Von Heilung träumen

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Wissenschaft
MEDIzIn
„Von Heilung
träumen“
Anfangs war die Diagnose ein Todesurteil. Später
gelang mit Medikamenten das Überleben. Heute,
30 Jahre nach Entdeckung des Aidsvirus, keimt Hoffnung auf, dass sich die Infektion sogar kurieren lässt.
ie Praxis des HIV-Spezialisten Stefan Fenske im Hamburger UniViertel ist kein Ort für Todgeweihte. Die Räume sind hell, an den Wänden
hängt moderne Kunst, Lachen ist zu hören. Gutgelaunt sitzt Werner Thomas*
im Sprechzimmer. nicht Feind, nicht tödliche Bedrohung, nein „Untermieter“
nennt der 63-Jährige das HI-Virus, das
sich vor mehr als 23 Jahren in seinem
Körper eingenistet hat.
Alle drei Monate fährt Thomas aus seinem kleinen Dorf in der nähe Hamburgs
hierher, lässt sich Blut abnehmen, eine
Viertelstunde später ist er wieder weg.
„Manch ein Gesunder wäre froh, so gute
Werte zu haben wie ich“, sagt er. Auch
Arzt Fenske ist zufrieden: „Bei ihm ist
wohl das Rauchen ein größeres Risiko als
das Virus.“
Der Mediziner hat noch das Grauen
von Aids und Sterben miterlebt, damals,
vor 1996, als es noch keine hochwirksamen Medikamente gab. Als die immungeschwächten, bis zum Skelett abgemagerten Körper der Aidskranken von
Infektionen zermürbt und von Tumoren
zerfressen wurden.
Auch für Werner Thomas’ Freund kamen die neuen Medikamente zu spät. Er
starb 1993 an Aids. Thomas selbst durfte
nicht mehr als Kellner arbeiten, musste
D
* name geändert.
mit 40 in Rente gehen. „Was machst du
denn jetzt?“, dachte er damals. „Alt werden, auf jeden Fall!“, schwor er sich.
Bis zu 20 Pillen täglich schluckte er anfangs, mit teils heftigen nebenwirkungen.
Aber Jahr für Jahr war die Therapie leichter zu ertragen. Heute braucht er nur
noch drei Tabletten am Tag.
nicht immer läuft es so gut wie bei
ihm. Die Medikamente können das Risiko
für Krebs und einen Herzinfarkt erhöhen,
zu Knochenschwund und nierenproblemen führen. Dennoch haben HIV-Infizierte, die rechtzeitig mit der Therapie
beginnen, inzwischen eine fast normale
Lebenserwartung. „Es haben sich Welten
getan in der Behandlung von HIV“, sagt
Fenske. Ehemalige Aidshospize werden
inzwischen zu Altenheimen für Infizierte
umgebaut. Werner Thomas ist gerade dabei, sich mit seinem neuen Freund zusammen ein Eigenheim zu kaufen.
nur heilen, das können die Medikamente nicht. Sie schaffen es, die Vermehrung des HI-Virus zu stoppen – aber sie
vermögen nicht, es endgültig aus dem
Körper zu vertreiben. nur weniger als
ein Prozent der Infizierten gehören zu jenen Glücklichen, die dank einer genetischen Besonderheit den Erreger selbst in
Schach halten können. zu allen anderen,
die ihre Pillen absetzen, kommt das Virus
zuverlässig und gnadenlos zurück.
Das dachte man jedenfalls bislang.
Inzwischen hat nämlich eine Reihe
spektakulärer Patientenfälle die Forscher
weltweit in Euphorie versetzt. Fälle, bei
denen eine Therapie dazu führte, dass die
Infizierten das Virus dauerhaft unter Kontrolle bringen konnten. Immer mehr Wissenschaftler suchen nach Antworten auf
die Frage, die bis vor kurzem niemand zu
stellen wagte: Wie lässt sich HIV nicht
mehr nur behandeln – sondern heilen?
‣ 2009 berichteten Ärzte der Charité
über den HIV-infizierten „Berliner
Patienten“ Timothy Brown, der wegen
einer Leukämieerkrankung eine Knochenmarkstransplantation erhielt. Der
Spender war aufgrund seiner genetischen Ausstattung gegen HIV unempfindlich – Brown ist es nach der Transplantation jetzt offenbar auch. 2013
1981
Luc Montagnier und
Françoise BarréSinoussi sowie Robert
Gallo beschreiben das
Aids auslösende
Retrovirus.
Der jahrelange
Patentrechtsstreit
zwischen Montagnier
und Gallo über den
ersten HIV-Antikörpertest wird beigelegt.
1983
1987
AZT, das erste Aidsmedikament, wird in
den USA zugelassen –
ein Durchbruch in der
Therapie ist es noch
nicht.
1987
HI-Viren
Montagnier
114
AG E NTUR F O C US
Erste dokumentierte
Aidsfälle bei fünf
homosexuellen
Männern in den
USA.
S I PA PR E S S
Kampf gegen das Virus
d e r
s p i e g e l
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Heilungsgeschichten: Damals berichteten Berliner Forscher im „new England
Journal of Medicine“ von einem Mann,
der bereits im Frühstadium behandelt
worden war und später gesund blieb,
obwohl er die Medikamente absetzte.
‣ Auch der Hamburger Aidsforscher Jan
van Lunzen berichtet von einem solchen Patienten. nach neun Jahren
ohne Therapie sei bei dem Mann immer noch kein HI-Virus nachweisbar.
„Wir dürfen heute von Heilung träumen“, sagt van Lunzen, Ärztlicher Leiter
der Infektiologie am Hamburger Universitätsklinikum. „Alle diese Fälle sagen
uns, dass eine Heilung möglich ist“, meint
auch die australische Aidsforscherin Sharon Lewin von der Monash University.
Und die HIV-Entdeckerin Françoise Barré-Sinoussi vom Pariser Institut Pasteur
sagt: „Eine Heilung zu finden gehört in-
Viele Prominente sterben
an der Immunschwäche,
darunter Keith Haring
(1990), Freddy Mercury
(1991), Rudolf Nurejew
(1993).
Euphorie auf dem Aidskongress in Vancouver:
Eine Kombinationstherapie
von Medikamenten hält
das Virus in Schach.
Erste große HIV-Impfstudie am Menschen in
Thailand. Sie scheitert
wie etliche andere
auch.
1990
1996
1999
MAUR I TIU S I MAG ES
Å© L EEMAG E / I MAG ES . D E
berichteten Ärzte der Harvard Medical
School über ähnliche Erfolge.
‣ Im März 2013 wurde der Fall des „Mississippi Baby“ öffentlich: Ein Kind, das
sich im Mutterleib mit HIV infiziert
hatte, war seit dem zweiten Lebenstag
aggressiv mit Medikamenten behandelt
worden. Als die Mutter die Therapie
nach 18 Monaten abbrach, konnte
das Kind das Virus fortan zur Überraschung der Ärzte auch ohne Medikamente in Schach halten.
‣ Französische Forscher berichteten über
14 erwachsene Patienten, die ebenfalls
schon sehr bald nach der Ansteckung
behandelt wurden. Als sie die Therapie
später abbrachen, konnte sich das Virus
trotzdem nicht wieder vermehren.
‣ Ein weiterer Fall war 14 Jahre lang als
Kuriosität abgetan worden; jetzt, im
nachhinein, passt er zu den anderen
NOAH BERGER / POLARIS / LAIF
Geheilter HIV-Patient Brown
zwischen zu den Prioritäten der Aidsforschung.“
Im renommierten Karolinska Institutet
in Stockholm kommen diese Woche etliche der besten HIV-Forscher der Welt
zusammen. Das Thema der Konferenz:
„Auf dem Weg zu einer Heilung der HIVInfektion“. zeitgleich hält Barré-Sinoussi
am Hamburger Heinrich-Pette-Institut
einen Vortrag, in dem es ebenfalls um
potentielle Heilungsansätze geht.
Genau 30 Jahre ist es jetzt her, dass Françoise Barré-Sinoussi und ihr Kollege Luc
Montagnier das HI-Virus als Auslöser jenes
rätselhaften Leidens identifizierten, das damals vor allem die Homosexuellen San
Franciscos heimsuchte. Die Betroffenen litten an merkwürdigen Pneumonien und
Pilzinfektionen und an einem Tumor, der
sonst nur alte Männer befiel: dem KaposiSarkom. Ihre Immunabwehr hatte versagt –
am Ende starben die Kranken den hilflosen
Ärzten unter den Händen weg.
zügig breitete sich die neue Seuche –
die den namen Acquired Immune Deficiency Syndrome (Aids) erhielt – um den
Erdball aus. Schon bald gehörten auch
heterosexuelle Männer zu den Opfern,
Frauen und Kinder.
Rückblickend erscheint es absurd,
welche Horrorszenarien Forscher und
Politiker damals für die Industrienationen
entwarfen. Eine Computersimulation der
Universität Bamberg etwa sagte in einer
fiktiven Modellstadt mit 2,3 Millionen Einwohnern 107 000 Aidstote innerhalb von
zehn Jahren voraus. Andere prognostizierten den zusammenbruch des Frankfurter
Immobilienmarkts, ausgelöst durch Aids.
Gleichzeitig verschloss man die Augen
vor der sich anbahnenden Katastrophe
in Afrika. So erklärte zum Beispiel die
WHO die zentralafrikanischen Länder
1985 fälschlicherweise für „aidsfrei“. Françoise Barré-Sinoussi erinnert sich an einen Arzt aus zaire, der bei einer Konferenz 1986 aufstand und rief: „Die Situation in meinem Land ist dramatisch. Die
Leute sterben an dieser Krankheit – aber
niemand macht etwas!“ Heute sind weltweit rund 34 Millionen Menschen mit
HIV infiziert – zwei Drittel davon allein
in Schwarzafrika (siehe Grafik Seite 116).
Angesichts dieser zahlen ist es tragisch,
dass bis heute kein wirksamer Impfstoff
entwickelt werden konnte. Denn obwohl
inzwischen auch in Afrika viele Infizierte
zugang zu wirksamen Medikamenten haben und obwohl dadurch und durch Prä40 Millionen Menschen weltweit
sind mit HIV infiziert, vor allem in
Afrika und Osteuropa.
2006
Aidskranker in Afrika
Haring
d e r
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115
Wissenschaft
HIV-Infizierte Anteil an der Bevölkerung 2011 in Prozent*
*Schätzung der
UNAIDS: AidsInfo
unter 0,1
0,1 bis unter 0,5 0,5 bis unter 1 1 bis unter 5
5 bis unter 15
15 bis 28
keine Daten
Der „BerlinerPatient“
Timothy Brown gilt
als erster von Aids
geheilter Mensch.
Nobelpreis für
Françoise BarréSinoussi und Luc
Montagnier für ihre
Arbeiten über das
HI-Virus.
Robert Gallo, der
das HI-Virus ebenfalls
nachwies, wird
beim Nobelpreis
nicht berücksichtigt.
Veronika Hackenbroch
Berichte über Heilungen in
rund 20 Fällen, unter anderem
aus den USA und Deutschland,
lösen einen Forschungsboom
aus.
2008
2007
2013
Barré-Sinoussi
116
DPA P ICTUR E -A LLIA NC E
sissippi, sei sie sicher gewesen, dass sich
das Virus zwischenzeitlich in dem kleinen
Körper vermehrt hatte. „Als im Blut des
Kindes dann kein HI-Virus nachweisbar
war, hielt ich das zunächst für einen Laborfehler oder für eine Verwechslung.“
Erst nach weiteren Tests dämmerte Gay:
Das Mädchen war offenbar geheilt. zumindest so weit, dass sein Körper das Virus
nun selbst in Schach halten konnte – „funktionelle Heilung“ nennen die Forscher das.
Derzeit haben sie dafür nur eine mögliche Erklärung. Gay hatte dem Kind bereits im Alter von 30 Stunden die ersten
Aidsmedikamente verabreicht. Auf diese
Weise konnte sich kein sogenanntes Reservoir bilden, kein kleiner Rest von Virus-DnA, die sich unauffällig und unerreichbar für das Immunsystem mitten im
menschlichen Erbgut versteckt. nichts
scheint dieser stillen Reserve etwas anhaben zu können, und so entstehen aus ihr
immer wieder neue Viren.
Dieses Reservoir an viraler Erbinformation ist das Teuflische an Aids, es ist der
Grund, warum Medikamente nicht heilen,
warum das Virus jedes Mal wiederkommt,
wenn die Mittel abgesetzt werden. Deshalb ist das Reservoir zu einem zentralen
Forschungsobjekt geworden.
Inzwischen steht fest, welch perfektes
Versteck sich die HI-Virus-DnA ausgesucht hat: spezielle zellen des Immunsystems. Diese „ruhenden Gedächtniszellen“
seien der „perfekte Ort, um die genetische Information eines Virus zu speichern“, glauben Janet und Robert Silicia-
PATRI C K A LL A R D/R EA /L A I F
ventionsmaßnahmen wie Kondome wahrscheinlich noch Schlimmeres verhindert
werden konnte, werden immer noch rund
40 Prozent der Betroffenen nicht angemessen behandelt.
So geht es bei der Suche nach einer möglichen Heilung auch nicht in erster Linie
darum, Patienten in reichen Ländern ein
besseres Leben ohne lästige Pillen zu verschaffen. Sondern vor allem darum, dass
sich gerade die Armen womöglich eher heilen als lebenslang teuer therapieren lassen.
Timothy Brown, der „Berliner Patient“,
war für die Forscher 2009 so etwas wie
der erste Hoffnungsschimmer. „Der Fall
hat uns erstmals gezeigt, dass die Heilung
einer HIV-Infektion prinzipiell möglich
ist“, sagt Barré-Sinoussi. HIV-Infizierte
wie Brown in zukunft einer Knochenmarkstransplantation zu unterziehen ist
allerdings viel zu riskant – die Prozedur
ist lebensbedrohlich.
noch mehr fasziniert die Wissenschaftler deshalb inzwischen das „Mississippi
Baby“ und all die anderen Fälle, in denen
eine frühe Therapie mit starken Medikamenten half, das Virus zu besiegen.
Die Kinderärztin des „Mississippi
Baby“, Hannah Gay, wurde dieses Jahr
sogar vom „Time Magazine“ zu einem
der 100 einflussreichsten Menschen der
Welt gekürt. Dabei war die Heilung des
kleinen Mädchens wohl eher zufall.
Als das Mädchen nach fünf Monaten
ohne Behandlung von der Mutter wieder
in die Klinik gebracht wurde, erinnert sich
Gay, Professorin an der University of Mis-
no von der Johns Hopkins University in
Baltimore, die zu den Entdeckern des Reservoirs zählen. Denn diese Gedächtniszellen, so das Forscherehepaar, stürben
niemals ab, sie existierten so lange, wie
der Mensch lebt, zu dem sie gehören. Hat
die Virus-DnA sich erst einmal eingenistet, wird man sie also niemals mehr los.
Fest steht inzwischen auch: Das Reservoir bildet sich sehr früh, wahrscheinlich
spätestens ein oder zwei Wochen nachdem man sich angesteckt hat. Wenn die
Ärzte verhindern wollen, dass es entsteht,
müssen sie deshalb auch sehr früh behandeln. Französische Forscher schätzen,
dass rund 15 Prozent der sehr früh therapierten HIV-Infizierten das Virus nach einer Weile selbst kontrollieren können.
Für die restlichen 85 Prozent – und die
große Mehrheit, die zu spät mit der Therapie beginnt – suchen die Wissenschaftler
jetzt nach Wegen, die Virus-DnA aus
ihrem Versteck zu locken. Verschiedene
Substanzen, zum Beispiel Krebsmedikamente, wurden dafür bereits im Labor getestet. Inzwischen laufen erste kleine
Studien an Patienten. Auch Gentherapie
und Stoffe, die helfen, das Immunsystem
zu regulieren, werden erprobt.
Doch schon jetzt schauen viele HIVÄrzte mit neuem Blick auf ihre Patienten.
„Ich weiß ja gar nicht, ob nicht vielleicht
auch andere Kinder, die ich behandle,
schon geheilt sind“, sagt etwa Kinderärztin Hannah Gay aus Mississippi.
Das Problem dabei: Die HIV-Medikamente einfach probehalber abzusetzen
ist strikt tabu. Denn dadurch kann sich
die Prognose deutlich verschlechtern.
Eine internationale Studie soll nun Klarheit darüber bringen, wann bei Kindern
die Einnahme der Medikamente ohne allzu großes Risiko gestoppt werden darf.
Hans Jäger, Internist und Aids-Spezialist
aus München, leitet gemeinsam mit Wissenschaftlern der Ludwig-Maximilians-Universität eine Studie an erwachsenen HIVPatienten, in der es auch um diese Frage
geht: „Wir suchen nach einem Laborwert,
mit dem sich vorab feststellen lässt, wer
geheilt ist und wer nicht“, sagt Jäger.
Der Arzt ist davon überzeugt, dass
schon bald etliche HIV-Infizierte ihre Medikamente in der Schublade lassen können. „Ich vermute, dass wir im Moment
eine nicht zu unterschätzende zahl an
Patienten behandeln, die das gar nicht
Christoph Behrens,
mehr brauchen.“
Gallo
d e r
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