Grundlagen der Anamneseerhebung Prof. Dr. med. Christoph Herrmann-Lingen Zentrum Innere Medizin Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Anamnese = Interaktionsprozeß zur gemeinsamen Rekonstruktion der Krankheitsvorgeschichte in der Erinnerung des Patienten Anamneseerhebung Störung Intrapsychische Realität Arzt Patient Schädigung Aufgaben des Arztes In der Begegnung mit dem Patienten einen Zugang zu dessen psycho-somatischem Erleben gewinnen – d.h.: Übersetzungs- und Beziehungsarbeit • Patienten-Erinnerung vor dem Hintergrund ärztlichen Fachwissens in diagnose- und therapierelevante Informationen übersetzen. • Tragfähiges Arbeitsbündnis mit dem Patienten herstellen. Anamnese-Kreislauf Informationsgewinnung Herstellung des Arbeitsbündnisses · zeit- und kostensparend · gegenseitige Offenheit u. Akzeptanz · gezielt, hypothesengeleitet · möglichst angstfreie Beziehung Wichtige Voraussetzungen hilfreicher ärztlicher Gespräche •„Basisvariablen“: Empathie, akzeptierende Grundhaltung, selektive Authentizität •Angemessene Sprache •Geeignete Fragen Struktur der Anamnese • patientengeleitet vs. arztgeführt • umfassend vs. symptomzentriert • beziehungs- bzw. handlungsorientiert • flexibel vs. schematisch Eine gute Anamnese ist interaktiv und enthält meist von allen Punkten etwas! Wichtig! • Jede Anamnese ist einmalig • Anamnesen brauchen unterschiedlich viel Zeit (wenige Minuten bis mehrere Stunden, evtl. über mehrere Termine verteilt) • Anamnesen sind nie “fertig” Struktur der Anamnese – wichtige Komponenten • • • • • • • • • • Begrüßung / Vorstellung Erster Eindruck / Situationsgestaltung Erste Orientierung Gezielte Symptomananmnese Allgemeine Krankheitsanamnese Psychosoziale und Berufsanamnese Vegetative, Risiko- und Systemanamnese Familienanamnese Klärung offener Fragen Klärung weiteres Vorgehen und Verabschiedung Fragetypen • Offene Fragen („wie geht es Ihnen?“) • Geschlossene Fragen (“haben Sie hier Schmerzen?” “Leiden Sie an Allergien?”) • Suggestivfragen („Sie möchten also krankgeschrieben werden?“) Gute Fragen . . . ...sind klar ...kommen zum richtigen Zeitpunkt ...fördern die Antwortbereitschaft des Patienten ...bringen das Gespräch inhaltlich weiter ...fördern die Kommunikation ...lassen Empathie seitens des Arztes erkennen Die Fragen des Patienten verstehen • Warum fragt der Patient wirklich? (Informationsbedürfnis? Suche nach Zuwendung? Kritik? Hilferuf?) • Warum fragt er gerade jetzt? (Will er z.B. von anderem Thema ablenken? z.B. im Gehen - hat er sich vorher nicht getraut?) • Verbirgt sich hinter der Frage eigentlich eine andere Frage? („muss ich ins Krankenhaus?“ statt „werde ich daran sterben?“) Die Fragen des Patienten verstehen • Warum wiederholt der Patient eine Frage? Antwort nicht verstanden? Nicht die „richtige“ Antwort bekommen? Gedächtnisstörung? • Warum stellt der Patient bestimmte Fragen nicht? Angst? Scham? Unsicherheit? • Wurde der Patient ausreichend ermutigt, selbst zu fragen? Die Situation verstehen • Ort und Zeit des Gesprächs • Umgebungsfaktoren (Störungen durch andere Personen, Lärm etc.) • Habitus des Patienten (Haltung, Sprechweise, Gestik, Mimik, Motorik, Gepflegtheit, Kleidung) Die Situation verstehen • Nonverbale Signale der Gesprächspartner • Eigene Empfindungen einbeziehen z.B. emotionale Betroffenheit in Form von Zuneigung, Traurigkeit, Wut, Desinteresse, Peinlichkeit etc., evtl. Wechsel zwischen verschiedenen Empfindungen Die Situation gestalten „Roten Faden“ beibehalten / wieder aufnehmen (strukturiert Information und gibt Pat. Sicherheit) • Vielredner begrenzen, beim Thema halten; ggfs. eigene Grenzen setzen • Einsilbige Patienten zum Reden ermutigen, genug Raum geben, ggfs. Pausen zulassen • Verstandenes zusammenfassen • Unklare Zusammenhänge klären • Ggfs. Fragen wiederholen, präzisieren, anders formulieren; unklare Fakten nachfragen • Nie mit Unverstandenem zufriedengeben!! (nicht zwangsläufig alles erfragen, aber Problem im Kopf behalten!) Schwierige Situationen meistern • Auf Grundstruktur und eigene Befindlichkeit achten • Emotionen zulassen, aufgreifen, ggfs. vorsichtig thematisieren (gibt Sicherheit, entlastet Pat.). Weinen, Wut, Angst, Verzweiflung können bei Kranken vorkommen und sollten nicht voreilig „abgeblockt“ werden • Keine Angst vor Pausen! (sie können Arzt und Pat. helfen, „sich zu sortieren“: innere Zwischenbilanz; weiterführende Gedanken / Fragen) • Zur Beendigung „destruktiver“ Pausen: Verstandenes rückmelden, an vorheriges Thema anknüpfen, ggfs. Pat. nach aktuellem Empfinden fragen, evtl. (aber nicht voreilig) Thema wechseln Schwierige Situationen meistern • Keine Angst vor den Patienten! • Keine Angst vor eigenen Wissenslücken! • Patienten als „Experten ihrer eigenen Krankheit“ nutzen • Keine unfundierten Schnellantworten, sondern: •Ggfs. nachlesen •Dozenten fragen •Pat. ermutigen, behandelnden Arzt zu fragen …und vor allem: Neugierig bleiben und üben, üben, üben! Vertiefung zum Thema „Anamnese“ im Praktikum der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie Vorlesungsfolien und Praktikumsskript unter www.uni-marburg.de/fb20/psychosomatik/Lehre Lehrbuchempfehlung: Adler R, Hemmeler W: Anamnese und Körperuntersuchung (akt. Auflage). Verlag Gustav Fischer, Stuttgart …weitere Folien zur Vertiefung Die folgenden Folien dienen zur weiteren Vertiefung. Sie konnten in der Vorlesung aus Zeitgründen nicht detailliert besprochen werden Interesse des Arztes an Beziehung Voraussetzung für • Öffnungsbereitschaft des Patienten (vs. Informationsselektion aufgrund von z.B. Angst oder Ärger) • Behandlungsmotivation • Compliance / Adhärenz Interesse des Arztes, vor dem Hintergrund seines Fachwissens etwas über den Patienten zu erfahren Voraussetzung für • rationelle Diagnostik / Therapie • Aufbau des Arbeitsbündnisses Struktur der Anamnese – Begrüßung / Vorstellung • Blickkontakt aufnehmen • Patienten begrüßen • Eigenen Namen nennen • Namen des Pat. verstanden? Ggfs. nachfragen! Struktur der Anamnese – Erster Eindruck / Situationsgestaltung • Ersten, spontanen Eindruck vom Patienten registrieren (Gestik, Mimik, Geruch, sichtbare Krankheitszeichen, gepflegt? altersentsprechend?) • Günstige Situation schaffen (andere Personen im Raum? Pat. auf Gespräch eingestellt? Sitzposition, Lichtverhältnisse etc.) Struktur der Anamnese – Erste Orientierung • Ist Pat. ansprechbar? Kann er / sie mich verstehen und mir antworten? • Offene Eingangsfrage, je nach Situation z.B. “was führt Sie zu mir?” “aus welchem Anlass sind Sie ins Klinikum gekommen?” “wie geht es Ihnen?” • Pat. Raum geben, zuhören (“4 Ohren”) (Womit beginnt er / sie das Gespräch? Wie spricht er / sie? Wie gut strukturiert Pat. die Schilderung? Affektive Beteiligung? Selbst-/Beziehungsbotschaft? Appell?) Struktur der Anamnese – Gezielte Symptomanamnese • Leitsymptom / weitere Symptome • Jeweils 7 Qualitäten erfragen: zeitlicher Ablauf, Qualität, Intensität, Lokalisation / Ausstrahlung, Begleitzeichen, Verschlimmerung / Linderung, Umstände • Jeweils Bezüge zu Biografie / Lebenssituation im Auge behalten Struktur der Anamnese – Allgemeine Krankheitsanamnese • Vorerkrankungen: Art, Zeitpunkt, Behandlung, evtl. Chronifizierung, Residuen, Folgeschäden • Aktuelle Begleiterkrankungen, Medikation • Unfälle / Verletzungen, Operationen Struktur der Anamnese – Psychosoziale und Berufsanamnese • Familienstand, Kinder, wichtige Beziehungen, Bindungsverhalten; angepasste Sexualanamnese • Gruppenzugehörigkeiten / Hobbies • Berufliche Situation (Schadstoffe, Zeitdruck…) Struktur der Anamnese – Psychosoziale und Berufsanamnese • Psychosoziale Belastungsfaktoren (z.B. Konflikte, “Stress”, Veränderungen der Lebenssituation, Ängste / Sorgen um aktuelle Symptomatik / Erkrankung) • Psychosoziale Ressourcen (Unterstützung durch Angehörige, Freunde; gelungene Krankheitsbewältigung in der Anamnese) • Psychische Vorerkrankungen; psychotherapeutische oder psychiatrische Vorbehandlung Struktur der Anamnese – Vegetative, Risiko- u. Systemanamnese • Vegetative Funktionen (Appetit, Nahrungsunverträglichkeiten, Gewichtsab- oder Zunahme, Durst, Verdauung, Miktion, Schlaf, psychosomatische Reaktionsbereitschaft) • Suchtverhalten (Alkohol, Nikotin, illeg. Drogen, süchtiges Essverhalten) • Risikofaktoren (Hypertonie, Diabetes, Adipositas [Größe, Gewicht], Cholesterinspiegel, sonst. Stoffwechselstörungen) • Organsysteme (Vorerkrankungen, Risiken, Allergien etc. komplettieren) Struktur der Anamnese – Familienanamnese Ziel: genetisches Risiko, erlerntes Verhalten und Belastungen durch famil. Erkrankungen eruieren • Erbliche oder genetisch mitbedingte Erkrankung bei Eltern, Geschwistern, Kindern (z.B. Herz-Kreislauf-Krh., Malignome, Erbkrankheiten i.e.S.) • Vorzeitige Todesfälle, ggfs. Todesursache • Psychische / psychosomatische und Suchtkrankheiten in der Familie • Umgang mit Krankheit in der Familie (z.B. Klagsamkeit vs. Bagatellisierung) Struktur der Anamnese – Offene Fragen klären • Reflexion: “Habe ich alles erfahren?” • Frage an Patienten: “Haben wir noch etwas Wichtiges vergessen?” • Differenzial- / diagnostische Überlegungen • Ggfs. Komplettierung der offenen Punkte • Frage an Patienten: “ Haben Sie noch Fragen an mich?” • Ggfs. Verdachtsdiagnose mit Pat. besprechen Struktur der Anamnese – Weiteres Vorgehen, Verabschiedung • Mit Patienten besprechen: Was ist als nächster Schritt geplant? (z.B. körperliche Untersuchung, weiteres Gespräch zur Erweiterung der Anamnese, apparative Diagnostik, Behandlung) • Achtung: Keine vorschnellen Diagnosemitteilungen, Ratschläge oder Behandlungsempfehlungen! • Ggfs. Vereinbarung eines neuen Termins • Verabschiedung Fragetypen • Offene Fragen („wie geht es Ihnen?“) • „W-Fragen“ (=Ergänzungsfragen: wann, wer, wie, wo?) • Interpretationsfragen („welche Bedeutung hat der Schmerz in Ihrer momentanen Lebenssituation?“) Fragetypen • Offene Fragen („wie geht es Ihnen“) • „W-Fragen“ • Interpretationsfragen Vorteil: Freiheit für den Patienten, auch Unerwartetes mitzuteilen Nachteil: unspezifische / evtl. wenig wegweisende Antworten Fragetypen • Geschlossene Fragen • Direkt („haben Sie hier Schmerzen?“) • Sondierungsfragen („leiden Sie an Allergien?“) • Konfrontationsfragen, z.B. zur Klärung der Compliance („haben Sie die Medikation gelegentlich weggelassen?“) Fragetypen • Geschlossene Fragen II • Dichotom („tut es weh oder nicht?“) • Katalogfragen („ist der Schmerz brennend, bohrend, stechend, reißend?“) Vorteil: spezifischere Informationen Nachteil: eingeengtes Antwortspektrum Fragetypen • Suggestivfragen „heute morgen haben Sie doch Schmerzen gehabt?!“; „Sie möchten also krankgeschrieben werden?“ Eher unproduktive Fragen: • Suggestivfragen (offenbaren evtl. Vorurteile des Fragenden) • Mehrfachfragen (deuten evtl. auf Ungeduld des Arztes hin) • „Überfallfragen“ (lassen den Patienten evtl. „in Deckung gehen“) „Verbotene“ Fragen: • Fangfragen: „Wieviel hatten Sie denn an dem Abend getrunken?“ (Pat. gab vorher an, keinen Alkohol zu trinken: Versuch der „Übertölpelung des Patienten“) • Neugierfragen: „Wie geht es Ihrem Nachbarn Dr. Müller?“ (zur Befriedigung des Fragenden) • Wertende Fragen: „Konnten Sie nicht besser aufpassen?“ (vom Patienten oft als abwertend erlebt) „Verbotene“ Fragen: • Aggressive Fragen: „Schämen Sie sich gar nicht, sich so vollaufen zu lassen?“ (lösen Abwehrreaktion des Patienten aus) • „Floskelfragen“: „Und der Familie geht`s gut?“ (Die Mutter der Patientin hatte sich kürzlich den Schenkelhals gebrochen und ist jetzt pflegebedürftig: Kann Oberflächlichkeit des Arztes signalisieren)