Georg Thieme Verlag KG, Frau Biehl-Vatter, Remschmidt: Kinder- und Jugendpsychiatrie, TN 576604, WN 011986⁄01⁄04, Revision 248 28 Zwangsstörungen B. Herpertz-Dahlmann und M. Simons Definition und Klassifikation Epidemiologie Zwangsstörungen werden in der ICD-10 als eigenständige Kategorie (F42) verschlüsselt. Man unterscheidet „vorwiegend Zwangsgedanken oder Grübelzwang“ (F42.0), „vorwiegend Zwangshandlungen“ (F42.1) sowie eine gemischte Form der Störung, bei der sowohl Zwangsgedanken als auch -handlungen auftreten (F42.2). Da Zwangsphänomene auch bei gesunden Individuen vorkommen können, werden sie nur dann als psychiatrische Störung klassifiziert, wenn sie über einen längeren Zeitraum anhalten, die Alltagsfunktionen des Betroffenen stören und als quälend erlebt werden. Die ICD-10 geht davon aus, dass Zwangssymptome für den Patienten als eigene Gedanken oder Impulse erkennbar sind, wodurch eine Abgrenzung zu psychotischen Störungen hergestellt wird. Jüngere Kinder können Zwangsphänomene jedoch häufig nicht als eigene Symptomatik erkennen, sondern erleben sie als von außen induziert. Weiterhin setzen die Leitlinien der ICD-10 voraus, dass sich der Patient zumindest gegen einige seiner Zwangsimpulse – wenn auch erfolglos – wehrt und diese als nicht für ihn angenehm (egodyston) erlebt. Hier wird ein qualitativer Unterschied zu Stereotypien oder ritualistischen Phänomenen (wie z.B. bei der geistigen Behinderung oder beim Autismus) aufgezeigt, die ähnlich wie die Zwänge ständig wiederholt werden, aber im Allgemeinen egosynton sind. Allerdings wehren sich zwangskranke Patienten mit chronischem Verlauf vielfach nicht mehr gegen bestimmte Rituale oder Zwänge, sondern integrieren diese in ihren Tagesablauf. Das amerikanische Klassifikationsschema DSM-IV definiert daher zusätzlich einen Typus der Zwangserkrankung mit mangelnder Einsichtsfähigkeit („poor insight“), bei der der Betroffene nicht erkennt, dass seine Handlungen unvernünftig oder übertrieben sind. Die Zwangserkrankung ist häufiger, als noch im letzten Jahrzehnt angenommen wurde. Feldstudien bei Erwachsenen haben gezeigt, dass die Lebenszeitprävalenz bei 2–3%, die Punktprävalenz bei etwa 1,5% liegt. Im Jugendalter liegt die Punktprävalenz bei etwa 2%. Die Zwangserkrankung kann bereits im Vorschulalter beginnen, das Durchschnittsalter bei Beginn im Kindesalter liegt etwa bei 10 Jahren. Beispiel Ein 5-jähriger Junge musste akut in die Tagesklinik aufgenommen werden, weil er befürchtete, mit dem Essen oder Trinken versehentlich Insekten zu verschlucken. Immer wieder lief er zum Pflegepersonal, um nachsehen zu lassen, ob sich eine Fliege oder Wespe in seinem Mund befand. Obwohl ihm klar war, dass keine Insekten im Raum vorhanden waren, ließ ihn die Angst vor dem versehentlichen Verschlucken nicht los, und er stellte schließlich Essen und Trinken ganz ein. Als akute Belastungssituation war die Trennung der Eltern vorausgegangen. In klinischen Populationen sind im Kindesalter Jungen häufiger betroffen als Mädchen; dies ist einerseits auf den früheren Beginn der Erkrankung bei Jungen, andererseits aber auch auf eine größere psychiatrische Komorbidität beim männlichen Geschlecht zurückzuführen (s. Diagnose und Differentialdiagnose). Im Jugend- und Erwachsenenalter scheint das Geschlechterverhältnis 1:1 zu betragen; einige Studien deuten sogar darauf hin, dass mehr Frauen als Männer betroffen sind. Remschmidt, Kinder- und Jugendpsychiatrie (ISBN 3135766047), © 2005 Georg Thieme Verlag Georg Thieme Verlag KG, Frau Biehl-Vatter, Remschmidt: Kinder- und Jugendpsychiatrie, TN 576604, WN 011986⁄01⁄04, Revision Diagnose und Differentialdiagnose 249 Abb. 28.1 Bild eines 15-jährigen Patienten mit Zwangssymptomatik, welches das elterliche Anwesen darstellen soll. Diagnose und Differentialdiagnose Die häufigsten Zwangshandlungen im Kindesund Jugendalter sind Waschrituale und Kontrollzwänge; Zwangsgedanken beinhalten Befürchtungen vor Kontamination mit Schmutz oder Sekreten sowie Ängste vor eigenen aggressiven Impulsen. Während des Verlaufs der Erkrankung ändert sich vielfach die Zwangssymptomatik. Beispiel B. entwickelte mit 15 Jahren einen Waschzwang aufgrund von Angst vor Bakterien und Ansteckung sowie nach Begegnungen mit dunkelhäutigen Menschen. Zwei Jahre später quälte ihn der Gedanke, sich mit bösen Menschen identifizieren zu können, und er vermied Blickkontakt mit Menschen, die er nicht kannte. Mit 20 Jahren fürchtete er Umweltgifte und hatte den Impuls, „böse Mächte“ bei der Arbeit am Computer besiegen zu müssen, indem er wiederholte Cursorbewegungen gegen den Uhrzeigersinn durchführte. Ist der Patient in der Lage, das Unrealistische seiner Gedanken oder Handlungen zu erkennen, lässt sich die Diagnose im Allgemeinen problemlos stellen. Nicht selten treten Zwangserkrankungen aber auch im Vorfeld einer Schizophrenie auf, wobei sie vielfach als von „außen gemacht“ erlebt werden. Ein gutes Beispiel für die nicht immer leichte Differentialdiagnose zwischen Zwangserkrankung und schizophrener Symptomatik ist der Waschzwang von Lady Macbeth aus Shakespeare's gleichnamigem Drama. Im Text heißt es dazu im 5. Auftritt, 1. Szene: Arzt: „Was macht sie nun? Schaut, wie sie sich die Hände reibt.“ Kammerfrau: „Das ist ihre gewöhnliche Gebärde, dass sie tut, als wüsche sie sich die Hände. Ich habe wohl gesehen, dass sie es eine Viertelstunde hintereinander tat.“ Lady Macbeth: „Da ist noch ein Fleck ... Fort, verdammter Fleck, fort, sag’ ich! … Aber wer hätte gedacht, dass der alte Mann noch so viel Blut in sich hätte? ... Wie, wollen diese Hände denn nie rein werden? … Noch immer riecht es hier nach Blut. Alle Wohlgerüche Arabiens würden diese kleine Hand nicht wohlriechend machen.“ Remschmidt, Kinder- und Jugendpsychiatrie (ISBN 3135766047), © 2005 Georg Thieme Verlag Georg Thieme Verlag KG, Frau Biehl-Vatter, Remschmidt: Kinder- und Jugendpsychiatrie, TN 576604, WN 011986⁄01⁄04, Revision 250 28 Zwangsstörungen Zwangsgedanken und Zwangshandlungen können außerdem bei schweren depressiven Erkrankungen auftreten, weiterhin im Rahmen von TicStörungen. Da viele Patienten im Verlauf ihrer Erkrankung zusätzlich zur primären Tic-Symptomatik Zwangsstörungen entwickeln, ist die Differentialdiagnose zwischen komplexen Tic-Störungen und Zwangsphänomenen nicht immer einfach. Ritualistische Phänomene und Stereotypien im Rahmen von Intelligenzminderung und tiefgreifenden Entwicklungsstörungen müssen ebenfalls von Zwangssymptomen unterschieden werden (s. oben). Auch essgestörte Patienten empfinden Zwangshandlungen, die sich auf Essen und Gewicht beziehen (z.B. stündliches Wiegen), nicht als überflüssige oder unsinnige Handlung. Bei einem Viertel bis zur Hälfte aller zwangskranken Patienten wird eine zusätzliche Angstsymptomatik beobachtet. Ätiologie und Genese Genetische Befunde Patienten, die vor Erreichen des 18. Lebensjahres an einer Zwangsstörung erkranken, scheinen ein doppelt so hohes familiäres Risiko zu haben als Patienten, die in einem späteren Lebensalter erkranken. Der frühere Erkrankungsbeginn ist darüber hinaus mit einem erhöhten familiären Risiko für Tic-Erkrankungen verbunden. Molekulargenetische Untersuchungen konzentrieren sich zurzeit auf Kandidatengene des serotoninergen und dopaminergen Neurotransmitter-Systems. Neurobiologische Befunde Mit den Fortschritten der morphometrischen und funktionellen Bildgebung konnten zerebrale Strukturen bei zwangskranken Patienten identifiziert werden, die eine Störung der Informationsverarbeitung in kortiko-striato-thalamo-kortikalen Regelkreisen vermuten lassen, die für die Planung und Durchführung motorischer und kognitiver Aufgaben verantwortlich sind. Dabei ließen sich Veränderungen im orbito-frontalen Cortex, im anterioren Gyrus cinguli, in den Basalganglien, im Corpus callosum und im Thalamus nachweisen, die – möglicherweise je nach Subtyp der Zwangserkrankung – unterschiedlich ausgeprägt sind. Befunde der funktionellen Kernspintomographie zeigen eine Hyperaktivität der orbito-striatalen Systeme („Hyperfrontalität“) nach Symptomprovokation bei zwangskranken Patienten, die nach erfolgreicher Intervention – sowohl durch Verhaltenstherapie als auch durch die medikamentöse Behandlung – rückläufig ist. Neuropsychologische Befunde unterstützen die Annahme einer Dysfunktion in orbitalen frontostriatalen Bereichen: so finden sich Defizite in den Exekutivfunktionen, insbesondere in der Reaktionsunterdrückung und im Arbeitsgedächtnis. Eine Subgruppe der kindlichen Zwangserkrankungen ist wahrscheinlich auf eine neuroimmunologische Ursache zurückzuführen. Es handelt sich um eine im Kontext einer Infektion mit betahämolysierenden Streptokokken der Gruppe A (z.B. Pharingitis, Angina, Scharlach) oft sehr akut entstandene Zwangs- oder Tic-Symptomatik (PANDAS = Pediatric Autoimmune Neuropsychiatric Disorders Associated with Streptococcal Infections), die vor allem bei jungen Kindern auftritt. Entsprechend der Chorea minor scheint die Ursache dieser Erkrankung in einer Kreuzreaktion von primär gegen beta-hämolysierende Streptokokken der Gruppe A gerichteten Antikörpern gegen Basalganglien zu liegen. Eine prophylaktische Behandlung mit Penizillin ist möglicherweise effizient. Therapie, Verlauf und Prognose Verhaltenstherapie und medikamentöse Therapie stellen die beiden Säulen bei der Behandlung der Zwangserkrankung dar (Tab. 28.1). Besonders bei jungen Patienten sollten die Eltern in die Behandlung einbezogen werden, da sie oft unfreiwillig die Zwangssymptome bei ihren Kindern verstärken. Tabelle 28.1 Behandlung von Zwangshandlungen 1. Psychoedukation von Patient und Eltern 2. Verhaltenstherapeutische Intervention – gestufte Exposition mit Reaktionsverhinderung – kognitive Strategien – familienbezogene Interventionen 3. Bei Nichtansprechen, unzureichender Kooperation und/oder starker Beeinträchtigung der Alltagsfunktionen medikamentöse Therapie mit SSRI oder Clomipramin 4. Kombination medikamentöser und verhaltenstherapeutischer Behandlung Remschmidt, Kinder- und Jugendpsychiatrie (ISBN 3135766047), © 2005 Georg Thieme Verlag Georg Thieme Verlag KG, Frau Biehl-Vatter, Remschmidt: Kinder- und Jugendpsychiatrie, TN 576604, WN 011986⁄01⁄04, Revision Therapie, Verlauf und Prognose Als wichtigste verhaltenstherapeutische Methode zur Behandlung von Zwangshandlungen ist die Exposition mit Reaktionsverhinderung zu nennen. Die Patienten lernen, sich den Angst auslösenden Gedanken und Situationen auszusetzen (Exposition bzw. Konfrontation), ohne die Zwangshandlungen auszuführen (Reaktionsverhinderung). So wäre es z.B. einem Patienten mit Kontaminationsängsten nicht gestattet, nach Berührung von Türklinken die Hände zu waschen (s. Kap. 44). In der Regel wird bei Kindern und Jugendlichen die graduierte (gestufte) Exposition angewandt mit einer sukzessiven Erhöhung des Schwierigkeitsgrades. Die Exposition sollte erst dann beendet werden, wenn der Patient eine deutliche Angstreduktion spürt. In der kognitiven Therapie lernen die Patienten, ihre dysfunktionalen Denk- und Bewertungsschemata zu hinterfragen und in einem zweiten Schritt zu verändern. Reine Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen sind im Kindes- und Jugendalter selten. Eine bewährte Behandlungsmaßnahme besteht darin, den Zwangsgedanken auf eine Endloskassette zu sprechen und sich dieses Band jeweils so lange anzuhören, bis die Angst nachlässt (Gedankenexposition und -habituation). Die so genannte „Gedankenstopp-Technik“ ist nicht empfehlenswert. Die Behandlung sollte stets mit einer Verhaltenstherapie begonnen werden. Bei unzureichender Besserung oder Kooperation ist eine Kombination mit einer medikamentösen Therapie sinnvoll. Jüngere Studien haben gezeigt, dass die Rückfallquote unter Verhaltenstherapie sowie unter kombinierter medikamentöser und verhaltenstherapeutischer Behandlung signifikant geringer als bei ausschließlich medikamentöser Behandlung ist. Als Medikamente haben sich Serotonin-spezifische Antidepressiva (Clomipramin) und selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (z.B. Fluoxetin, Fluvoxamin, Sertralin, Citalopram) als wirksam erwiesen. Der Behandlungserfolg setzt in der Regel frühestens nach 2–4 Wochen ein. Die Dosierung beträgt das Zwei- bis Dreifache der Dosis, die zur Behandlung von Depressionen verwandt wird. Bei Ansprechen auf die Medikation ist die therapeutische Dosis mindestens 12 Monate aufrechtzuerhalten. Das Absetzen der Medikation sollte sehr langsam erfolgen. 30–50% aller Kinder und Jugendlichen mit Zwangsstörungen zeigen – auch bei ausreichend langer Gabe – eine ungenügende Reduktion der Zwangssymptomatik unter dem jeweiligen Medikament. In diesen Fällen empfiehlt 251 sich ggf. die Augmentation mit Clomipramin oder einem atypischen Neuroleptikum. Eltern und Patient sollten über die Nebenwirkungen der Medikamente genau aufgeklärt werden, u.a. über das Auftreten suizidalen Verhaltens. Mit Hilfe der verbesserten Behandlungsmöglichkeiten sowohl im Bereich der Psycho- als auch Pharmakotherapie kann bei der Mehrzahl der Zwangspatienten die Krankheitssymptomatik deutlich reduziert werden. Allerdings steht eine Evaluation der Langzeiterfolge durch die neueren Methoden noch aus. Bisherige Langzeitstudien weisen auf eine eher ungünstige Prognose hin. Bei 30–70% aller Kinder und Jugendlichen trat ein chronischer Verlauf auf. Häufig kamen weitere psychiatrische Störungen hinzu, vor allem affektive Störungen, Angsterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen. Weiterführende Literatur: Jans, T., Hemminger, U., Wewetzer, Ch.: Der Verlauf von Zwangsstörungen mit Beginn im Kindes- und Jugendalter – eine Literaturübersicht. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 31: 187–201, 2003 Pediatric OCD Treatment Study (POTS) Team: Cognitive-behavior therapy, sertraline, and their combination for children and adolescents with obsessive-compulsive disorder. Journal of the American Medical Association 292: 1969–1976, 2004 Quaschner, K.: Zwangsstörungen. In: Remschmidt, H. (Hrsg.): Praxis der Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen. Thieme, Stuttgart 2004, S. 160–175 Simons, M., Holtkamp, K., Herpertz-Dahlmann, B.: Zwangsstörungen. In: Schneider, S. (Hrsg.): Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen. Springer, Berlin, Heidelberg 2004, S. 311–344 Wewetzer, C., Walitza, S.: Zwangsstörungen. In: Gerlach, M., Warnke, A., Wewetzer, Ch. (Hrsg.): Neuropsychopharmaka im Kindesund Jugendalter. Springer, Wien, New York 2004, S. 305–309 Wewetzer, C., Simons, M., Konrad, K., HerpertzDahlmann, B.: Zwangsstörungen. In: Herpertz-Dahlmann, B., Resch, F., Schulte-Markwort, M., Warnke, A. (Hrsg.): Entwicklungspsychiatrie. Schattauer, Stuttgart 2003, S. 570–591 Remschmidt, Kinder- und Jugendpsychiatrie (ISBN 3135766047), © 2005 Georg Thieme Verlag