei monozygoten Zwillingen gehäuft gemeinsam auf; wenn ein Zwilling als autistisch diagnostiziert wurde, besteht für den anderern eine 60%ige Chance, dieselbe Diagnose zu erhalten. Autismus wird durch mehrere Gene ausgelöst, die mit der Umwelt interagieren Eine Schädigung wurde am häufigsten im Cerebellum und in angrenzenden Bereichen des Gehirns beobachtet, im Allgemeinen besteht aber die Tendenz, dass sie weit über das Gehirn verteilt ist Schwangere Frauen, die Thalidomid (Pille gegen morgendliche Übelkeit) hatten ein stark erhöhtes Risiko, ein Kind mit Autismus zur Welt zu bringen Autismus geht mit verschiedenen Defiziten in der Gesichts-, Mund- und Augensteuerung einher Erscheinungsbild ist normalerweise unauffällig; allerdings gibt es ein paar kleine Anomalien in der Ohrstruktur: quadratische Ohr- Form, sitzen zu weit unten am Kopf, sind leicht nach hinten gedreht und die Spitzen klappen um Manche Menschen mit Autismus besitzen eine abweichende Form von Hoxa1 (bekanntes Gen), das sich auf dem Chromosom 7 befindet 9.6.2 Williams- Syndrom Auch Williams- Beuern- Syndrom genannt; auch eine Störung der neuronalen Entwicklung, die mit geistiger Behinderung und einem auffallend ungleichmäßigen Muster an Fähigkeiten und Unfähigkeiten einhergeht Bei einer von 20.000 Geburten Menschen mit Williams- Syndrom sind gesellig, empathisch und gesprächig 109 Sprachfähigkeiten ziehen die meiste Aufmerksamkeit auf sich: Obwohl sie eine Verzögerung in der Sprachentwicklung und Sprachdefizite im Erwachsenenalter aufweisen, sind ihre Sprachfähigkeiten bemerkenswert, insbesondere wenn man den charakteristisch geringen IQ (ca. 60 Punkte) in Betracht zieht. bei Tests wo Kinder Tiere nennen sollen nannten sie Koala, Yak, Steinbock, Chihuahua, Brontosaurus und Nilpferd; besonders lebhafte Erzählungen Manche besitzen andere kognitive Stärken, von denen einige mit Musik zu tun haben- einige besitzen ein perfektes oder nahezu perfektes Gehör und unheimliches Rhythmusgespür Bemerkenswerte Fähigkeit Gesichter wieder zu erkennen Viele schwere kognitive Defizite und durchschnittlicher IQ von 60 Punkten Fähigkeit zur räumlichen Kognition ist grundlegend beeinträchtigt- große Schwierigkeit Lage von Bauklötzen zu erinnern; Fähigkeit Objekte zu zeichnen ist nahezu nicht vorhanden und raumbezogene Sprache ist schlecht Williams- Syndrom mit Vielzahl von Gesundheitsproblemen assoziiert, einschließlich mehrerer, die das Herz betreffen Herzerkrankung entsteht aufgrund einer Mutation eines Gens auf Chromosom 7, das die Synthese von Elastin steuert, einem Protein, das vielen Organen und Geweben Elastizität verleiht Starke Unterentwicklung des Occipital- und Parientalcortex, was auf schlecht räumliche Fähigkeiten hinweisen könnte Abnormalität im limbischen System, was ihre erhöht Freundlichkeit erklären könnte Menschen mit Williams- Syndrom werden oft als elfenhaft beschrieben; sie sind eher klein und besitzen kleine, nach oben zeigende Nasen, ovale Ohren, breite Münder mit vollen Lippen, verquollene Augen und kleine Kinne. 110 Kapitel 10: Hirnschädigung und Neuroplastizität 10.1 Kann sich das Gehirn von einer Schädigung erholen? 10.2 Ursachen einer Hirnschädigung 10.2.1 Hirntumore Ein Tumor oder Neoplasma (wörtlich, „Neubildung“) ist eine Zellansammlung, die unabhängig vom Rest des Körpers wächst. Mit anderen Worten, es ist Krebs. Ungefähr 20% der Tumore sind Meningiome (Tumore, die sich zwischen den Meningen entwickeln, den drei Membranen, die das zentrale Nervensystem bedecken). Alle Meningiome sind abgekapselte Tumore, Tumore, die innerhalb ihrer eigenen Membran wachsen. Gutartige, benigne Tumore sind chirurgisch leicht entfernbar und es besteht nur ein geringes Risiko, dass sie im Körper wieder wachsen. Außer Meningiomen wachsen die meisten Hirntumore infiltrierend. Infiltrierende Tumore wachsen diffus in das umliegende Gewebe ein, daher sind sie gewöhnlich bösartig (maligne Tumore) und nur schwer zu entfernen oder vollständig zu zerstören; kanzeröses Gewebe, das nach der Operation zurückbleibt, wächst weiter. Hirnmetastasen; Metasierung bezieht sich auf die Übertragung einer Krankheit von einem Organ zum anderen (z.B Lungenkrebs aufs Gehirn durch den Blutkreislauf) 10.2.2 Cerebrovasculäre Erkrankungen Schlaganfälle sind plötzlich eintretende cerebrovaskuläre Erkrankungen, die eine Hirnschädigung verursachen. Cerebrale Hämorrhagie; Eine cerebrale Hämorrhagie (Blutung im Gehirn) tritt auf, wenn ein cerebrales Blutgefäß reißt und Blut in das umgebende neuronale Gewebe eindringt und es schädigt. Aneurysma; ist einen pathologische, ballonartige Erweiterung, die sich in der Wand eines Blutgefäßes an einem Punkt bildet, an dem die Elastizität der Gefäßwand beeinträchtigt ist. Diese können kongenital (angeboren) sein oder aufgrund von Gefäßgiften oder einer Infektion entstehen. Cerebrale Ischämie; Bei einer cerebralen Ischämie ist die Blutzufuhr zu einem Bereich des Gehirns unterbrochen. Die drei Hauptursachen sind: 1.Thrombose; es bildet sich ein Pfropf, Thrombus genannt, und blockiert an seinem Entstehungs den Blutfluss. 2. Embolie; Eine Embolie ähnelt einer Thrombose, außer dass der Pfropf, in diesem Fall der Embolus (ein Thrombus der auf Reisen geht), in einem größeren Gefäß gebildet wird und dann über das Blut in ein kleineres Gefäß Gefäß gelangt, wo er sich festsetzt. 3. Asteriosklerose; Bei dieser verdicken sich die Wände der Blutgefäße, es kommt zu einer Gefäßverengung, gewöhnlich als Folge von Fettablagerungen. Ein großer Teil der mit einem Schlaganfall einher gehenden Hirnschädigungen ist die Folge einer übermäßigen Freisetzung von exzitatorischen Aminosäuren, besonders von Glutamat, dem im Gehirn am häufigsten vorkommenden exzitatorischen Neurotransmitter. 111 Die Kaskade von Ereignissen, durch die ein schlaganfallinduzierte Freisetzung von Glutamat Neurone zerstört. Drei Eigenschaften ischämischer Hirnschäden 1.Zeit bis zur vollen Entwicklung (bis 10 Minuten keine dauerhaften Schäden) 2.Selektive Vulnerabilität (Hippocampus) 3. Mechanismen der ischämieverursachten Hirnschäden sind von Struktur zu Struktur verschieden. 112 10.2.3 Gedeckte Schädel-Hirn-Traumata Hirnverletzungen, die durch Schläge verursacht werden, die die Schädeldecke nicht durchbrechen, werden als gedeckte Schädel-Hirn-Traumata bezeichnet. Von einem Konstusionssyndrom (Contusio cerebri, Gehirnprellung) spricht man, wenn das gedeckte SchädelHirn-Trauma eine Schädigung des cerebralen Kreislaufsystems zur Folge hat. Ein Hämatom ist eine lokale Ansammlung von geronnenem Blut in einem Organ oder Gewebe - mit anderen Worten ein Bluterguss. Kontusionen treten häufig gegenüber der vom Schlag betroffenen Seite des Gehirns auf. Der Grund für diese so genannten „Contre-Coup“ Verletzungen (GegenstoßVerletzungen) ist, dass der Schlag bewirkt, dass das Gehirn auf der anderen Seite des Kopfes gegen das Innere des Schädels schlägt. Wenn einem Schlag auf den Kopf eine Bewusstseinsstörung folgt und es keinen Hinweis auf eine Kontusion oder eine andere strukturelle Schädigung gibt, wird ein Kommotionssyndrom (Gehirnerschütterung) diagnostiziert (man geht davon aus, dass solche keine Langzeitfolgen nach sich ziehen). Die so genannte Boxerencephalopathie (Punch-Drunk-Syndrom oder Dementia pugilistica) zeigt aber etwas anderes. Dabei handelt es sich um eine Demenz (ein allgemeiner intellektueller Verfall) und eine cerebrale Narbenbildung, die bei Boxern bzw. Personen mit wiederholten Gehirnerschütterungen beobachtet wird. 10.2.4 Infektionen des Gehirns Eine Gehirninfektion basiert auf einer Invasion des Gehirns durch Mikroorganismen. Die dadurch hervorgerufene Entzündung wird als Encephalitits bezeichnet. Bakterielle Infektionen; Wenn Bakterien das Gehirn infizieren, führen sie oft zur Bildung cerebraler Abszesse – Eiteransammlungen im Gehirn. Bakterien greifen häufig Hirnhäute an, entzünden diese und rufen dadurch eine als Meningitis bekannte Erkrankung hervor, die bei Erwachsenen in bis zu 25% der Fälle tödlich ist. (Antibiotika beseitigen manchmal die Infektion können aber eine Hirnschädigung, die sich bereits entwickelt hat, nicht rückgängig machen). Das Syndrom aus Wahnsinn und Demenz, das infolge einer Syphilisinfektion entsteht, wird als progressive Paralyse bezeichnet. Virale Infektionen; Es gibt zwei Arten viraler Infektionen des Nervensystems: solche mit einer besonderen Affinität für Nervengewebe (neurotrop) und solche, die zwar Nervengewebe angreifen, aber keine höhere Affinität dafür haben als für anderes Gewebe (pantrop). z.B. Tollwut/Herpesviren/Prionen (BSE) 10.2.5 Neurotoxine Das Nervensystem kann durch eine Vielzahl toxischer Substanzen geschädigt werden, die über den Magen-Darm-Trakt (Gestrointestinaltrakt) die Lungen oder die Haut in den Blutkreislauf eintreten. Intoxikationspsychose (chronischer Wahnsinn verursacht durch ein Neurotoxin) Antipsychotische Medikamente in den 1950er unausgereift auf den Markt gekommen Patienten entwickelten nach mehreren Jahren eine tardive Dyskinesie (TD ) oder Spätdyskinesie Hauptsymptome waren unwillkürliche Schmatz- und Saugbewegungen der Lippen, Herausstrecken und Rollen der Zunge, seitliche Kieferbewegungen und Aufblasen der Backen. Alkohol (indirekt toxische Wirkung bei Thiaminmangel). Endogene (vom Körper des Patienten erzeugte Neurotoxine) vs exogene Neurotoxine. 10.2.6 Genetische Faktoren Fehlerhafte Chromosomenduplikation Down-Syndrom 113 Abnorme rezessive Gene Phenylketonurie (PKU) = Fehlen von Phenylaminhydroxylase Dopaminmangel Abnorme dominante Gene (selten) Huntington-Erkrankung 10.2.7 Programmierter Zelltod Neuronen und andere Zellen besitzen genetische Programme, die ihren Suizid steuern. Dieser Prozess wird Apoptose genannt. Jeder der sechs Ursachen einer Hirnschädigung, die in bisher genannt wurden, scheinen ihrer Wirkung zumindest teilweise über die Aktivierung von Programmen der Apoptose, der Selbstzerstörung zu erzielen. Früher ging man davon aus, dass das Absterben von Neuronen infolge einer Hirnschädigung vollständig nekrotisch abläuft – Nekrose bezeichnet einen passiven Zelltod infolge einer Verletzung. Heute nimmt man an, dass Zellen, wenn sie nicht zu schwer geschädigt sind, versuchen genügend Ressourcen zu rekrutieren, um Suizid zu begehen. Allerdings beruht der Zelltod nicht immer ausschließlich auf einem Prozess, sodass geschädigte und absterbende Zellen sowohl Anzeichen einer Nekrose als auch einr Apoptose zeigen. Vorteil bei der Apoptose eines Neurons ist, dass diese schrittweise stattfindet und mit der Schrumpfung des Zellkörpers beginnt. Die Trümmer, die beim Absterben von Teilen des Neurons entstehen, werden in Vesikel verpackt. Daher kommt es zu keiner Entzündung und die Schädigung benachbarter Zellen bleibt minimal. 10.3 Neuropsychologische Erkrankungen 10.3.1 Epilepsie Das Hauptsymptom der Epilepsie, ist der epileptische Anfall; aber nicht alle Menschen, die Anfälle erleiden, haben eine Epilepsie. Die Diagnose Epilepsie trifft nur auf diejenigen Patienten zu, deren Anfälle wahrscheinlich durch eine chronische Funktionsstörung ihres eigenen Gehirns bedingt sind. Viele Anfälle zeigen sich nicht durch Konvulsionen (motorische Anfälle) sondern schlagen sich auf subtilere Art wieder, in Form von Veränderungen im Denken, in der Stimmung und dem Verhalten, die sich nicht leicht von normal ablaufenden Aktivitäten untescheiden lassen. Manche Epileptiker erleben unmittelbar vor einer Konvulsion eigenartige psychische Veränderungen, welche als epileptische Aura bezeichnet wird (z.B. schlechter Geruch oder bestimmter Gedanke). Wenn bei einem Patienten eine Epilepsie diagnostiziert wird, wird diese in eine von zwei Kategoriken eingeordnet. Partielle Anfälle; betrifft nicht das gesamte Gehirn. Einfach-partielle Anfälle gehen hauptsächlich mit sensorischen oder motorischen Symptomen oder mit einer Kombination aus beiden einher. Komplex-partielle Anfälle sind oft auf die Temporallappen beschränkt und werden daher auch als Temporallappenepilepsie bezeichnet. Generalisierte Anfälle betreffen das gesamte Gehirn. Genauso wie partielle Anfälle treten auch generalisierte Anfälle in vielen Formen auf. 114 Grand-mal-Anfall (wörtlich „großes Übel“) Hauptsymptome sind Bewusstseinsverlust, Gleichgewichtsverlust und heftige tonisch-klonische Konvulsionen. (Hypoxie; Sauerstoffunterverorgung des Gewebes, z.B. des Gehirns kann ihrerseits eine Hirnschädigung verursachen) Petit-mal-Anfall (wörtlich „kleines Übel“) Diese sind nicht mit Konvulsionen verbunden, ihr wichtigstes Verhaltenssymptom ist die Ptit-mal-Absence – eine Bewusstseinstrübung, die mit der Unterbrechung der erade ablaufenden Handlung, einem leeren Blick und manchmal flatterdenen Augenliedern einher geht. 10.3.2 Parkinson-Erkrankung Die Parkinson-Erkrankung ist eine Bewegungsstörung des mittleren und hohen Alters, die ungefähr 0,5% der Bevölkerung betrifft. Häufigsten Symptome der voll ausgeprägten Störung sind ein Ruhetremor, also ein Tremor, der während Inaktivität verstärkt ist und während willkürlicher Bewegungen oder im Schlaf abnimmt, Muskelsteifheit (Rigor), Schwierigkeiten bei der Bewegungsinitiation, eine Bewegungsverlangsamung und ein maskenhaftes Gesicht. Dysfunktion des nigrostriatalen Systems dessen Bahn zum Striatum der Basalganglien projizieren. Dopaminmangel im Striatum. Durch L-Dopa (der chemischen Substanz aus der Dopamin synthetisiert wird) kann die Krankheit gelindert werden. 10.3.3 Huntington-Erkrankung Die Huntington-Erkrankung (oder Chorea Huntington sowie umgangssprachlich „Veitstanz“) ist wie die Parkinson-Erkrankung eine fortschreitende Störung der Motorik, die im mittleren und hohen Alter beginnt. Anders als Parkinson ist sie selten, hat eine starke genetische Grundlage und geht mit einer schweren Demenz einher. Neuro-degeneartive ErkrankungSchädigung der Basalganglien Progressive Bewegungsstörung; Demenz; Dominantes Gen/spätes Auftreten 115 10.3.4 Multiple Sklerose Die Multiple Sklerose (MS) ist eine fortschreitende Erkrankun, die das Myelin der Axone im ZNS angreift. Es kommt zum vollständigen Zerfall des Myelins und der davon umhüllten Axone und damit einher gehend zur Entwicklung vieler Bereiche mit verhärtetem Narbengewebe (Sklerose bedeutet „Verhärtung). Die Epidemiologie untersucht verschiedene Faktoren, wie z.B. Ernährung, geographische Lage, Alter, Geschlecht und Rasse, die die Verteilung einer Erkrankung in der Allgemeinbevölkerung beeinflussen. Die Multiple Sklerose ist eine Autoimmunerkrankung – eine Störung, bei der das körpereigene Immunsystem Teile des Körpers angreift, so als ob diese eine fremde Substanz wären. Experimentelle autoimmune Encephalomyelitis (Labortiere bekommen Myelin injiziert und ein Mittel, dass das Immunsystem stimuliert keine Wirkung/Heilung) 10.3.5 Alzheimer-Erkrankung Die Alzheimer-Erkrankung ist die häufigste Ursache einer Demenz. Die Alzheimer-Erkrankung hat einen progressiven Verlauf. Die Anfangsstadien sind oft durch einen selektiven Gedächtnisabbau gekennzeichnet, die Zwischenstadien durch Verwirrung, Reizbarkeit, Angst und eine Verschlechterung der Sprachfähigkeit, und in den fortgeschrittenen Stadien verschlechtert sich der Patient derart, dass für ihn selbst einfache Reaktionen wie Schlucken oder die Kontrolle der Blase schwieirg sind. Die Alzheimer Erkrankung ist unheilbar. 116 Eine eindeutige Diagnose von Alzheimer ist erst nach einer Autopsie möglich. Die beiden charakteristischen Merkmale der Erkrankung sind Neurofibrillenbündel (fadenförmige Proteinknäuel im neuronalen Cytoplasma) und Amyloidplaques (Klumpen im Narbengewebe, bestehen aus degenerierten Neuronen und einem Protein, dem so genannten Amyloid, das in normalen Gehirnen nur in sehr kleinen Mengen vorkommt). 10.4 Tiermodelle von neuropsycholgischen Erkrankungen des Menschen 10.4.1 Das Kindling-Model der Epilepsie Krampfanfälle nach einer Amygdala-Stimulation bei Ratten ähnelten epileptischen Anfällen. Die progressive Entwicklung und Verstärkung von Konvulsionen, die durch eine Reihe periodischer Gehirnstimulationen hervorgerufen wird, wurde als Kindling-Phänomen bekannt. Das Kindling hat viele interessante Eigenschaften, wobei zwei es verdienen hervorgehoben zu werden. Erstens: Die neuronalen Veränderungen, sind dauerhaft (Konvulsionen auch nach mehreren Monaten Pause und erneuter Stimulation). Zweitens: Kindling wird durch zeitlich verteilte (größere Zeiträume mehr als 2 Stunden) und nicht durch massierte (schnell aufeinander folgende) Stimulationen hervorgerufen. Interesse am Kindling kommt daher, dass einerseits die Konvulsionen, die bei Tieren ausgelöst werden, den von Menschen ähneln und andererseits das Kindling-Phänomen mit der Epileptogenese (der Entwicklung bzw. Entstehung der Epilepsie) vergleichbar ist. Kindling wie es in Laboren angewandt wird unterscheidet sich von epileptischen Anfällen, da es induziert wird und nicht spontan auftritt. Allerdings wir dieses Problem umgangen, da nach ca. 300 Stimulationen ein echtes epileptisches Syndrom hervorgerufen wird. 10.4.2 Das transgene Mausmodell der Alzheimer-Erkrankung Das transgene Modell der Störung war vielleicht die aufregendste Entwicklung bei der Erforschung der Alzheimer-Erkrankung. Transgen bezieht sich auf Tiere, in deren Genom die Gene einer anderen Spezies eingefügt wurden. Das transgene Mausmodell von Hsiao et. Al. ist das beste Tiermodell der AlzheimerErkrankung, aber es hat auch Probleme. Beispielsweise weisen die Mäuse keine Neurofibrillenbündel auf und das Ausmaß der Gedächtnisbeeinträchtigung verändert sich nur wenig im Verlauf der Entwicklung der Mäuse und der Zunahme von Plaques. 10.4.3 MPTP-Modell der Parkinson – Erkrankung Nichthumane Primaten reagieren wie Menschen auf MPTP (zeigen aller Parkinson Symptome; MPTP “synthetisches Heroin“). Das MPTP – Tiermodell kam den Patienten mit Parkinson-Erkrankung bereits zugute. Z.B. hat man entdeckt, dass Deprenyl, ein Monoaminoagonis, die Effekte von MPTP im Tiermodell blockiert, und in der Folge konnte 117 nachgewiesen wreden, dass Deprenyl bei Parkinsonpatienten im Frühstadium der Erkrankung das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamt. Durschnittliche Häufigkeit von motorischen Symptomen, die sich bei Parkinsonpatienten im Frühstadium der Erkrankung entwickelten, die mit Deprenyl (einem Monoaminooxidasehemmer) oder Placebo behandelt wurden. Deprenyl verlangsamte das Fortschreiten der Erkrankung um 50% (adaptiert nach Tetrud und Langston,1989) 10.5 Neuroplastische Reaktion auf eine Schädigung des Nervensystems: Degeneration, Regeneration, Reorganisation und Wiederherstellung 10.5.1 Neuronale Degeneration Distale Teil Teil zwischen Schnitt und synaptischen Nervenendigungen. Proximale Teil zwischen Schnitt und dem Zellkörper 118 10.5.2 Neuronale Regeneration Drei Arten der axonalen Regeneration bei peripheren Nerven von Säugetieren Zu dem dritten: Es bildet sich ein Knäuel um den proximalen Stumpf herum. Warum gibt es keine Regeneartion im ZNS? Die Schwann-Zellen fördern die Regeneration im PNS der Säugetiere, indem sie sowohl neurotrophe Faktoren als auch Zelladhäsionsmoleküle produzieren (neurotrophe Faktoren stimulieren das Wachstum neuer Axone; Zelladhäsionsmoleküle bestimmten den Weg, entlang daem die regenerierenden PNSAxone wachsen). Die Oligodendroglia, die die Axone des ZNS myelinisieren, weder die Regeneration, noch lenken sie sie; tatsächlich setzen sie sogar Faktoren frei, die die Regeneration aktiv hemmen. Kollaterale Aussprossung; Wenn ein Axon degeneriert, wachsen axonale Verzweigungen aus benachbarten, gesunden Axonen aus und bilden an den Stellen Synapsen, die durch die Degeneration des Axons frei werden. 119 10.5.3 Neuronale Reorganisation Reorganisation des motorischen Cortex bei der Ratte, im Anschluss an eine Durchtrennung der motorischen Neurone, die die Bewegungen der Vibrissae (Tasthaare) kontrollieren. Der motorische Cortex wurde vor der Durchtrennung und dann wieder einige Wochen danach mittels Hirnstimulation kartiert. Einige Wochen später aktivierte nun die Stimulation des Bereichs des motorischen Cortex, der früher eine Bewegung der Vibrissae ausgelöst hat, andere Gesichtsmuskeln. Das Zwei-PhasenModell der neuronalen Reorganisation: 1.Verstärkung bereits bestehender Verbindung über den Wegfall von Hemmung 2.Bildung von neuen Verbindungen über kollaterale Aussprossungen 10.5.4 Wiederherstellung der Funktion nach Hirnschädigung Teuber (1975) beurteilte die Defizite von hirngeschädigten 120 Soldaten in der Woche nach ihrer Verletzung und nochmals 20 Jahre später. Die Mechanismen der Funktinoserholung bleiben unbekannt bzw. gibt es nur schwammige Hypothesen. 10.6 Neuroplastizität und die Behandlung einer Schädigung des Nervensystems 10.6.1 Reduktion einer Hirnschädigung durch Blockade der neuronalen Degeneration Zusätzlich zu dem Apoptose hemmenden Protein wurde auch für mehrere andere neurochemische Substanzen nachgewiesen, dass sie die Degeneration geschädigter Neurone blockieren. Im Allgemeinen fördern Moleküle, die die neuronale Degeneration beschränken, die Regeneration. 10.6.2 Förderung der Erholung von einer ZNS-Schädigung durch Förderung der Regeneration Obwohl es im ZNS von Säugetieren normalerweise nicht zur Regeneration kommt, haben mehrere Studien gezeigt, dass sie induziert werden kann. 10.6.3 Förderung der Erholung von einer ZNS-Schädigung durch Neurotransplantation Es gibt zwei Ansätze der Neurotransplantation: Bei der einen wird fetales Gewebe transplantiert, bei der anderen Stammzellen. 10.6.4 Förderung der Erholung von einer ZNS-Schädigung durch rehabilitative Maßnahmen Verschiedene Rehabilitationsprogramme für Schlaganfälle, Rückenmarksverletzungen, Phantomglieder. Schlaganfall: Neurone befinden sich in einer Wettbewerbssituation: sie konkurrieren untereinander um synaptische Verbindungsstellen und um Neurotrophine, und die Verliere sterben ab (Deswegen Training der betroffenen Gliedmaßen für Besserung) Rückenmarksverletzungen Geschirr stützt anfänglich auf einem Laufband, Reduktion des Geschirrs über 90% konnten wieder gehen (herkömmliche Physiotherapie 50% Phantomglieder; die meisten Amputierten nehmen Gliedmaßen, die amputiert wurden, weiterhin wahr (in 50% der Fälle mit starkem Phantomschmerz verbunden z.B. Gefühl Hand verkrampft) Bei einem Paienten Spiegelbox, wo gesunder Arm reinkam. Synchrone Bewegungen. Nach drei Wochen Phantomarm verschwunden. 121 Kapitel 11: Lernen, Gedächtnis und Amnesie Frühe Theorien zum Gedächtnis Karl Lashley: Massenaktionsprinzip; Gedächtnis im ganzen Neokortex verteilt Prinzip der Äquipotenz; alle Teile des Neokortex gleich bedeutsam Donald Hebb: Reverberationskreise/Konsolidierung „Wired together what fires togehter“ 11.1 Wie Ihr Gehirn Informationen speichert Beim Lernen geht es darum, wie Erfahrung das Gehirn verändert, und Gedächtnis handelt davon, wie diese Veränderungen gespeichert und anschließend reaktiviert werden. 11.2 Amnestische Auswirkungen einer bilateralen mediotemporalen Lobektomie Der Fall von H.M., dem Mann, der die Untersuchung des Gedächtnisses veränderte. Abb.: Die mediotemporale Lobektomie. Die Teile des medialen Temporallappens, die aus H.Ms Gehirn entfernt wurden, sind aus Sicht der inferioren Oberfläche des Gehirns dargestellt. Lobektomie; ist eine Operation, bei der ein Gehirnlappen oder ein größerer Teil davon aus dem Gehirn entfernt wird. Lobotomie; ist eine Operation, bei der ein Lappen oder ein größerer Teil davon vom Rest des Gehirns durch einen großen Schnitt abgetrennt, aber nicht entfernt wird. H.M war der letzte Patient, der einen bilaterale mediotemporale Lobektomie erhielt – wegen ihrer verheerenden amnestischen Auswirkungen. Retrograde Amnesie; rückwirkend, den Zeitraum vor der Operation (der Schädigung) betrefend nicht bei H.M. Anterograde Amnesie; vorwärts gerichtet, Erinnerungsvermögen für postoperative Erfahrungen bei H.M. diagnostiziert. 122 11.2.1 Formale Beurteilung von H.M.‘s anterograder Amnesie Übereinstimmungstest: Zahlennachsprechen: H.M. konnte die 8-Ziffern Folge nicht wiederholen. Gesunde Probanden können nach 25 Lerndurchgängen ungefähr 15 Ziffern wiederholen. (5 Ziffern. Nach jedem Durchgang, nach korrekter Wiedergabe eine Ziffer dazu usw…) Corsi-Würfeltest: H.M. hatte eine globale Amnesie – eine Amnesie, die Informationen aus allen sensorischen Modalitäten betraf. 9 Würfel.Bestimmte Berührungsreihenfolge. 5 schaffte H.M. (Normalbereich) allerdings nicht möglich 6 zu erlernen. Spiegelzeichen-Test (Abb. Rechts): Obwohl sich seine Leistung verbesserte, besaß H.M. keine bewusste Erinnerung daran, die Aufgabe schon einmal durchgeführt zu haben (adaptiert nach Milner, 1965) 123 Rotary-Pursuit-Test: Ziel: Kontakt mit dem rotierenden Ziel halten H.M. lernte diese Aufgabe und konnte seine Leistung verbessern, obwohl er keine bewusste Erinnerung an die Lerndurchgänge hatte. Unvollständiger-Bilder-Test (Gollin- Test) Zwei Bespiele aus dem Unvollständigen-Bilder-Test. H.M.s Gedächtnis für die 20 Test-Bilder zeigte sich in seiner Fähigkeit, beim Wiederholungstest jeweils unvollständigere Versionen der Bilder zu erkennen. Nichtsdestotrotz konnte er sichnicht bewusst daran erinnern, die Bilder zuvor gesehen zu haben. Klassische (Pawlow’sche) Konditionierung Wurde konditioniert (Ton; LuftstoßLiedschlag; TonLiedschlag) und zeigte zwei Jahre danach diese Reaktion immernoch fast perfekt, obwohl er sich nicht an das Training erinnerte. 11.2.2 Der Wissenschaftliche Beitrag des Falles H.M. Gedächtnisfunktionen sind im Gehirn lokalisierbar Medialer Temporallappen spielt dabei eine große Rolle LZG und KZG sind getrennte Systeme Medialer Temporallappen Konsolidierung (Übertragung von Kurzzeiterinnerungen in den Langzeitspeicher Deklarative und prozedurale Gedächtnissysteme 124 11.2.3 Mediale Temporallappenamnesie Patienten, die einem Profil von Gedächtnisdefiziten, das dem von H.M. ähnelt, sowie erhaltene intellektuelle Fähigkeiten und eine nachgewiesene mediale Temporallappenschädigung haben leiden an einer so genannten medialen Temporallappenamnesie. Tests, die zur Beurteilung des impliziten Gedächtnisses entwickelt wurden, werden als Repetition-Priming-Tests bezeichnet (z.B. Gollin Test). Die Forschung hat gezeigt, dass nicht das gesamte Langzeitgedächtnis gleichermaßen betroffen ist. Das semantische Gedächtnis von Patienten mit einer medialen Temporallappenamnesie ist oft vollkommen normal, jedoch ist ihr episodisches Gedächtnis größtenteils verloren gegangen. Das semantische Gedächtnis beinhaltet explizite Erinnerungen an allgemeine Fakten oder Informationen, während das episodische Gedächtnis explizite Erinnerungen an bestimmte Ereigenisse oder Erfahrungen des eigenen Lebens enthält. Zwei parallele Gedächtnissysteme, ein bewusstes (explizites) und ein unbewusstes (implizites) Flexibilität, vermutlich gewährleistet die Evolution expliziter Gedächtnissysteme, dass Informationen flexibel genutzt werden können. 11.2.4 Auswirkungen einer cerebralen Ischämie auf Hippocampus und Gedächtnis Patienten, die eine cerebrale Ischämie – also eine Unterbrechung der Blutzufuhr zu ihrem Gehirn – erlebt haben, leiden oft an einer medialen Temporallappenamnesie. Abb.: Die Hauptkomponenten des Hippocampus: CA1, CA2, CA3 und CA4Regionen und der Gyrus dentatus. R.B.s Hirnschädigung war größtenteils auf die Pyramidenzellschicht des CA1-Feldes beschränkt (CA steht für cornu ammonis = Ammonshorn, eine andere Bezeichnung für den Hippocampus). R.B.s Fall lässt den Rückschluss zu, dass eine Schädigung des Hippocampus allein bereits eine Amnesie hervorrufen kann. (Schlussfolgerung wurde in Frage gestellt) 11.3 Amnesie beim Korsakoff-Syndrom Amnsie nach Alkoholabusus, die sowohl anterograde & retrograde Anteile hat. Eine intakte implizite Gedächtnisleistung ist vorhanden. Der Mediodorsale Nuclei des Thalamus ist immer geschädigt (der Fall N.A.) 125 11.4 Amnesie bei der Alzheimer-Erkrankung Zusätzlich zu beträchtlichen anterograden und retrograden Defiziten in expliziten Gedächtnistests weisen prädemente Alzheimerpatienten oft auch Defizite im Kurzzeitgedächtnis und in manchen impliziten Gedächtnisformen auf: das implizite Gedächtnis für verbales und perzeptuelles Material ist oft beeinträchtigt, das implizite Gedächtnis für sensomotorisches Lernen hingegen nicht. 11.5 Amnesie nach einer Gehirnerschütterung: Evidenz für die Konsolidierung Häufigste Ursache für Amnesie sind Schläge, die ein Kommotionssyndrom (Gehirnerschütterung) auslösen. Diese Form einer Amnesie wird als posttraumatische Amnesie (PTA) bezeichnet 11.5.1 Posttraumatische Amnesie 11.5.2 Gradienten der retrograden Amnesie und der Gedächtniskonsolidierung Weit zurückreichende und damit flache Gradienten einer retrograden Amnesie sind mit Hebbs Theorie der Konsolidierung unvereinabar. Es ist sinnvoll anzunehmen, dass die neuronale Aktivität, die aus einer Erfahrung resultiert, für ein paar Sekunden oder sogar Minuten im Gehirn durch kreisende Aktivierungsprozesse aufrecht erhalten wird; allerdings können Gradienten einer retrograden Amnesie, die Tage, Wochen oder sogar Jahre umfassen, nicht einfach durch eine bloße Unterbrechung der kreisenden neuronalen Aktivität erklärt werden. Solche lang andauernden Gradienten einer retrograden Amnesie sprechen vielmehr dafür, dass die Gedächtniskonsolidierung noch sehr lange Zeit nach dem Lernen weitergehen kann, vielleicht sogar unbegrenzt. Abb.: Eine EKS (Elektrokonvulsionsschock)erzeugte retrograde Amnesie 126 mit einem kurz andauernden Gradienten. Abgebildet ist die Behaltensleistung nach einem einzigen Durchgang von Appetenzlernen für eine Kontrollgruppe von Ratten und für Gruppen von Ratten, die in verschiedenen Zeitabständen nach dem Lerndurchgang einen EKS erhielten. Nur die Ratten, die einen EKS innerhalb von zehn Minuten nach dem Lerndurchgang erhielten, zeigten eine bedeutsame retrograde Amnesie (adaptiert nach Pinel, 1969). Abb.: Eine EKS-erzeugte retrograde Amnesie mit einem lang andauenden Gradienten. Eine Serie von fünf elektrokonvulsiven Schocks erzeugte eine retrograde Amnesie für Fernsehsendungen, die nur eine Saison lang innerhalb der drei Jahre vor den Schocks gesendet wurden; die EKSs erzeugten allerdings keine Amnesie für vergleichbare Fernsehsendungen, die vor drei Jahren oder mehr gesendet wurden (adaptiert nach Squire, Slater & Chace, 1975). 11.5.3 Rekonsolidierung Die Rekonsolidierung ist ein theoretisches Konstrukt, das vor kurzem die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Nach dieser Vorstellung wird eine Erinnerung, jedes Mal wenn sie aus dem Langzeitspeicher abgerufen wird, vorübergehend im labilen Kurzzeitgedächtnis gehalten; dort ist sie bis zur Rekonsolidierung wieder für eine posttraumatische Amnesie anfällig. 11.5.4 Hippocampus und Konsolidierung Zwei Theorien zur Gedächtniskonsolidierung: 1. Erinnerungen werden vorübergehend im Hippocampus gespeichert und werden dann in stabilere kortikale Speichersysteme überführt. (Scoville und Milner 1957) 2. Hippocampus speichert Erinnerungen so lange, wie sie bestehen. Aufbewahrte Erinnerungen werden zunehmend wiederstandsfähiger gegenüber einer Hippocampusschädigung, da jedes Mal, wenn eine ähnliche Erfahrung stattfindet oder die ursprüngliche Erinnerung abgerufen wird, ein neues Engramm (eine Veränderung im Gehirn, die eine Erinnerung speichert) gebildet und mit dem ursprünglichen Engramm verknüpft wird, so wird die Erinnerung immer leichter abrufbar und das ursprüngliche Engramm wird immer schwerer störbar. (Erklärt lange Gradienten der RG Amnesie) 11.6 Neuroanatomie des Gedächtnisses für die Objekterkennung 11.6.1 Amnesie der Objekterkennung im Affenmodell: Der „delayed non-matching-tosample“ Test Abb. Die richtige Ausführung eines Durchgangs des delayed-nonmatching-to-sample-Tests (adaptiert nach Mishkin & Appenzeller 1987) 127 Die Entwicklung des delayed-nonmatching-to-sample-Tests für Affen lieferte eine Mehtode zur Überprüfung der Annahme, dass die Amnesie infolge einer medialen Temporallappenschädigung ausschließlich auf einer Hippocampusschädigung basiert. Die Leistungsdefizite von Affen mit großen bilateralen Läsionen des medialen Temporallappens beim delayed-nonmatching-tosample-Test. Es zeigten sich bei allen Behaltensintervallen, außer dem kürzesten, Defizite. Diese Defizite entsprechen den Gedächtnisdefiziten menschlicher Patienten mit einer medialen Temporallappenamnesie bei derselben Aufgabe. 11.6.2 Der delayed-nonmatching-to-sample-Test für Ratten Abb.: Durch Aspiration erzeugte Läsionen des Hippocampus bei Affen und Ratten. Wegen der Unterschiede in der Größe und Lage des Hippocampus bei Affen und Ratten werden bei einer Hippocampektomie beim Affen, aber nicht bei Ratten, überlicherweise große Anteile des rhinalen Cortex entfernt. 128 Abb.: Die MumbyBox und die Version des delayednonmatchingtosampleTests für Ratten. Abb.: Ein Vergleich der Leistung von unversehrten Affen und unversehrten Ratten beim delayednonmatching-to-sampleTest. 11.6.3 Neuroanatomische Grundlagen der Defizite bei der Objekterkennung nacheiner medio-temporalen Lobektomie Abb.: Die Auswirkungen von Läsionen des rhinalen Cortex und von kombinierten Läsionen von Hippocampus-und Amygdala bei Ratten. Läsionen des rhinalen Cortex, aber nicht kombinierte Läsionen von Hippocampus und Amygdala, erzeugten bei Ratten schwere Leistungsdefizite beim delayed-nonmatching-to-sample Test (adaptiert nach Mumby & Pinel, 1994; Mumby, Wood & Pinel, 1992). Studien mittels funktioneller Bildgebung stützen die Theorie, dass die Objekterkennungsdefizite von ischämischen Patienten durch extrahippocampale Störungen bedingt sind. Ausgedehnte cerebrale Dysfunktionen werden häufig in neuroanatomischen intakten Bereichen beobachtet, die fern von Orten des ischämischen Zellverlusts liegen. Folglich liefern Fälle einer ischämie-erzeugten Amnesie mit hippocampalem Zellverlust (Fälle 129 wie der von R.B.) keinen eindeutigen Beweis dafür, dass der Hippocampus die entscheidende Rolle bei der Objekterkennung spielt. 11.7 Hippocampus und räumliches Gedächtnis 11.7.1 Hippocampusläsionen beeinträchtigen das räumliche Gedächtnis Hippocampusläsionen beeinträchtigen konsistent die Leistung bei Aufgaben, die das Gedächtnis für räumliche Lagen betreffen. Morris-Wasserlabyrinth („Morris water maze test“): unversehrte Ratten, die an verschiedene Orte in ein kreisförmiges Becken mit trüben Wasser gesetzt werden, lernen schnell zu einer stationären Plattform zu schwimmen, die unmittelbar unter der Oberfläche verborgen ist. Ratten mit Hippocampusläsionen lernen diese einfache Aufgabe nur mit großen Schwierigkeiten. Radialarmlabyrinth-Test („radial arm maze test“): gehen von einer zentralen Startkammer mehrere Arme aus (z.B. acht) und jeden Tag enthalten dieselben Arme Futter. Die Fähigkeit nur die Arme es aufzusuchen, die Futter enthalten, ist ein Maß für das Referenzgedächtnis (das Gedächtnis für allgemeine Prinzipien und Fertigkeiten, die zur Durchführung einer Aufgabe benötigt werden). Einen Arm nicht mehr als einmal an einem bestimmten Tag aufzusuchen, ist ein Maß für das Arbeitsgedächtnis (das temporäre Gedächtnis, das für die erfolgreiche Durchführung einer gerade bearbeiteten Aufgabe notwendig ist). Ratten mit Hippocampusläsionen zeigen in beiden wesentliche Leistungsdefizite. 11.7.2 Hippocampale Ortszellen Die Beobachtung, dass Hippocampusläsionen das räumliche Gedächtnis beeinträchtigen, ist gut mit der Tatsache vereinbar, dass viele Hippocampusneurone Ortszellen sind – Neurone, die nur dann reagieren, wenn sich ein Versuchstier an einem bestimmten Ort befindet. 130 11.7.3 Hippocampus und räumliches Gedächtnis: Vergleichende Untersuchungen Vögel von Futterversteckenden Arten besitzen einen größeren Hippocampus. Bei Primaten und Menschen sind zwar Ortsfelder vorhanden jedoch sind die Auswirkungen einer Hippocampusschädigung auf die Durchführung einer räumlichen Gedächtnisaufgabe nicht eindeutig. Schwierigkeit bei Ratten Exp. Diese in Bewegung bei Menschen sitzend an Computerbildschirmen. 11.7.4 Theorien über die Funktion des Hippocampus Theorie der kognitiven Landkarte („cognitive map theory“): Hippocampus erstellt und speichert allozentrische (bezeichnet eine Repräsentation des Raumes basierend auf Relationen zwischen externen Objekten und Orientierungspunkten) Landkarten der Außenwelt (O’Keefe & Nadel, 1978) Theorie der konfiguralen Assoziationen („configural association theory“): Der Hippocampus spielt eine Rolle bei der Erinnerung an die Verhaltensbedeutsamkeit von Reizkombinationen (z.B. Objekt-Positionsverknüpfung) nicht aber von Einzelreizen. (Rudy &Sutherland, 1992) Theorie von Brown und Aggleton (2001): Sie schlagen vor, dass der Hippocampus wichtig für das Wiedererkennen einer räumlichen Anordnung von Objekten ist, wie z.B. in einer visuellen Szene. 11.8 Wo sind Erinnerungen gespeichert? Abb.(nächste Seite oben): Strukturen des Gehirns, die erwiesenermaßen eine Rolle beim Gedächtnis spielen. Das Striatum ist nicht abgebildet, da es die Sicht auf andere Strukturen verdeckt hätte. 11.8.1 Inferotemporaler Cortex Aufgrund der Beteiligung des inferotemporalen Cortex (der Cortex des inferioren Temporallappens) an der visuellen Wahrnehmung von Objekten, wird davon ausgegangen, dass er an der Speicherung von Erinnerungen an visuelle Strukturen beteiligt ist. 131 11.8.2 Amygdala Die Amygdala ist für die Erinnerung der emotionalen Bedeutsamkeit von Erfahrung wichtig. 11.8.3 Präfontaler Cortex Patienten mit einer Schädigung sind nicht stark amnestisch, sie zeigen in herkömmlichen Gedächtnistests oft überhaupt keine Defizite. Allerdings zeigen sie Defizite im Gedächtnis für die zeitliche Abfolge von Ereignissen, sogar wenn sie die Ereignisse an sich erinnern können, und sie haben Defizite im Arbeitsgedächtnis ( der Fähigkeit, relevante Erinnerungen aufrechtzuerhalten während eine Aufgabe ausgeführt wird). 11.8.4 Cerebellum und Striatum Man nimmt an, dass das Cerebellum Erinnerungen an gelernte sensomotirsche Fertigkeiten speichert. Das Striatum speichert wahrscheinlich Erinnerungen an konsistente Beziehungen zwischen Reizen und Reaktionen – die Art von Erinnerungen, die sich zunehmend über viele Lerndurchgänge entwickeln. 11.8.5 Synaptische Mechanismen von Lernen und Gedächtnis Nun Fokusverlagerung auf die neuroplastischen Mechanismen innerhalb dieser Strukturen, von denen man annimmt, dass sie die grundlegende Basis von Lernen und Gedächtnis darstellen. 11.8.6 Langzeitpotenzierung (LTP) Hebbs These: dauerhafte Erleichterung der synaptischen Übertragung = Grundlage für Lernen und Gedächtnis LTP ( Nach einer hochfrequenten elektrischen Stimulation von präsynaptischen Neuronen kommt es zu einer Bahnung (oder Facilitation) der synaptischen Übertragung.) Abb.: Ein Gewebeschnitt aus dem Hippocampus von Ratten, der die drei Synapsen zeigt, an denen die LTP am häufigsten untersucht wird: (1) die Synapsen von Körnerzellen im Gyrus dentatus, (2) die Synapsen von CA3-Pyramidenzellen und (3) die Synapsen von CA1-Pyramidenzellen. Das LTP besitzt zwei entscheidende Eigenschaften. 132 1. Die LTP kann für lange Zeit anahlten – nach mehrfacher Stimulation für viele Wochen. 2. Ein LTP entsteht nur, wenn auf das Feuern des präsynaptischen Neuron ein Feuern des postsynpatischen Neurons folgt. Die Auffassung, dass die LTP mit den neuronalen Mechanismen von Lernen und Gedächtnis zusammenhängt, wird durch mehrere Beobachtungen zusätzlich unterstützt. 1. Die LTP kann durch niedrige Stimulationsniveaus, die eine normale neuronale Aktivität imitieren, ausgelöst werden. 2. Die LTP-Effekte sind am ausgeprägtesten in gedächtnisrelevanten Strukturen 3. Eine Konditionierung von Verhalten kann im Hippocampus LTPähnliche Veränderungen hervorrufen 4. Viele Pharmaka und Drogen, die Einfluss auf Lernen und das Gedächtnis haben, haben entsprechende Auswirkungen auf die LTP Viele Forscher begreifen die LTP als drei-stufigen Prozess und untersuchen die Mechanismen von Induktion, Aufrechterhaltung und Ausdruck (Expression) d.h. 1. Die Prozesse, aufgrund derer die Hochfrequenzstimulation die LTP induzieren (Lernen), 2. Die Veränderungen, auf denen die Speicherung der LTP baisert (Gedächtnis), und 3. dieVeränderungen, aufgrund derer die LTP in Tests zum Ausdruck kommt (Abruf). 11.8.7 Induktion der LTP: Lernen Die Induktion einer durch NMDA-Rezeptoren vermittelten LTP 133 11.8.8 Aufrechterhaltung und Expression der LTP: Speicherung und Abruf Die Aufrechterhaltung und Expression der LTP ist sowohl mit Veränderungen in präsynaptischen als auch mit Veränderunge in postsynaptischen Neuronen verbunden. Fünf bedeutsame Fortschritte: 1. Mechanismus der bewirkt, dass die Ereignisse an einer Gruppe von Synapsen auf einem postsynaptischen Neuron nicht andere Synapsen auf demselben Neuron beeinflussen. Dafür verantwortlich sind die Dendtritischen Dornen (K+-Ionen, die einen solchen einströmen diffundieren nicht ohne weiteres aus ihm heraus). Diese haben somit einen lokalen Effekt. 2. Speziell die langfristige Aufrechterhaltung ist wegen ihrer Dauerhaftigkeit wahrscheinlich mit strukturellen Veränderungen verbunden, die von der Proteinsynthese abhängen. Für die kurzfristige Aufrechterhaltung kann die Proteinsynthese nicht verantwortlich sein, da sie nicht schnell genug stattfindet. 3. Es gibt direkte Hinweise darauf, dass präsynaptische Veränderungen an der Aufrechterhaltung und Expression der LTP an Synapsen mit NMDA-Rezeptoren beteiligt sind. 4. Es muss eine Art Signal von den postsynaptischen Neuronen zurück zu den präsynaptischen Neuronen geben. Befunde deuten darauf hin, dass dieses Signal bei NMDA-Synapsen in Form eines löslichen Gases erfolgt, dem Neurotransmitter Stickstoffmonoxid. 5. Mittlerweile ist es gut belegt, dass es im Zusammenhang mit einer lang anhaltenden LTP zu strukturellen Veränderungen an NMDA-Synapsen kommt. Es kommt zu einer Zunahme in der Zahl und Größe der Synapsen, in der Zahl und Größe der dendritischen Dornen und in der Zahl der postsynaptischen NMDA-Rezeptoren. 11.8.9 Variabilität der LTP Keine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem LTP. Es wurden nur immer mehr Fragen aufgeworfen. Wahrscheinlich kann die LTP nur vollständig verstanden werden, wenn auch die LTD („longterm depression“, Kehrseite der LTP; die LTD tritt als Antwort auf eine anhaltende niederfrequente Stimulation präsynaptischer Neurone auf) verstanden wird. 11.9 Schlussfolgerung: Infantile Amnesie und der Biopsychologe, der sich an H.M. erinnerte 134 Kapitel 12: Hunger, Essen und Gesundheit 12.2 Verdauung, Energiegewinnung und -verbrauch Lipide (Fette) Aminosäuren (Proteine) Glucose (Kohlenhydrate, Glycogen) Fett ist wichtigste Speicherform Gegenüber Glycogen doppelter Energiegehalt Glycogen zieht Wasser an 135 Glukoneogenese 12.3 Theorien zu Hunger und Essen: Sollwerte versus positive Anreize 12.3.1 Die Sollwerthypothese Diese Hypothese geht davon aus, dass die Energiereserven einer Person nach einer Mahlzeit (eine kurze Zeit der Nahrungsaufnahme) nahe an ihrem Sollwert liegen und danach, während der Körper Energie für die Aufrechterhaltung seiner physiologischen Prozesse verbraucht, abnehmen. Alle Sollwertsysteme haben drei Komponenten: 1. Der Sollwertmechanismus ( bestimmt den Energiesollwert) 2. Detektormechanismus (entdeckt Abweichungen vom Sollwert Blutzuckerspiegel, Körperfett) 3. Effektormechanismus (wird tätig, um die Abweichungen zu beseitigen Hunger, Essen) Alle Sollwertsysteme sind negative Rückkoppelungssysteme – Systeme, bei denen die Rückmeldung von Veränderungen in einer Richtung kompensatorische Effekte in die entgegen gesetzte Richtung auslöst. 12.3.2 Glukostatische und lipostatische Sollwerttheorien von Hunger und Essen Glukostatische Theorie: Vorstellung, dass wir hungrig werden, wenn unser Blutzuckerspiegel bedeutsam unter seinen Sollwert fällt, und dass wir uns satt fühlen, wenn das Essen unseren Blutzuckerspiegel wieder auf seinen Sollwert zurück bringt. Die lipostatische Theorie ist eine weitere Sollwerttheorie. Nach dieser Theorie hat jede Person einen Sollwert für Körperfett, und Abweichungen von diesem Sollwert rufen kompensatorische Anpassungen in der Menge der Nahrungsaufnahme hervor, die den Anteil des Körperfetts wieder auf den Sollwert zurückbringt. Man nahm an, dass die glukostatische Theorie den Beginn und das Ende einer Mahlzeit erklären kann und die lipostatische Theorie die Langzeitregulation. Waren in den 1950ern aktuell! 136 12.3.3 Probleme der Sollwerttheorien von Hunger und Essen 1. Die Sollwerttheorien von Hunger und Essen sind nicht vereinbar mit der heutigen Auffassung eines grundlegenden evolutionären Selektionsddruck in Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme. Jede warmblütige Art muss, um unter natürlichen Bedingungen überleben zu können, ein System zur Regulation von Hunger und Nahrungsaufnahme besitzen, das Energiedefiziten vorbeugt, anstatt bloß auf bereits entstandene Energiedefizite zu reagieren. 2. Sollwertregulation nur in Extremsituationen ( in Experimenten wurde eine zuverlässige Nahrungsaufnahme induziert, die unter natürlichen Bedingungen nur selten stattfindet) 3.Nichtberücksichtigung von Geschmack, Lernen und sozialen Einflüssen. (z.B. nach großem Hauptgang trotzdem noch ein Dessert essen) 12.3.4 Die Anreizperspektive Die zentrale Annahme dieser neuen theoretischen Perspektive, die gewöhnlich als positive Anreiztheorie (positive-incentive theory) bezeichnet wird, ist, dass Menschen und andere Tiere normalerweise nicht durch innere Energiedefizite zum Essen veranlasst werden, sondern durch die Antizipation der positiven Wirkungen des Essens dazu motiviert werden – die antizipierte positive Wirkung eines Verhaltens wird als ihr positiver Anreizwert bezeichnet. Ausmaß des Hungers, den man zu einem bestimmten Zeitpunkt empfindet, hängt von der Interaktion all der Faktoren ab, die den positiven Anreizwert des Essens beeinflussen: Geschmack, Zeit nach der letzten Mahlzeit, Gesellschaft beim Essen, Tageszeit, Blutzuckerspiegel. 12.4 Faktoren, die bestimmen, was, wann und wie viel wir essen 12.4.1 Faktoren, die bestimmen, was wir essen Artspezifische Präferenzen Kulturspezifische Präferenzen Individuelle Präferenzen; erlernte Geschmackspräferenzen/Aversionen Ernährungsmangel; Geschmack (z.B. Essen mit viel Vitamin B wird als positiv abgespeichert; Essen mit wenig Vitamin B Aversion) Auswirkung auf Essverhalten Problem des Überangebots 12.4.2 Faktoren, die beeinflussen, wann wir essen Kulturelle Normen, Arbeitszeiten, Bräuche Hunger wird ausgelöst durch die Erwartung von Nahrung, nicht durch Energiedefizit Nach Woods sind die starken, unangenehmen Hungergefühle, die durch die Vorbereitung ihres Körpers auf die erwartete Störung der Homöostase aufgrund einer Mahlzeit entstehen. Hunger ist klassisch konditionierbar 12.4.3 Faktoren, die beeinflussen, wie viel wir essen Sättigung: Dies ist der motivationale Zustand, der uns veranlasst, den Verzehr einer Mahlzeit zu beenden, auch wenn noch Essen übrig ist. Sättigungssignale: Diese hängen sowohl vom Volumen als auch von der Energiedichte (Kalorien pro Volumeneinheit) der Nahrung ab. „Schein“-Essen Die Untersuchung des Schein-Essens (shameating) zeigt, dass Sättigungssignale aus dem Magen-Darm-Trakt oder aus dem Blut nicht notwendig sind, um eine Mahlzeit zu beenden. (Entgegengesetzt zu den 137 Sollwerttheorien, werden nicht riesige Mengen an Futter verzehrt) Appetizer-Wirkung und Sättigung: Appetizer, vergrößern den Hunger anstatt ihn zu reduzieren weitere Schwäche der Sollwerttheorien Soziale Einflüsse und Sättigung: Das Gefühl der Sättigung hängt davon ab, ob wir alleine oder zusammen mit andern essen. (z.B wenig essen, um dem gesellschaftlichen Schlankheitsideal zu entsprechen) Sensorisch-spezifische Sättigung: Die Anzahl der unterschiedlichen Geschmacksrichtungen, aus denen eine Mahlzeit besteht, wirkt sich wesentlich auf die gegessene Menge aus. (Widersprechen eindeutig der Vorstellung, dass Sättigung starr durch interne Energiesollwerte kontrolliert wird). 2 adaptive Auswirkungen: 1. fördert Verzehr abwechslungsreicher Kost; Ohne diese würde einPerson dazu neigen, ausschließlich ihr Lieblingsessen zu essen und nichts sonst, Fehlernährung wäre die Folge. 2. Nahrungsaufnahme auch bei vielfältigem Angebot; Ein Tier, das sich an einem Nahrungsmittel satt gefressen hat, wird oft wieder zu fressen beginnen, wenn es auf ein anderes Nahrungsmittel trifft. 12.5 Physiologische Forschung über Hunger und Sättigung 12.5.1 Die Rolle des Blutzuckerspiegels bei Hunger und Sättigung Unterstützt der oben dargestellte Befund von Campfield und Smith die glukostatische Theorie des Hungers? (ca. 10 Min. vor Beginn einer Mahlzeit sinkt der Blutzuckerspiegel um 8%) Dagegen sprechen drei Gründe: 1. Es ist leicht möglich eine Situation herzustellen, in der der Nahrungsaufnahme keine Abnahme des Blutzuckerspiegels vorausgeht z.B indem Futter mit hohem positiven Anreizwert unerwartet serviert wird. 2. Die Abnahme im Blutzuckerspiegel vor einer Mahlzeit, stellt eher eine Reaktion der Tiere dar, mit der Nahrungsaufnhame zu beginnen, als umgekehrt. ( Ratten geht nicht die Energie aus, sondern sie senken ihren eigenen Blutzuckerspiegel indem sie Insulin freisetzen). 3. Der Blutzuckerspiegel geht auf sein vorheriges ursprüngliches homöostatisches Niveau zurück, wenn die erwartete Mahlzeit nicht serviert wurde. 12.5.2 Der Mythos von hypothalamischen Hunger- und Sättigungszentren Sättigungszentrum im ventromedialen Hypothalamus (VMH): Im Jahr 1940 wurde entdeckt, dass große bilaterale elektrolytische Läsionen des VMH bei Ratten eine Hyperphagie (exzessives Fressen) und eine extreme Fettleibigkeit hervorrufen. Hungerzentrum im lateralen Hypothalamus (LH): Im Jahr 1951 hieß es, dass bilaterale elektrolytische Läsionen des lateralen Hypothalamus eine Aphagie erzeugen (vollständige 138 Einstellung der Nahrungsaufnahme). Schluss, dass der laterale Bereich des Hypothalamus ein Fress- bzw. Hungerzentrum ist. NEUINTERPREATION DER AUSWIRKUNGEN VON VMH- UND LH-LÄSIONEN: Die Theorie, dass der VMH ein Sättigungszentrum ist, fiel angesichts zweier Beweislinien in sich zusammen. 1. Der Hypothalamus hat seine primäre Rolle in der Regulation des Energiestoffwechsels und nicht in der Regulation der Nahrungsaufnahme. Ursprüngliche Interpretation war, dass Tiere mit VMH-Läsionen fettleibig werden, weil sie sich überfressen – Befunde zeigen das Gegenteil – dass sie sich überfressen, weil sie fettleibig werden. Bilaterale VMH Läsionen erhöhen den Insulinspiegel im Blut, was die Lipogenese (die Produktion von Körperfett) steigert nd die Lipolyse (die Aufspaltung von Körperfett in verwertbare Energieformen) vermindert. 2. Viele Auswirkungen von VMH-Läsionen sind nicht auf eine Schädigung des VMH zurückzuführen. Ein großes Faserbündel, das ventrale noradrenerge Faserbündel, verläuft hinter dem VMH und wird zwangsläufig durch umfangreiche elektrolytische VMH-Läsionen geschädigt. Beweise dafür, dass der LH nicht ein Hunger- bzw. Fresszentrum ist. Neuere Forschung zeigt, dass LH-Läsionen eine große Bandbreite von schweren motorischen Störungen und eine reduzierte Reagibilität auf sensorischen Input (Essen und Trinken nur zwei Bsple) hervorruft. 12.5.3 Die Rolle des Magen-Darm-Trakts bei der Sättigung Die Transplantation eines zusätzlichen Magens und Darmabschnitts bei einer Ratte. Koopmans (1981) implantierte jedem seiner Versuchstiere einen zusätzlichen Magen und ein Stück Darm. Dann verband er die wichtigsten Blutgefäße des implantierten Magens mit dem Kreislaufsystem des Empfängertiers. Nahrung, die in den zusätzlichen Magen injiziert wurde und dort aufgrund einer Schlinge um den Schließmuskel des Magens (Musculus sphincter pyloricus) verblieb, verringerte die Nahrungsaufnahme proportional zu ihrem Volumen und ihrem Kaloriengehalt. Der implantierte Magen besaße keine funktionstüchtigen Nerven, so daß das gastrointstinale Sättigungssignal das Gehirn über das Blut erreichte. Und da der Magen keine Nährstoffe absorbiert, konnte das im Blut übertragene Sättigungssignal kein Nährstoff sein. Somit mußten es eine oder mehrere chemische Substanzen sein, die vom Magen als Reaktion auf den Kaloriengehalt und das Volumen der Nahrung freigesetzt wurden. 12.5.4 Die Rolle von Peptiden bei Hunger und Sättigung Beweise häuften sich, dass es sich bei den chemischen Substanzen, welche vom Magen-DarmTrakt freigesetzt wurden um Peptide handelte, also kurze Ketten von Aminosäuren, die als Hormone und Neurotransmitter wirken. Cholecystokinin (CCK): Ein Sättigungspeptid Information über Menge und Beschaffenheit der Nahrung Hungerpeptide (z.B Neuropeptin-Y, Galantin): injiziert an bestimmten Stellen des Hypothalamus Effekt auf Nahrungsaufnahme. Die bloße Anzahl von Hunger und Sättigungspeptiden zeigt, dass das neuronale System, das die Nahrungsaufnahme kontrolliert, auf viele verschiedene Signale reagiert. 139 12.5.5 Serotonin und Sättigung Beim Menschen wurde gezeigt, dass Serotoninagonisten unter den verschiedensten Bedingungen Hunger, Nahrungsaufnhame und Körpergewicht reduzieren. 12.6 Regulation des Körpergewichts: Sollwert versus dynamisches Gleichgewicht 12.6.1 Annahmen der Sollwerttheorie zu Körpergewicht und Nahrungsaufnahme Drei Beweislinien, die wesentliche Aspekte vieler Sollwerttheorien zur Regualtion des Körpergewichts in Frage stellen. 1. Variabilität des Körpergewichts: Nach der Sollwerttheorie der Körpergewichtsregulation ist es die beste Methode, jedes mal zu essen, wenn eine Motivation zu essen vorhanden ist. Viele Menschen vermeiden jedoch Übergewicht nur dadurch, dass sie ihrem Verlangen zu Essen widerstehen. 2. Sollwerte und Gesundheit: Eine Implikation der Sollwertheorien der Körpergewichtsregulation ist, dass der Sollwert jeder Person für die Gesundheit dieser person optimal ist – oder zumindest nicht unvereinbar mit einer guten Gesundheit. Zwei Arten von Beweisen sprechen dafür, dassdie Menge von ad libitum (nach Belieben) konsumierter Nahrung der Gesundheit abträglich ist. 1. Okinawa-Studie Nahrungsreduktion (20% weniger Kalorien) erhöht Gesundheit (geringere Mortalitätsrate (Sterberate) und Morbiditätsrate (Krankheitsrate), 40x mehr 100Jährige) 2. Reduzierung der Kalorienaufnahme bei Mäusen um25, 55, 65 % wenigsten Krebserkrankungen, beste Immunreaktion, längste Lebensdauer bei 65 % 3.Regulation des Körpergewichts durch Veränderungen in der Effizienz der Energienutzung: Der Mechanismus, über den der Körper die Effizienz der Engergienutzung als Reaktion auf seinen Körperfettgehalt anpasst, wird als nahrungsinduzierte Thermogenese bezeichnet. Personen unterscheiden sich deutlich sowohl im metabolischen Grundumsatz (der Rate, mit der Energie im Ruhezustand zur Aufrechterhaltung der Körpervorgänge genutzt wird) als auch in ihrer Fähigkeit, den Grundumsatz an Veränderungen im Körperfettgehalt anzupassen. 12.6.2 Sollwerte und dynamisches Gleichgewicht bei der Gewichtskontrolle Neue Übersichtsarbeiten zur Forschung über Hunger und Gewichtsregulation räumen ein, dass ein striktes Sollwertmodell die Fakten der Gewichtsregulation nicht erklären kann und argumentieren für ein flexibleres Modell. Das Modell des dynamischen Gleichgewichts geht davon aus, dass das Körpergewicht dazu neigt, um einen natürlichen Gleichgewichtspunkt (settling point) herum zu schwanken. Der Gleichgewichtspunkt ist das Niveau, auf dem die verschiedenen Faktoren, die das Körpergewicht beeinflussen, im Gleichgewicht zueinander stehen, Die Idee ist, dass es bei einer Zunahme des Körperfettgehalts zu Veränderungen kommt, die eine weitere Zunahme einschränken, bis schließlich ein Gleichgewicht zeischen all den Faktoren erreicht ist, die eine Gewichtszunahme fördern beziehungsweise hemmen. Das „Undichte-Fass-Model“: Ein Gleichgewichtsmodell der Nahrungsaufnahme und der Körpergewichtshomöostase. 140 Vier Befunde zur Gewichtsregulierung: 1. Gesamtanteil des Körperfetts bleibt konstant. 2. Häufige Veränderungen des Körpergewichts. 3. Stoffwechseländerungen nach Reduktion/Erhöhung der Nahrungsaufnahme. 4. Nach Gewichtsverlust: Tendenz ursprüngliches Gewicht wiederherzustellen. Das Wissen, dass das Körpergewicht über ein Gleichgewichtssystem reguliert wird, hilft die Veränderungen im körpergewict, die in verschiedenen Situationen auftreten, besser zu verstehen und genauer vorherzusagen; es liefert auch Anhaltspunkte über die Art der physiologischen Mechanismen, die dieser Veränderungen wahrscheinlich vermmitteln. 12.7 Übergewicht beim Menschen 12.7.1 Warum gibt es eine Epidemie des Übergewichts? Jeder von uns besitzt ein System zur Regulation der Nahrungsaufnahme und des Körpergewichts, dass sich entwickelt, um effektiv mit regelmäßig wiederkehrender Nahrungsknappheit fertig zu werden, und viele von uns leben in Kuluturen, deren nahrungsbezogene Bräuche sich zu demselben Zweck entwickelt haben. Unsere gegenwärtige Umwelt unterscheidet sich jedoch von unserer „natürlichen“ Umwelt entscheidend hinsichtlich des Nahrungsangebotes. Wir leben in einer Umwelt, in der eine endlose Vielfalt von Nahrungsmitteln mit dem höchsten positiven Anreizwert leicht und kontinuierlich verfügbar ist. Die Folge ist ein erschreckend hohes Niveau der Nahrungsaufnahme. 12.7.2 Warum werden manche Menschen übergewichtig, ander hingegen nicht? Menschen unterscheiden sich im Hinblick auf den Energieverbrauch deutlich voneinander. Der eindeutigste Unterschied besteht, darin dass sich Menschen beträchtlich darin unterscheiden, wie viel sie sich bewegen. Weiter Unterschiede sind: Grundumsatz und die Fähigkeit, auf eine Zunahme des Fettanteils mit nahrungsinduzierter Thermogenese zu reagieren. Der dritte Faktor wird als NEAT („nonexercise activity thermogenesis“; Thermogenese aufgrund nicht an Sport 141 gebundener Aktivitäten) bezeichnet und resultiert aus Aktivitäten wie „Zappeln“ und die Aufrechterhaltung der Körperhaltung und des Muskeltonus. 12.7.3 Warum sind Diätprogramme meistens nicht effektiv? Der Jo-Jo Effekt 12.7.4 Mutierte fettleibige Mäuse und Leptin Im Jahr 1994 wurde das Gen geklont, dass in ob/ob-Mäusen (obese =fettleibig) mutiert war. Es wurde festgestellt, dass dieses Gen nur in Fettzellen exprimiert wird und Forscher beschrieben das Proteinhormon, für das es kodiert. Sie nannten dieses Protein Leptin. Forschung hat gezeigt, dass Leptin drei Kriterien für ein negatives Feedbacksignal für denKörperfettgehalt erfüllt: 1. Der Leptinspiegel im Blutt korreliert beim Menschen und bei anderen Tieren positiv mit den Fettdepots. 2. Injektionen von Leptin in Dosen, die zu niedrig sind, um aversiv zu sein, reduzieren bei ob/ob Mäusen die Nahrungsaufnahme und den Körperfettgehalt. 3. Es wurden Rezeptoren für Leptin im Gehirn gefunden. Zwar besitzen nur wenige übergewichtige Menschen eine genetische Mutation des ob-Gens, aber für diese könnte sich Leptin als Allheilmitel erweisen. 12.7.5 Insulin: Ein weiteres negatives Feedbacksignal für den Körperfettgehalt Der Insulinspiegel im Gehirn ist mit dem Körperfettgehalt positiv korreliert. Es gibt Rezeptoren für Insulin im Gehirn. Infusionen von Insulin in das Gehrin von Labortieren, in so geringen Dosen, dass sie nicht aversiv sind und den Blutzuckerspiegel nicht beeinflussen, reduzieren die Nahrungsaufnahme und das Körpergewicht. Individuen mit einem Insulinmangel sind im Gegenteilzu Individuen mit einem Leptinmangel, nicht übergewichtig. Trotz ihrer hochgradigen Hyperphagie bleiben 142 sie schlank, da sie ohne Insulin die Nahrung nicht in Fett umwandeln können. Der größte Teil der konsumierten Kalorien bleibt im Blut und wird dann ausgeschieden. 12.7.6 Serotonerge Medikamente und die Behandlung des Übergewichts Serotoninagonisten wurden bei übergewichtigen Patienten eingesetzt: sie reduzierten das Verlangen kalorienreiche Nahrungsmittel zu essen, den Konsum von Fett, die subjektive Intensität des Hungers, die Größe der Mahlzeiten, die Anzahl der Imbisse zwischen den Mahlzeiten und Anfälle von übermäßigen Essen (binge eating). Wurden jedoch vom Markt genommen, da eine chronische Anwendung bei einer kleinen aber bedeutenden Anzahl von Patienten mit Herzerkrankungen in Zuammenhang stand. (Gegenwärtige Forschung lasse aufgrund der Vielfalt von Subtypen von Serotoninrezeptoren das Hoffen zu) 12.8 Anorexia nervosa Im Gegensatz zum Übergewicht ist die Anorexia nervosa eine Störung, bei der zu wenig Nahrung aufgenommen wird. Personen, die sich in einen Kreislauf aus Fasten, Essanfällen und Purging-Verhalten (z.B. Erbrechen oder große Mengen Abführmittel zu sich nehmen) befinden, jedoch keinen extremen Gewichtsverlust zeigen, leiden an Bulimia nervosa. Anorektikerinnen (überwiegend Frauen) sind gegenüber Nahrung ambivalent. Einerseits zeigen sie in der cephalischen Phase eine erhöhte Insulinreaktion und sie sind ständig damit beschäftigt, über Essen zu reden, es einzukaufen oder es zuzubereiten. Andererseits zeigt sich ein anderes Bild beim Verzehr von Essen; sie sind von süßem oder fettigen Geschmack oft angewidert und sie fühlen sich nach einer Mahlzeit oft krank. 12.8.1 Anorexie und Diäthalten Die Befunde deuten darauf hin, dass Menschen – hauptsächlich adoleszente Mädchen – unter dem großen Druck eines gesellschaftlich betonten Schlankheitsideals beginnen, Diät zu halten, und diejenigen die stark kontrolliert, rigide und zwanghaft sind, entwickeln die Störung 12.8.2 Anorexie und positive Anreize Unter der Perspektive der Anreiztheorie der Nahrungsaufnahme lässt sich vermuten, dass die Reduktion der Nahrungsaufnahme, die die Anorexia nervosa kennzeichnet, wahrscheinlich eine Folge einer entsprechenden Abnahme im positiven Anreizwert der Nahrung ist. Die Tatsache, dasss viele anorektische Patienten von Essen besessen sind – sie reden ununterbrochen davon, denken fortwährend daran und bereiten es für andere zu – scheint darauf hinzuweisen, dass es für sie immer noch einen hohen positiven Anreizwert hat. Hier ist es aber wichtig zu bedenken, dass der positive Anreizwert des Umgangs mit Nahrung nicht unbedingt dasselbe ist, wie der positive Anreizwert des Essen von Nahrung - und es ist der positive Anreizwert des Essens, der bei der Anorexia nervosa entscheident ist. 143 Kapitel 13: Hormone und Sexualität 13.1 Warum ist die Annahme „Männer-sind-Männer-und-Frauen-sind-Frauen“ falsch? 13.1.1 Die Auswirkungen von Sexualhormonen auf Sexualentwicklung und Sexualverhalten Hormone beeinflussen die Sexualität auf zweierlei Weise: 1. Indem sie vom Zeitpunkt der Konzeption bis zum Eintritt der Geschlechtsreife die Entwicklung der anatomischen, physiologischen und Verhaltensmerkmale beeinflussen (man spricht von einer organisierenden Wirkung), die Männer von Frauen unterscheiden. 2.Indem sie bei geschlechtsreifen Erwachsenen Verhaltensweisen aktivieren (aktivierende Effekte), die mit der Fortpflanzung in Zusammenhang stehen. 13.2 Das neuroendokrine System Die endokrinen Drüsen (s. Abb) 13.2.1 Drüsen Exokrine Drüsen setzen ihre chemischen Substanzen in Gänge frei, durch die sie zu ihren Zielen, die meist an der Oberfläche des Körpers liegen, gelangen. Endokrine Drüsen (ganglose Drüsen) setzen ihre chemischen Substanzen, die als Hormone bezeichnet werden, direkt in das Kreislaufsystem frei, sodass das Hormon zu seinem Ziel transportiert wird, wo es seine Wirkung entfaltet. 13.2.2 Hormone Die meisten Hormone lassen sich in einer von drei Kategorien zuordnen: 1. Aminosäurederivate 2. Peptide und Proteine 3. Steroide 13.2.3 Gonaden Im Mittelpunkt jeder Diskussion über Hormone und Sexualität stehendie Gonaden (Keimdrüsen engl. gonads) – die männlichen Hoden (Testes) und die weiblichen Eierstöcke (Ovarien). 13.2.4 Steroide Sexualhormone Die Gonaden produzieren nicht nur Sperma- und Eizellen. Sie erzeugen und setzen auch Steroidhormone frei. Hoden und Eierstöcke setzen genau dieselben Keimdrüsenhormone frei: Die zwei wichtigesten Klassen sind: Androgene und Östrogene; Testosteron ist das häufigste Androgen und Östradiol ist das häufigste Östrogen (Hoden setzen mehr Androgene als Östrogene frei und die Eierstöcke setzen mehr Östrogene als Androgene frei). 144 Eierstöcke und Hoden setzen zudem noch eine dritte Klasse von Steroidhormonen frei, die natürlichen Gestagene. Das häufigste natürliche Gestagen ist Progesteron (bereitet bei Frauen die Gebärmutter und die Brüste auf eine Schwangerschaft vor; bei Männer Wirkung unklar). Androgen und Östrogenausschüttung auch durch Nebennierenrinde (kleine Mengen) 13.2.5 Hormone der Hypophyse Die Hypophyse (Hirnanahngsdrüse) wird oft als „Steuerungsdrüse“ bezeichnet, da die meisten ihrer Hormone so genannte glandotrope Hormone (Hauptfunktion ist die Freisetzung von Hormonen aus anderen Drüsen zu beeinflussen (Adjektiv „trop“ beschreibt Dinge, die andere Dinge stimulieren oder ändern) Die Hypophyse besteht aus einem Vorder- und Hinterlappen, die im Verlauf der embryonalentwicklung miteinander verschmelzen. Der Hypophysenvorderlappen setzt glandotrope Hormone frei, daraus folgt, dass die Bezeichnung „Steuerungsdrüse“ besonders auf den Hypophysenvorderlappen zutrifft und nicht auf die Hypophyse im Allgemeinen. 13.2.6 Weibliche Sexualhormone werden zyklisch, männliche Sexualhormone gleichmäßig freigesetzt Unterschied bei Männern und Frauen: Der Spiegel der Sexualhormone und der gonadotropen Hormone bei Frauen sind einem Zyklus unterworfen, der sich ungefähr alle 28 Tage wiederholt. Bei Männern ändert sich der Spiegel der Sexualhormone und gonadotropen Hormone kaum von einem zum andern Tag. 13.2.7 Neuronale Kontrolle der Hypophyse Die neuronale Verbindung zwischen dem Hypothalamus und der Hypophyse. Der gesamt neuronale Input zur Hypophyse geht an den Hypophysenhinterlappen, der Hypophysenvorderlappen hat keine neronale Verbindung. 145 13.2.8 Kontrole des Hypophysenvorderlappens und Hypophysenhinterlappens durch den Hypothalamus Es gbit zwei verschiedene Mechanismen, über die der Hypothalamus die Hypophyse steuert: einen für den Hypophysenhinterlappen und einen für den Hypophysenvorderlappen. Hypophysenvorderlappen: 1. Oxytocin und Vasopressin (zwei wichtigesten Hormone des Hypophysenvorderlapppens) werden im Nucleus paraventricularis und im Nucleus supraopticus des Hypothalamus synthetisiert. 2. Oxytocin und Vasopressin werden durch axonalen Transport den Hypophysenstiel hinunter transportiert. 3. Oxytocin und Vasopressin werden von den Endknöpfchen des Hypophysenhinterlappens in den Blutkreislauf freigesetzt. Hypophysenvorderlappen: 1. Die Releasing-Hormone und Inhibiting-Hormone werden von Hypothalamusneuronen in das hypothalamo-hypophysäre Pfortadersystem freigesetzt. 2. Die Hypothalamus-ReleasingHormone und Inhibiting-Hormone werden durch das hypothalamohypophysäre Pfortadersystem den Hypophysenstiel hinunter transportiert. 3. Die Hypothalamus-ReleasingHormone und Inhibiting-Hormone stimulieren oder hemmen die Freisetzung von Hormonen des Hypophysenvorderlappens in den Blutkreislauf. 13.2.9 Entdeckung der Hypothalamus-Releasing-Hormone Hypothese: Die Freisetzung jedes Hormons des Hypophysenvoderlappens wird durch jeweils ein anderes Hormon des Hypothalamus kontrolliert. Releasing-Faktoren wurden die Hypothalamushormone genannt, von denen man annahm, dass sie die Freisetzung eines Hypophysenvorderlappenshormons stimulieren. Diejenigen, die die Freisetzung eines Hypophysenvorderlappenhormons hemmen sollten, wurden Inhibiting-Faktoren genannt. (Wechsel der Fachausdrücke von „Releasing-Fraktoren“ zu „Releasing-Hormonen“; Hormon solange als ein „Faktor“ oder eine „Substanz“ bezeichnet bis es isoliert und seine chemische Struktur identifiziert wurde. 146 13.2.10 Regulation der Hormonspiegel Neuronale Regulation: Alle endokrinen Drüsen, der Hypophysenvorderlappen ausgenommen, werden direkt durch Signale aus dem Nervensystem reguliert. Hormonfreisetzung wird durch Erfahrung beeinflusst (hormonelle Erklärungen schließen keineswegs Erklärungen durch Erfahrung aus) Hormonelle Regulation: Die hormonellen Signale selbst können wiederum die Freisetzung von Hormonen beeinflussen. Die Funktion der meisten hormonellen Feedbackmechanismen besteht in der Aufrechterhaltung eines stabilen Hormonspiegels im Blut. Regulation durch nichthormonelle chemische Substanzen: Sowohl die Glukose-, als auch die Kalziumund Natriumspiegel im Blut beeinflussen die Freisetzung bestimmter Hormone. 13.2.11 Pulsatile Hormonfreisetzung 147 Pulsatile Hormonfreisetzung: Hormone werden oft schubweise freigesetzt d.h. die Freisetzung erfolgt mehrmals am Tag in großen Schüben, die üblicherweise nicht länger als ein paar Minuten andauern. Die Hormonspiegel im Blut werden durch Veränderungen in der Häufigkeit und der Dauer der Hormonschübe reguliert. 13.2.12 Ein zusammenfassendes Modell der Regulation der Sexualhormone s. rechts! 13.3 Hormone und Sexualentwicklung In diesem Abschnitt wird beschrieben, wie die Entwicklung der weiblichen und männlichen Merkmale durch Hormone gesteuert wird. 13.3.1 Fetale Hormone und die Entwicklung der Fortpflanzungsorgane Gonaden: (nächste Seite rechtes Bild oben) Die Entwicklung eines Eierstocks und eines Hodens aus der Medulla bzw. dem Cortex einer Primordialgonade (in diesem Entwicklungsstadium besitzt jeder Fetus unabhängig von seinem genetischen Geschlecht dasselbe Paar gonadaler Strukturen, die so genannten Primordialgonaden (primordial bedeutet „von Anfang an vorhanden“)), wie sie 6 Wochen nach der Befruchtung vorhanden ist. Cortex: äußere Hulle (Potential sich zum Eierstock zu entwickeln) Medulla: innerer Kern ( Potential, sich zu einem Hoden zu entwickeln) 148 Innere Genitalwege (bezieht sich auf linkes Bild): Die Entwicklung der inneren Genitalwege des männlichen und weiblichen Fortpflanzungssystem aus den Wolff-Gängen und den Müller Gängen. (Ovariektomie – Entfernung der Eierstöcke; Orchidektomie – Entfernung der Hoden; Gonadektomie oder Kastration – chirugische Entfernung der Gonaden (Eierstöcke oder Hoden) Äußere Geschlechtsorgane: Männliche und weibliche Genitalien entwickeln sich aus demselben Vorläufer (bipotente Vorläufer). Die Entwicklung der äußeren Geschlechtsorgane wird, wie die Entwicklung der inneren Genitalwege durch die An- oder die Abwesenheit von Testosteron kontrolliert. Wenn Testosteron im kritischen Stadium der Fetalentwicklung vorhanden ist, entwickeln sich aus dem bipotenten Vorläufer männliche äußere Geschlechtsorgane, wenn kein Testosteron vorhanden ist, verläuft die Entwicklung der äußeren Geschlechtsorgane in Richtung des weiblichen Geschlechts. 149 13.3.2 Geschlechtsunterschiede im Gehirn Die Entdeckung des ersten Geschlechtsdimorphismus (strukturelle Unterschiede zwischen dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht) im Gehirn von Säugetieren Gonadektomie Experimente von Pfeiffer (1936): 1.Gonadektomie bei neonatalen (neugeborenen) Ratten (männlichen und weiblichen Geschlechts). Ergebnis: Führte bei beiderlei Geschlechtern dazu, dass sie sich zu adulten Tieren mit dem weiblichen, zyklischen Muster der Gonadotropinfreitsetzung (stimuliert Freisetzung von Sexualhormonen) entwickelten. 2. Transplantation von Hoden. Ergebnis: Bewirkte in gonadektomierten oder intakten Ratten, dass sie sich zu adulten Tieren mit dem männlichen kontinuierlichen Muster der Gonadotropinfreisetzung entwickelten. 3. Transplantation von Ovarien. Ergebnis: Die Transplantation von Eierstöcken hatte keinen Effekt auf das Muster der Hormonfreisetzung. Experimente von Pfeiffer wiesen erstmals die Bedeutung der perinatalen (um den Zeitpunkt der Geburt herum) Androgene für die sexuelle Diffferenzierung der Hypthalamus nach. Pfeiffer kam daher zu dem Schluss, dass sich das weibliche, zyklische Muster der Gonadotropinfreisetzung entwickelt, außer wenn das vorprogrammierte weibliche, zyklische Muster während der perinatalen Entwicklung durch Testosteron außer Kraft gesetzt wird. Umwandlung eines Ringes des Testosteronmoleküls in einen Benzolring wodurch aus Testosteron Östradiol ensteht, dieser Vorgang wird Aromatisierung genannt. Es spricht einiges dafür, dass die Aromatisierung bei einigen Arten der entscheidende Schritt für die Maskulinisierung des Gehirns durch Testosteron ist (beim Menschen scheint dies nicht der Fall zu sein) Vermännlichung durch Aromatisierung. Östradiol maskulinisiert das Gehirn - Neonatale Östradiolinjektionen männl. Entwicklung - Dihydrotestosteron (kann nicht in Östradiol umgewandelt werden) weibl. Entwicklung - Wirkstoffe, die Aromatisierung beeinträchtigen weibl. Entwicklung Wie bleiben weibliche Feten i Mutterleib weiblich? - Alpha-Fetoprotein (AFP) inaktiviert weibl. Östradiol - Testosteron immun gegen AFP - AFP kann die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren 13.3.3 Perinatale Hormone und Verhaltensentwicklung Perinatales Testosteron maskulinisiert Männliches Sexualverhalten von Weibchen Mangel an perinatalem Testosteron demaskulinisiert männliche Ratten Einfluss perinataler Hormone auf prozeptives Verhalten (Werbeverhalten) noch unklar Die Aromatisierung des perinatalen Testosterons zu Östradiol scheint sowohl für die Defeminisierung als auch für die Maskulinisierung des Kopulationsverhalten von Nagetieren wichtig zu sein. 13.3.4 Pubertät: Hormone und die Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale 150 Die Pubertät geht mit einer Zunahme der Freisetzung von Hormonen durch den Hypophysenvorderlappen einher. Bei pubertierenden Jungen sind die Androgenspiegel höher als die Östrogenspiegel, was eine Maskulinisierung zur Folge hat. Bei putertierenden Mädchen überwiegen die Östrogene, was eine Feminisierung zur Folge hat. Individuen, die vor der Pubertät kastriert wurden, werden nicht geschlechtsreif, außer wenn sie Substitutionsinjektionen von Androgenen oder Östrogenen erhalten. 13.3.5 Drei außergewöhnliche Fälle der Sexualentwicklung Testikuläre Feminisierung/Androgen-Insensitivitäts-Syndrom: Mutation des Androgenrezeptorgens, die zu defekten Androgenrezeptoren führt. Während ihrer Entwicklung setzen die Hoden eine, für eine männliche Entwicklung normale Menge von Androgen frei. Der Körper kann jedoch nicht darauf reagieren, die Entwicklung verläuft daher so, als ob keine Androgene freigesetzt werden. Ohne die Wirkung der Androgene, die das weiblich Programm außer Kraft setzen, entwickeln sich äußere Genitalien, das Gehirn und das Verhalten in eine weibliche Richtung und die Hoden können nicht aus der Körperhöhle absteigen, da es kein Scrotum gibt, in das sie absteigen können. Keine Entwicklung von weiblichen Genital, da die Hoden, genau wie bei allen genetischen männlichen Feten, das Anti-Müller-Hormon freisetzen. In der Pubertät setzen die Hoden genug Östrogene frei, um den Körper zu feminisieren, da die entgegenirkenden Effekte der Androgene fehlten; jedoch konnten das in den Nebennierenrinden gebildete Androstendion das Wachstum der Scham- und Achselhaare nicht stimulieren. (Auf den Fall von Anne S. bezogen) Adrenogenitales Syndrom: Dies ist eine Störung der Sexualentwicklung, die durch eine kongenitale adrenale Hyperplasie 151 hervorgerufen wird – ein kongenitales (bereits bei Geburt vorhandenes) Defizit in der Freisetzung eines Hormons der Nebennierenrinde, dem Cortisol. Dadurch kommt es zu einer übermäßigen Freisetzung von adrenalen Androgenen. Beim männlichen Geschlecht hat dies kaum Auswirkungen, außer, dass die Pubertät früher beginnt. Frauen mit diesem Syndrom werden normalerweise mit einer vergrößerten Klitoris und teilweise verschmolzenen Schamlippen geboren. Ihre Gonaden und ihre inneren Genitalwege sind gewöhnlich normal entwickelt, da die Androgene der Nebennierenrinde zu spät freigesetzt werden, um die Entwicklung der Wolff-Gänge zu stimulieren. (Beispiel Elaine) Ablatio penis: Kastration (aufgrund misslungener Beschneidung), künstliche Vagina zu formen und ihn als Mädchen groß zu ziehen, und ihm während der Pubertät Östrogen zu verabreichen, um seinen Körper zu feminisieren. (Beispiel John) 13.3.6 „Bestätigen“ diese außergewöhnlichen Fälle die Regel? Obwohl die aktuellen Theorien nicht alle Fragen beantworten können, besonders wenn es um Dimorphismen im Gehirn und im Verhalten geht, so haben sie dennoch sehr zu unserem Verständnis einer außergewöhnlichen Sexualentwicklung beigetragen. 13.4 Auswirkungen der Sexualhormone auf Erwachsene 13.4.1 Männliches fortpflanzungsbezogenes Verhalten und Testosteron Die entscheidende Rolle der Sexualhormone bei der Aktivierung des männlichen Sexualverhaltens wird durch die asexualisiernde Wirkung einer Orchidektomie eindeutig belegt. Bremers Studie zu den Folgen einer Orchidektomie: 1. Reduktion des sexuellen Interesses und des sexuellen Verhaltens 2. Geschwindigkeit und das Ausmaß des Verlustes variabel ist. Von 102 Sexualstraftätern in Bremers Untersuchungen wurden nur drei erneut wegen einer Sexualstraftat verurteilt. Daher empfahl er die Kastration als einen letzten Ausweg zur erfolgreichen Behandlung männlicher Sexualstraftäter. Die Tatsache, dass Testosteron für das männliche Sexualverhalten notwendig ist, führte zu zwei weit verbreiteten Annahmen: 1. Dass das Ausmaß der Sexualität eines Mannes eine Funktion der Testosteronmenge in seinem Blut ist 2. Dass der Sexualtrieb eines Mannes durch eine Erhöhung seiner Testosteronspiegel verstärkt werden kann. Beide Annahmen sind falsch! Bei gesunden Männern sind Sexualtrieb und Testosteronspiegel nicht korreliert, und Testosteroninjektionen verstärken den Sexualtrieb nicht. Das Sexualverhalten von männlichen Meerschweinchen mit schwachem, mittlerem und starkem Sexualtrieb. Das 152 Sexualverhalten wurde durch die Kastration unterbrochen, kehrte aber im Anschluss an die hoch dosierten Testosteron- Substitutionsinjektionen wieder auf das ursprüngliche Niveau zurück (adaptiert aus Grunt & Young, 1952). 13.4.2 Weibliches fortpflanzungsbezogenes Verhalten und Sexualhormone Die enge Beziehung zwischen dem Zyklus der Hormonfreisetzung und dem Östrus-Zyklus – dem Zyklus der sexuellen Empfängnisbereitschaft- bei weiblichen Ratten und Meerhschweinchen und bei vielen anderen Säugetierarten weist darauf hin, dass das weibliche Sexualverhalten bei diesen Arten von Hormonen gesteuert wird. Frauen unterscheiden sich hinsichtlich der hormonellen Kontrolle des Sexualverhaltens von Ratten und Meerschweinchen. Weder die sexuelle Motivation noch das Sexualverhalten von Frauen stehen in einem engen Zusammenhang mit ihrem Menstruationszyklus. Die wichtigste Folge einer Ovariektomie bei Frauen ist, neben der Sterilität, eine verringerte vaginale Lubrikation (Vaginalsekret). Die Theorie, dass Androgene und NICHT Östrogene die Sexualität von Frauen steuern, wird durch drei Arten von Befunden gestützt: 5. Injektionen von Testosteron (nicht Östradiol) intensiviern das Sexualverhalten von gonadektomierten Rhesusaffenweibchen. 6. Sexuelle Bereitschaft bei Frauen korreliert mit Androgen und nicht mit Östradiolspiegel 7. Gebärmutter/Eierstockentfernung: Testosteroninjektionen stärken die sexuelle Motivation 13.4.3 Missbrauch anaboler Steroide Anabole Steroide (Anabolika) sind Steroide (z.B. Testosteron), die anabole (wachstumsfördernde) Wirkungen haben. Effekte von Anabolika auf die sportliche Leistung: Spärliche wissenschaftliche Belege; allerdings waren die Dosen bei Untersuchungen geringer, in kürzeren Zeiträumen und die Probanden trainierten nicht im Leistungssportbereich. Experten sind sich im Allgemeinen darin einig, dass Menschen, die hohe Dosen von Anabolika einnehmen, mehrer geschlechtsspezifische physiologische Nebenwirkungen riskieren. Verhaltenseffekte der Anabolika (angebliches aggressives Verhalten) dagegen sprechen drei Punkte: 1. Viele Menschen glauben, dass Testosteron mit Aggressivität zusammenhängt somit Berichte von aggressvien Verhalten von Steroidnutzern Folge dieser Erwartungen 2. Viele Personen waren wahrscheinlich schon vorher aggressiv (professionelle Boxer oder Footballspieler) 3. Aggressives Verhalten könnte eine indirekte Folge der Größen- und Muskelzunahme sein. 13.4.4 Neuroprotektive Wirkungen von Östradiol Die Entdeckung der neuroprotektiven Eigenschaften des Östradiols löst unter Neurowissenschaftlern einige Aufregung aus. Diese Eigenschaften könntenfür die größere Langlebigkeit von Frauen, für das geringere Auftreten mehrerer weit verbreiteter neuropsychologischer Erkrankungen, bei Frauen und für die Abnahme mancher kognitiver Funktionen Frauen nach der Menopause verantwortlich sein. 153 13.5 Neuronale Mechanismen des Sexualverahaltens Bedeutsame Unterschiede zwischen den Kulturen in Sexualpraktiken und sexuellen Präferenzen zeigen, dass beim Menschen die höchsten Ebenen des Nervensystems an der Kontrolle des Sexualverhaltens beteiligt sind. 13.5.1 Strukturelle Unteschiede zwischen dem männlichen und weiblichen Hypothalamus Nissl-gefärbte Koronarschnitte durch die Area preoptica von männlichen und weiblichen Ratten. Die sexuell dimorphen Kerne sind bei männlichen Ratten größer als bei weiblichen Ratten (adaptiert nach Gorski et al., 1978). Dieser Kern heißt sexuell dimorpher Kern. Auswirkungen einer neonatalen Testosteronexposition auf die Größe der sexuell dimorphen Kerne bei männlichen und weiblichen adulten Ratten (adaptiert nach Gorski, 1980) Eine Kastration von männlichen Ratten, die einen Tag alt sind (jedoch nicht bei vier Tage alten), führt zu einer signifikanten Verkleinerung ihrer sexuell dimorphen Kerne im Erwachsenenalter, während eine Testosteroninjektion bei neugeborenen weiblichen Ratten zu einer signifikanten Vergrößerung ihrer sexuell dimorphen Kerne führt. 154 13.5.2 Der Hypothalamus und das männliche Sexualverhalten Area preoptica medialis steuert männlichds Sexualverhalten (Kopulation). Eine vollständige Zerstörung dieses Bereichs löscht bei den Männchen aller bisher untersuchten Säugetierarten das Sexualverhalten aus. Anscheinend löschen bilaterale Läsionen der Area preoptica medialis bei beiden Geschlechtern das männliche Kopulationsverhalten. Bei Weibchen: Beseitigung löscht männliches Sexualverhalten und lässt weibliches Sexualverhatlen intakt. Die Befunde sind nicht eindeutig, sprechen aber deutlich für die Hypothese, dass die Area preoptica medialis an den motivationalen Aspekten des männlichen Sexualverhaltens beteiligt ist. Anscheinend steuert die Area preoptica medialis das männliche Sexualverhalten über eine Bahn, die zu einem Bereich des Mittelhirns projiziert, der als das laterale tegmentale Areal bezeichnet wird (Zerstörung dieser Bahn = Löschung des Sexualverhaltens) (Bild) Die hypothalamotegmentale Verbindungen, die beim Sexualverhalten von weiblichen und männlichen Ratten eine Rolle spielen. 13.5.3 Der Hypothalamus und das weibliche Sexualverhalten Der Nucleus ventromedialis (VMN) im Hypothalamus der Ratte enthält Schaltkreise, die anscheinend für das weibliche Sexualverhalten entscheidend sind. Weibliche Ratten mit bilateralen Läsionen des VMN zeigen keine Lordose (Rückratkrummung als Zeichen für die Bereitschaft zum Geschlechtsakt) und neigen dazu, allzu „glühende Freier“ anzugreifen. Der Einfluss des VMN auf das Sexualverhalten von weiblichen Ratten wird anscheinend über eine Bahn vermittelt, die zum periaquäduktalen Grau (PAG) des Tegmentum absteigt. Die Zerstörung dieser Bahn schaltet das weibliche Sexualverhalten aus, genauso wie die Läsion des PAG selbst. 13.6 Sexuelle Orientierung, Hormone und das Gehirn 13.6.1 Sexuelle Orientierung und Gene Hohe Konkordanzraten für Homosexualität: 52% der monozygoten Zwillingsbrüder und 22% der dizygoten Zwillingsbrüder homosexuell 13.6.2 Sexuelle Orientierung und perinatale Hormone Heterosexuelle und Homosexuelle unterscheiden sich nicht im Spiegel ihrer im Blutkreislauf zirkulierenden Hormone. Menschen stellen ihrer sexuellen Präferenzen fest, sie wählen sie nicht. Perinatale Hormone beeinflussen sexuelle Präferenz im Erwachsenenalter. Diethylstilböstrolbehandlung (ein synthetisches Östrogen) bei schwangeren Müttern. Antworten der Probandinnen wiesen darauf hin, dass sie sich wesentlich mehr zu Frauen hingezogen fühlten als eine Gruppe vergleichbarer Kontrollprobandinnen. Ehrhardt und Kollegen schlossen daraus, dass eine perinatale Östrogenexposition bei Frauen Homosexualität und Bisexualität begünstigt, dieser Effekt aber relativ schwach ist. 13.6.3 Was löst die Entwicklung der sexuellen Anziehung aus? 155 McClintock und Herdt (1996) weisen darauf hin, dass das Auftauchen von sexueller Anziehung durch die von der Nebennierenrinde freigesetzten Steroide stimuliert sein könnte. Im Gegensatz zur Reifung der Gonaden tritt die Reifung der Nebenniere im Alter von ungefähr 10 Jahren ein. 13.6.4 Untescheiden sich die Gehirne von Homosexuellen und Heterosexuellen? Bisher wurde kein konsistenter Unterschied zwischen den Gehirnen von Heterosexuellen und Homosexuelle entdeckt. 13.6.5 Transsexualität Transsexualität ist einen Störung der sexuellen Identität, bei der ein Mensch glaubt, dass er oder sie im Körper des anderen Geschlechts gefangen ist. 13.6.6 Die Unabhängigkeit der sexuellen Orientierung und der sexuellen Identität Heute ist klar, dass sich die Gehirne von Männern und Frauen in vielerlei Hinsicht unterscheiden und dass sich diese Unterschiede zu verschiedenen Zeitpunkten und über verschiedene Mechanismen entwickeln. 156 Kapitel 14: Schlaf, Traum und circadiane Rhythmen 14.1 Einführung: Fall der Miss M. die kaum schläft, ihr Tag dauert 23,5Std. Was hat dies für Konsequenzen? Fakten: – Mensch verbringt 175000 Std. seines Lebens mit Schlaf. – Täglich schläft der Mensch durchschnittlich acht Stunden. Wie viel Schlaf braucht der Mensch eigentlich? Zwei grundlegende Theorien zu der Wichtigkeit des Schlafes: 1) Schlaf hat eine gesundheitsfördernde, erholsame Wirkung. Jeder braucht so viel Schlaf, wie er sich leisten kann. 2) Viele Leute schlafen mehr, als sie eigentlich müssten. 14.2 Physiologie und Verhalten im Schlaf 14.2.1 Die drei psychophysiologischen Standardmaße des Schlafes Das EEG (Elektroenzephalogramm) misst die elektrische Aktivität des Gehirns Das EMG (Elektromyogramm) registriert Muskelbewegungen Das EOG (Elektro-Okulogramm) registriert Augenbewegungen 14.2.2 Die vier Stadien des Schlaf-EEGs Je größer die Amplitudengröße und je kleiner die Frequenz, desto entspannter ist der Mensch. Im Verlauf der Schlafstadien 1-4 nimmt die Amplitude des EEG-Singnals immer mehr zu, während die Frequenz abnimmt. Schlafstadium 1: Durch ein niederamplitudiges, hochfrequentes EEG-Signal charakterisiert, das dem EEG eines aktiven Wachzustandes ähnelt, jedoch langsamer ist. Schlafstadium 2: Weist eine leicht höhere Amplitude und eine leicht niedrigere Frequenz auf als das von Stadium 1. Außerdem wird es von zwei charakteristischen Wellenformen unterbrochen: von K-Komplexen und Schlafspindeln. Jeder K-Komplex ist eine einzelne große negative Welle (Ablenkund nach oben), unmittelbar gefolgt von einer einzelnen, großen, positiven Welle (Ablenkung nach unten). Jede Schlafspindel ist ein 1 bis 2sekündiges auf und ab von Wellen mit einer Frequenz von 12 bis 14 Hertz. Schlafstadium 3: Das EEG ist hier durch das gelegentliche Auftreten von Delta-Wellen – den größten und langsamste EEG-Wellen mit einer Frequenz von 1 – 2 Hertz – gekennzeichnet. 157 Schlafstadium 4: Dominanz von Delta-Wellen. Beim ersten Auftreten des Schlafstadiums 1 während einer Nacht (initiales Schlafstadium 1) zeigen sich keine auffälligen Veränderungen in der elektromyographischen oder elektrookulographischen Aktivität, wohingegen alle darauf folgenden Phasen des Schlafstadiums 1 (emergent stage 1) mit schnellen Augenbewegungen (REMs = rapid eye movements) und einem Verlust des Tonus der quergestreiften Muskulatur einhergehen. Dieser erste Schlafzyklus – vom initialen Schlafstadium 1 bis zum Schlafstadium 4 und wieder zurück – wiederholt sich im Verlauf der restlichen Nacht mehrmals. REM-Schlaf = Der Schlaf während des Schlafstadiums 1 (initiales Schlafst.1 ausgenommen), da er mit schnellen Augenbewegungen verbunden ist. Non-REM-Schlaf (NREM-Schlaf) = alle anderen Schlafstadien zusammengenommen. Slow-Wave-Sleep (SWS) = Schlafstadien 3 und 4, da die beiden Phasen durch Delta-Wellen charakterisiert sind. Abbildung : Der Verlauf der Schlafstadien während eines typischen Nachtschlafes sowie die Beziehung zwischen dem Schlafstadium 1(mit Ausnahme des initialen Schlafstadiums 1) und REM-Phasen sowie Tonusverlust der quergestreiften Muskulatur. 14.3 REM-Schlaf und Träumen 14.3.1 Überprüfung gängiger Vorstellungen über das Träumen Die Theorie, dass der REM-Schlaf das physiologische Korrelat des Träumens ist, wird stark durch die Beobachtung gestützt, das das Aufwecken aus dem REM-Schlaf in 80% der Fälle eine Traumerinnerung zur Folge hatte, das Aufwecken aus einem Non-REM-Schlaf jedoch nur in 7% der Fälle. Fünf Tatsachen über das Träumen: 1. Äußere Reize werden in Träume mit einbezogen. 2. Träume laufen in Echtzeit ab. 3. Alle Menschen Träumen. 4. Erektionen sind unabhängig vom Trauminhalt. 5. Sprechen im Schlaf (Somniloquie) und Schlafwandeln (Somnambulismus) kommt beim Träumen (REM Phase) am seltensten vor; meist in SWS 4 14.3.2 Die Interpretation der Träume Freud’sche Traumdeutung: Träume enthalten versteckte Botschaften (latente vs. Manifeste Träume /unbewusster Zensor) Aktivierungs-Synthese-Theorie (Hobson; 1989) moderne Sicht Geht davon aus, dass dem Cortex während des REM-Schlafs größtenteils zufällige Informationen zur Verfügung gestellt werden, und der daraus entstehende Traum der Versuch des Cortex ist, aus diesem zufälligen Signalen Sinn zu machen. „Bedeutung des Traums liegt in der Interpretation des Wirrwarrs“ 158 Träume haben Bedeutung; allerdings anderer Herkunft als von Psychoanalytikern postuliert. 14.3.3 Luzide Träume Schlafender ist sich bewusst, dass er träumt und dass er den Traumverlauf beeinflussen kann. Informationen über das Träumen können in die Welt übertragen werden (Es gibt Verfahren zur Untersuchung luzider Träume Beweise für die Existenz bleiben allerdings spärlich). 14.4 Warum schlafen wir, und warum schlafen wir so, wie wir schlafen? Es gibt zwei Arten von Theorien über den Schlaf. Regenerative Theorien des Schlafs: Die Kernannahme ist, dass wach sein die Homöostase (das innere physiologische Gleichgewicht) des Körpers irgendwie stört und Schlaf benötig wird, um sie wiederherzustellen. Circadiane Theorien des Schlafes: Die Kernannahme ist, dass der Schlaf keine Reaktion auf die störenden Auswirkungen des wach seins ist, sondern durch einen inneren Zeitgebermechanismus gesteuert wrid – d.h. dass wir Menschen alle darauf programmiert sind, nachts zu schlafen, unabhängig davon, was sich tagsüber ereignet hat. Die circadianen Theorien des Schlafes konzentrieren sich stärker darauf, wann wir schlafen als auf die Funktion des Schlafes 14.5 Die vergleichende Analyse des Schlafes 1.Die Tatsache, dass alle Säugetiere und Vögel schlafen, weist darauf hin, dass der Schlaf eine wichtige physiologische Funktion erfüllt, anstatt die Tiere einfach nur vor Unglücksfällen zu schützen und Energie zu sparen. 2. Da alle Säugetiere und Vögel schlafen, hat der Schlaf wahrscheinlich keine spezielle, höhere menschliche Funktion. 3. Die großen Unterschiede in der Dauer des Schlafs zwischen den verschiednen Arten lassen darauf schließen, dass Schlaf, obwohl er möglicherweise überlebensnotwendig ist, nicht unbedingt in großen Mengen benötigt wird. 4. Es gibt zwischen der Schlafdauer einer Art und ihrem Aktivitätsniveau, ihrer Körpergröße oder ihrer Körpertemperatur keinen klaren Zusammenhang. (Die circadianen Theorien sagen korrekt voraus, dass die tägliche Schlafdauer einer Art damit im Zusammenhang steht, wie verwundbar sie im Schlaf ist und wie viel Zeit sie jeden Tag mit Fressen verbringen muss oder mit anderen lebenserhaltenden Maßnahmen Bsp. Zebra schläft 2 Stunden Löwen nach Fresen teilweise 2 bis 3 Tage) 14.6 Circadiane Schlafzyklen Die Welt in der wir leben, durchläuft alle 24 Stunden einen Hell-Dunkel-Zyklus, und die meisten an der Erdoberfläche lebenden Arten haben sich an diese regelmäßige Veränderung in ihrer Umwelt angepasst indem sie unterschiedliche so genannte circadiane Rhythmen entwickelt haben ( Circadian bedeutet, ungefähr einen Tag dauernd). Unser Körper passt sich Tag für Tag auf verschiedenste Weisen an die Anforderungen der zwei Umwelten, in denen wir leben, an: an Licht und an Dunkel. Zeitgeber: Hinweisreize aus der Umgebung die circadiane Rhythmen steuern 14.6.1 Freilaufende circadiane Schlaf-Wach-Zyklen Circadiane Rhythmen unter konstanten Umweltbedinungen werden als freilaufende Rhythmen bezeichnet, und ihre Dauer als freilaufende Periode. Die freilaufenden Perioden dauern von Proband zu Proband unterschiedlich lang, sind innerhalb eines bestimmten Probanden aber relativ konstant und normalerweise länger als 24 Stunden- bei den meinsten Menschen ungefähr 25 Stunden. Ein bemerkenswertes Merkmal der freilaufenden circadianen Zyklen ist, dass sie nicht erlernt werden müssen. Die freilaufenden Perioden von Schlaf-Wach-Zyklen sind trotz tagtäglicher Schwankungen in der körperlichen und geistigen Aktivität sehr regelmäßig; diese Tatsache unterstreicht die Dominanz circadianer Faktoren über regenerative Faktoren bei der Steuerung 159 des Schlafes. Ein weiterer Befund zu freilaufenden circadianen Schlaf-Wach-Zyklen ist nicht mit den regenerativen Schlaftheorien vereinbar Wenn Probanden länger als gewöhnlich wach bleiben, schlafen sie anschließend kürzer anstatt länger. 14.6.2 Jetlag und Schichtarbeit Jetlag: Vorverlegung (Phasenvorverlegung) bzw. nach hinten Verschieben (Phasenverzögerung) der Zeitgeber. Schichtarbeit: Zeitgeber bleiben konstant, jedoch sind die Arbeiter gezwungen, ihren natürlichen Schlaf-Wach-Zyklus an die wechselnden Schichten anzupassen. Beeinträchtigung körperlicher und geistiger Funktionen Behandlungsansätze: Pahsenverzögerung statt Phasenverkürzung (bei Schichtarbeit) Antizipation der Phasenverkürzung Intensives Licht früh am Morgen oder intensives körperliches Training früh am Morgen des ersten Tages nach einem Flug Richtung Osten (Jetlag) 14.7 Schlafdeprivation Die regenerativen Schlaftheorien machen spezifische Vorhersagen über die Auswirkungen einer Schlafdeprivation (Schlafentzug). 8. Lange Wachphasen stören die physiologischen Abläufe und das Verhalten 9. Diese Störungen werden immer schlimmer, je länger die Schlafdeprivation andauert 10.Der versäumte Schlaf nach dem Ende einer Deprivationsphase größtenteils nachgeholt wird 14.7.3 Entzug bis zu 72 Stunden: keine Beeinträchtigung von Körperkraft und motorischer Leistung (aber schnellere Erschöpfung) Keine Beeinträchtigungen bei anspruchsvollen Aufgaben, aber Aufmerksamkeits-Defizite Keine Korrelation zwischen Dauer des Entzugs und Ausmaß der kognitiven Beeinträchtigung Nach 2-4 Tagen Deprivation; Mikrosleeps: kurze Schlafphasen, typischerweise circa 2 oder 3 Sekunden lang, in denen die Augenlieder zufallen und die Probanden kaum auf äußere Reize reagieren, obwohl sie sitzen oder stehen bleiben. 14.7.4 Unterschungen zur Schlafdeprivation an Labortieren Problem bei dieser Art von Experiment: Vielleicht hat das wiederholte Aufwecken durch die bewegte Plattform oder das noch schlimmere ins Wasser stoßen während des Schlafs die Experimentalratten getötet; weil es sie stresst und körperlich schädigt und nicht, weil es sie vom Schlafen abhält (passt zu den pathologischen Symptomen die post mortem festgestellt wurden: geschwollene Nebennieren, Magengeschwüre und innere Blutungen) 160 14.7.5 Deprivation des REM-Schlafs Die Deprivation es REM-Schlafs hat zwei konsistente Auswirkungen. 1. Nimmt mit jeder weiteren deprivierten Nacht bei den Probanden die Neigung zur Initiierung von REMSchlaf zu. 2. Bei den Probanden kommt es zu einem REM-Rebound; d.h. sie zeigen in den erseten zwei oder drei Nächten mehr REM-Schlaf als normalerweise. Über die Funktion des REM-Schlafs wurden zahlreiche Theorien aufgestellt (meisten lassen sich einer von drei Kategorien zuordnen). 1. REM-Schlaf zur Aufrechterhaltung der geistigen Gesundheit 2.REM-Schlaf zur Aufrechterhaltung eines normalen Motivationsniveaus notwendig. 3. REM-Schlaf zur Verarbeitung von Erinnerungen notwendig. Kritischer Test: trizyklische Antidepressiva blockieren selektiv den REM-Schlaf, sind aber ohne ernsthafte Begleiterscheinungen. Eine neuere Theorie die „Default“-Theorie des REM-Schlafs besagt, dass es schwierig ist, ununterbrochen im REM Schlaf zu bleiben, sodass das Gehirn periodisch in einen von zwei weiteren Zuständen wechselt. Nach dieser Theorie sind der REM-Schlaf und der Wachzustand ähnliche Zustände, jedoch ist der REM-Schlaf adaptiver (anpassen), wenn keine unmittelbaren körperlichen Bedürfnisse zu erfüllen sind. Diese Theorie wird indirekt durch die vielen Ähnlichkeiten zwischen dem REM-Schlaf und dem Wachzustand gestützt. 14.7.6 Schlafdeprivation steigert die Effizienz des Schlafes Menschen werden unter Schlafentzug zu effizienteren Schläfern. Das besondere ist, dass ihr Schlaf einen höheren Anteil an Slow-Wave-Schlaf hat, der wahrscheinlich wichtige regenerative Funktionen erfüllt. Es spricht dafür, dass 4. Probanden holen nach Schlafdeprivation zwar nur einen kleinen Teile ihres Schlafes nach, diesen aber in Schlafstadium 4 5. EEG des Slow-Wave-Schlafes beim Menschen enthält nach einer Schlafdeprivation einen höheren Anteil langsamer Welllen als normalerweise. 6. Kurzschläfer haben normalerweise genauso viel Slow-Wave-Schlaf wie Langschläfer. 7. Das EEG von Probanden, die am Morgen nach einer durchgeschlafenen Nacht ein zusätzliches Nickerchen machen, zeigt nur wenige langsame Wellen, und das Nickerchen reduziert nicht die Dauer des nachfolgenden Nachtschlafes. 8. Probanden, die allmählich ihre normale Schlafdauer reduzieren, verbringen zwar weniger im Schlafstadium 1 und 2, die Dauer ihrers Slow-Wave-Schlafes bleibt jedoch ungefähr gleich. 9. Das wiederholte Wecken der Probanden während des REM-Schlafes am nächsten Tag führt zu wenig, wenn überhaupt mehr Schläfrigkeit, während das wiederholte Wecken der Probanden während des Slow Wave-Schlafes gravierende Effekte hat. 161 14.8 Vier für den Schlaf wichtige Bereiche des Gehirns 14.8.1 Zwei wichtige für den Schlaf Bereiche des Hypothalamus 14.8.2 Retikuläres Aktivierungssystem und Schlaf 14.8.3 Retikuläre Kerne und REM-Schlaf Dieser Sagittalschnitt durch den Hirnstamm der Katze veranschaulicht die Bereiche, die die verschiedenen physiologischen Charakteristika des REM-Schlafes kontrollieren (adaptiert aus Vertes, 1983). 162 Der REM-Schlaf, der Slow-Wave-Schlaf und der Wachzustand werden nicht jeweils durch einen einzigen Mechanismus gesteuert. Jeder dieser Zustände scheint vielmehr durch die Interaktion mehrerer Mechanismen zu entstehen, die unter bestimmten Bedingungen unabhängig voneinander operieren können. 14.9 Die circadiane Uhr: Neuronale und molekulare Mechanismen Die Tatsache, dass die circadianen Schlaf-Wach-Zyklen auch bei Awesenheit zeitlicher Hinweisreize in der Umwelt bestehen bleiben, weist darauf hin, dass die physiologischen Systeme, die den Schlaf regulieren, durch einen internen Zeitgebermechanismus gesteuert werden – die so genannte circadiane Uhr. 14.9.1 Die Lokalisation der circadianen Uhr im Nucleus suprachiasmaticus 2 Belege: 1. Richter (1967) entdeckte, das ausgedehnte Läsionen des medialen Hypothalamus bei Ratten die circadianen Fress-, Trink- und Aktivitätszyklen beeinträchtigen. Danach Nachweis, dass spezifische Läsionen des Nucleus suprachiasmaticus (NSC) im medialen Hypothalamus verschiedene circadiane Zyklen, einschließlich der Schlaf-Wach-Zyklen, unterbrechen. 2. Ralph et al. (1990) Transplantationsexperimente bei Ratten. Entfernung des NSC bei Feten eines Stammes mutierter Hamster, die einen abnormal kurzen freilaufenden Schlaf-Wach-Zyklus besaßen und transplantierten den NSC in normale adulte Hamster, deren freilaufende Schlaf-Wach-Zyklen von 25 Stunden druch NSC-Läsione beseitigt worden waren. Gibt auch noch weitere circadiane Zeitgeber! 14.9.2 Die Mechanismen der Synchronisation Die Entdeckung des Tractus retinohypothalamicus. Ausgehend von jeder Retina projizieren Neurone bilateral zum Nucleus suprachiasmaticus. 163 14.9.3 Die Genetik der circadianen Rhythmen Die Identifikation der circadianen Gene hatte zwei wichtige Entdeckungen zur Folge. 1. Dieselben oder ähnliche Gene wurden für circadiane Rhythmen bei vielen Spezies mit unterschiedlichem evolutionärem alter entdeckt. 2. Die Identifikation der circadianen Gene eröffnete eine direktere Methode zur Untersuchung der Fähigkeit anderer Körperstrukturen, außer dem NSC, circadiane Rhythmen zu generieren. 14.10 Pharmakologische Beeinflussung des Schlafs Zwei Klassen von Pharmaka, die den Schlaf beeinflussen. Die Hypnotika fördern den Schlaf, Antihypnotika hemmen ihn. Eine dritte Klasse besteht aus Pharmaka, die den circadianen Rhythmus des Schlafes beeinflussen; die wichtigste Substanz dieser Klasse ist das Melatonin. 14.10.1 Hypnotika Benzodiazepine verstärken kurzfristig die Schläfrigkeit, verkürzen die Zeit bis zum Einschlafen, reduzieren die Häufigkeit des nächtlichen Erwachens und erhöhen die Gesamtschlafdauer. Diese helfen bei gelegentlich auftretenden Schlafstörungen. Wenn langfristig eingesetzt: 1. Entwicklung einer Toleranz höhere Dosen 2. Beendigung ruft Insomnie hervor 3. chronischer Benzodiazepingebrauch abhängig 4. Verzerrung des normalen Schlafmusters länger Stadium 2 weniger Stadium 4 und REM-Schlaf 5-Hydroxytryptophan (5-HTP); Injektion hilft bei Insomnie (Schlaflosigkeit) bei Rtten und Katzen. Allerdings nicht bei Menschen. 14.10.2 Antihypnotika Zwei Hauptklassen: Die Stimulantien (z.B. Kokain) und die trizyklischen Antidepressiva. Steigern die Aktivität der Catecholamine (Noradrenalin, Adrenalin und Dopamin), indem sie entweder ihre Freisetzung verstärken oder ihre Wiederaufnahme (Reuptake) aus der Synapse hemmen oder beides zugleich tun. 164 14.10.3 Melantonin Melantonin ist ein Hormon, das in der Epiphyse (Zirbeldrüse) aus dem Neurotransmitter Serotonin synthetisiert wird. Exogenes (extern erzeugtes und zugeführtes) Melatonin verbessert den Schlaf von Insomnie-Patienten, die an einem Melatonindefizit leiden und von blinden Patienten, deren Schlafstörungen auf die fehlende Synchronisation durch den Hell-Dunkel-Zyklus zurückzuführen sind. 14.11 Schlafstörungen Viele Schlafstörungen lassen sich in einer von zwei komplementären Katgegorien zuordnen. Zur Insomnie gehören alle Einschlaf- und Durchschlafstörungen, während die Hypersomnie Störungen mit übermäßiger Schlafdauer oder Schläfrigkeit umfasst. Eine dritte Klasse beinhaltet die Störungen, die spezifisch mit einer REM-Schlaf-Dysfunktion zusammen hängen. 14.11.1 Insomnie Viele Fälle von Insomnie sind iatrogen (durch den Arzt) verursacht (verschriebene Schlafmittel von Ärzten ein Hauptursache der Insomnie). Die Schlafapnoe ist eine weitere häufige Ursche für Insomnie. Bei dieser hören die Patienten jede Nacht mehrere Male auf zu atmen. Dabei wachen sie jedes Mal auf, beginnen wieder zu atmen und schlafen wieder ein führt zu dem Gefühl schlecht geschlafen zu haben. Ein nächtlicher Myoklonus ist eine periodisch im Schlaf auftretende Muskelzuckung des Körpers, gewöhnlich der Beine. (nicht des Problems bewusst) Restless-Legs-Syndrom; Patienten klagen über eine schwer zu beschreibende Spannung oder ein unbehagliches Gefühl in ihren Beinen, das sie am Einschlafen hindert. (Problem bewusst) Insomnie ist nicht unbedingt ein Problem von zuwenig Schlaf; das Problem ist oft zu enig ungestörter Schlaf. 14.11.2 Hypersomnie Narkolepsie; 1. Tagsüber starke Schläfrigkeit und wiederholte, kurze (10- bis 15minütige) Schlafepisoden auf. 2. Zweite Leitsymptom ist die Kataplexie, diese ist durch einen wiederholt auftretenden Musekltonusverlust im Wachzustand gekennzeichnet, der oft durch ein emotionales Erlebnis ausgelöst wird. Die Schlafparalyse ist die Bewegungsunfähigkeit beim Einschlafen oder Aufwachen. Hypnagoge Halluzinationen sind traumartige Erlebnisse während des Wachzustandes. Dies sind beides weitere Symptome bei Narkoleptikern. 14.11.3 Störungen des REM-Schlafes Kataplexie (Schrecklähmung, ‚Schreckstarre); Narkolepsie; Schlaflähmung 14.11.6 Langfristige Schlafreduktion durch Nickerchen Die meisten Säugetiere und auch Kleinkinder zeigen polyphasische Schlafzyklen, d.h. sie schlafen normalerweise mehr als einmal am Tag. Im Gegensatz dazu neigen die meinsten erwachsenen Menschen zu monophaischen Schlafzyklen, d.h. sie schlafen einmal pro Nacht. Die Forschung hat gezeigt, dass Nickerchen eine regenerative Wirkung haben, die in keinem Verhältnis zu ihrer kurzen Dauer steht, was darauf hindeutet, dass der polyphasische Schlaf besonders effizient sein könnte. 165 Kapitel 15: Drogenabhängigkeit und die Belohnungszentren des Gehirns 15.2 Grundlegende Prinzipien der Drogenwirkung Psychoaktive Drogen sind Drogen, die unser subjektives Erleben und unser Verhalten durch ihrer Wirkung auf das Nervensystem beeinflussen. Dorgen werden normalerweise auf eine der folgenden Arten verabreicht: orale Einnahme, Injektion, Inhalation oder Absorption durch die Schleimhäute der Nase, des Mundes oder des Rektums. Injektion: subkutan (SK) in das Fettgewebe unmittelbar unter die Haut; intramuskulär (IM) in große Muskeln, oder intravenös (IV) direkt in die Vene. Die Wirkung der meiten Drogen wird über Enzyme beendet, die von der Leber synthetisiert werden. Diese Leberenzyme stimulieren die Umandlung von aktiven Drogen in nichtaktive Formen – ein Prozess der Metabolisierung der Droge genannt wird. 15.2.5 Drogentoleranz Drogentoleranz entspricht einer herabgesetzten Sensitivität gegenüber einer Droge infolge der Exposition gegenüber der Droge. Zwei Arten wie eine Toleranz demonstriert wird: 1. Bestimmte Droge wirkt nach einer Drogenexposition weniger. 2. Große Menge der Droge ist nötig, um den Effekt zu erreichen. Es gibt drei wichtige Punkte, die man sich zur Spezifität der Drogentoleranz merken sollte: 1. Kreuztoleranz; Die Exposition gegenüber der Droge kann Toleranz gegenüber einer anderen Droge erzeugen, die über denselben Mechanismus verfügt. 2. Gegenüber einigen Wirkungen einer Droge kann sich eine Toleranz entwickeln, während gegenüber anderen Wirkungen derselben Droge die Sensitivität zunimmt – eine Steigerung der Sensitivität gegenüber einer Droge wird als Sensitivierung bezeichnet. 3. Drogentoleranz ist kein einheitliches Phänomen, was bedeutet, dass es keinen einzelnen Mechanismus gibt, der allen Toleranzphänomenen zugrunde liegt. Drogentoleranz beruht auf zwei Arten von Veränderungen: 3.1 Toleranz infolge von Veränderungen, die die Menge der Droge an den Wirkungsorten reduziert wird als metabolische Toleranz, bezeichnet. 3.2 Toleranz infolge von Veränderungen, die die Reaktivität der Wirkungsorte der Droge reduziert wird als funktionelle Toleranz, bezeichnet. 15.2.6 Entzugserscheinungen und physische Abhängigkeit Entzugssyndrom; plötzliche Elimination der Droge verbunden mit einer negativen körperlichen Reaktion. 166 Die Wirkung eines Drogenentzugs sind praktisch immer den anfänglichen Wirkungen der Droge entgegengesetzt. Wenn Personen unter Entzugserscheinungen leiden, sobald sie den Konsum einer Droge beenden, spricht man von einer physischen Abhängigkeit. Die Beziehung zwischen Toleranz und Entzugserscheinungen. Dieselben adaptiven neurophysiologischen Veränderungen, die sich als Reaktion auf die Drogenexposition entwickeln und Toleranz erzeugen, manifestieren sich als Entzugs-erscheinungen, wenn die Droge abgesetzt wird. Während sich die neurophysiologischen Veränderungen entwickeln, nimmt die Toleranz zu; während sie sich zurückbilden, nimmt die Stärke der Entzugserscheinungen ab. 15.2.7 Abhängigkeit: Was ist das? Substanzabhängigkeit ist der fortgesetzte Konsum einer Droge, trotz deren nachteiligen Auswirkungen auf Gesundheit und Sozialleben und trotz wiederholer Versuche, den Konsum zu beenden. Psychische Abhängigkeit wurde als Ursache für jeden zwanghaften Drogenkonsum bei fehlernder körperlicher Abhängigkeit angesehen. Da es inzwischen allerdings klar ist, dass die körperliche Abhängigkeit nicht der wichtigste motivationale Faktor der Abhängigkeit ist, besteht kaum mehr Bedarf für die Sonderkategorie der psychischen Abhängigkeit. 15.3 Die Bedeutung von Lernen für Drogentoleranz und Drogenentzug 15.3.1 Kontingente Drogentoleranz Die kontingente Toleranz bezieht sich auf Befunde, nach denen sich eine Toleranz nur gegenüber denjenigen Drogenwirkungen entwickelt, die tatsächlich auch erlebt werden. Die meisten Unterschungen der kontingenten Toleranz verwenden ein Vorher-Nachher-Design, bei dem zwei gruppen von Versuchstieren dieselbe Abfolge von Drogeninjektionen erhalten. 167 Kontingente Toleranz gegenüber der antikonvulsiven Wirkung von Alkohol. Die Ratten, die den Alkohol bei jedem Lerndurchgang vorder konvulsiven Stimulation erhielten, wurden gegenüber seiner antikonvulsiven Wirkung tolerant; die Ratten, die dieselben Injektionen bei jedem Lerndurchgang nachder konvulsiven Stimulation erhielten, wurden nicht tolerant (adaptiert aus Pinel, Mana & Kim, 1989). Schädigende Wirkung des Alkohols auf Sexualverhalten (Sex nach Injektion) Anorektische Wirkung von Cholecystokinin (Fressen nach Injektion) Schädigende Wirkung des Alkohols auf räumliches Verhalten (Labyrinth nach Alkohol) 15.3.2 Konditionierte Drogentoleranz Die konditionierte Toleranz bezieht sich auf Befunde, nach denen die Toleranzwirkungen dann maximal zum tragen kommen, wenn einer Droge in der Situation verabreicht wird, in der sie zuvor schon verabreicht wurde. Siegel hat die hypothetische entgegenwirkende konditionierte Reaktion als konditionierte kompensatorsische Reaktion bezeichnet. Die Theorie besagt, dass Reize, die wiederholt die Wirkungen einer Droge vorhersagen, allmählich immer stärkere konditionierte kompensatorische Reaktionen auslösen, die den unkonditionierten Wirkungen der Droge zunehmend entgegenwirken und dadurch eine situationsspezifische Toleranz hervorrufen. Obwohl sich Toleranz für viele Drogenwirkungen entwickelt, tritt manchmal auch das Gegenteil – eine Sensitivierung – auf. Die Drogensensitivierung kann, genauso wie die Toleranz, situationsspezifisch sein. Merkmale der Situation sind entscheidend für Toleranzentwicklung (situative Toleranz) 168 15.3.3 Konditionierte Entzugserscheinungen Entzugserscheinungen, die durch Drogenumgebung oder andere drogenassoziierte Hinweisreize ausgelöst werden, werden als konditionierte Entzugerscheinung bezeichnet. Konditionierte Morphinentzugserscheinungen bei Ratten. Wenn man Ratten in eine Umgebung setzt, in der sie zuvor die Wirkungen von Morphin erlebt hatten, löst diese Umgebung Morphinentzugserscheinungen aus. 15.4 Fünf häufig missbrauchte Drogen Tabak, Alkohol, Marihuana, Kokain und Opiate 169 15.4.1 Tabak Beim Rauchen einer Zigarette werden Nikotin – der wichtigste psychoaktive Bestandteil des Tabaks – und ungefähr 4000 weitere chemische Substanzen, die zusammengefasst als Teer bezeichnet werden, über die Lunge absorbiert. Es besteht kein Zweifel, dass starke Raucher in jeder Hinsicht drogenabhängig sind. Das zwanghafte Verlangen nach der Droge (das „Craving“) ist bei jedem gewohnheitsmäßigen Raucher sichtbar. Die Folgen eines langfristigen Tabakgebrauchs snd alamierend. Zum Rauchersyndrom gehören Brustschmerzen, erschwerte Atmung, Keuchen, Husten und eine erhöhte Anfälligkeit für Inektionen der Atemwege. Menschen, die an der Winiwarter-Buerger-Krankheit leiden, sind ein schockierendes Beispiel für das Abhängigkeitspotential des Nikotins. Bei der Winiwarter-Buerger-Krankheit verengen sich die Blutgefäße, v.a. die in den Beinen, sobald Nikotin in die Blutbahn gelangt. Die anscheinend entspannende Wirkung des Rauchens spiegelt lediglich die zeitweilige Aufhebung der Anspannung wider, die durch die Abhängigkeit bedingt ist. 15.4.2 Alkohol Da die Alkoholmoleküle klein und sowohl in Wasser als auch in Fett löslich sind, dringen sie in alle Teile des Körpers ein. Alkohol wird als Sedativum (Beruhigungsmittel) klassifiziert, da der in mittleren bis hin zu hohen Dosen die neuronale Aktivität dämpft. Alkoholentzugssyndrom besteht aus 3 Phasen: 1. 5 oder 6 Stunden nach der Beendigung einer längeren Phase starken Trinkens (Tremor, Agitiertheit, Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Bauchkrämpfe, starkes Schwitzen manchmal Halluzinationen) gekennzeichnet. 2. 15 bis 30 Stunden nach der Beendigung des Trinkens (Krampfanfälle) 3. Einen Tag oder zwei nach der Beendigung des Trinkens beginnt die dritte Phase. Diese hält für 3 oder 4 Tage an und wird als Delirium Tremens bezeichnet (beunruhigende Halluzinationen, bizarre Wahnvorstellungen, Agitiertheit, Verwirrtheit, Hyperthermie (hohe Temperatur) und Tachykardi (schneller Herzschlag) Alkohol greift beinahe jedes Gewebe im Körper an. Der chronische Alkoholkonsum erzeugt eine ausgedehnte Hirnschädigung und das Korsakoff-Syndrom; eine neuropsychologische Störung, die durch einen schweren Gedächtnisverlust, sensorische und motorische Funktionsstörungen sowie eine schwere Demenz gekennzeichnet ist. Der chronische Alkoholkonsum verursacht auch eine umfangreiche Vernarbung der leber (Zirrhose). Alkoholembryopathie; wenn Mütter während der Schwangerschaft wesentliche Mengen an Alkohl trinken Erweiterung der Blutgefäße →Wärmeabgabe →Hypothermie 15.4.3 Marihuana Unter Marihuana versteht man normalerweise die getrockneten Blätter und Blüten von Cannabis sativa –der gemeinen Hanfpflanze. Die psychoaktiven Wirkungen von Marihuana sind hauptsächlich auf einen Bestandteil zurückzuführen, der THC (Delta-9-Tetrahydrocamnabinol) genannt wird. Die meisten Cannabinoide (chemische Substanzen derselben Klasse wie THC) sind im Harz vorhanden, dass die Blätter und Blüten der Pflanze bedeckt; extrahiert und getrocknet entsteht eine dunkle, korkähnliche Masse Haschisch Marihuana besitzt ein niedriges Abhängigkeitspotential; bei dauerhaften Konsum bildet sich eine Toleranz; Nebenwirkungen (z.B Übelkeit, Schwitzen, Zittern etc) selten ausgenommen unter Laborbedinungen wo hohe Dosen oral verabreicht wurden. Negative Folgen (regelmäßiger Konsum): Atemwegsprobleme (Husten, Bronchitis, Asthma); Tachykardie (erhöhte Herzrate, daher können einzelne hohe Dosen bei anfälligen Personen einen Herzinfarkt auslösen ältere Männger) Es gibt keine überzeugenden Belege dafür, dass der Marihuanakonsum eine Hirnschädigung bedingt, wobei aber die Belege bezügliche der Gedächtnisdefizite komplexer sind. Klinischer Nutzen: Verringerung der Übelkeit bei Krebspatienten; Appetitsteigerung; Krampfanfälle verhindert, Bronchiolen von Astmatikern werden erweitert 170 Wirkungsweise: THC bindet an Rezeptoren, die in den Basalganglien, dem Hippocampus, dem Cerebellum und dem Neocortex besonders häufig vorkommen (größten Teil seiner Wirkung wahrscheinlich durch Bindung an Cannabinoidrezeptoren entfaltet). 15.4.4 Kokain und andere Stimulantien Stimulantien sind Drogen, deren Hauptwirkung darin besteht, ene allg. Steigerung der neuronalen und Verhaltensaktivität herbeizuführen. Kokain wird aus den Blättern des Kokastrauchs hergestellt. Direkt aus den Blättern vorher Auszug (Kokapaste) hergestellt und gegessen. Heute wird diese weiterverarbeitet und daraus Kokainhydrochlorid extrahiert weißes Pulver, dass Kokain genannt wird, geschnupft oder injiziert. Kokainhydrochlorid kann in seine basische Form umgewandelt werden; Kochen in Backpulverlösung bis das Wasser verdampft ist. Der verunreinigte Rückstand ist das so genannte Crack, eine potente, billige und rauchbare Form des Kokains. Kokainhydrochlorid ist ein wirksames Lokalanästhetikum. Wirkung: Welle des Wohlbefindens, extravertiert, gesprächig, selbsticher geringes Nahrungs- und Schlafbedürfnis. Allg. bei Kokain oder Crack: Durchquerung der Blut-Hirnschranke; Zeit bis zur Wirkung ca 10-30 min; Dauer des Rausches ca 20-90 min; noch nach Wochen im Haar nachweisbar. Folgen: Schlaflosigkeit, Zittern, Übelkeit, Hyperthermie und psychotisches Verhalten Kokainpsychose Symptome ähneln einer paranoiden Schizophrenie (wird häufig fälschlicherweise diagnostiziert) Obwohl es hochgradig abhängig macht treten nach „Kokainpartys“ nur leichte Entzugserscheinungen auf Kokain fördert katecholaminerge Übertragung, indem es die Wiederaufnahme (reuptake) der Catecholamine (Dopamin, Noradrenalin und Adrenalin) in die präsynaptische Neuronen blockiert. Entzug von Kokain: Reduzierung des cerebralen Blutflusses Minderaktivität vor allem in Frontalhinr Wahnvorstellungen, depressive Zustände, suizidale Gedanken. 15.4.5 Opiate: Heroin und Morphin Opium – der Saft, der von den Kapseln des Schlafmohns abgesondert wird – hat mehrere psychoaktive Bestandteile. Die bedeutendsten sind Morphin und sein schwächerer Verwandter Kodein. 171 Opiate haben zwei Gesichter: positive Seite; als Analgetike (Schmerzmittel) unerreicht effektiv sind und sich mit ihnen außderm Husten und Durchfall äußerst wirksam behandeln lassen. Negative Seite; das Risiko einer Abhängigkeit Wirkung: überwältigendes Gefühl (rush) das auf die intravenöse Injektion folgt. Der Heroinflash ist eine Welle von Intensiven, abdominalen, organischen Wohlbefinden, das sich zu einem Zustand gelassener, schläfriger Euphorie entwickelt. Die Opiattoleranz trägt dazu bei, dass die Abhängigen höhere und potentere Drogen (z.B Heroin) konsumieren und direktere Applikationswege (z.B. die IV-Injektion) nutzen. Obwohl Opiate hochgradig abhängig machen sind direkten Gesundheitsrisiken eines chronischen Konsums gerng: Verstopfung, Pupillenkonstriktion, Menstruationsstörungen und reduzierte Libido. Der Opiatentzug ist etwa so gefährlich wie eine schwere Grippe –weit entfernt von den Krämpfen, dem Delirium und der Lebensgefahr, mit der der Alkoholentzug verbunden ist. Wirkungsweise: Opiate wirken wahrscheinlich ähnlich wie Marihuana, indem sie an bestimmten Rezeptoren binden, an die normalerweise endogene chemische Substanzen binden. Die endogenen chemischen Verbindungen, die an die Opiatrezeptoren binden, werden als Endorphine bezeichnet. 15.5 Biopsychologische Theorien der Abhängigkeit Theorien der physischen Abhängigkeit Entzugserscheinungen zwingen zu erneutem Drogenkonsum. Aber: Entgiftung wirkungslos Rückfälle: Versuch konditionierten Entzugssymptomen entgegenzuwirken aber: -situationsbedingte Effekte ähneln der Drogenwirkung Vorliebe für Hinweisreize auch ohne Drogenkonsum Positiver-Anreiz Theorie Grundlage der Sucht ist die Erwartung des mit der Drogeneinnahme verbunden Wohlgefühls Entkopplung von Wohlbefinden und positiven Anreiz Eine bestimmte positive Anreiztheorie: Anreiz-Sensitivierungs-Theorie („incentive-senzitization theory“) Grundlage der Abhängigkeit ist nicht das durch den Drogenkonsum hervorgerufene Wohlbefinden (Mögen oder „linkin“) an sich ist, sondern die Antizipation des Wohlbefindens (Wollen oder „wanting“) des Drogenkonsums (also der pos. Anreizwert der Drogen) Viele Hinweise deuten darauf hin, dass der positive Anreizwert der abhängig machenden Dorgen der wichtigste Faktor der Abhängigkeit ist Intrakranielle Selbststiumlation und die Belohnungszentren des Gehirns 15.6.2 Das mesotelencephale Dopaminsystem und die intrakranielle Selbststimulation Das mesotelencephale Dopaminsystem spielt bei der intrakraniellen Selbststiumaltion eine wichtige Rolle. Es ist ein System dopaminerger Neuronen, das vom Mesencephalon (dem Mittelhinr) aus zu verschiednen Regionen des Telencephalons projiziert. Die Auffassung, dass die mesocorticolimbische Bahn eine wichtige Rolle bei der Vermittlung der Wirkung der intrakraniellen Selbstimulation spielt, wurde durch Befunde aus verschiedenen Arten von Untersuchungen gestützt. 172 1. Viele Stellen im Gehirn, an denen eine Selbststiumulation stattfindet, sind Teil des mesotelencephalen Dopaminsystems. Einige Bereiche, an denen eine Selbstimulation stattfindet und die keine dopaminergen Neuronen enthalten, projizieren direkt zum mesotelencephalen Dopaminsystem. 2. Bei Unterschungen mittels Methoden der cerebralen Dialyse werden, während das Versuchstier aktive ist, kontiknuierlich aus bestimmten Breichen des Gehirns kleine Proben der Extrazellulärflüssigkeit entnommen und später chemisch analysiert. Solche Untersuchungen haben gezeigt, dass die intrakranielle Selbstimulation oft mit einer erhöhten Dopaminfreisetzung in der mesocorticolimbischen Bahn einhergeht. 3. Dopaminagonisten erhöhen die intrakranielle Selbstimulation, Dopaminantagonisten verringern sie. 4. Läsionen der mesocorticolimbischen Bahn beeinträchtigen die intrakranielle Selbststimulation. 15.7 Neuronale Mechanismen der Motivation und der Abhängigkeit Suche nach den neuronalen Mechanismen der Dorgenabhängigkeit hat sich auf die mesocorticolimbische Bahn konzentriert (3 Gründe). 1. Aufgrund der zunehmenden Anerkennung, dass die belohnende Wirkung der Droge und nicht die Reduzierung der Entzugssymptome die Hauptfraktoren der Abhängigkeit sind. 2. Weil diese Bahn bei der intrakraniellen Selbststimulation (die Stellen, die in der Lage sind dieses Phänomen zu vermitteln werden oft als Belohnungszentren (bzw. Verstärkerzentren) bezeichnet) eine entscheidende Rolle spielt. 3. Weil diese Bahn für die Vermittlung der Wirkung natürlicher Verstärker (z.B Nahrung und Sex) wichtig ist. 15.7.5 Dopamin, Nucleus accumbens und Abhängigkeit: Die aktuelle Sicht Es gibt kaum Zweifel, dass Dopamin und der Nucleus accumbens für Belohnungen und Abhängigkeit eine Rolle spielen. Jedoch wissen die Forscher gegenwärtig nicht genau, wie diese Beteiligung aussieht. 1. Viele Befunde bringen das Dopamin und den Nucleus accumbens mit Belohnung und Abhängigkeit in Zusammenhang, sodass es kaum fraglich ist, dass sie in irgendeiner Form eine Rolle spielen. 2. Andererseits zeigen viele Belege, dass der Nachweis einer Beteiligung des Dopamins lediglich ein erster, stark vereinfachter Schritt zum Verständnis der neuronalen Mechanismen von Belohnung und Abhängigkeit ist. 3. Die Entwicklung vieler Verbindungen zwischen den Mechanismen von Belohnung und Abhängigkeit unterstützen die positive Anreiztheorie der Abhängikeit. 173 Kapitel 16: Lateralisierung, Sprache und das geteilte Gehirn 16.1 Das linke und das rechte Gehirn der Sprache Die linke und die rechte Hemisphäre besitzen unterschiedliche Fähigkeiten und sind in der Lage, unabhängig voneinander zu funktionieren – unterschiedliche Gedanken, Erinnerungen und Gefühle zu haben. 16.2 Die cerebrale Laterisierung von Funktionen: Eine Einführung 16.2.1 Aphasie, Apraxie und links-hemisphärische Schädigung Aphasie: 1. Ursache – plötzlich auftretende Hirnschädigung (umschriebene kortikale Läsion der linken Hemisphäre 2. sprachliche Leistung der Betroffenen ist beeinflusst; Störung des Sprachsystem (Sprachstörung, keine Sprechstörung!) nach abgeschlossenem Spracherwerb 3. betrifft sprachliche Leistungen bei relativer Intaktheit von Intelligenz und Gedächtnis 4. ist eine Störung aller sprachlichen Modalitäten (d.h. Sprechen, Verstehen, Schreiben, Lesen) und Ebenen (d.h. Phonologie, Morphologie, Semantik, Syntax und Pragmatik) 5. Aphasien sind ab einem bestimmten Zeitpunkt nach der Hirnschädigung relativ chronisch und stabil Apraxie: Wie eine Aphasie, nahezu immer mit einer linkshemisphärichen Schädigung verbunden ist, trotz der Tatsache, dass ihre Symptome bilateral (auf beiden Seiten des Körpers) auftreten. Apraxie-Patienten haben Schwierigkeiten, aus dem Zusammenhang gerissene Bewegungen 174 auszuführen, wenn man sie dazu auffordert, obwohl sie häufig keine Schwierigkeiten hatten, dieselben Bewegungen auszuführen, wenn sie nicht darüber nachdenken. 16.2.2 Tests zur cerebralen Lateralisierung Natrium-Amytal-Test: Eine kleine Menge von Natrium-Amytal wird in die Halsschlagader auf einer Seite des Halses injiziert. Die Injektion betäubt die Hemisphäre auf dieser Seite für ein paar Minuten, sodass es möglich ist, die Fähigkeiten der anderen Hemisphäre zu untersuchen. Währenddessen soll der Patien bekannte Reihen (Alphabet, Monate etc.) aufsagen. Danach Injektion auf der anderen Seite und der Test wird wiederholt. Wenn die für die Sprache dominante Seite betäubt ist Stummheit, sobald Fähigkeit wieder da ist Reihenfolge- und Benennungsfehler. Wenn nichtdominante (normalerweise rechte) weniger Fehler und keine Stummheit. Dichotischer Hörtest: nicht invasiv; drei Ziffernpaar über Köpfhörer; Die beiden Ziffern eines Paares werden gleichzeitig präsentiert, jeweils eine Ziffer einem Ohr. Versuchsperson soll alle Ziffern nennen. Meisten Menschen geben etwas größeren Teil der Ziffern wieder, die dem rechten Ohr dargeboten werden, was eine linkshemisphärische Dominanz für Sprache anzeigt. Funktionelle Bildgebung des Gehirns: Mittels funktioneller Bildgebung (Positronen-EmissionsTomographie PET oder funktioneller Magnetresonanztomographie fMRT). Bei Sprachtests erzielen diese bildgebenden Verfahren normalerweise eine weit größere Aktivität der linken als der rechten Hemisphäre an. (sprachliche Aufgabe = Aktivität) 16.2.3 Sprachlateralisierung und Händigkeit Ergebnisse belegen, dass die linke Hemisphäre bei fast allen Rechtshändern dominant für Sprachfähigkeiten ist; sie zeigen auch, dass Linkshänder im Bezug auf die Sprachlateralisierung mehr variieren als Rechtshänder. 16.2.4 Geschlechterunterschiede in der Gehirnlateralisierung Mehrere Bildgebungsstudien weisen darauf hin, dass Frauen bei der Durchführung von sprachbezogenen Aufgaben stärker als Männer beide Hemisphären nutzen. 16.3 Das geteilte Gehirn („Split-Brain“) Anfängliche Versuche in den 30er und 40ern. Durchtrennung des Copus callosum ohne Veränderung. Zweifel an der Wichtigkeit. 16.3.1 Das bahnbrechende Experiment von Myers und Sperry Das Experiment erbrachte zwei erstaunliche theoretische Ergebnisse. 1. Es zeigte, dass eine Funktion des Corpus callosum darin besteht, gelernte Informationen von einer Hemisphäre zur anderen zu übertragen. 2. Es zeigte, dass nach einer Durchtrennung des corpus callosum jede Hemisphäre unabhängig von der anderen arbeitet; jede Split-Brain-Katze schien zwei Gehirne zu haben. Eine Methode, um bei Katzen die visuelle Information auf eine Hemisphäre zu beschränken. Um die visuelle Information auf eine Hemisphäre zu beschränken, durchtrennten Myers und Sperry 1. Das Corpus callosum, 2. Das Chiasma opticum und 3. Bedeckten ein Auge. Dadurch wird die visuelle Information auf die Hemisphäre ipsilateral zum nicht bedeckten Auge beschränkt 175 Abb.: Schematische Illustration des bahnbrechenden Split-Brain-Experiments von Myers und Sperry (1953). Es gab vier Gruppen: 1. Die entscheidende Experimentalgruppe bei er sowohl das Chiasma opticum als auch das Corpus callosum durchtrennt wurde, 2. Eine Kontrollgruppe bei der nur das Chiasma opticum durchtrennt wurde, 3. Eine Kontrollgruppe bei der nur das Corpus callosum durchtrennt wurde und 4. Eine Kontrollgruppe ohne Läsion. Die Leistung der drei Kontrollgruppen unterschieden sich nicht und sind hier daher gemeinsam dargestellt. 16.3.2 Commissurotomie bei Epileptikern Abb.: Die Untersuchungsmethode zur Beurteilung des neuropsychologischen Status von SplitBrain Patienten. Der visuelle Input verläuft vom jeweiligen Gesichtsfeld zur kontralateralen 176 Hemisphäre; der feine taktile Input gelangt von jeder Hand zur kontralateralen Hemisphäre; und jede Hemisphäre kontrolliert die feinmotorische Bewegung der kontralateralen Hand Besonders schwere Fälle von Epilepsie Commissurotomie – bei der normalerweise der Corpus callosum durchtrennt wird und die kleineren Commissuren intakt bleiben – liegt die Idee zugrunde, dass die Schwere der Krampfanfälle reduziert wird, wenn die Entladung auf die Hemisphäre ihrer Entstehung beschränkt werden könnte. Erfolg viele Patiente keine weiteren schweren Krampfanfälle (nur bei den schwersten Fällen gemacht) Wie Split-Brain-Labortiere haben Patienten zwei voneinander unbhängige Gehirn, jedes mit seinem eigenen Bewusstsein, eigenen Fähigkeiten, Erinnerungen und Emotionen. Anders als bei den Labortieren sind die Hemisphären beim Menschen in ihren Fähigkeiten, bestimmte Aufgaben auszuführen nicht gleich. Am bemerkenswertesten ist, dass die linke Hemisphäre der meisten Split-Brain-Patienten sprachfähig ist, während es die rechte Hemisphäre nicht ist. 16.3.3 Die Hemisphären von Split-Brain-Patienten arbeiten unabhängig 16.3.4 Cross-Cuing Die Hemisphären eines Split-Brain-Patienten haben zwar keine Möglichkeit zur direkten neuronalen Kommunikation, aber sie kommunizieren manchmal indirekt miteinander, über einen Prozess der Cross-Cuing genannt wird. Bsp.: Kann die linke Hemispäre auf Farben im linken Gesichtsfeld reagieren= Darbiertung im linken Gesichtsfeld: roter oder grüner Stimulus Aufgabe des Patienten: Farbe benennen Ergebnis: erst Zufallsniveau (d.h. 50%) dann Verbesserung Rotes Licht: a) Antwort „rot“ b) Antwort „grün“, Stirnrunzeln, „Oh nein, ich meinte rot“ Rechte Hemisphäre sah das rote Licht und hörte die linke „grün“ raten. Wissend, dass die Antwort falsch war, leitete die rechte Hemisphäre elig ein Stirnrunzeln und ein Kopfschütteln ein, was wiederum der linken Hemisphäre den Hinweis (cue) gab, dass die Antwort falsch war und dass sie sich besser korrigierte. 16.3.5 Zwei Dinge auf einmal lernen Bsp. 1. Patient sieht: Linkes Gesichtsfeld Rechtes Gesichtsfeld Stift Orange Patient soll blind entsprechende Gegenstände in zwei Taschen suchen. Was halten sie in den Händen?: „Zwei Orangen“ Linke Hand Rechte Hand Stift Orange Beide Hemisphären haben zwei verschiedene Dinge zur gleichen Zeit gelernt. Bsp. 2. Patient sieht Linkes Gesichtsfeld Rechtes Gesichtsfeld Stift Orange Patient soll das abgebildete Objekt aus einer Reihe von Objekten herausgreifen, die gut sichtbar auf dem Tisch liegen Rechte Hand: will zur Orange greifen Rechte Hemisphäre: Fehler! Linke Hand: zieht dir echte von Orange weg („helping-hand“-Phänomen); dirigiert sie zum Stift Bsp. 3 Gesichtsschimären-Test Photografien blitzen in der Mitte eines Bildschirms auf, die aus zusammengesetzten Gesichtshälften verschiedener Menschen gebildet sind. Aufforderung anzugeben, was sie gesehen hatten, entweder durch verbale Beschreibung oder dadurch, dass sie aus einer Reihe von Photografien von intakten Gesichtern das gesehene durch Fingerzeig auswählten. 177 Versuchspersonen berichteten ein vollständiges, beidseitiges symmetrisches Gesicht zu sehen, Als die Versuchspersonen aufgefordert wurden zu beschreiben, was sie sahen, beschrieben sie normalerweise eine vollständige Version der Hälfte, die dem rechten Gesichtsfeld (d.h. der linken Hemisphäre) präsentiert worden war. 16.3.6 Die Z-Linse Abb.: Die Z-Linse, die von Zaidel entwickelt wurde, um die funktionelle Asymmetrie an Split-Brain-Patienten zu untersuchen. Es handelt sich dabei um eine Kontaktlinse, die auf einer Seite undurchsichtig ist (links oder rechts), sodass der visuelle Input nur eine Hemisphäre erreicht. 16.3.7 Duale mentale Funktion und Konflikt bei Split-Brain-Patienten Bei den meisten Split-Brain-Patienten scheint die rechte Hemisphäre keinen starken eigenen Willen zu haben; die linke Hemisphäre steuert anscheinend die meisten Alltagsaktivitäten. Bei anderen Patienten dagegen übernimmt die rechte Hemisphäre eine aktivere Rolle bei der Kontrolle des Verhaltens. In diesen Fällen kann es ernsthafte Konflikte zischen den linken und rechten Hemisphären geben 16.4 Unterschiede zwischen der linken und rechten Hemisphäre 16.4.1 Relative oder absolute Hemisphärenunterschiede 16.4.2 Einige Beispiele für die funktionelle Lateralisierung Die Forschung zur funktionellen Lateralisierung hat die veraltete Vorstellung von einer linkshemisphärischen Dominanz in den Ruhestand geschickt. Die drei Bereiche, für die einen rechtshemisphärische Überlegenheit am besten dokumentiert ist, sind räumlich Fähigkeiten, Emotionen und musikalische Fähigkeiten. Außerdem ist die rechte Hemisphäre beim Ausführen mancher Erinnerungsaufgaben überlegen. Überlegenheit der linken Hemisphäre bei der Kontrolle ipsilateraler (auf der gleichen Seite des Körpers) Bewegungen. Überlegenheit der rechten Hemisphäre bei räumlichen Fähigkeiten. Überlegenheit der rechten Hemisphäre beim Erleben von Emotionen. Überlegenheit der rechten Hemisphäre bei musikalischen Fähigkeiten 178 Hemisphärenunterschiede beim Gedächtnis. Im Allgemeinen spielt die linke Hemisphäre bei der Erinnerung von verbalen Material die größere Rolle, während die rechte Hemisphäre für die Erinnerung von nonverbalem Material wichtiger ist. 16.4.3 Was ist lateralisiert – umfassende Cluster von Fähigkeiten oder einzelne kognitive Prozesse? Cerebrale Lateralisierungen spiegeln leichte, relative hemisphärische Unterschiede wieder und nicht absolute Alles-oder-Nichts-Unterschiede. Problem: Informationen wie in der Tabelle oben, werden oftmals zu wörtlich genommen! (linke Hemisphäre sei die logische Sprachehemisphäre und die rechte Hemisphäre die emotionale, räumliche Hemisphäre. Das Problem ist, dass Kategorien wie Sprache, Emotion, musikalische Fähigkeit und räumliche Fähigkeit jeweils aus dutzenden von unterschiedlichen individuellen kognitiven Aktivitäten zusammengesetzt sind, und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass all 179 diese Aktivitäten, die mit einer allgemeinen sprachlichen Bezeichnung (z.B. räumliche Fähigkeiten) verknüpft sind, unbedingt in derselben Hemisphäre lateralisiert sind. 16.4.4 Anatomische Gehirnasymmetrien Planum temporale; Annahme, dass es für das Sprachverständnis wichtig ist und es wird of als Wernicke-Areal bezeichnet. Heschl-Gyrus sitz den primären auditorischen Cortex Operculum frontale ist das Cortexgebiet des Frontallappens unmittelbar vor dem Gesichtsareal des primären motorischen Cortex; in der linken Hemisphäre ist es der Sitz des Broca-Areals. Da diese drei alle an sprachbezogenen Aktivitäten beteiligt sind, würde man erwarten, dass sie alle bei den meisten Versuchspersonen in der linken Hemisphäre größer als in der rechten sind ber so ist es nicht! 16.4.5 Theorien der cerebralen Asymmetrie Generelle Prämisse, die allen drei folgenden Theorien zugrunde liegt ist, dass es vorteilhaft ist, wenn Hirnregionen, die die gleiche Funktion ausüben, in derselben Hemisphäre liegen. Analytisch-synthetische Theorie Diese besagt, dass es zwei grundlegende Arten zu Denken gibt, einen analytischen Modus und einen synthetischen Modus, die im Verlauf der Evolution getrennt auf die linke (analytische; Zuordnung nach Funktion) und rechte (synthetische; Zuordnung nach Aussehen) Hemisphäre aufgeteilt wurden. Da nie spezifiziert werden kann, zu welchem Grad eine Aufgabe entweder eine analytische oder eine synthetische Verarbeitung erfordert, ist es schwierig, die analytisch-synthetische Theorie empirisch zu prüfen. Motorische Theorie Diese besagt, dass die linke Hemisphäre nicht auf die Kontrolle von Sprache per se spezialisiert ist, sondern auf die Kontrolle von feinen Bewegungen, von denen Sprache nur eine Kategorie ist. Bestätigung: Läsionen, die zu Aphasie führen, ziehen auch andere motorische Defizite nach sich. Linguistische Theorie Diese besagt, dass Sprache die primäre Aufgabe der linken Hemisphäre ist. Sie unterscheidet sich darin von der analytisch-synthetischen und der motorischen Theorie, die beide Sprache als eine sekundäre Spezialisierung der linken Hemisphäre, aufgrund der primären Spezialiesierung jeweils für analytische Gedanken und feinmotorische Aktivität, betrachten. Die Tatsache, dass eine linkshemishärische Schädigung den Gebrauch der Gebärdensprache stören kann, nicht aber pantomimische Gesten, lässt den Schluss zu, dass Sprache die grundlegende Spezialisierung der linken Hemisphäre ist. 16.4.6 Evolution der funktionellen cerebralen Lateralisierung Theorie zur Evolution der cerebralen Lateralisierung Gebrauch von Werkzeugen vorwiegend mit der rechten Hand. Linkshemisphärische Dominanz der motorischen Kontrolle Wegen größerer motorischer Gewandtheit zuerst Lautsprache: Lokalisation der sich entwickelnden Sprache in linker Hemisphäre 180 Diese Theorie der Evolution der funktionellen cerebralen Lateralisierung wird aber von Berichten über Händigkeit bei nichtmenschlichen Primaten in Frage gestellt. Befunde legennahe, dass die Evolution der cerebralen Lateralisierung der Evolution des Menschen vorausging. 16.5 Kortikale Lokalisation der Sprache: Das Wernicke-Geschwind-Modell Nun verlagert sich der Schwerpunkt von der Sprachlateralisierung auf die Sprachlokalisation. Im Gegensatz zur Sprachlateralisierung, bei der es um die relativen Anteile der linken und der rechten Hemisphäre an der Kontrolle von sprachbezogenen Funktionen geht, bezieht sich die Sprachlokalisation auf die Lokalisation der Schaltkreise innerhalb der Hemisphären, die an sprachbezogenen Aktivitäten teilhaben. 16.5.1 Historische Vorläufer des Wernicke-Geschwind-Modells Die Geschichte der Lokalisation der Sprache und die Geschichte der funktionellen Lateralisierung begannen beide mit Brocas Behauptung, dass ein kleines Gebiet im inferioren Teil des linken präfrontalen Cortex (Broca-Areal) das Zentrum der Sprachproduktion sei. Nach Broca sollte eine Schädigung, die auf das Broca-Areal begrenzt bleibt, die Sprachproduktion beeinträchtigen, ohne Defizite beim Sprachverständnis hervorzurufen. Danach folgerte Carl Wernicke, auf Grundlage 10 klinischer Fälle, dass es ein Sprachareal im linnken Temporallappen gebe, unmittelbar posterior zum primären auditorischen Cortex (d.h. im linken Planum temporale). Dieses zweite Sprachareal, das nach Wernickes Meinung das kortikale Gebiet für das Sprachverständnis war, wurde als Wernicke-Areal bekannt. Wernicke behauptete, dass selektive Läsionen des Broca-Areals ein Syndrom von Aphasien erzuegen, dessen Symptome vor allem expressive sind – charakterisiert durch ein normales Verständnis sowohl von geschriebener als auch gesprochener Sprache und druch eine Sprache, deren Bedeutung erhalten ist, obwohl sie langsam, umständlich, unzusammenhängend und schlcht artikuliert ist diese hypotetische Form der Aphasie wurde als Broca Aphasie bekannt. Eine Läsion des Wernicke Areals würden eher ein Syndrom von Aphasien erzeugen, dessen Defizite vor allem rezeptiv sind – charakterisiert durch ein schlechtres Verständnis sowohl geschriebener als auch gesprochener Sprache und durch Sprache, die bedeutungslos ist, aber noch immer die oberflächliche Struktur, den Rhythmus und die Intonation der normalen Sprache ha. diese hypotetische Form der Aphasie wurde als Wernicke Aphasie bekannt, die normal klingende, aber unsinnige Sprache der Patienten mit Wernicke-Aphasie als Wortsalat. Wernicke vermutete, dass eine Schädigung des Faserzugs, der das Broca- und das WernickeAreal verbindet- der Fasciculus arcuatus –eine dritte Art von Aphasie hervorrufen würde, die so genannte Leitungsaphasie. Bei diesen Patienten wäre das Sprachverständnis und spontane Sprache weitgehend intakt, allerdings hätten sie Probleme Wörter zu wiederholen, die sie gerade gehört hatten. In den 1960er Jahren erweckte Norman Geschwind die alten Lokalisationsideen von Broca, Wernicke und Dejerine wieder zum Leben, fügte ein paar neue Daten und aufschlussreiche Interpretationen hinzu und mixte daraus eine leistungsfähige Theorie: Das Wernicke-GeschwindModell. 16.5.2 Das Wernicke-Geschwind-Modell 1. Gehörte Frage; man fürht ein Gespräch; auditorische Signale werden vom primären auditorischen Cortex empfangen und zum Wernicke-Areal weitergeleitet, wo sie verstanden werden; wenn antwort notwendig, generiert das Wernicke-Areal neuronale Repräsentation des Gedankens, der der Antwort zugrunde liegt, wird über den linken Fasciculus arcuatus zum BrocaAreal übertragen. Broca Areal aktiviert dieses Signal das geeignete Programm zur Artikulation, das wiederum entsprechende Neurone des primären motorischen Cortex und letztendlich ihre Artikulationsmuskeln aktiviert 2. Laut Lesen, Signal, das der visuelle Cortex empfängt zum linken Gyrus angularis übertragen, dort visuelle Gestalt des Wortes in auditorischen Code übersetzt und zum Verständnis in das Wernicke-Areal übertragen. Wernicke Areal löst entsprechende Reaktionen über den Fasciculus 181 arcuatus, das Broca Areal und den motorischen Cortex, um so die angemessenen Sprachlaute zu generieren. Die sieben Komponenten des Wernicke-Geschwind-Modells Wie das Wernicke-Geschwind-Model in einer Person arbeitet, die auf eine gehörte Frage antwortet oder laut liest. Der hypothetische Schaltkreis, der bei der Beantwortung einer gehörten Frage atkiv ist, ist in grün dargestellt; der hypothetische Schaltkreis, der beim lauten Lesen aktiv ist, in schwarz. 16.6 Bewertung des Wernicke-Geschwind-Modells 16.6.1 Auswirkungen von Schädigungen verschiedener Cortexareale auf sprachgebundene Fähigkeiten 1. Chirurgische Entfernung von kortikalem Gewebe 182 Nach chirurgischer Exzision der klassischen Wernicke-Geschwind Sprachregionen treten keine dauerhaften Störungen von sprachbezogenen Fähigkeiten auf (adaptiert nach Penfield & Roberts, 1959) 2. Unfall- oder krankheitsbedingte Hirnschädigungen Die relativen Asuwirkungen von Schädigungen in fünf Regionen des linken Cortex auf sprachbezogene Fähigkeiten von 214 Personen nach Unfall oder Krankheit. Kleine Läsionen des Broca-Areals verursachen selten bleibende Sprachdefizite und Läsionen die auf das Wernicke-Areal begrenzt sind manchmal auch keine derartigen Defizite nach sich ziehen. Es ist bemerkenswert, dass keiner der 214 Probanden ein aphasisches Syndrom zeigte, das entweder völlig expressiv (Broca-Aphasie) oder völlig rezeptiv (Wernicke-Aphasie) war. 3. CT- und strukturelle MRT-Aufnahmen von aphasischen Patienten 183 Studien zeigten, dass keiner der aphasische Patienten kortikale Schädigungen, die auf das Broca- und Wernicke-Areal begrenzt waren hatte, sondern ausgedehnte Schädigungen der subkortikalen weißen Substanz aufwiesen. 16.6.2 Elektrische Stimulation des Cortex und Sprachlokalisation Das Ziel der elektrischen Gehirnstimulation war, die Sprachareale des Gehirns jedes Patienten zu kartieren, um so an Sprache beteiligtes Gewebe während der Operation umgehen zu können. Die Kartierung wurde durchgeführt, indem die Reaktionen der Patienten, die bei Bewusstsein, aber lokal anästhesiert waren, auf Stimulationen an verschiedenen Punkten der kortikalen Oberfläche erfasst wurden. Penfield und Roberts (1959) fanden heraus, dass die Orte, deren Stimulation bei Patienten die Sprache blockierte oder störte, über große Gebiete des Frontal-, Temporal- und Parietelcortex verstreut waren, sich als nicht auf die Sprachareale des Wernicke-GeschwindModells beschränkten. Sie fanden außerdem keine Anzeichen dafür, dass bestimmte Arten von Sprachstörungen in bestimmten Regionen des Cortex ausgelöst werden können. Auf 24 und 28 achten! Die Reaktionen der linken Hemisphäre eines 37 Jahre alten Epileptikers auf elektrische Stimulationen. Während der Operation wurden nummerierte Karten auf das Gehirn gelegt, um die Stellen zu markieren, wo eine Gehirnstimulation durchgeführt worden war (adaptiert nach Penfield & Roberts, 1959). Die linkshemisphärische Orten, deren kortikale Stimulation entweder die Sprache blockierte oder störte, liegen weit verstreut (adaptiert nach Penfield & Roberts, 1959). 184 Ojemann et al.(1983):Sprachcortex ist wie ein Mosaik organsiert, d.h. weit verstreute Regionen an Sprache beteiligt große interindividuelle Unterschiede in neuronaler Organisation der Sprachverarbeitung Cameron 1989: Fissura Lateralis phonologische Analyse; andere Hirnstrukturen grammatikalische/semantische Analysen 16.6.3 Derzeitiger Status des Wernicke-Geschwind-Modells Broca und Wernicke Areal spielen wichtige Rolle bei der Sprache Spezifische Aussagen durch empirische Befunde nicht gestützt 1. Schädigungen, die auf die Cortexgebiete des Wernicke-Geschwind-Modells beschränkt sind, häufig wenig überdauernde Auswirkungen auf den Sprachgebrauch. 2. Hirnschädigunge, die keines der Wernicke-Geschwind-Areale betreffen, einen Aphasie erzeugen 3. Broca- und Wernicke-Aphasien existieren selten in einer Form 4. Es scheint starke individuelle Unterschiede hinsichtlich der Lokalisation kortikaler Sprachgebiete zu geben Aufgrund der fehlenden empirischen Unterstützung für seine wichtigsten Vorhersagen, wurde das Wernicke-Geschwind-Modell von den Forschern weitgehend aufgegeben, aber für die Lehre und in der Klinik ist es immer noch bedeutsam. Alternative ist der kognitiv-neurowissenschaftliche Ansatz. 16.7 Der kognitiv-neurowissenschaftliche Ansatz zu Sprache Drei Prämissen: 1. Sprechen, Verstehen und Lesen wird durch konstituierende kognitive Prozese realisiert: phonologische, grammatikalische und semantische Prozesse 2. An Sprache beteiligte Gehirnregionen haben noch andere Funktionen (z.B. Kurzzeitgedächtnis) 3. Gehirnareale die Sprachfunktionen ausführen sind klein, weit verteilt und hochspezialisiert. 16.7.1 Funktionelle Gehirntomographie und Sprache Die fMRT Studie von Bavelier zum Lesen: Probanden sollten still lesen. Zwischen den Abschnitten mit stillem Lesen waren Kontrollabschnitte eingefügt, in denen den Probanden Zeichenketten aus Konsonanten dargeboten wurden. Die Unterschiede in der Aktivität während dem Lesen und während den Kontrollabschnitten dienten als Grundlage, um die mit dem Lesen verbundenen Gebiete kortikaler Aktivität bestimmen zu können. Gebiete, in denen in der fMRT-Untersuchung von Bavelier und Kollegen (1997) mit dem Lesen assoziierte Aktivitätsanstiege beobachtet wurden. Diese Bilder basieren auf der Mittelung der Werte aller Probanden, wobei allerdings jeder Proband während eines einzelnen Lesedurchgangs fleckartige Aktivitätsanstiege zeigte, die nur 5-10% der hier markeriten Gebiete betrafen. 185 Linke Hemisphäre deutlich stärker aktiv & Aktivität weit über die Gebiete die laut Wernicke-Geschwind-Modell aktiv sein sollten. Die PET-Studie von Damasio zur Objekterkennung Ziel: selektiv die Aktivität des Temporallappens beim Benennen von Objekten aus bestimmten Kategorien zu betrachten. Es gab drei Arten von Bildern die benannt werden sollten: berühmte Gesichter, Tiere und Werkzeuge. Für ein spezifisches Maß wurde die Aktivität während dieser Aufgabe die Aktivität abgezogen, die gemessen wurde, während die Probanden die Ausrichtung der Bilder beurteilten. Benennen von Objekten aktivierte den linken Temporallappen außerhalb des klassischen Wernicke-Sprachareals. Genaue Gebiet, dass aktiviert wurde von der Kategorie abhängig. Allgemein gesagt sind die Gebiete zum Bennen berühmter Gesichter, Tieren und Werkzeugen von anterior nach posterior entlang dem Mittelteil des linken Temporallappens angeordnet. 16.8 Der kognitiv-neurowissenschaftliche Ansatz und Dyslexie Dyslexie ist eine pathologische Leseschwäche, die nicht von einem allgemeinen visuellen, motorischen oder intellektuellen Defizit herrührt. Zwei Arten von Dyslexie. Entwicklungsbedingte Dyslexien treten auf, wenn ein Kind lesen lernt. Erworbene Dyslexien sind durch Hirnschädigungen an Individuen verursacht, die bereits lesen konnten. Ungefähr 15% Männer und 5% Frauen entwicklungsbedingte Dyslexie Unklare strukturelle Auffälligkeiten im Gehirn. Abnormalitäten im Gehirn können Ursache oder Folge der Dyslexie sein. 16.8.1 Entwicklungsbedingte Dyslexie: Kulturelle Vielfalt und biologische Einheit Die Dyslexie kann sich bei Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen, unterschiedlich manifestieren, aber die zugrunde liegende neuronale Pathologie scheint die gleiche zu sein. 16.8.2 Die kognitiv-neurowissenschaftliche Analyse des lauten Lesens: Tiefen und Oberflächendyslexie Das laute Lesen kann auf zwei völlig unterschiedliche Arten durchgeführt werden. Zum einen über eine lexikalische Verarbeitung, die auf spezifisch gespeicherter Information beruht, die über geschriebene worte erworben wrude: der Lesende blickt einfach auf das Wort, erkennt es und spricht es aus. Die andere Art zu Lesen kann über eine phonetische Verarbeitung erreicht werden: der Lesende blickt auf ein Wort, erkennt die Buchstaben, vokalisiert sie und spricht so das Wort aus. Die lexikalische Verarbeitung dominiert beim Lesen von vertrauten Wörtern, die phonetische Verarbeitung beim Lesen von unbekannten Wörtern. Bei der Oberflächendyslexie haben die Patienten ihre Fähigkeit verloren, Wörter basierend auf ihren spezifischen Erinnerungen an diese Wörter auszusprechen. (d.h. sie haben Defizite bei der lexikalischen Verarbeitung) aber sie können beim Lesen immer noch Ausspracheregeln anwenden (d.h. sie können die Wörter immer noch phonetisch verarbeiten). Bei der Tiefendyslexie haben die Patienten ihrer Fähigkeit verloregen, Ausspracheregeln auf ihr Lesen anzuwenden (d.h. sie haben Defizite bei der phonetischen Verarbeitung), aber sie können immer noch vertraute, konkrete Wörter aussprechen, beruhend auf ihren spezifischen Erinnerungen an sie (d.h. sie können sie immer noch lexikalisch verarbeiten). Eselsbrücke: Oberflächendyslektiker Probleme auf die Gesamtheit des Wortes zu reagieren, und dies inst ein mehr oberflächliches Problem (wenniger tief) als Probleme beim Anwenden von Ausspracheregeln, wie es Tiefendyslektiker haben. 186 Kapitel 17: Biopsychologie von Emotionen, Stress und Gesundheit 17.1 Furcht, die dunkle Seite der Emotionen 17.2 Biopsychologie der Emotion: Einleitung 17.2.1 Frühe Meilensteine der biopsychologischen Untersuchung von Emotion Darwins Theorie der Evolution von Emotion (1872): Emotion als Ergebnis der Evolution 1. Emotionale Ausdrücke entwickeln sich aus Verhaltensweisen, die zukünftiges Verhalten vorhersagen (z.B. Drohgebärden) 2. Bei entsprechendem Nutzen Weiterentwicklung der kommunikativen Funktion (event. Verlust der ursprünglichen Funktion) 3. Gegensätzliche Verhaltensweisen signalisieren gegensätzliche emotionale Botschaften (Prinzip der Antithese) James-Lange-Theorie (1884) Cannon-Bard-Theorie (1915) Schein-Wut (1929 von Bard): Diese kann bei Katzen ausgelöst werden, deren cerebrale Hemisphären von oben gesehen bis zum Hypothalamus entfernt wurden (decortiziert); aber sie kann nict ausgelöst werden, wenn auch der Hypothalamus entfernt wurde. Auf der Grundlage dieser Beobachtungen schloss Bard, dass der Hypothalamus für den Ausdruck von aggressiven Reaktionen notwendig ist und dass die Funktion des Cortex darin besteht, diese Reaktionen zu hemmen und auszurichten. Limbisches System und Emotionen (1937 Papez): Papez nahm an, dass emotionale Zustände aufgrund der Wirkung der anderen limbischen Strukturen auf den Hypothalamus ausgedrückt werden und aufgrund der Wirkung der limbischen Strukturen auf den Cortex erlebt werden. Kluver-Bucy-Syndrom (1939 von Kluver und Bucy): Bei Affen denen die anterioren Temporallappen entfernt worden waren. Vehaltensweisen: Verzehr von nahezu allem was essbar ist, gesteigerte sexuelle Aktivität, die sich oft auf unpassende Objekte richtet, Neigung, bekannte Objekte wiederholt zu untersuchen, Neigung Objekte mit dem Mund zu untersuchen und Mangel an Furcht. 17.2.2 Emotionen und das autonome Nervensystem Emotionale Spezifität des autonomen Nervensystems (ANS): Die experimentellen Befunde sprechen dafür, dass die Spezifität von ANS-Reaktionen irgendwo zwischen den Extremen einer absoluten Spezifität und einer absoluten Allgemeinheit liegt. Es gibt 187 reichlich Evidenz, dass nicht alle Emotionen mit demselben Muster von ANS-Aktivität einhergehen; allerdings gibt es nicht genügend Beweise für die Annahme, dass jede Emotion durch ein unterschiedliches Muster von ANS-Aktivität charakterisiert ist. Polygraphische Lügendetektion: Die Polygraphie ist eine Befragungsmethode, die emotionale Reaktionen des autonomen Nervensystems verwendet, um den Wahrheitsgehalt der Antworten der Probanden zu erschließen (nicht unfehlbar). Polygraphie wird zwar gemeinhin als Lügendetektion bezeichnet, aber sie detektiert Emotionen und nicht Lügen. Die typische Befragungsmethode ist die Kontrollfragetechnik, bei der die physiologischen Reaktionen auf die Zielfrage mit den physiologischen Reaktionen auf Kontrollfragen, deren Antworten bekannt sind, verglichen wird. Problem: in realen Lebenssituation lösen solche Fragen vermutlich bei allen Verdächtigen eine emotionale Reaktion aus, unabhängig von ihrer Schuld oder Unschlud. Lykken (1959) entwickelte den „Guilty Knowledge Test“ (Tatwissen-Test), um das oben beschriebene Problem bei der Kontrollfragetechnik zu umgehen. Anstatt zu versuchen, den Verdächtigen bei einer Lüge zu ertappen, bewertet der Untersucher nur die Reaktion des Verdächtigen auf einer Liste von tatsächlichen und erfundenen Details des Verbrechens. Unschuldige Teilnehmer reagieren auf all diese Details auf die gleiche Weise, da sie nichts über das Verbrechen wissen; nur der Schuldige reagiert unterschiedlich. 17.2.3 Emotion und Gesichtsausdruck Universalität des Gesichtsausdrucks: Menschen unterschiedlicher Kulturen haben ähnliche Gesichtsausdrücke in ähnlichen Situationen und diese können von Menschen anderer Kulturen gezeigt und richtig identifiziert werden. Primäre Gesichtsausdrücke: Ekman und Frisen schlussfolgerten, dass die Gesichtsausdrücke der folgenden sechs Emotionen, der Basisemotionen, grundlegend sind: Überraschung, Wut, Trauer, Ekel, Furcht und Freude. Sie schlussfolgerten weiter, dass alle anderen Gesichtsausdrücke echter Emotionen aus einer vorhersagbaren Mischung dieser sechs Grundformen zusammengesetzt sind (Affektmischung). „Facial-Feedback“ Hypothese: Die Hypothese, dass unsere Gesichtsausdrücke unser emotionales Erleben beeinflussen, nennt man „Facial-Feedback“ Hypothese. Abb.: Die Auswirkungen des Gesichtsausdrucks auf das Erleben von Emotionen. Probanden berichteten, dass sie sich fröhlicher und weniger ärgerlich fühlten, wenn sie während der Betrachtung von Dias ein fröhliches Gesicht machten, und dass sie sich weniger fröhlich und ärgerlicher fühlten, wenn sie Dias betrachteten, während sie ein ärgerliches Gesicht machten (adaptiert nach Rutledge & Hupka, 1985). Willkürliche Kontrolle des Gesichtsausdrucks: Da wir unsere Gesichtsmuskeln willkürlich kontrollieren können, ist es möglich, echte Gesichtsausdrücke zu unterdrücken und dafür falsche vorzuspiegeln. Es gibt zwei Ansätze, um echte von falschen Gesichtsausdrücken zu unterscheiden (1985 Ekman). Erstens wird die vorgetäuschte Emotion häufig von Mikroexpressionen (sehr kurze Gesichtsausdrücke) der wahren Emotion durchbrochen. Zweitens gibt es oft subtile Unteschiede zeischen echten und falschen Gesichtsausdrücken. Für beide gilt, dass diese von einem qualifiziertem Beobachter bemerkt werden können. 188 Abb.: Der M. orbicularis oculi und der M. zygomaticus major sind die beiden Muskeln, die sich während eines echten (Duchenne) Lächelns kontrahieren. Weil es für die meisten Menschen schwer ist, den lateralen Anteil des M. orbicularis oculi willkürlich zu kontrahieren, fehlt einem vorgetäuschten Lächeln normalerweise diese Reaktionskomponente. Ekman nannte dieses Lächeln Duchenne-Lächeln. Mittels der GesichtsmuskelElektromyographie (EMG) können Veränderungen im motorischen Input der Gesichtsmuskeln festgestellt werden, auch wenn diese zu gering sind, um beobachtbare Muskelkontraktionen zu verursachen. Menschen neigen dazu, die Gesichtsausdrücke anderer Personen nachzuahmen, selbst wenn sie sich nicht bewusst sind, was sie sehen. 17.3 Furcht Abwehr und Aggression 17.3.1 Aggressive und defensive Verhaltensweisen Die Analyse von aggressivem und defensivem Verhalten führte zur Entwicklung des „Target-Site“ Konzeptes (Angriffsziel-Konzept) – der Vorstellung, dass die aggressvien und defensiven Verhaltensweisen eines Tieres häufig darauf angelegt sind, bestimmte Körperstellen des anderen Tieres anzugreifen und gleichzeitig bestimmte eigene Körperstellen zu schützen. 17.3.2 Aggression und Testosteron Die Tatsache, dass zwischen der menschlichen Aggression und dem Testosteronspiegel kein starker Zusammenhang besteht (bei Nichtprimaten besteht Zusammenhang), könnte bedeuten, 189 dass sich seine hormonelle und neuronale Regulation von der bei säugenden Nichtprimaten unterscheidet. Albert, Walsch und Jonik (1993), dass die Befunde eine andere Schlussfolgerung stützen. Vermutung, dass Forscher, die menschlich Aggression untersucht haben häufig nicht zwischen sozialer Aggression, die bei vielen Spezies mit Testosteron zusammenhängt, und defensiver Aggression, bei der das nicht so ist, unterschieden haben. Meisten aggressive Ausbrüche des Menschen sind Überreaktionen auf einen reale oder wahrgenommene Bedrohung und sollten daher korrekterweise als defensive Attacken und nicht als soziale Aggressionen betrachtet werden. Folglich passt der Befund, dass beim Menschen keine positive Korrelation zwischen aggressivem Verhalten und Testosteronspiegel, besteht, zu den Befunden, dass bei anderen Spezies keine positive Korrelationen zwischen defensiver Attacke und Testosteronspiegel beobachtbar sind. 17.4 Stress und Gesundheit 17.4.1 Die Stressreaktion Abb.: Die Stressreaktion kann als Reaktion zweier Systeme verstanden werden. Das linke Verästelung geht auf das Prinzip von Selye in den 1950er zurück. Dieser vernachlässigte nur die Beiträge des sympathischen Nervensystems. Der Glucocortidspiegel im Blut ist das am häufigsten verwendete physiologische Maß für Stress. Die Stärke der Stressreaktion hängt nicht nur vom Stressor und dem Individuum ab; sie hängt auch von den Strategien ab, die das Individuum einsetzt, um den Stress zu bewältigen. Alle Arten vo häufig auftretenden psychischen Stressoren gehen mit hohen Spiegeln an zirkulierenden Glucocorticoiden, Adrenalin und Noradrenalin einher, welche wiederum mit vielen körperlichen Krankheiten in Zusammenhang gebracht werden. 190 Das generelle Adaptionssyndrom Hans Selye (1950) „Stress ist eine unspezifische Reaktion des Organismus auf Störung der Homöostase und der Versuch diese wieder herzustellen“ Abb.: Alarm-, Wiederstand-, Erschöpfungsphase 17.4.2 Stress und Magengeschwüre Es gibt einen weiteren Faktor, der die Anfälligkeit der Magenwand gegenüber Schädigungen durch H. pylori (Bakterium, dass für Magenschwüre (schmerzhafte Läsionen der Schleimhäute von Magen oder Zwölffingerdarm) verantwortlich ist) erhöht, und dieser Faktor ist vermutlich Stress. 17.4.3 Psychoneuroimmunologie: Stress, das Immunsystem und das Gehirn 191 Psychoneuroimmunologie neues Fachgebiet – das Studium der Interaktionen zwischen psychischen Faktoren, dem Nervensystem und dem Immunsystem. Immunsystem: Das Immunsystem schütz den Körper vor Eindringlingen. Bevor es aber Maßnahmen gegen diese ergreifen kann, muss es auf irgendeine Art fremde Zellen von Köperzellen unterscheiden. Aus diesem Grund spielen Antigene – Proteinmolekphle auf der Oberfläche einer Zelle, die diese als eigen oder fremd kennzeichnen – eine wichtige Rolle für spezifische Immunreaktionen. Das Immunsystem hat wahscheinlich zwei Arten von Barrieren gegen Infektionen. 1. unspezifische Barriere, die allgemein und schnell gegen die meisten Eindringlinge wiren. 2. spezifische Barriere (zwei Arten), die sich spezifisch gegen bestimmte Arten von Eindringlingen richten. 2.1 zelluläre Komponente des Immunsystems 2.2 humorale Komponente des Immunsystems Welche Auswirkungen hat Stress auf die Immunfunktion? Metaanalyse von Segestrom und Millner (2004). Wiesen nach, dass akute(kurze) Stressoren (z.B. welche die weniger als 100 min andauern, Wettkämpfe oder öffentliches Reden) tatsächlich zur Verbesserung der Immunfunktion führten. Verbesserung der Immunfunktion infolge von akutem Stress hauptsächlich die unspezifischen Immunbarrieren, die schnell aufgebaut werden können, betrafen. Im Gegensatz dazu wirkten sich chronisch ( andauernde) Stressoren (z.B. Die Pflege einer dementen, geliebten Person, Arbeitslosigkeit) negativ auf komplexere Vorgäng des Immunsystems aus. Wie beeinflusst Stress die Immunfunktion? Nervensystem und Immunsystem können über unzählig viele physiologische Mechanismen interagieren. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass Stress auch über Verhalten auf die Immunfunktion wirken kann. Beispielsweise zeigen stark gestresste Menschen oft veränderte Verhaltensmuster bezüglich Ernährung, Schlaf und Medikamentengebrauch, alles Faktoren die die Immunfunktion beeinflussen können. Wirkt sich Stress auf die Anfälligkeit für Infektionskrankheiten aus? Es hat sich als schwierig erwiesen eindeutig nachzuweisen, dass Stress bei menschlichen Probanden die Anfälligkeit für Infektionskrankheiten erhöht. Ein Grund für diese Schwierigkeit ist, dass nur korrelative Studien möglich sind. Zahlreiche Untersuchungen haben an menschlichen Probanden positive Korrelationen zwischen Stress und gesundheitlichen Störungen gefunden. Durch die Unterstützung von Studien an Labortieren konnte eindeutig gezeigt werden, dass eine chronische Expositon gegenüber einem Stressor tatsächlich die Immunabwehr stören und die Anfälligkeit für Infektionen erhöhen kann. 17.4.4 Frühe Stressexposition Eine frühe schwerwiegende Stressexpositon kann eine Vielzahl nachteiliger Auswirkungen auf die nachfolgende Entwicklung haben. Kinder, die Misshandlung oder anderen Formen von schwerem Stress ausgesetzt waren, zeigen eine Reihe von Abnormalitäten in endokrinen und Gehirnfunktionen. Die Rattenmütter, die am stärksten auf Stress reagieren, bieten ihren Nachkommen die schlechteste mütterliche Pflege. Diese schlechte Pflege hat andauernde nachteilige Auswirkungen auf die Stressreaktionen der Nachkommen. Bedeutung dieser Ereignisse: Sie stellt einen nichtgenetischen Mechanismus dar, über den Verhaltenstendenzen von Generation zu Generation weitergegeben werden können. 17.4.5 Stress und Hippocampus Viele Untersuchungen zur Wirkung von Stress auf das Gehirn wiesen darauf hin, dass der Hippocampus besonders anfällig für stressinduzierte Effekte ist. Der Grund für diese Anfälligkeit scheint die besonders dichte Population von Glucocorticoidrezeptoren im Hippocampus zu sein. Fünf wichtige Befunde: 1. Die Wirkung von Stress scheint auf dem Hippocampus durch eine stressinduzierte Steigerung der Corticosteroidfreisetzung vermittelt zu sein 192 2. Eine Stressphase, die nur ein paar Stunden dauert, kann strukturelle Veränderungen im Hippocampus induzieren, die einen Monat oder länger anhalten. 3. Natürliche Stressoren rufen eine stärkere hippocampale Schädigung als künstliche Stressoren hervor 4. Auswirkungen von Stress auf den Hippocampus sind groß genug, um Verhalten zu stören, das durch die Hippocampusaktivität vermittelt wird. 5. Auswirkungen von Stress auf den Hippocampus bei Männchen sind etwas größer 17.5 Furchtkonditionierung Bei der Furchtkonditionierung wird Furcht als Reaktion auf einen vorher neutralen Stimulus (der konditionierte Stimulus) erzeugt, indem dieser Reiz, normalerweise mehrfach, vor der Applikation eines aversiven Reizes (der unkonditionierte Stimulus) dargeboten wird. Die Furchtkonditionierung wurde zur bevorzugten Methode für die Untersuchung von Furcht, da der Ursprung der Furcht (der unkonditionierte Stimulus) immer eindeutig ist und da die Entstehung der Furchtreaktion systematisch untersucht werden kann. 17.5.1 Amygdala und Furchtkonditionierung Die Amygdala erhält Input von allen sensorischen Systemen, und man nimmt an, dass sie die Struktur ist, in der die emotionale Bedeutsamkeit von sensorischen Signalen gelernt und gespeichert wird. Es gibt zwei Bahnen vom Corpus geniculatum mediale (im Thalamus) zur Amygdala: die direkte (Corpus genicualtum mediale zur Amygdala) und die indirekte, die über den auditorischen Cortex projiziert. Beide Wege können die Furchtkonditionierung für einfache Töne vermitteln; wenn nur einer zerstört ist, verläuft die Konditionierung normal. Allerdings ist nur der kortikale Weg in der Lage, die Furchtkonditionierung für komplexe Geräusche zu vermitteln. 17.5.2 Die Anatomie der Amygdala: Ein Allgemeiner Kommentar Die Amygdala ist einen Zusammenballung von vielen Kernen, die häufig als Amygdalakomplex bezeichnet werden. Die Forscher verfolgen die Bahnen, über die der sensorische Input, der die Anwesenheit eines konditionierten Stimulus signalisiert, in die Amygdala eintritt, und sie untersuchen, wie dieser Input 193 durch Konditionierung Schaltkreise innerhalb der Amygdala aktiviert, die Verbindungen zu Strukturen außerhalb der Amygdala ansprechen, welche schließlich die Furchtreaktion erzeugen. 17.5.3 Kontextuelle Furchtkonditionierung und der Hippocampus Der Prozess, durch den harmlose Kontexte aufgrund ihrer Assoziation mit furchtinduziernden Reizen selbst furchtauslösend werden, wird kontextuelle Furchtkonditionierung genannt. Da der Hippocampus eine Schlüsselrolle beim räumlichen Gedächtnis spielt, ist es sinnvoll zu erwarten, dass er an der kontextuelen Furchtkonditionierung beteiligt ist. Zwei Arten von Läsionsstudien als Beleg. Erstens: bilaterale Hippocampusläsionen VOR der Konditionierung verhindern Furchtreaktion gegenüber dem Kontext, ohne die Entstehung einer Furchtreaktion gegenüber einem expliziten konditionierten Stimulus (z.B. Ton) zu beeinträchtigen. Zweitens: verhindern bilaterale Hippocampusläsionen, kurz nach der Konditionierung, das Behalten der Furchtreaktion gegenüber dem Kontext, ohne die Furchtreaktion gegenüber einem expliziten konditionierten Stimulus zu beeinträchtigen. Beleg durch fMRT Studien, dass beide, Amygdala und Hippocampus, an menschlichen Furchtreaktionen beteiligt. 17.6 Gehirnmechanismen menschlicher Emotionen 17.6.1 Bei Emotionen haben spezifische Gehirnstrukturen spezifische Rollen Erstens scheinen bestimmte Gehirnstrukturen nur an manchen menschlichen Emotionen beteiligt zu sein; beispielsweise scheint die Amygdala für Furcht eine besondere Rolle zu spielen, und zu einem gewissen Grad für andere negative Emotionen. Zweitens ist eine bestimmte Gehirnstruktur, die an einer einzelnen Emotion beteiligt ist, nicht unbedingt an allen Aspekten dieser Emotion beteiligt. 17.6.2 Die rechte Hemisphäre ist beim Menschen stärker an Emotionen beteiligt als die linke Viele Belege dafür, dass die rechte Hemisphäre bei der Wahrnehmung von Emotionen dominiert – sowohl bei der Wahrnehmung von Gesichtsausdrücken als auch von Prosodie (emotionale Färbung der Sprachmelodie). Allerdings bedeutet das nicht, dass die linke Hemisphäre keine Rolle spielt oder dass alle Strukturen der rechten Hemisphäre eine größere Rlle spielen als die korrespondierenden Strukturen in der linken Hemisphäre. Die allgemeine rechtshemisphärische Dominanz für die Produktion emotionaler Gesichtsausdrücke wird auch durch die genaue Untersuchung des emotionalen Ausdrucks selbst nahe geleget. Gesichtsausdrücke scheinen sich auf der linken Seite des Gesichts, die von der rechten Hemisphäre kontrolliert wird, früher und stärker auszubilden. Bemerkenswerterweise wrude dieselbe Asymmetrie auch bei Affen beobachtet. 17.6.3 Individuelle Unterschiede in den neuronalen Mechanismen der Emotion Anders als die Bestandteile des Gehirns, die für die Sensorik und die Motorik entscheidend sind, scheinen die Gebiete des Gehirns, die für Emotionen wichtig sind, deutlich zwischen Personen zu variieren. Somit müssen Unterschiede zwischen Versuchspersonen berücksichtigt werden. 194 Birmbauer und Schmidt Kapitel 10 10.1 Blut als Transportmedium 10.1.1 Zusammensetzung und Volumen des Blutes Blutplasma und interstitielle Flüssigkeit (Interstitium) bilden einen einheitlichen Flüssigkeitsraum, nämlich den Exrazellulärerraum Aufgabe des Blutes: Blut als Transportmedium Sauerstofftransport / CO2 Transport Nährstofftransport Transport von Stoffwechselzwischenprodukten Hormontransport Wärmeverteilung Abwehr von Fremdkörpern und Krankheitserreger Immunität Gerinnung 10.1.2 Bluteiweiße und ihre Aufgaben Jeder Liter menschlichen Plasmas enthält 65-80g Eiweiß. Dadurch ist das Plasma etwa doppelt so zähflüssig (viskös) wie Wasser. Im Plasmaeiweiß ist Albumin und verschiedene Globuline. Die Albuminmoleküle sind für 80% des kolloidosmotischen Drucks (Plasmaeiweiße können nicht aus den Kapillaren in das Interstitium diffundieren. Im Bezug 195 auf sie besteht daher ein osmotisches Druckgefälle aus dem Interstitium Richtung Kapillarinnenraum) verantwortlich; dieser ist eine wichtige Kraft beim transkapillären Flüssigkeitsaustausch. Die Globuline dienen teils als Transportmittel, teils nehmen sie Schutz- und Abwehrfunktionen wahr (humorale Immunität). 10.2 Herzmechanik 10.2.1 Bau des Herzens, Funktion der Pumpen Das Blut fließ aus den großen Körpervenen (Vena cava superior und Vena cava inferior) über den rechten Vorhof in die rechte Kammer und von dort in die Arteriae pulmonales (Lungenarterie). Entsprechend fließt das aus den Lungen zurückströmende Blut über den linken Vorhof in die linke Kammer und wird von dort in die Aorta (Körperhauptschlagader) gepumpt. Das Herz ist eine doppelkammerige Druck-Volumen-Pumpe. Sie verfügt zwischen den Vorhöfen und den Kammern und zwischen den Kammern und den Arterien über Klappen, die den Blutstrom nur in eine Richtung möglich machen. Das aus dem Herzen gepumpte Blut dehnt die Arterienwände auf. Auf diese Weise wird Druckenergie gespeichert und ein gleichmäßiger Blutfluss sichergestellt. 10.2.2 Arbeitszyklus des Herzen, Herztöne, Herzspitzenstoß 1. Jeder Herzschlag wird durch eine Fullung der Kammern eingeleitet. Dabei fließt das in den Vorhöfen angesammelte Blut durch die Vorhof-Kammer-Klappen in die Kammern. Zum Schluss dieser Füllphase kontrahieren sich die Muskelfasern der Vorhofwand und drücken durch diese Vorhofkontraktion soviel Blut wie möglich in die Kammern. Die Klappen zwischenden Kammern und den Arterien sind zu dieser Zeit verschlossen. 2. Die Kammern beginnen sich zu kontrahieren. Das heißt, die Muskelfasern spannen sich an und versuchen sich zu verkürzen. Durch den Druckanstieg in den Kammern schlagen sofort die Vorhof-Kammer-Klappen zu. Für eine kurze Zeit, die der Anspannung der Herzmuskelfasern, sind dann alle 4 Klappen des Herzens geschlossen. 3. Die Anspannungszeit endet wenn durch die Kammerkontraktion der Druck in den Kammern den Druck in den Arterien übersteigt. In diesem Augenblick öffnen sich die Arterienklappen, und Blut wird aus den Kammern in die Arterien ausgeworfen. Dabei steigt gleichzeitig der Druck weiter an, um den Druckabfall in den Arterien seit der letzten Auswurfphase wieder auszugleichen. 4. Nach der Kontraktion erschlafft die Kammermuskulatur. Sobald dadurch der Druck in den Kammern unter den in den Arterien sinkt, schlagen die Klappen zwischen ihnen zu. In den Vorhöfen hat sich unterdessen venöses Blut angestaut. Es beginnt, in die Kammern zu fließen. Der nächste Arbeitszyklus wird eingeleitet. 196 Die vier Phasen des Herzschlages, dargestellt am Beispiel des rechten Herzens. Die erste und die vierte Phase werden als Distole, die zweite und dritte Phase als Systole zusammengefasst. Ursache für Herztöne und das Herzspitzenstoßes: Der erste Herzton und der Herzspitzenstoß signalisieren die Anspannungskontraktion, der zweite den Klappenschluss bei der Erschlaffung. Herzschall aus pathologischer Ursache wird Herzgeräusch genannt. 10.2.3 Suffiziente und insuffiziente Herztätigkeit Herzzeitvolumen: Das in einer bestimmten Zeit vom Herzen umgepumpte Blutvolumen. Ein Herz, das den normalen Anforderungen des Alltags gewachsen ist, wird als suffizient bezeichnet. Herzmuskelsuffizienz nennt man mehr oder weniger ausgeprägte Herzmuskelschwächen. Häufige Ursachen sind lange bestehende Klappeninsuffizienzen oder –stenosen und chronischer Bluthochdruck. 10.3 Erregungsbildung, Erregungsleitung und elektromechanische Kopplung im Herzen 10.3.1 Erregungsbildung in Schrittmacherzellen Das Herz ist ein funktionelles Synzytium (Herzmuskelzellen alle netzförmig, elektrisch leitend miteinander verknüpft), das rhythmische Erregung spontan ausbildet. Normalerweise geht die Herzerregung von den Schrittmacherzellen des Sinusknoten im rechten Vorhof aus. Fallen diese aus, können auch andere Herzmuskelzellen die Schrittmacherrolle übernehmen. 10.3.2 Erregungsausbreitung, Aktionspotentiale des Arbeitsmyokards Die vom Sinusknoten sich ausbreitende Erregungswelle erreicht über den AV-Knoten (Atrioventrikularknoten, schmale Muskelbrücke in der Herzmitte) die Herzkammermuskulatur. Das Aktionspotenzial des Arbeitsmyokards weist ein Plateau von 200-400 ms auf. Es ist umso kürzer, je schneller das Herz schlägt. Während des Plateaus ist das Herz refraktär. Am Aktionspotential der Herzmuskelfaser sind aufeinander folgende Änderungen der Na+(Aufstrich), der Ca++-(Plateau) und der K+-Leitfähigkeit (Repolarisation) beteiligt. Das Ruhepotenzial ist im Wesentlichen ein K+-Gleichgewichtspotenzial. 10.3.3 Elektromechanische Kopplung Die elektromechanische Kopplung wird durch Ca2+-Ionen bewerkstelligt, die während des Aktionspotenzials aus dem sarkoplasmatischen Retikulum freigesetzt werden. Festzuhalten ist, dass das Aktionspotenzial 2 wichtige Aufgaben im Dienst der Kontraktion erfüllt. Erstens einen Triggereffekt (d.h. die Auslösung der Kontraktion und zweitens einen Auffülleffekt, d.h. eine mit der Erschlaffung einhergehende Bereitstellung von Ca2+-Ionen in den intrazellulären Speichern für die nachfolgende Kontraktion. Pharmakologisch Reduzierung der intrazellulären Ca-Konzentration schwächt die Kraft der Kontraktion, Steigerung stärkt sie. 10.4 Das Elektrokardiogramm, EKG 197 10.4.1 Grundlagen der EKG-Registrierung Elektrokardiographie ist das Aufzeichnen von elektrischen Potenzialdifferenzen von der Hautoberfläche, die durch die Depolarisation und Repolarisation des Herzmuskels entstehen. Das EKG ist als ein Ausdruck der am Herzen ablaufenden Erregung. Die P-Welle signalisiert die Vorhoferregung, die QRS-Zacken die Erregungsausbreitung in den Ventrikeln und die T-Welle die dortige Erregungsrückbildung. 10.4.2 Vektorielle Interpretation des EKG Die Zacken und Wellen des EKG lassen sich als Projektion des resultierenden elektrischen Dipols (Integralvektor genannt) auf die Verbindungslinie zwischen den Ableitestellen auffassen. Der Integralvektor spiegelt den Ablauf der Herzerregung in Vorhof und Kammer wider. In dieser Abb. Sind die momentanen Integralvektoren und die daraus resultierenden Ausschläge im Extremitäten-EKG dargestellt. Die zu verschiedenen Zeitphasen von dem Erregungsprozess erfassten Herzmuskelanteile sind rot markiert. Die Pfeile stellen den jeweiligen Integralvektor dar, der sich durch Addition der einzelnen Lokalvektoren an der Ausbreitungsfront ergibt. 198 10.4.3 Das EKG als Diagnosehilfe Das EKG ist ein wichtiges diagnostisches Hilfsmittel ei der Beurteilung von Bildung, Ausbreitung und Rückgang der Erregung am Herzen. Ausmaß und Verlauf von Herzinfarkten lassen sich z.B. über die dabei auftretenden EKG-Veränderungen abschätzen. Hypoxie: mangelndes O2-Angebot, Anoxie: fehlendes O2-Angebot 199 10.5 Die Anpassung der Herzleistung an den Bedarf 10.5.1 Der Blutdruck und seine Messung Bei jungen Erwachsenen liegt der systolische Blutdruck bei 120 mmgHg (mmHg = Millimeter Quecksilber), der diastolische bei 80mmHg. Ihre Differenz ist die Blutdruckamplitude. Im Alter und bei körperlicher Arbeit steigt v.a. der systolische Blutdruck an. Der Blutdruckanstieg in der Aorta während der Systole pflanzt sich als Druckpulswelle in 0,2 s über alle Arterien fort. Dünne Arterien mit dicken Wänden leiten die Pulswelle schneller fort als die Aorta mit ihrer dünnen und elastischen Wand. Der Blutdruck wird meist nach der Methode von Riva-Rocci gemessen. FINAPRES erlaubt eine kontinuierliche, nichtinvasive Blutdruckmessung, z.B. zur Erfassung der kardiovaskulären Reagibilität. 200 10.5.2 Herzarbeit und Herzleistung Das Herzminutenvolumen beträgt in Ruhe 5 l/min, bei Arbeit das bis zu 7-fache. Herzarbeit ist nahezu ausschließlich DruckVolumen-Arbeit. Die Volumenarbeit der beiden Herzkammern ist gleich, die Druckarbeit des rechten Herzens ist jedoch viel geringer als die des linken. 10.5.3 Anpassung der Herzarbeit über den Frank-Starling-Mechanismus Dehnung der Herzkammern (durch vermehrten venösen Zustrom oder erhöhtes Restblut) regt die Arbeitsmuskulatur zu erhöhter Leistung an. Das Herz kann sich über diesen Frank-Starling-Mechanismus autonom an wechselnde Anforderungen anpassen. 10.5.4 Anpassung der Herzarbeit über die Herznerven Die sensible Innervation (Versorgung eines Körperteils oder Organs mit Nerven) des Herzens dient teils der Messung der Vorhoffüllung (über Mechanosensoren, Afferenzen im Vagus), teils der Übermittlung von Herzschmerzen (über Nozizeptoren, Afferenzen im Sympathikus). Die efferenten sympathische Innervation wirkt positiv-chronotrop (Erhöhung der Herzfrequenz) und inotrop (Erhöhte Kraft der Kontraktion), die parasympathische hauptsächlich negativ chronotrop (Senkung der Herzfrequenz durch Abflachung des Schrittmacherpotenzials). 10.5.5 Optimierung der Herzarbeit durch Ausdauertraining Bei großem Schlagvolumen und geringer Herzfrequenz hat das Herz seinen besten Wirkungsgrad. Ein regelmäßiges, lebenslängliches Ausdauertraining hält das Herz in Ruhe und Arbeit im optimalen, niederfrequenten Arbeitsbereich. 10.6 Akute Anpassung des Kreislaufs an den Bedarf 10.6.1 Arterielle und venöse Kreisläufe im Überblick Das Blut verteilt sich auf 2 Teilkreisläufe, den Körper- und den Lungenkreislauf, wobei die Venen das meiste Blut enthalten. Die Verteilung des Herzzeitvolumens auf die einzelnen Organkreisläufe ist sehr unterschiedlich. Der Blutdruck dient zur Überwindung der Flusswiderstände im Kreislauf. Der größte Widerstand liegt in den dünnen Arteriolen. Der Gesamtwiderstand des Lungenkreislaufs ist wesentlich kleiner als der des Körperkreislaufs. Entsprechend weniger Druck wird benötigt. Die Strömungsgeschwindigkeit des Blutes ist umso langsamer, je größer der Gesamtquerschnitt des jeweiligen Kreislaufabschnitts ist. Es strömt am schnellsten in der Aorta und am langsamsten in den Kapillaren. 201 10.6.2 Lokale Modulation der Organdurchblutung Nach Hagen-Poiseuille hängt der Flusswiderstand eines Gefäßes von der 4. Potenz seines Radius ab. Änderungen der Gefäßweite, v.a. er Arteriolen, sind daher am besten zur Anpassung des regionalen Blutangebots an den aktuellen Bedarf geeignet. (s. Abb.) Die Weite der Arteriolen wird durch den myogenen (vom Muskel ausgehend) Gefäßtonus vorgegeben (BaylissEffekt). Dieser wird v.a. in Nieren und Gehirn autoregulatorisch konstant gehalten. Wenn und wo notwendig , lässt sich die Gefäßweite durch die sympathischen Gefäßnerven sowie durch Metabolite, Hormone und NO verändern. Die Durchblutung der Organe richtet sich einmal nach deren mehr oder weniger wechselnden lokalen Bedürfnissen, zum anderen nach der Gesamtsituation des Organismus, da die Förderkapazität des Herzens beschränkt ist. 10.6.3 Reflektorische Anpassung des Kreislaufs an den Bedarf Die überregionale, akute Anpassung des Kreislaufs an den Bedarf geschieht reflektorisch. Die von den Barorezeptoren gelieferte Blutdruckinformation wird in den Kreislaufzentren des Hirnstamms ausgewertet und in Steuerbefehle an Herz und Gefäßsystem umgesetzt. Ziel ist, den Blutdruck im Normbereich zu halten 202 10.6.4 Wirkung der Barorezeptoraktivität auf die Hirnaktivität Stimulation der Barosensoren führt auch zu zentralnervöser Hemmung und damit zur Abnhame des Muskeltonus, zum Anstieg von Wahrnehmungsschwellen und evtl. zu Schlaf; die Entstehung einer Bluthochdruckerkrankung kann über diesen Mechnismus begünstigt werden. 10.7 Mittel- und langfristige Regulation des Kreislaufs 10.7.1 Mittelfristige Regulation Mittelfristig, d.h. im Minuten-bis Stundenbereich, sorgen das Renin-Angiontensin-System, die Stressrelaxation der Gefäße und transkapilläre Volumenverschiebung für die Konstanthaltung des Blutdrucks. Die langfristigen Regulationsmechanismen wie das renale Volumenregulationssystem regeln das extrazelluläre Volumen und damit die Füllung des Gefäßsystems, d.h. vor allem den zentralen Venendruck. 10.7.3 Risikofaktoren für Fehlregulationen im Herz-Kreislauf-System Psychophysiologische Faktoren (psychische oder soziale Belastungen „Hilflosigkeit“) stellen, neben dem Bluthochdruck und dem Übergewicht, das bedeutsamste Risiko zur Entwicklung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen dar. Effektive verhaltensmedizinische Präventions- und Therapieverfahren sind verfügbar, werden aber wenig angewandt.