Psychiatrische Rehabilitation

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Psychiatrische Rehabilitation
Ullrich Meise und Hartmann Hinterhuber
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Ausmaß des Bedarfs
Entwicklungen
Die ICF - International Classification of Functioning, Disability and Health
Funktionale Gesundheit
Konzept der Kontextfaktoren
Konzept der Aktivitäten und Teilhabe
Zielgruppe für die psychiatrische Rehabilitation
Psychische Behinderung
Ziele der psychiatrischen Rehabilitation
Normalisierung der Lebensbezüge
Erhalt sozialer Beziehungen
Verbesserung von Alltagsaktivitäten und Selbstversorgung
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben - Verringerung von Stigma und Diskriminierung
Förderung von Autonomie, von Bewältigungs- und Widerstandskomptenz
Lebenssicherung
Grundlagen der psychiatrischen Rehabilitation
Medizinische Rehabilitation
Soziale Rehabilitation
Berufliche Rehabilitation
Bio-psycho-sozialer Ansatz: Das Vulnerabilitäts-Stress-Coping Modell
Gemeindenähe
Personenorientierter Behandlungsansatz
Case-Management
Hilfen für Angehörige
Funktionsbereiche der psychiatrischen Rehabilitation
Beratung, Betreuung und Behandlung
Tagesstrukturierung und Alltagsgestaltung
Wohnen und Selbstversorgung
Arbeit und Ausbildung
Einflussfaktoren auf den Rehabilitationsverlauf
Soziale und gesellschaftliche Faktoren
Einstellungen und Erwartungshaltungen
Selbsthilfe und Mitbestimmung
Literatur
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Einleitung
Psychische Erkrankungen können zu Behinderungen führen, wodurch die Betroffenen in ihrer
Fähigkeit, den alltäglichen Anforderungen zu entsprechen, eingeschränkt sind. Diese sozialen
Auswirkungen betreffen aber nicht nur die erkrankte Person selbst, sondern auch ihre Familie
und das weitere soziale Umfeld. Rehabilitative Aspekte spielen nicht nur in der
Langzeitbehandlung, sondern auch in der Akutbehandlung eine Rolle. Zwischen kurativer und
rehabilitativer Medizin bestehen vielfältige Wechselwirkungen und ein Kontinuum mit
unterschiedlichem Stellenwert und Überlappungen. Die klinisch-psychiatrische Behandlung
und die psychiatrische Rehabilitation ergänzen sich gegenseitig. Eine entsprechende kausale
oder symptomatische nebenwirkungsarme Behandlung ist eine wichtige Vorraussetzung für
eine erfolgreiche Rehabilitation, die sich wiederum günstig auf den Verlauf der Erkrankung
auswirkt. Deshalb ist es wichtig, dass sich psychiatrische Rehabilitation und klinische
Psychiatrie in enger Kooperation entwickeln. Obwohl die Rehabilitation, was ihre
Administration und Finanzierung betrifft, überwiegend dem Sozialbereich zugeordnet ist,
muss sie in der Psychiatrie verankert bleiben.
Der prinzipielle Rechtsanspruch auf Rehabilitation ist in Österreich gesetzlich festgelegt.
Gemäß den sozialstaatlichen Prinzipien haben Menschen, die körperlich, geistig oder
psychisch behindert sind oder denen eine solche Behinderung droht, unabhängig von den
Ursachen der Behinderung, ein Recht auf Hilfen, die notwendig sind, um
•
eine Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu mildern, ihre Verschlimmerung zu
verhüten;
•
Pflegebedürftigkeit oder soziale Einschränkungen zu vermeiden oder ihre Folgen zu
mildern;
•
ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen um ihnen eine möglichst
selbstständige Lebensführung zu fördern;
•
ihnen eine ihren Neigungen und Fähigkeiten entsprechenden Platz im Arbeitsleben zu
sichern;
•
allfälligen Benachteiligungen, die aus der Behinderung erwachsen könnten,
entgegenzuwirken.
Die Deutschen Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (1984) beschreibt die
psychiatrische Rehabilitation als "…. die Gesamtheit der Bemühungen, um einen seelisch
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behinderten Menschen über die Akutbehandlung hinaus durch umfassende Maßnahmen auf
medizinischem, schulischem, beruflichem und allgemeinsozialem Gebiet in die Lage zu
versetzen, eine Lebensform und Lebensstellung, die ihm entspricht und seiner würdig ist, im
Alltag, in der Gemeinschaft und im Beruf zu finden bzw. wiederzuerlangen."
Die Psychiatrische Rehabilitation kann nach Einzelbereichen in eine medizinische, soziale
und berufliche Rehabilitation unterteilt werden. In der Praxis ist es zumeist erforderlich diese
Rehabilitationsbereiche gemeinsam zu verfolgen. Die Rehabilitation soll Menschen mit
anhaltenden und schwerwiegenden psychischen Erkrankungen ermöglichen, jene sozialen,
emotionalen und intellektuellen Fähigkeiten zu entwickeln, die sie benötigen, um mit dem
geringsten Ausmaß an professioneller Unterstützung ein möglichst normales Leben in der
Gemeinschaft führen zu können. Sie soll dazu beitragen, die Lebensqualität von Betroffenen
aber auch jene ihrer Angehörigen zu verbessern und sie darin zu unterstützen, für ihr Leben
als selbstbestimmte und aktive Menschen (wieder) Verantwortung zu übernehmen, damit sie
gleichberechtigt am Leben in der Gesellschaft teilnehmen können. Die heutige Sichtweise von
Rehabilitation hebt die positiven Entwicklungspotenziale von Menschen mit psychischer
Behinderung hervor, ein Aspekt der in der Vergangenheit zu wenig beachtet wurde.
Ausmaß des Bedarfs:
Die psychiatrische Epidemiologie kommt zum Ergebnis, dass zumindest 25% der
Bevölkerung innerhalb eines Jahres behandlungsbedürftige psychische Störungen aufweisen;
In Mitteleuropa werden jährlich zwischen 0,5 bis 1 % der Gesamtbevölkerung wegen einer
psychischen Erkrankung stationär behandelt. Die höchsten Prävalenzraten weisen
Angststörungen,
depressive
Erkrankungen,
somatoforme
Störungen
und
Substanzabhängigkeiten auf. Aber nur etwa ein Viertel der Behandlungsbedürftigen erfahren
eine fachberechte Betreuung oder nehmen professionelle Hilfe in Anspruch, was auf einen
erheblichen ungedeckten Versorgungsbedarf hinweist.
Zu den bestehenden Defiziten in der Versorgung tragen vor allem die Stigmatisierung und
Diskriminierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen bei.
Die WHO führte jüngstens in ihrem "World Health Report" aus, dass weltweit Menschen mit
depressiven Störungen etwa 12 % ihrer gesamten Lebenszeit durch die damit verbundene
Behinderung "verlieren". (YLLs - years of life lived with diability). Unter den zehn
wichtigsten Erkrankungen finden sich weiters Schizophrenien, Alkoholkrankheit und bipolare
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Erkrankungen. Es wird erwartet, dass der Stellenwert psychischer Erkrankungen in den
nächsten Dekaden weiter zunehmen wird. Ähnlich fallen die Ergebnisse von Weltbank und
Harvard Universität zum "global burden of disease" aus. Im Jahr 2020 werden unter den zehn
Erkrankungen, die Betroffene und die Gesellschaft am stärksten belasten, fünf psychische
Krankheiten anzutreffen sein.
Der Gesellschaft erwachsen durch psychische Gesundheitsprobleme nicht nur Leid, sondern
auch
wirtschaftliche
Nachteile.
Psychische
Erkrankungen
und
vor
allem
ihre
Krankheitsfolgen (für die neben einer unzureichenden Behandlung auch ungünstige sozialen
Bedingungen verantwortlich zeichnen) sind auch aus volkswirtschaftlicher Sicht relevant.
Nach einer vorsichtigen Schätzung werden ihre Kosten für die EU-Mitgliedsstaaten mit 3-4
% des BIP (Bruttoinlandsprodukt) beziffert. Dabei übertreffen die indirekten Kosten verursacht durch vorzeitigen Tod, Krankenstände und Invalidität - deutlich die direkten
Kosten, die durch die Behandlung anfallen. Inzwischen sind in Österreich psychische
Störungen die häufigste Ursache für eine Berentung auf Grund von Invalidität.
Entwicklungen:
Im Gefolge der Kritik an den psychiatrischen Großinstitutionen setzte auch in Österreich und
Deutschland vor etwa 30 Jahren ein Prozess ein, der als "Deinstitutionalisierung" bezeichnet
wird. Im Zusammenhang mit den Bemühungen, psychiatrische Langzeitpatienten zu
enthospitalisieren, entwickelten sich sozialpsychiatrische Rehabilitationsangebote. Patienten,
die im psychiatrischen Großkrankenhaus langfristig untergebracht waren, sollten in ihrer
Heimatgemeinde integriert werden. Die mit Reglementierung, Verlust der persönlichen
Bezüge zur Umwelt, Entzug von Verantwortung, oder mit menschlichen Distanz und
Entindividualisierung
einhergehende
Langzeitunterbringung
in
den
psychiatrischen
Großinstitutionen führte zu einem Phänomen, das als Hospitalismussyndrom benannt wird.
Dabei kommt es zu einer Entfremdung der Patienten vom ursprünglichen Umfeld. Dieses
durch den Kontext der Behandlung bedingte Artefakt führt zu Passivität, Regression,
Resignation und Entwurzelung. Diese Phänomene können auch in gemeindepsychiatrischen
Angeboten auftreten, wenn diese ähnliche strukturelle und organisatorische Bedingungen
aufweisen, wie sie in den ehemaligen Langzeitstationen psychiatrischer Krankenhäuser üblich
waren.
In der Anfangsphase konzentrierten sich die Planungen der psychiatrischen Rehabilitation auf
die Schaffung von unterschiedlichen Typen von Einrichtungen. Ihr Ansatz war somit
5
institutionszentriert. Rehabilitation wurde zudem als ein umfassender Prozess angesehen, in
dem ein psychisch behinderter Mensch, unterstützt durch fachgerechten Anleitung, lernen
sollte, seine Behinderung zu beheben oder sie durch Entfaltung verbliebener Fähigkeiten
soweit als möglich auszugleichen. Ziel war es, auch bei einer allfällig fortbestehenden
Beeinträchtigung, wieder einen angepassten Platz in der Gesellschaft und - wenn möglich - im
Arbeitsleben einnehmen zu können. Diese Sicht forderte, dass ein Mensch mit psychischer
Behinderung nach Beendigung eines zeitlich begrenzten, aber anhaltend erfolgreichen
Lernprozesses, wieder in die Gesellschaft integriert wird. Dieses Konzept fand auch Eingang
in die Sozialgesetzgebung: Auch heute noch bauen manche Rehabilitationsprogramme auf
diesem auf.
Im Unterschied zu dieser auf einen Lernprozess fokussierten Rehabilitationsansatz mit seiner
Forderung nach Anpassung folgt das Konzept von Bennet (1978) einem verändertem Leitbild:
Rehabilitation wird als ein Prozess des Helfens angesehen, wodurch es einer psychisch
behinderten Person ermöglicht werden sollte, von seinen Fertigkeiten den besten Gebrauch zu
machen, um auf dem bestmöglichen Niveau in seinem gewohnten sozialen Kontext leben zu
können. Demnach sollte Rehabilitation einen offenen Prozess bieten, dessen Hilfen sich am
Bedarf und den Bedürfnissen des individuell Betroffenen ausrichten. Es ist Aufgabe der
Rehabilitation, den sozialen Kontext für ein Leben in der Gesellschaft zu schaffen und Hilfen
so lange anzubieten, wie sie der Betroffene benötigt. Damit ist jeder Mensch mit einer
psychischen Behinderung rehabilitationsfähig. Nach dem alten Konzept, das die Lernfähigkeit
in den Vordergrund stellte, bestand die Gefahr, dass nur eine kleine Gruppe von Patienten, die
zumeist eine gute Prognose aufweist, als rehabilitationsfähig erachtet wird.
Eine auf Hilfen gründende Konzeptualisierung der rehabilitativen Praxis in der Psychiatrie
findet nach Michael von Cranach (2007) in folgenden Thesen ihren Niederschlag.
Psychiatrische Rehabilitation
•
muss gemeindenahe und gleichsam „in vivo“ d.h. im realen sozialen Umfeldes des
Patienten stattfinden;
•
muss das soziale Umfeld an die Behinderung anpassen; dies ist ein weiteres Argument
dafür, dass sie vor Ort erfolgen muss;
•
muss hinsichtlich ihrer Anforderungen und Angebote abgestuft sein und sollte es
jedem Behinderten ermöglichen auf jeder Anforderungsstufe verweilen zu können;
•
ist kein zeitlich umschriebener und begrenzter Lernvorgang, sondern häufig ein
langwieriger komplexer Prozess;
6
•
und psychiatrische Behandlung müssen miteinander eng und flexibel verzahnt sein;
•
ist
nicht
nur
dann
sinnvoll,
wenn
eine
hohe
Wahrscheinlichkeit
der
Wiedereingliederung zu erwarten ist.
Die ICF - International Classification of Functioning, Disability and Health
Eine gute Grundlage für das Verständnis von psychiatrischer Rehabilitation bietet die ICF
(Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit), die 2001
von der WHO entwickelt wurde (Abbildung).
In der Medizin und somit auch in der Psychiatrie gewinnen die Krankheitsfolgen für die
Behandlung zunehmend an Bedeutung. Die sozialen und beruflichen Auswirkungen von
Erkrankungen werden als entscheidend erachtet, wie eine Behandlung oder auch die Schwere
einer Krankheit beurteilt werden. Während akute Erkrankungen in der Regel zeitlich begrenzt
sind und zumeist nur zu vorübergehenden Aktivitäts- und Partizipationsstörungen führen,
gehen chronische oder rezidivierende Erkrankungen mit Folgen einher, die auch nach
Abklingen der akuten Symptomatik weiter bestehen bleiben können. Diese beeinträchtigen
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das soziale Funktionsniveau, wodurch Betroffene den Anforderungen des täglichen Lebens
nur mehr eingeschränkt oder nicht mehr gewachsen sind.
Kurative Medizin und Rehabilitationsmedizin unterscheiden sich in ihrer Sichtweise. Die ICD
10 vermag Erkrankungen nach syndromalen und nosologischen Gesichtspunkten zu
klassifizieren, jedoch nicht die Krankheitsfolgen zu erfassen. Aus diesem Grund hat die
Weltgesundheitsorganisation bereits 1980 die „Internationale Klassifikation der Schädigung,
Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen (ICIDH)“ eingeführt. Diese baute auf einem
dreidimensional orientierten Konzept auf, das drei Ebenen unterscheidet:
•
Schädigung biologischer und/oder psychischer Strukturen und
Funktionen (Impairment)
•
Fähigkeitsstörungen(Disability)
•
sozialen Beeinträchtigungen (Handikap).
Im Jahre 2001 wurde die ICIDH durch die ICF abgelöst. In ihr wurden die negativen
Beschreibungen wie “Schädigung“, „Fähigkeitsstörung“ oder „Handikap“ durch die neutralen
Begriffe „Funktionen“, „Aktivitäten“ und „Partizipation“ ersetzt. Zusätzlich beinhaltet diese
Weiterentwicklung auch einen Abschnitt über die „Kontextfaktoren“ als Teil der
Klassifikation.
Die ICF dient somit der Beschreibung des Gesundheitszustandes eines Menschen gemäß einer
um das soziale Netz erweiterten psychosomatischen Sicht (bio-psycho-soziales Konzept) und
erfasst allfällige Beeinträchtigungen in den Bereichen der
•
Körperfunktionen und -strukturen,
•
Tätigkeiten (Aktivitäten) jeglicher Art
•
Teilhabe (Partizipation) an Lebensbereichen und
•
umweltbedingten und persönlichen Kontextfaktoren.
In der ICIDH wurde angenommen, dass sich eine Beeinträchtigung der funktionalen
Gesundheit unidirektional und kausal von der Schädigung zu Fähigkeitsstörungen und in der
Folge zu sozialen Beeinträchtigungen entwickelt. Die ICF verfolgt hingegen, hinsichtlich der
Entwicklung von psychischer Behinderung, ein komplexes Interdependenzmodell, wobei
vielfältige sich im Zeitverlauf ändernde Wechselwirkungen zwischen Gesundheitsproblemen,
Aktivitäten, Teilhabe und Kontextbedingungen bestehen. Sie sieht somit die „funktionale
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Gesundheit“ als Ergebnis der Interaktion von krankheitsbedingten Beeinträchtigungen und
positiven Ressourcen des Betroffenen sowie fördernden oder hemmenden Faktoren der
sozialen Umwelt. Als Grundlage für die psychiatrische Rehabilitation führt sie vom
medizinischen Krankheitsmodell, das seinen Fokus auf die Symptomatologie richtet, hin zu
einem Krankheitsmodell, das die funktionellen Einschränkungen von Erkrankten in den
Mittelpunkt stellt. In Ergänzung zur Beschreibung von Erkrankungen auf Symptomebene
(ICD) ermöglicht die ICF systematisch eine Beschreibung auf dem Niveau von Aktivitätsund Partizipationsstörungen. Es ist somit manifest, dass sich ICF und ICD durch
unterschiedliche Schwerpunktsetzung bestens ergänzen.
Funktionale Gesundheit:
Ein wesentliches Element der ICF ist der Begriff der "Funktionalen Gesundheit". Ihre
Wiederherstellung ist Gegenstand der Rehabilitations- und Sozialmedizin: Im Falle von
psychischen Erkrankungen ist dies das zentrale Anliegen der Sozialpsychiatrie. Eine Person
gilt dann als „funktional gesund“ wenn unter Berücksichtigung ihres gesamten
Lebenshintergrundes
•
ihre
körperlichen
und
psychischen
Funktionen
allgemein
anerkannten
(statistischen) Normen entsprechen (Konzept der Körperfunktionen und strukturen);
•
sie das leisten und tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem
erwartet wird (Konzept der Aktivitäten) und
•
sie zu allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, Zugang hat und sie sich in der
Art und Weise entfalten kann, die einem Menschen ohne Beeinträchtigung
ermöglicht wird (Konzept der Partizipation).
Die WHO spricht in diesem Zusammenhang auch von Funktionsfähigkeit eines Menschen
(„functioning“). Es ist jedoch zu bedenken, dass dieses Modell von Gesundheit auf einem
Normalitätskonzept basiert. Wird dieses als normative Forderung rigoros oder unkritisch
übernommen, könnten daraus den von einer Störung betroffenen Personen auch Nachteile
erwachsen. Grundsätzlich erfährt jedoch durch diese Definition die bio-medizinische
Betrachtungsweise eine Erweiterung ihres Blickfeldes.
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Konzept der Kontextfaktoren:
In der ICF werden alle jene Gegebenheiten, welche den Lebenshintergrund einer Person
kennzeichnen, als Kontextfaktoren bezeichnet. Sie setzen sich aus den Umfeldfaktoren und
den personenbezogenen (oder persönlichen) Faktoren zusammen. Letztere dürfen jedoch nicht
Teil des bestehenden Gesundheitsproblems sein, wie beispielsweise der mangelnde
Handlungswille auf Grund einer Depression. Durch die Berücksichtigung des Kontextes kann
beurteilt werden, welche dieser Bedingungen sich als Förderfaktoren positiv und welche sich
als Barrieren negativ auf die soziale Teilhabe auswirken. Die persönlichen Faktoren, die sich
auf die funktionelle Gesundheit einer Person positiv auswirken, werden auch als Ressourcen
bezeichnet.
Rehabilitationsziele sind folgedessen:
•
Die Förderung von Motivation;
•
die Veränderung des Lebensstiles;
•
die Vermeidung von Risikofaktoren;
•
die Anleitung zur Stressbewältigung oder
•
die Planung von Veränderungen im häuslichen oder beruflichen Umfeld.
Konzept der Aktivitäten und Teilhabe:
Das "Konzept der Aktivitäten und Teilhabe" bezieht sich auf den Einzelnen als handelndes
Subjekt und berücksichtigt seine Entfaltung in Gesellschaft und Umwelt. Nach der
Handlungstheorie von Nordfelt müssen drei Bedingungen vorliegen, damit dieser aus freien
Stücken Aktivitäten durchführen kann:
•
Die Leistungsfähigkeit, die im entsprechenden Ausmaß vorhanden sein muss, um
entsprechende Handlungen setzen zu können;
•
die Gelegenheit, worunter die äußeren Umstände zu verstehen sind, die es einer
Person ermöglichen ihrer Leistungsfähigkeit entsprechend handeln zu können und
•
der Wille der betroffenen Person, bei entsprechender Leistungsfähigkeit diese auch
erbringen zu wollen.
Rehabilitationsziele bezogen auf die Aktivitäten können sein: Die Verbesserung der sozialen
Wahrnehmung sowie der kommunikativen Fertigkeiten, der Aufbau von sozialen
Kompetenzen, die Verbesserung von Beziehungsfähigkeit und Beziehungsgestaltung, der
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Erwerb von Strategien, Probleme zu lösen, die Förderung kognitiver Fertigkeiten, die
Aktivierung sowie die Krankheits- und Stressbewältigung.
Mit dem Konzept der Teilhabe werden zwei Gesichtspunkte berücksichtigt: Der erste bezieht
sich auf die Menschenrechte (Antidiskriminierungsgebot), wodurch sicher zustellen ist, dass
ein gleichberechtigter Zugang zu den üblichen Lebensbereichen sowie eine unabhängige und
selbstgewählte Lebensführung möglich sind. Der zweite Aspekt beurteilt die subjektive
Wahrnehmung und geht Fragen wie der Zufriedenheit mit den jeweiligen Lebensbereichen
oder der Beurteilung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität nach. Auch versucht er zu
erheben, welches Ausmaß an Anerkennung und Wertschätzung die Betroffenen erfahren.
Diesbezügliche Rehabilitationsziele sind u.a. der Erhalt und die Verbesserung der sozialen
Integration, die wirtschaftliche Unabhängigkeit oder die Verbesserung der Mobilität.
Mit der vorliegenden Form der ICF können keine funktionalen Diagnosen gestellt werden,
obwohl sie auf mehreren Ebenen funktionale Befunde und Symptome erhebt. Sie kann jedoch
zur Entwicklung entsprechender Beurteilungsinstrumente führen.
Die ICF hat den Vorteil, dass sie das rehabilitationsorientierte Denken systematisiert und dem
therapeutischen Handeln neue Perspektiven eröffnet. Sie dient heute schon als informeller
Leitfaden für die Rehabilitationsplanung und fand bereits Eingang in die deutsche
Sozialgesetzgebung für die psychiatrische Rehabilitation Im Sinne einer optimalen
Rehabilitationsplanung können mit der ICF Beeinträchtigungen und Ressourcen erfasst,
Behandlungsziele definiert sowie Interventionen formuliert werden. Die ICF leitete bereits
einen Paradigmenwechsel im Verständnis von Krankheit und Gesundheit ein: Statt sich auf
die Beschreibung von Symptomen oder Defiziten zu beschränken, beschreibt sie
Erkrankungszustände im Hinblick auf die konkrete Person mit all ihren Ressourcen und
psychosozialen Bezügen. Sie erweitert somit den Rehabilitationsbegriff um den Aspekt der
„funktionalen Gesundheit“.
Zielgruppe für die psychiatrische Rehabilitation
Zielgruppe für eine psychiatrische Rehabilitation sind Menschen, die eine schwere oder
anhaltende
psychische
Störung
aufweisen,
welche
mit
längerfristigen
sozialen
Einschränkungen und somit einer Beeinträchtigung der funktionalen Gesundheit einhergeht.
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In der Altersgruppe der 15 bis 44 Jährigen scheinen bei jenen Erkrankungen, die zu einer
Behinderung führen, an den ersten drei Positionen schizophrene und depressive Störungen
sowie die Alkoholerkrankung auf. Diese Erkrankungen machen in der genannten
Lebensspanne etwa ein Viertel der durch Behinderung verlorenen Lebensjahre (YLLs) aus.
Psychische Behinderung:
Die ICF verdeutlicht, dass die Entwicklung von psychischen Behinderungen ein komplexes
Geschehen ist, in dem stabilisierende und/oder belastende Situationen aus unterschiedlichen
Lebensbereichen durch Effekte der Rückkoppelung miteinander verbunden sind. Krankheit
und Behinderung sind niemals zwei unterschiedliche Zustände, die in einer bestimmten
zeitlichen Abfolge auftreten, sondern sie sind Ausdruck eines dynamischen Prozesses.
Die Entwicklung einer Behinderung als Krankheitsfolge ist bei psychischen Erkrankungen
immer stark kontextabhängig. In die Rehabilitationspläne werden somit nicht nur die
Einflüsse der Umwelt, die Einstellungen der Gesellschaft mit ihren Normen und Werten, oder
die
Rahmenbedingungen
sowie
die
Qualität
der
sozialen
und
psychiatrischen
Unterstützungssysteme berücksichtigt, sondern auch die jeweils Betroffenen mit ihrer
Bewältigungsfähigkeit und ihrem Lebensstil, ihrer Motivation und ihren Zielen sowie ihrem
demografischen Hintergrund in der Beurteilung einbezogen.
Mit einer psychiatrischen Rehabilitation sollte begonnen werden, wenn auf Grund einer
anhaltenden psychischen Störung und sozialer Bedingungen eine ausgeprägte psychische
Instabilität und eine soziale Fehlanpassung vorliegen, die erwarten lassen, dass die soziale
Teilhabe länger als 6 Monate beeinträchtigt sein wird.
Im Unterschied zu körperlich Behinderten
•
sind psychisch Kranke vor allem in ihrer Fähigkeit eingeschränkt, die erwarteten
sozialen Rollen zu übernehmen. Ein vermindertes soziales Funktionsniveau darf
jedoch nicht Folge einer freien Wahl des jeweils Betroffenen sein;
•
sind die Entstehung, der Verlauf und die Ausprägung von psychischer Behinderung
wesentlich durch Umwelteinflüsse mitbestimmt. Sie weisen eine starke Abhängigkeit
von belastenden und/oder stabilisierenden Umfeldbedingungen auf;
•
sind psychische Behinderungen nicht statisch, sondern oft schwer vorhersehbaren
Schwankungen unterworfen, wozu auch krankheitsimmanente Faktoren beitragen
können;
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•
sind psychisch Kranke in ihrer Fähigkeit, die eigene Hilfebedürftigkeit zu erkennen
und angebotene Hilfen zu nutzen, mitunter eingeschränkt. Es darf jedoch nicht jede
Ablehnung von angebotenen Hilfen als mangelnde Krankheitseinsicht bewertet
werden;
•
sind die Probleme psychisch Kranker in der Bevölkerung oft wenig bekannt. Sie
werden häufig nicht erkannt oder als organische Beeinträchtigung verkannt. Da die
Störung oft auch nicht akzeptiert wird, ist das Potenzial an spontaner Hilfeleistung
eingeschränkt. Die Betroffenen sind in hohem Maße mit Stigmatisierung und mit
sozialer Isolation konfrontiert;
•
sind Rehabilitationserfolge bei Vorliegen einer psychischen Behinderung schwer
prognostizierbar. Der Zeitraum für Rehabilitationsmaßnahmen ist entsprechend lange
anzusetzen;
•
sind die Chancen sozial und/oder beruflich wieder Fuß fassen zu können auch für
Menschen mit ausgeprägter psychischer Behinderung gut;
Die Ziele einer Rehabilitation sind nicht immer erreichbar; nach einem Erkrankungsrezidiv
muss mit der Rehabilitation wieder neu begonnen werden.
Im Behandlungsmanagement einer psychischen Störung ist eine wichtige Forderung, dass mit
der Rehabilitation rechtzeitig begonnen wird. Schon während der Akutbehandlung wird
häufig ersichtlich, dass die Erkrankung potenziell zur Chronifizierung neigt. Selbst bei
Betroffenen, die Gefahr laufen, psychische Behinderungen zu entwickeln, vergehen oft viele
Jahre bis eine Rehabilitation in Anspruch genommen wird oder sie von ihnen akzeptiert
werden kann. Die sich einstellenden Beeinträchtigungen wirken sich wiederum auf den
Krankheitsverlauf negativ aus.
Ziele der psychiatrischen Rehabilitation
Die psychiatrische Rehabilitation hat andere Aufgaben als die kurative Psychiatrie, die dem
klassischen medizinischen Modell folgt. In der Akutbehandlung zielen Diagnostik und
Therapie vorwiegend auf die Verbesserung der Psychopathologie. Die Rehabilitation
fokussiert auf Beeinträchtigungen in den Bereichen "Aktivität" und "Teilhabe". Sie strebt in
erster Linie nicht eine maximale Symptomreduktion an, sondern ist auf die Verbesserung der
sozialen Partizipation ausgerichtet und bemüht sich, die Lebensqualität der Betroffenen zu
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verbessern. Auch wenn geringfügig ausgeprägte Krankheitssymptome fortbestehen,
ermöglichen die Rehabilitationsbemühungen den Betroffenen oft eine weitgehende
Überwindung der Krankheit. Die Rehabilitation folgt vorrangig den in Tabelle 1 aufgelisteten
Zielen.
Tabelle 1: Ziele der psychiatrischer Rehabilitation
In erster Linie Förderung von
•
Erhalt sozialer Beziehungen
•
Alltagsaktivitäten und Selbstversorgung
•
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
•
Autonomie und Selbsthilfe (Empowerment)
•
Genesung, Wiedergesundung (Recovery)
•
Bewältigungs- und Widerstandskompetenz (Resilienz)
•
Selbsthilfe
•
Lebenssicherung
•
Normalisierung der Versorgung
Darüber hinaus soll die Rehabilitation beitragen
•
Klinische Symptomatik zu verbessern
•
Erkrankungsrückfällen und Suiziden vorzubeugen
•
Stigma und Diskriminierung zu begegnen
•
subjektive Lebensqualität und Lebensstandard zu erhöhen
•
Wohlbefinden von Angehörigen zu verbessern
Normalisierung der Lebensbezüge:
Ein Grundprinzip der psychiatrischen Versorgung fordert, dass die rehabilitativen Angebote
den Betroffenen ein weitestgehend normales Leben mit möglichst wenigen Einschränkungen
ermöglichen. Die Herauslösung der Erkrankten aus den gewohnten Lebensbezügen stellt für
diese ein einschneidendes Ereignis dar, das zu Entwurzelung führen kann. Verantwortlich
dafür ist die Unterbringung in einer Langzeiteinrichtung oder ein wohnortfernes
Rehabilitationsangebot. Bei akuter Erkrankung ist die Integration in normale Lebensbezüge
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so rasch wie möglich anzustreben: Eine längere stationäre Unterbringung stört die
Beziehungen zum sozialen Kontext und lindert die Partizipationsmöglichkeiten.
Erhalt sozialer Beziehungen:
Bei
vielen
schweren
psychischen
Erkrankungen
treten
Störungen
der
sozialen
Kommunikation auf. Dies führt zu einer geringeren sozialen Unterstützung, zu Rückzug und
Verringerung des sozialen Netzwerkes sowie zu Isolation. In kontrollierten Studien wurde
belegt, dass durch ein strukturiertes Training die sozialkommunikativen Kompetenzen
(wieder) verbessert werden konnten.
Als Folge der Deinstitutionalisierung mit der Verlagerung der längerfristigen Betreuung von
chronisch Kranken in die Gemeinde, beschränken sich bei vielen Betroffenen die stabilen
Kontakte auf die
Herkunftsfamilie,
auf professionelle
Bezugspersonen
oder das
sozialpsychiatrische Versorgungssystem. Besonders die Eltern leisten heute einen
beträchtlichen Anteil der Betreuung und beklagen oft zu Recht, dass sie mit ihrer emotional
und finanziell belastenden Aufgabe häufig alleine gelassen und darüber hinaus oft als
Sündenböcke angesehen werden. Die Einbeziehung der Familie in die Rehabilitation ist
deshalb
besonders
wichtig:
Oft
bietet
sie
als
einzig
verbliebenes
natürliches
Unterstützungssystem den Rahmen für die Genesung. Für die Arbeit mit Angehörigen wurden
eine
Reihe
von
Familieninterventionsprogrammen
entwickelt.
Die
therapeutische
Einbeziehung der Angehörigen ist auch deshalb notwendig, da ein entsprechender
emotionaler Umgang der nahen Bezugspersonen mit dem Patienten den Krankheitsverlauf
mitbestimmt. Untersuchungen bei an Schizophrenie Erkrankten konnten zeigen, dass es in
einem Umfeld, das von emotionalem Überengagement geprägt ist und das dem Betroffenen
ein
hohes
Ausmaß
an
Kritik
und
Feindseligkeit
entgegenbringt,
gehäuft
zu
Erkrankungsrezidiven kommt. Diese Form der sozialen Interaktion wird als „High Expressed
Emotions“ bezeichnet. Ergebnisse von Interventionsstudien belegen, dass durch eine
Familientherapie Erkrankungsrückfälle gesenkt und die psychosozialen Fertigkeiten von
Betroffenen verbessert werden konnten.
Verbesserung von Alltagsaktivitäten und Selbstversorgung:
Krankheitsbedingte
funktionelle
Einschränkungen
fördern
Erkrankungsrezidive,
Chronifizierung oder die Entwicklung psychosozialer Behinderungen. Deshalb ist bei
Menschen mit einer schweren psychischen Erkrankung eine längerfristige milieutherapeutisch
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ausgerichtete „strukturierende“ Behandlung erforderlich, die möglichst alltagsnahe erfolgen
soll. Durch diese Bemühungen wird einerseits die verbliebene klinische Symptomatik weiter
stabilisiert, andererseits wird dadurch die Tagesstrukturierung und die Alltagsbewältigung
sowie
die
zwischenmenschliche
Kommunikation
verbessert
und
die
subjektive
Krankheitsverarbeitung und Copingfähigkeit gefördert. Im Setting eines „Tageszentrums“
können ergotherapeutische, pharmakologische, psychologische und psychotherapeutische
Maßnahmen koordiniert eingesetzt und weitere Rehabilitationsschritte geplant werden.
Positive, realistische Ziele sollen gemeinsam mit den Betroffenen und gegebenenfalls unter
Einbeziehung der Angehörigen erarbeitet werden.
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben - Verringerung von Stigma und Diskriminierung:
Rehabilitative Maßnahmen zielen ab, die soziale Integration und Teilhabe der Betroffenen am
gesellschaftlichen Leben zu verbessern. Die Förderung und Verbesserungen der
beeinträchtigten sozialkommunikativen Kompetenzen der Betroffenen erweist sich als
besonders wichtig.
Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen stellen an das Leben dieselben Wünsche und
Hoffnungen, wie sie Menschen ohne Behinderung haben, sie möchten respektiert werden und
ein Leben so normal wie möglich führen. Sie wünschen selbstständig zu wohnen, einer ihnen
entsprechenden Beschäftigung nachzugehen, befriedigende Partnerschaften und ein Leben in
der Gemeinschaft mit den gleichen Rechten und Chancen zu führen. Häufig wird jedoch diese
Forderung nach Chancengleichheit durch Stigmatisierung und Diskriminierung, denen
Menschen mit psychischen Erkrankungen in hohem Maße ausgesetzt sind, behindert. Die von
Vorurteilen belasteten Einstellungen der Öffentlichkeit erschwert - wie in zahlreichen Studien
belegt werden konnte - die Wiedereingliederung der Betroffenen in das soziale Leben.
Psychiatrischen Patienten wird in unserer Gesellschaft nach wie vor mit Unsicherheit und
Misstrauen
begegnet.
Psychisch
Erkrankten
werden
negative
Eigenschaften
wie
Gefährlichkeit oder Unberechenbarkeit zugeschrieben. Ihre Erkrankung wird häufig
fälschlicherweise als unheilbar erachtet. Angst und Ablehnung führen zu Diskriminierung und
verursachen somit Rückzug und Isolation und beeinträchtigen das Selbstwertgefühl der
Betroffenen. Das Stigma behindert auch ihr Hilfesuchverhalten, die rechtzeitige Behandlung
und ihre Compliance.
Neben der in den sozialen Beziehungen erlebten Stigmatisierung, der von Vorurteilen
geprägten Darstellungen psychischer Erkrankungen in Medien sowie einem aus Misstrauen
erschwerten Zugang zu sozialen Rollen, haben zwei bislang vernachlässigte Aspekte ein
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besonderes Gewicht. Der eine kann als „iatrogenes Stigma“ bezeichnet werden: Es konnte
belegt werden, dass in allen medizinischen Bereichen, auch innerhalb der Psychiatrie selbst,
eine
Stigmatisierung
psychisch
Kranker
anzutreffen
ist,
die
jener
in
der
Allgemeinbevölkerung ähnlich ist. Als Beispiel für iatrogene Stigmatisierung gilt, dass
körperliche Erkrankungen bei Menschen mit einer psychiatrischen Diagnose häufig weniger
ernst genommen werden. Der zweite Aspekt, der sich negativ auf die Behandlung und
Rehabilitation auswirkt, ist die „Selbststigmatisierung“. Dabei internalisieren Betroffene die
ihnen zugeschriebenen Vorurteile und identifizieren sich mit ihnen. Dies hat ein negatives
Selbstbild oder die Übernahme der Krankenrolle zur Folge.
Asmus Finzen hat das Stigma psychischer Erkrankung treffend als „zweite Erkrankung“
bezeichnet, die von der Grunderkrankung unabhängig ist. Die Stigmatisierung verschlechtert
den Krankheitsverlauf und die Partizipation der Betroffenen und trägt zu ihrer Vereinsamung,
zu Resignation und vermindertem Selbstwert bei.
Menschen mit psychischen Erkrankungen, die mehr soziale Unterstützung erfahren haben und
somit besser sozial integrier sind, zeigen eine höhere Stigmaresistenz, einen günstigeren
Verlauf ihrer Erkrankung und eine höher Lebensqualität.
Förderung von Autonomie, von Bewältigungs- und Widerstandskompetenz:
Die psychiatrische Rehabilitation folgt heute einem geändertes Menschenbild und veränderten
Sichtweisen: Der Begriff Rehabilitation beinhaltet auch die Wiederherstellung des
„öffentlichen Ansehens“ von Betroffenen. Viele psychisch Kranke erfahren in vielfältiger
Weise Ausgrenzung. Sie haben den Wunsch, trotz ihrer Erkrankung anerkannt zu werden und
auch sozial akzeptable Rollen einnehmen zu können. Durch soziale Einflüsse aber auch durch
die
Selbststigmatisierung
Rehabilitationsbemühungen
droht
ist
ihre
es
das
Identität
verloren
beschädigt
werden.
Ziel
moderner
gegangene Selbstbewusstsein,
das
Selbstvertrauen und die Selbstachtung wieder zu entwickeln. Mit Konzepten, die als
„Empowerment“ oder „Recovery“ in die Sozialpsychiatrie eingegangen sind, zeichnet sich
ein Paradigmenwechsel ab, der geeignet ist, die genannten Aspekte zu fördern. Demnach
richtet sich der Blick nicht wie bisher vorwiegend auf die Defizite einer Person, sondern auf
deren erhaltenen vielfältigen Fähigkeiten (Ressourcenorientierung). Im Zentrum stehen nun
Aspekte wie Mitbestimmung und Verantwortungsübernahme sowie aktive Mitgestaltung der
Betroffenen auch bei bestehender Behinderung (Empowerment), die Förderung des ihnen
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innewohnenden Potenziales zur Wiedergesundung oder zur Genesung („Recovery“) sowie
die Förderung ihrer Widerstands- und Bewältigungskompetenz (Resilienz).
Durch diesen Paradigmenwechsel soll ein persönlicher Prozess in Gang gesetzt werden, der
die Förderung menschlicher Beziehungen, die Selbstbestimmung und die Übernahme von
Verantwortung, die soziale Teilhabe sowie die Fähigkeit, Probleme zu lösen unterstützt und
somit das Erlangen von Hoffnung und eines neuen, positiven Lebenssinnes fördert.
Soziotherapeutische Aktivitäten sollen Betroffenen ermöglichen und sie ermuntern, sich
Wissen über ihre Erkrankung und deren Behandlung anzueignen, ihre Symptome
kontrollieren zu lernen, wieder Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen und an
seiner Gestaltung aktiv mitzuwirken sowie ein positives Selbstbild zu entwickeln.
Die Bemühungen der erkrankten Menschen, sich die verloren gegangenen Fertigkeiten und
Fähigkeiten wieder anzueignen und Macht und Einfluss bezüglich der Lebensgestaltung zu
gewinnen, rücken somit immer stärker in das Blickfeld der Rehabilitation.
In einigen Ländern wie Neuseeland oder Großbritannien wurde das Recovery-Konzept zum
Leitprinzip für die staatliche psychiatrische Gesundheitsversorgung. Das Programm der
Weltvereinigung für Psychiatrie (WPA) „Psychiatry with the person“ folgt der Entwicklung,
die von einer krankheitsdominierten Sichtweise zu einer personenzentrierten Perspektive
führt. Dabei werden sowohl Krankheits- als auch Gesundheitsaspekte entsprechend dem
Leitsatz „psychiatry of the person, by the person, for the person and with the person“
berücksichtigt. Insgesamt ändert sich dadurch auch das Rolleverständnis der Behandler. Der
paternalistisch orientierte Ansatz in Behandlung und Rehabilitation wird zunehmend durch
ein partizipatives und interaktives Prinzip abgelöst. Mit dem Schlagwort „verhandeln statt
behandeln“ wird dieser Wandel verdeutlicht
Lebenssicherung:
In der sozialpsychiatrischen Arbeit ist die materielle Grundsicherung des Lebens ein
wichtiger Aspekt. Das gleiche gilt für die Sicherung der rechtlichen Lage sowie der
körperlichen Gesundheit der Betroffenen. Viele chronisch Kranke müssen ihr Leben aus
Einkünften bestreiten, die unterhalb des Existenzminimums liegen. Materielle Not wirkt sich
als „Stressor“ negativ auf den Krankheitsverlauf aus und behindert ein eigenständiges Leben
und die soziale Partizipation. Es ist Aufgabe der Soziotherapie die rechtliche und materielle
Situation der Patienten abzuklären und sie in Fragen ihrer Grundsicherung zu beraten und
aktiv zu unterstützen.
18
Chronisch Kranke tragen auch aufgrund ihres Lebensstiles, der pharmakologischen
Behandlung oder der ungünstigen Lebensbedingungen ein erhöhtes Risiko, eine somatische
Komorbidität
zu
entwickeln.
Dabei
stehen
Herz-
Kreislauf-,
Atemwegs-
und
Stoffwechselerkrankungen im Vordergrund. Es ist somit erforderlich, für eine regelmäßige
medizinische Betreuung zu sorgen und das Gesundheitsverhalten (z.B. Rauchen, Ernährung,
Hygiene) der Patienten zu beeinflussen.
Schwerkranke Patienten mit mangelnder Behandlungsmotivation und -bereitschaft können
nicht nur von sozialer Desintegration, von Obdachlosigkeit und somatischen Erkrankungen
sowie von Sucherkrankungen bedroht sein, sondern auch zu Delikten und kriminellen
Verhaltensweisen tendieren. Letzteres führt zu einer „Forensifizierung“, d.h. der gerichtlich
angeordneten Unterbringung im Maßnahmenvollzug.
Diese
„schwierigen“
Patienten
benötigen
in
besonderem
Umfang
ambulante
sozialpsychiatrische Dienste, die aktiv „aufsuchend“ tätig werden. Bei diesen Kranken geht es
in erster Linie um Ziele wie Förderung der Behandlungsmotivation, Lebenssicherung und
Schadensbegrenzung sowie auch um Entlastung der Familie.
Grundlagen der psychiatrischen Rehabilitation
Die psychiatrische Rehabilitation gründet in psychosozialen Theorien, in denen für die
psychische Gesundheit soziale Rollen in den Bereichen zwischenmenschliche Beziehungen,
Familie und Arbeit sowie soziale Teilhabe für die psychische Gesundheit als zentral
angesehen werden. Psychiatrische Rehabilitationsangebote folgen der Erkenntnis, dass die
Kontextbedingungen, also das soziokulturelle Umfeld, sowie die psychosozialen Ressourcen
einer Person die Entwicklung und den Verlauf psychischer Erkrankung erheblich
beeinflussen. Ihre Wirksamkeit beruht auf den Ansätzen des sozialen Lernens, der
Selbstregulation und des Selbstmanagements. Eine Symptomremission ist zwar sehr
erwünscht und für die Rehabilitation förderlich, jedoch nicht zwingend erforderlich.
Einige Aussagen zur psychiatrischen Rehabilitation, die von namhaften Vertretern der
Sozialpsychiatrie formuliert wurden, sollen das heute gültige Leitbild veranschaulichen.
Bernd Eikelmann (1997) äußert dazu:
• Auch nach lange andauernden Erkrankungen findet sich bei jedem psychisch Kranken
ein Rehabilitationspotential, das es zu entfalten gilt.
19
• Menschen mit psychischen Erkrankungen sind nicht Objekt der Behandlung sondern
im Rehabilitationsgeschehen Handelnde und Wählende. Durch die aktive und
zustimmende Beteiligung der Betroffenen und ihrer Familie sind die besten
Interventionsresultate erzielbar.
• Jede Behandlung und Betreuung in einer Einrichtung soll den Betroffenen ein
möglichst großes Maß an Selbstbestimmung überlassen.
Leona Bachrach (2000) hält in ihren Leitsätzen für die Rehabilitation folgendes fest:
•
Die Existenz psychischer Störungen wird nicht geleugnet.
•
Die Bedeutung der Umgebungsfaktoren wird anerkannt.
•
Die psychosoziale Rehabilitation muss sich an den Stärken der Betroffenen orientieren
und lässt diese aktiv mitbestimmen.
•
Sie hilft ihnen, ihr Potenzial in Hinblick auf die Lebensgestaltung und die berufliche
Integration auszuschöpfen.
•
Rehabilitation ist ein fortdauernder Prozess und basiert auf einer therapeutischen
Beziehung zwischen den professionellen Helfern und den Betroffenen.
•
Rehabilitation vernetzt die Betroffenen mit den Ressourcen der Umgebung.
•
Sie vermittelt Hoffnung.
Wulf Rössler (2004) sieht im Ressourcenmodell den wesentlichen rehabilitativen Aspekt:
Therapeutische Allianz, Empowerment, Personenorientierung oder die Einbeziehung von
Betroffenen und ihren Angehörigen sind im Rehabilitationsprozess von grundlegender
Bedeutung. Diese Forderungen werden auch von der WHO im „World Health Report 2001
„Mental Health: New Understanding, New Hope“ vertreten. Rössler betont, dass wichtige
Entwicklungen der Psychiatrie durch die psychiatrische Rehabilitation in Gang gesetzt
wurden. Sie ist der für Laien sichtbarste Teil der Psychiatrie und wirkt als solcher auch als
Verbindungsglied zur Gesellschaft. Die psychiatrische Rehabilitation kann wesentliche zur
Verminderung von Stigma und Diskriminierung psychisch kranker Menschen beitragen.
Ullrich Meise und Hartmann Hinterhuber betonen im Rahmen der Rehabilitation die
Genesung, Wiedergesundung und die Rückkehr in ein subjektiv erfülltes Leben. Durch die
Förderung des persönlichen Prozesses der Auseinandersetzung von Betroffenen mit ihrer
Erkrankung sollen sie in der Lage sein, trotz ihrer psychischen Probleme ein aktives,
sinnerfülltes und hoffnungsvolles Leben zu führen. Dieser auch als Recovery bezeichnete
Prozess bedeutet nicht unbedingt vollständige Heilung. Dabei geht es vielmehr um die
20
Bewältigung der Krankheit und ihrer Symptome, da in vielen Fällen diese bzw. die
Vulnerabilität weiter fortbesteht.
Ziel ist es, dass Betroffene trotz bestehender
Beeinträchtigungen ein zufriedenes Leben führen können.
In all diesen Stellungsnahmen finden sich Forderungen wie das Anknüpfen an den Stärken
des Betroffenen, seine Miteinbeziehung in den Behandlungs- und Rehabilitationsprozess, die
Verbesserung seiner sozialkommunikativen Kompetenzen, die Einflussnahme auf das
Lebensumfeld und auch die Vermittlung einer optimistischen Haltung.
Die Psychiatrische Rehabilitation kann in drei Teilbereiche gegliedert werden:
Medizinische Rehabilitation:
Die Medizinische Rehabilitation dient der Symptom- und Krankheitsbewältigung und
beinhaltet
jene
psychiatrischen,
kreativtherapeutischen
Verfahren.
psychologischen,
Dazu
wurden
psycho-,
ergo-,
störungsspezifisch
physio-
oder
ausdifferenzierte
Methoden zur Modifikation und Kompensation entwickelt. Für die Rehabilitation von an
Schizophrenie Erkrankten haben sich beispielsweise zusätzlich zur pharmakologischen
Rezidivprophylaxe
•
problemorientierte Familientherapeutische Verfahren;
•
kognitiv
verhaltenstherapeutische
Techniken
zur
Optimierung
von
Bewältigungsstrategien und Förderung der Selbstwirksamkeitswahrnehmung;
•
Interventionen zur Bewältigung von maladaptiven Emotionen, von Wahn oder
Halluzinationen und dem Wahrnehmen von „Frühwarnsymptomen“;
•
psychotherapeutische Hilfen zur Stressvermeidung und Stressbewältigung;
•
Entspannungsverfahren;
•
auf neuropsychologischen Konzepten beruhende Verfahren wie das IPT (Intergriertes
Psychologisches Therapieprogramm) und anderer Programme zur Kompensation und
Verbesserung von kognitiven Störungen oder der sozialen Funktionsfähigkeit;
•
Psychoseseminare oder Psychoedukation
Folgt man der Systematik der ICF, fördert die medizinische Rehabilitation alle Zielsetzungen,
die im Konzept der „Aktivitäten und Teilhabe“ formuliert werden.
21
Soziale Rehabilitation:
Unter sozialer Rehabilitation werden alle jene Aspekte der Rehabilitation subsummiert, die
sich dem Wohnen, der Selbstversorgung und Tagesgestaltung, den sozialen Beziehungen, der
Freizeitgestaltung
sowie
den
finanziellen
Angelegenheiten
widmen.
Die
soziale
Rehabilitation zielt auf die Bewältigung von Alltagsanforderungen und auf soziale Integration
und Partizipation ab. Im Gegensatz zu der auf die einzelne Person gerichteten Behandlung
folgt die Sozio- und Milieutherapie in erster Linie einem umgebungsorientierten oder
ökologischen Ansatz: Sie soll so weit als möglichst in den gewohnten Lebenskontext der
Betroffenen eingebettet werden. Die Kernaufgabe der „direkten Soziotherapie“ liegt in der
Strukturierung der rehabilitativen Settings; die „indirekten Soziotherapie“ setzt ,gemäß der
ICF, an den Kontextfaktoren, am Umfeld und dem sozialen Netz des Patienten, die seinem
Bedarf angepasst und die auch unterstützt werden sollten. Ziel der sozialen Rehabilitation ist
es, dass Betroffene (wieder) am Leben in der Gemeinschaft weitestgehend selbstständig und
selbstbestimmt teilhaben können.
Die Soziotherapie muss neben jenen Betroffenen, bei denen eine ausreichende Motivation für
die Rehabilitation vorliegt, auch jene berücksichtigen, die Behandlung und Rehabilitation
ablehnen.
Berufliche Rehabilitation:
Arbeits- bzw. Beschäftigungslosigkeit stellen Risikofaktoren für den Erhalt der psychischen
Gesundheit dar. Beim Vorliegen einer psychischen Störung wirken sie sich negativ auf den
Verlauf der Erkrankung sowie die soziale Teilhabe und Integration aus. Die Zielsetzung der
beruflichen Rehabilitation ist die (Wieder)eingliederung in den allgemeinen oder ersatzweise - in den so genannten zweiten oder den beschützten Arbeitsmarkt. Arbeit und
Beschäftigung sind für die Rehabilitation von zentraler Bedeutung. Die positiven
Auswirkungen der beruflichen Rehabilitation sind auch empirisch sehr gut belegt. Arbeit und
Beschäftigung fördern nicht nur die Autonomie und die persönliche Leistungsfähigkeit,
sondern sie verbessern auch die Krankheitssymptomatik, senken Erkrankungsrückfälle und
wirken sich positiv auf zwischenmenschliche Beziehungen, Selbstwert, Selbstbewusstsein,
Selbstvertrauen und subjektive Lebensqualität sowie auf den Lebensstandart aus. Insgesamt
tragen Arbeit und Beschäftigung zu einer Normalisierung der Lebensverhältnisse bei und
22
werden von Betroffenen auch überwiegend positiv beurteilt.
Beschäftigungs- und
Arbeitstherapie gehören zu den traditionellen Therapieangeboten der stationären Psychiatrie.
Die Rehabilitation psychisch Erkrankter orientiert sich - zusammenfassend - an einem
mehrdimensionalen Konzept von Gesundheit und Krankheit und folgt den in Tabelle 2
aufgelisteten Grundlagen.
Tabelle 2: Grundlagen der psychiatrischen Rehabilitation
•
bio-psycho-sozialer Ansatz („Komplexleistungsprogramm“)
•
Lebensfeld- / Alltagsnähe („Gemeindenähe")
•
personenorientierter Ansatz („skill developement“)
•
umgebungsbezogener/ökologischer Ansatz („environmental ressource
intervention“)
•
therapeutische Allianz und therapeutisches Milieu
•
Betreuungs- und Beziehungskontinuität („Case Management")
•
Bedarfs- / Bedürfnis-/ Ressourcenorientierung
•
Hilfen für Angehörige
•
Wissenschaftlich gesicherte Fundierung des therapeutischen Handelns
•
Behandlungs- / Rehabilitationsplanung
•
Multidisziplinarität, interdisziplinäre und/interinstitutionelle Kooperation
sowie Koordination („Gemeindepsychiatrischer Verbund“)
Bio-psycho-sozialer Ansatz: Das Vulnerabilitäts-Stress-Coping Modell
Psychische Erkrankung entwickelt sich in Wechselwirkung von biologischen, psychischen
und sozialen Faktoren (biopsychosoziales Modell). Diese Sichtweise ist heute weithin
anerkannt und findet im Vulnerabilitäts-Stress-Coping Modell ihren Niederschlag. Dieses
geht davon aus, dass sich Erkrankungen auf Grundlage einer „Vulnerabilität“ d.h.
Verletzlichkeit oder Empfänglichkeit entwickeln. Die Natur dieser Anfälligkeit ist nicht
geklärt. Sie entsteht aus dem Zusammenspiel von genetischen, biologischen, psychologischen
und sozialen Faktoren, die jeweils für den einzelnen Kranken individuell gewichtet sind. Die
Erkrankung wird letztlich durch Stressoren ausgelöst. Dazu zählen länger andauernde
Belastungen beispielsweise durch zwischenmenschliche Konflikte oder Überforderung am
Arbeitsplatz. Auch kritische Lebenssituationen wie Scheidung, Verlust einer nahe stehenden
23
Person aber auch positive Ereignisse wie Verliebtheit oder die Geburt eines Kindes können
als Stressor wirksam sein. Dieses Konzept bietet eine gute Arbeitshypothese, um das heute
fragmentarische Wissen über die Ursachen psychischer Störungen in eine Gesamtsicht zu
integrieren. Eine erhöhte Vulnerabilität kann durch protektive Faktoren wie z. B. ein
tragfähiges soziales Netz, soziale Unterstützung, individuelle Bewältigungsstrategien im
Umgang mit Belastungen aber auch durch die Psychopharmakotherapie abgesenkt werden.
Um die Vulnerabilität zu beeinflussen ist es besonders wichtig, dass Erkrankte ihre Copingund Bewältigungsfähigkeit verbessern: Unter Coping wird die Kompetenz des Betroffenen
verstanden, Belastungen, die durch innere oder äußere Stressoren in der Beziehung zwischen
Person und Umwelt entstehen, besser zu bewältigen.
Gemeindenähe:
Die Krankheitsfolgen müssen im eigenen Lebensraum bewältigt werden und Betroffene
sollen an den ihnen wichtigen Lebensbereichen teilhaben können. Heute wird gefordert, dass
die psychiatrische Behandlung sowie die sozialpsychiatrische Rehabilitation gemeindenahe
angeboten werden, mit dem Ziel, dass auch Menschen mit schwerwiegenden und chronisch
verlaufenden psychischen Erkrankungen auf verschiedenen Ebenen in ihrem Wohnbereich
behandelt und unterstützt werden können. Der Begriff "gemeindepsychiatrische Behandlung"
(„community care“) bezeichnet jene Leitlinie bzw. jenen organisatorischen Rahmen, in dem
Behandlung und Rehabilitation wirksam koordiniert und menschenwürdig vorgehalten wird.
Durch dieses Konzept wurde die Humanisierung der Psychiatrie gemeinsam mit besseren
materiellen
Voraussetzungen,
erweiterten
Therapiemöglichkeiten
sowie
durch
die
psychopharmakologische Wende gefördert.
Personenorientierter Behandlungsansatz:
Die psychiatrische Rehabilitation ruht auf zwei Säulen: Sie setzt am individuell Betroffenen
und an der Umgebung an. Der individuelle Unterstützungsbedarf eines Patienten ist die Basis
jeglicher Rehabilitation und deren Planung. Sind mehrere therapeutische Interventionen
gleichzeitig
erforderlich
(„Komplexleistungsprogramm“)
müssen
sie
in
einem
Gesamtbehandlungsplan integriert sein. Eine wirksame psychiatrische Rehabilitation beruht
stets auf einer individualisierten und spezialisierten Behandlung, die in einem mehrgliedrigen,
jedoch koordinierten System rehabilitativ ausgerichteter Einrichtungen und Dienste
eingebettet ist. Im Rahmen der ersten gemeindepsychiatrischen Reform wurde bald erkannt,
dass die auf die Psychiatrischen Institutionen gerichtete Betrachtungsweise durch eine Sicht
24
abgelöst
werden
muss,
die
den
einzelnen
Menschen
mit
seinem
individuellen
Unterstützungsbedarf in den Mittelpunkt stellt. Die institutionsorientierte Planung führte zur
Fragmentierung der Versorgung mit Unter- Über oder Fehlbetreuung. Diese Zersplitterung
entstand auch dadurch, da unterschiedliche Trägerorganisationen ihre Einrichtungen oft in
Konkurrenz oder wenig geplant nebeneinander aufgebaut hatten. Die neue Linie in der
Rehabilitationsplanung verfolgt die Koordination und Integration der verschiedenen Angebote
und ihre gemeinsame Ausrichtung auf den individuellen Unterstützungsbedarf von Patienten.
Aus der Notwendigkeit, verschiedene Hilfsangebote und Versorgungseinrichtungen für
psychisch erkrankte Menschen, die einen komplexen Hilfebedarf aufweisen, zu koordinieren,
entstand ein Organisationsmodell, das als „Gemeindepsychiatrischer Verbund“ bezeichnet
wird. Dieser dient in erster Linie der funktionalen Organisation rehabilitativer Dienste und
ermöglicht
•
die Kontinuität therapeutischer Bezugspersonen
•
eine
Einrichtungs-
und
Trägergrenzen
sprengende
institutions-
und
berufsgruppenübergreifende Abstimmung
•
ein ganzheitliches Konzept hinsichtlich der zu erbringenden Leistungen
•
die flexible Anpassung an den Bedarf und die angestrebte Lebensform des einzelnen
Patienten, sowie
•
die Verpflichtung der „Gemeinde“, für ihre psychisch Kranken zu sorgen
Case- Management:
Patienten, die für ihre Rehabilitation ein vielfältiges Angebot von unterschiedlichen
therapeutischen Verfahren, von verschiedenen Therapeuten, Hilfsdiensten und Einrichtungen
benötigen, werden im Laufe ihrer Behandlung mit einer Vielzahl wechselnder therapeutischen
Bezugspersonen konfrontiert. Deren mangelhafte Vernetzung kann
sich auf den
Rehabilitationsverlauf negativ auswirken. Zudem ist dadurch eine zielorientierte und flexible
Behandlung, die sich am Bedarf für die Betroffenen orientiert, erschwert. Für die
Koordination komplexer Hilfen wird deshalb die beziehungsorientierte Begleitung durch
einen „Case Manager“ gefordert. Neben der längerfristigen, vertrauensvollen therapeutisch
geleiteten Beziehung, gehört es zu den Aufgaben dieser professionellen Bezugsperson, das
Befinden und die Bedürfnisse des Patienten zu erfassen, die Behandlung und Rehabilitation in
Abstimmung mit allen Beteiligten zu planen, diese zu koordinieren, die erforderlichen
25
professionellen und nicht-professionellen Hilfen zu vernetzen und insgesamt als Fürsprecher
des Betroffenen tätig zu sein.
Hilfen für Angehörige:
Da eine erhebliche Zahl von Kranken mit rezidivierenden oder chronischen psychischen
Erkrankungen in der Familie lebt, trägt diese die Hauptlast der Betreuung und der materiellen
Lebenssicherung. Neben diesen Belastungen finden sich oft Schuldgefühle auf Grund von
ungerechtfertigten Schuldzuweisungen. Es finden sich aber auch berechtigte Sorgen um die
Zukunft ihrer erkrankten Angehörigen und eigene psychische Probleme, die aus der Belastung
durch die Betreuung erwachsen. Neben der Vermittlung von Information über Aspekte der
Erkrankung und ihrer Behandlung, soll das Schwergewicht familientherapeutischer
Interventionen auf konkrete Unterstützung in lebenspraktischen und emotionalen Bereichen
liegen. Dazu zählen die Vermittlung individueller Strategien zur Problemlösung, zu
Krisenmanagement und zur Verbesserung der Kommunikation zwischen Patient und
Angehörigen. Ein weiteres Ziel der Angehörigenarbeit ist die Selbsthilfe, die gefördert werden
soll. Diese ermöglicht es den Angehörigen Erfahrungen und Hilfsangebote auszutauschen und
beugt somit auch der Isolation vor, zu welcher viele betroffene Familienmitglieder neigen.
Funktionsbereiche der psychiatrischen Rehabilitation
Psychiatrische Rehabilitation findet heute überwiegend ambulant und regionalisiert, d.h.
gemeindenahe im Lebensraum der Betroffenen statt. Sie benötigt ausreichend Zeit, unter
Umständen müssen die Bemühungen Jahre hindurch aufrecht erhalten bleiben, damit Kranke
genesen und sich alltagspraktische und sozial erforderliche Fertigkeiten (wieder) aneignen
können. Die unterschiedlichen Rehabilitationsverfahren und der Kontext, in dem diese
angewandt werden, sollen auf den Bedarf der individuellen Person zugeschnitten werden und
flexibel variierbar sein.
Die Leistungen, die im regionalen Hilfesystem des „Gemeindepsychiatrischen Verbundes“
erbracht werden, können vier Funktionsbereichen zugeordnet werden (Tabelle 3). Diese
Strukturierung hat auch den Vorteil, dass viele bislang stationär erbrachte Leistungen
ambulant und gemeindenahe erfolgen könnten. Das Krankenhausbett verliert damit seine
26
traditionell zentrale Stellung: Der stationäre Bereich wird somit zu einem Glied in einer
"Kette" von gleichrangigen Institutionen.
Tabelle 3: Funktionsbereiche der psychiatrischen Rehabilitation
Sozialpsychiatrische Leistungen für:
•
Beratung, Betreuung, Behandlung (sozialpsychiatrischer Dienst)
•
Tagesstrukturierung, Alltagsgestaltung (Tageszentren,Tagesstätten, Clubs)
•
Wohnen, Selbstversorgung (unterschiedliche Wohnformen)
•
Arbeit, Ausbildung (Arbeitstrainingszentren, Supported Employment,
Selbsthilfefirmen)
Beratung, Betreuung und Behandlung:
Der "Sozialpsychiatrische Dienst" mit seinen ambulanten Angeboten dient in erster Linie
jenen Menschen mit einer psychischen Erkrankung, die in mehreren Bereichen (siehe auch
ICF) einen hohen Unterstützungsbedarf aufweisen. Die Behandlung und Betreuung ist
nachgehend, vorbeugend und aufsuchend. Sie beinhalten nicht-ärztliche und ärztliche Hilfen.
Bei den meisten Patienten spielen Kontinuität und Koordination von Behandlung und
Rehabilitation eine große Rolle.
Dabei werden folgende Ziele verfolgt:
•
barrierefreier Zugang für Patienten und ihre Angehörigen
•
Abklärung durch Analyse der Ist-Situation, Information und Motivationsaufbau
•
Beratung, Behandlung und Betreuung unter Einbeziehung der Bezugspersonen
•
Einleitung einer Rehabilitationsplanung mit gemeinsamer Zielbestimmung
•
Nachsorgende Betreuung durch Hausbesuche
•
Case-Management
•
Krisenintervention
Tagesstrukturierung und Alltagsgestaltung:
Schwere
oder
lange
andauernde
psychische
Störung
können
zu
erheblichen
Beeinträchtigungen und Benachteiligungen in Bereichen der gesellschaftlichen Teilhabe
27
führen. Auf Grund der Erkrankung aber auch durch die Reaktionen der Umwelt können die
Beziehungen zu Mitmenschen gestört werden, was Rückzug und Isolierung zur Folge hat.
Darüber hinaus können die Fertigkeiten oder die Möglichkeiten der Betroffenen, einen
sinnvollen und sinnstiftende Lebens- und Tagesrhythmus zu finden oder die Freizeit zu
gestalten, zeitweise oder längerfristig verloren gehen. Sozialer Rückzug, Resignation und
Vereinsamung beeinträchtigen nicht nur die Lebensqualität von Betroffenen und ihren
Familien sondern verstärken psychische Beeinträchtigungen, verhindern Genesung und
Heilung und tragen erheblich zum Auftreten von Erkrankungsrezidiven bei. Tagesgestaltende
Rehabilitationsangebote dienen der Stabilisierung der klinischen Symptomatik, der
Verbesserung der Fähigkeiten zur Alltagsbewältigung sowie der Kommunikation. Für die
Betroffenen ist ein therapeutisch gestaltetes Milieu erforderlich: Ihnen muss ausreichend Zeit
in einem geschützten und beziehungsorientierten Rahmen gewährt werden. Das „Milieu“
sollte so gestaltet sein, dass es strukturiert, transparent und übersichtlich ist und genügend
Raum für Kommunikation bietet. Für diesen Baustein der "sozialen Rehabilitation" haben
sich unterschiedliche Einrichtungstypen wie Tageszentren, Beschäftigungsinitiativen und
Clubs zur Freizeitgestaltung entwickelt. Ein Tageszentrum bietet durch unterschiedliche
Gruppenangebote (z.B. Küche, Werkstatt, Gruppe für Außenaktivitäten, Kreativgruppe, etc.)
eine umfassende soziotherapeutische Rehabilitation an. Da bei vielen psychischen
Erkrankungen ausgeprägte Defizite in der sozialen Kommunikation bestehen, konnte belegt
werden, dass mit Hilfe von „Social Skill Trainings-Programmen“ beeinträchtigte Personen
sich (wieder) verschiedene soziale Fertigkeiten aneignen können. Einrichtungen zur
Tagesstrukturierung dienen in erster Linie der Stabilisierung der psychischen und sozialen
Situation, der Neuorientierung und der Förderung sozialer Kompetenzen. Dadurch soll die
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gesichert und verbessert werden.
Dabei werden folgende Ziele verfolgt:
•
Stabilisierung der klinischen Symptomatik
•
Verbesserung von sozial-kommunikativen Fertigkeiten
•
Vermittlung alltagsnaher Aktivitäten
•
Strukturierung des Tages und Förderung von zwischenmenschlichen Kontakten
•
Anregung zu sinnstiftender Beschäftigung und Gestaltung der Freizeit
•
Vorbereitungen für eine allfällig weiterführenden berufliche Rehabilitation
28
Wohnen und Selbstversorgung:
Ein Hauptanliegen der sozialpsychiatrischen Rehabilitation ist es, Menschen mit psychischer
Behinderung die Integration in normale Wohn- und Lebensverhältnissen zu ermöglichen,
wobei grundsätzlich ein Leben in der gewohnten Umgebung angestrebt werden sollte. Große
Langzeiteinrichtungen oder Pflegeheime bieten keinen geeigneten Lebensraum, sie fördern im
Gegenteil durch Hospitalismus die Entwicklung sozialer Behinderungen. Das Ziel, in einer
eigenen Wohnung zu leben, hat Vorrang vor allen anderen rehabilitativen Maßnahmen. Die
Wohnrehabilitation setzt ein gewisses Ausmaß an Stabilität der klinischen Symptomatik,
psychische Belastbarkeit und basale Fähigkeiten und die Motivation voraus, den Alltag
gestalten und bewältigen zu können. Die Möglichkeit ein weitgehend eigenständiges Leben
führen zu können, ist für das Selbstbild von Betroffenen von entscheidender Bedeutung. Die
meisten
früheren
Langzeitpatienten
konnten
erfolgreich
in
solche
kleine
gemeindepsychiatrischen Wohneinrichtungen integriert werden. Die Fähigkeit (wieder) ein
weitgehend eigenständiges Leben führen zu können besitzt für Betroffene einen hohen
Stellenwert, ihre Stellung in der Gesellschaft wird dadurch verbessert. Das Ziel der
Rehabilitation ist immer, dass Betroffene mit geringstnötiger Unterstützung (wieder)
außerhalb von Institutionen möglichst selbstbestimmt ihr Leben gestalten können. Die
Wohnbetreuung sollte von den Orten, an denen andere Hilfen (z.B. Tagesgestaltung oder
berufliche Rehabilitation) angeboten werden, abgekoppelt sein. Auf Grundlage der
bestehenden sozialen und psychischen Situation, der individuellen Belastbarkeit und Stabilität
sowie entsprechend dem Bedarf der Patienten haben sich abgestufte Wohnoptionen mit
unterschiedlicher Intensität der Betreuung entwickelt. Diese reichen vom wenig intensiv
betreuten Einzelwohnen, zu intensiver betreuten kleinen Wohngemeinschaften. Falls
autonomes Wohnen (noch) nicht möglich ist, bieten sich Übergangs- und Dauerwohnheime
an, die auch eine 24-stündige Betreuung gewähren können. Diese Heime sollten über nicht
mehr als maximal 10-14 Plätze verfügen.
Dabei werden folgende Ziele verfolgt:
•
Förderung von Selbstversorgung und der Aktivitäten des täglichen Lebens
•
Verbesserung der sozial-kommunikativen Fertigkeiten
•
weitere psychische Stabilisierung und Förderung von Bewältigung und Genesung
29
Arbeit und Ausbildung:
Arbeitslosigkeit stellt für sich einen „Stressor“ dar und wirkt sich negativ auf den
Krankheitsverlauf und die soziale Integration von Patienten aus. Zudem sind arbeitslose
Patienten mit dem Doppelstigma „psychisch krank“ und „arbeitslos“ belastet. In der
Arbeitsrehabilitation,
die
heute
überwiegend
ambulant
stattfindet,
werden
arbeitsplatzrelevante Fertigkeiten erprobt, die die Betroffenen für eine Tätigkeit auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt vorbereiten soll. Sie sind von anderen therapeutisch notwendigen
Maßnahmen
räumlich
getrennt
anzubieten.
Ist
die
Kluft
zwischen
einem
Rehabilitationsarbeitsplatz und einem Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt zu groß, oder
stehen dort keine Arbeitsplätze zur Verfügung, sollte ein zweiter Arbeitsmarkt mit
"beschützten Werkstätten" und "Selbsthilfefirmen" oder "sozioökonomischen Betrieben"
vorhanden sein. Für die berufliche Rehabilitation wurden unterschiedliche Strategien und
Rahmenbedingungen entwickelt. Neben der Rehabilitation in eigens dafür geschaffenen
"Berufs- oder Arbeitstrainingszentren" bestehen erfolgreiche Bemühungen im Sinne eines
"Supported Employment". Während die Arbeitstrainingzentren das Prinzip "first train than
place" verfolgen, folgt das Modell "Supported Employment" dem Motto "first place than
train". Dies bedeutet, dass Betroffene sofort in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden und
dort "in vivo" während ihrer Tätigkeit von einem Job-Coach längerfristig betreut und begleitet
werden.
Dabei werden folgende Ziele verfolgt:
•
Aufbau von Motivation, Klärung von realistischen beruflichen Zielen und
Zukunftsperspektiven
•
Herstellung
einer
arbeitsplatznahen,
dem
individuellen
Leistungsvermögen
angepassten Rehabilitationssituation
•
Training von arbeitsplatzrelevanten sozialen und kommunikativen Fähigkeiten
•
Integration in einem Betrieb des 1. oder 2. Arbeitsmarktes
•
ambulante Integrations- und Berufsbegleitung
30
Einflussfaktoren auf den Rehabilitationsverlauf
Der Behandlungs- und Rehabilitationserfolg kann auch von einer Reihe von Faktoren
beeinflusst werden, die unabhängig von der Grunderkrankung (gemäß der ICF) als förderlich
oder als barrierenwirksam sein können.
Soziale und gesellschaftliche Faktoren:
Dazu zählen das im sozialen Nahbereich anzutreffende emotionale Klima, das Ausmaß der
sozialen Unterstützung, die materielle Situation der Betroffenen, sowie vor allem das Stigma,
dem psychisch Erkrankte häufig ausgesetzt sind.
Die Qualität des sozialen Kontaktes innerhalb der Familie aber auch jene innerhalb einer
Rehabilitationseinrichtung, kann stabilisierend sein oder auch - dem „Vulnerabilitäts- StressCoping Modell“ entsprechend - als emotionaler und kognitiver Stressor destabilisierend
wirken. Ein haltgebendes und unterstützendes soziales Netzwerk hat positive Auswirkungen;
Die Integration der Betroffenen kann aber durch Armut stark behindert werden. Besonders
das Stigma, dem Menschen mit psychischen Erkrankungen oft ausgesetzt sind, zeigt negative
Auswirkungen auf ihre gesellschaftliche Teilhabe und Lebensqualität.
Einstellungen und Erwartungshaltungen:
Eine Festlegung von Betroffenen auf die Kranken- oder Behindertenrolle wirkt sich ebenso
ungünstig aus, wie pessimistische Zukunftserwartungen hinsichtlich des Erfolges von
Behandlung und Rehabilitation. Wenn bei Betroffenen, ihren Angehörigen oder bei
Therapeuten pessimistische Erwartungshaltungen hinsichtlich des Behandlungserfolges
anzutreffen sind, haben diese einen hohen prognostischen Einfluss auf das Scheitern einer
Rehabilitation. Für die Bewältigung hat sich auch eine angemessene „Kontrollüberzeugung“
als wichtig herausgestellt: Der Erkrankte muss davon überzeugt sein, dass er den Symptomen
und Folgen der Erkrankung nicht passiv ausgeliefert ist, sondern sie durch eigenes Handeln,
durch Veränderungen seiner Beziehungen zur Umwelt und seiner Einstellungen beeinflussen
und verändern kann. Diesen Aspekten widmet sich das „Recovery Konzept“.
31
Selbsthilfe und Mitbestimmung:
Die Bedeutung von Informiertheit, Mitbestimmung und Verantwortungsübernahme wird
besonders vom "Empowerment Konzept" vertreten. Wichtig ist, dass alle Beteiligten, die
Betroffenen wie deren Angehörige hinsichtlich des Verlaufes und der Behandlung der
Erkrankung gleichermaßen aufgeklärt sind. Rehabilitation soll die betroffene Person in den
Behandlungsprozess einbeziehen und ihre Selbstbestimmung fördern und respektieren.
Betroffene haben häufig ein eigenes Krankheitskonzept und individuelle Lösungsansätze. Ihre
Sicht ist in die Rehabilitationsplanung einzubeziehen. Sollten Patienten nicht mit den
empfohlenen Zielen und Maßnahmen einverstanden sein, darf dies nicht als "mangelnde
Krankheitseinsicht" bezeichnet werden. Zum Gelingen der Rehabilitation ist es wichtig, die
subjektive Sicht der Betroffenen zu berücksichtigen: Rehabilitation kann nicht erzwungen
werden.
32
Literatur:
Becker T., Bäuml J., Pitschel-Walz G., Weig W.(Hrsg): Rehabilitation bei schizophrenen
Erkrankungen: Konzepte- Interventionen- Perspektiven. Deutscher Ärzte-Verlag Köln, 2007.
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie: Behandlungsleitlinien
psychosoziale Therapien. Becker T., Reker T., Weig W. (Hrsg) Praxisleitlinien in Psychiatrie
und Psychotherapie Band 7. Steinkopf Verlag, Darmstadt 2005
Eikelmann B.: Sozialpsychiatrisches Basiswissen. Enke-Verlag Stuttgart, 1997.
Frieboes R.M., Zaudig M., Nosper M.: Rehabilitation bei psychischen Störungen. Elsevier
Urban & Fischer München, Jena, 2005.
Hinterhuber H.: Zum Stellenwert der medizinisch-psychiatrischen Rehabilitation. Editorial.
Neuropsychiatrie: 21, 1: 1-4, 2007.
Hinterhuber H.: Hoffnung und Empowerment. In: P. van Heyster, H. Hinterhuber, S. Kasper:
Das Prinzip Hoffnung. Von der Klage zur Hoffnung. Provinz Verlag Brixen 166-182, 2008.
Katschnig H., Donat H., Fleischhacker W.W., Meise U.: 4 mal 8 Empfehlungen zur
Behandlung von Schizophrenie. edition pro mente Linz, 2002.
Kemmler G., Holzner B., Meise U., Hinterhuber H.: Lebensqualität - vernachlässigte
Dimension in der Bewertung von Therapie und Rehabilitation Schizophrener? In: Die
Behandlung der Schizophrenien. State of the Art. H. Hinterhuber, W. W. Fleischhacker, U.
Meise (Hrsg.), VIP-Verlag Integrative Psychiatrie, Innsbruck-Wien, 277-291, 1995.
Meise U., Hinterhuber H.: Psychiatrische Rehabilitation. In: Lehrbuch der psychosozialen
Medizin. O. Frischenschlager et al (Hrsg.) Springer Wien-New York, 717-730, 1995.
Rössler W. (Hrsg): Psychiatrische Rehabilitation. Springer-Verlag Berlin, Heidelberg, 2004.
World Health Organization: The World Health Report 2001. Mental Health: New
Understanding, New Hope. WHO Genf, 2001.
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