Das politische Engagement von Christen in Parteien und freien po

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Joachim Wiemeyer
Das politische Engagement von Christen in Parteien und freien politische Vereinigungen
I. Einleitung
Die jüdisch-christliche Tradition und die Botschaft des Evangeliums bezeugen, dass Weltverantwortung unverzichtbarer Bestandteil für die gesamte Kirche und jeden einzelnen Christen
ist. Alttestamentliche Propheten (Amos, Jesaja) wollen deutlich machen, „dass angesichts
gesellschaftlicher Ungerechtigkeit Gottesliebe ohne Nächstenliebe, Kult ohne Ethos, Liturgie
ohne Diakonie, Gottesdienst ohne Praxis der Gerechtigkeit leicht in Heuchelei umschlagen.“1
In dieser Tradition steht Jesus, wenn er das zentrale Gebot der Gottes- und Nächstenliebe ins
Zentrum seiner Verkündigung stellt. Für Christen kann es daher keinen Gottesdienst ohne
Weltdienst geben, weil man nicht Armut, Elend, Unterdrückung und Not der Menschen den
Rücken zukehren kann, um fromme liturgische Feiern abzuhalten. Umgekehrt bedarf der
Dienst am Mitmenschen aber immer wieder auch der Ermunterung und Bestärkung in der
Feier des Glaubens. In der Geschichte des Christentums demonstrieren etwa die Orden, deren
Klöster nicht nur Orte des Gebetes, sondern auch der Fürsorge für die Armen waren, diesen
Zusammenhang von Weltdienst und Gottesdienst. Die Christen haben sich immer wieder verpflichtet gefühlt, durch ihr persönliches Engagement, wie in der Unterstützung von Einrichtungen, etwa der langen Tradition kirchlicher Hospitäler, für eine Humanisierung der irdischen Bedingungen zu wirken (Johannes Paul II., Centesimus annus Nr. 57).
Die Humanität des menschlichen Zusammenlebens hängt wesentlich auch von den die einzelnen Menschen und kleine Gruppen übergreifenden Strukturen der politischen Ordnung eines
Staates, der Rechtsordnung, der Wirtschaftsordnung sowie anderen grundlegenden Institutionen der Gesellschaft ab. Solche übergreifenden Institutionen wurden aber erst seit den letzten
250 Jahren als Gestaltungsaufgabe begriffen, als durch die industrielle Revolution in England,
die französische Revolution in der Politik und der geistigen Revolutionen der Aufklärung in
den Wissenschaften (z.B. Kant) gesellschaftliche Strukturen durch menschliches Handeln
umfassend verändert wurden. Daher entstand eine eigenständige kirchliche Sozialverkündigung erst im 19. Jahrhundert. Bis dahin wandelten sich die grundlegenden Strukturen der Gesellschaft kaum. Die Leitung der Politik lag in der Regel in den Händen von Monarchen, die
entweder aus einem kleinen Kreis von Adeligen (z.B. Kurfürsten im heiligen Reich deutscher
Nationen oder durch den Sejm in Polen) gewählt oder im Sinne der Erbfolge die Herrschaft
erlangten. In diesem Sinne gab es jahrhundertelang keine politische Verantwortung der einzelnen Christen. Noch bis Leo XIII.2 (1878-1903) erschien der gerechte christliche Monarch
als Idealbild politischer Herrschaft. Zu nichtmonarchischen Staatsformen (etwa den USA)
nahm das kirchliche Lehramt eine gewisse Neutralität ein.
Um eine gerechte Herrschaft zu gewährleisten, zielte die Kirche jahrhundertelang auf eine
unmittelbare Einflussnahme auf den Herrscher ab. Die Inthronisation von Herrschern in einer
liturgischen Feier sollte diesen verdeutlichen, dass sie ihre Herrschaft auch in Verantwortung
vor Gott ausüben und sich eines Tages vor diesem rechtfertigen müssen. Vielfach waren es
Geistliche, die als Erzieher der Thronfolger wirkten, für diese Fürstenspiegel entwarfen, die
Grundsätze gerechter Herrschaft enthielten. Beichtväter sollten die Herrscher immer wieder zu
1
Franz Grave, Die gesellschaftliche Verantwortung der Christen, in: Georg Giegel u.a. (Hrsg.), Glaube in Politik
und Zeitgeschichte, FS Franz Josef Stegmann, Paderborn 1995, S. 103-117, hier 107.
2
Vgl. Wilhelm Weber, Kirche und Demokratie (Katholische Soziallehre in Text und Kommentar 9), Köln 1978,
S. 17.
2
ihren Pflichten anhalten. Der Papst, Bischöfe und andere kirchliche Amtsträger mahnten die
Monarchen. Die politische Verantwortung betraf dann auch die vom Monarchen berufenen
Minister und Beamten im Rahmen des ihnen aufgetragenen Handlungsspielraums. So lange
diese Systeme bestanden, gab es eine eigentliche politische Verantwortung jedes einzelnen
Christen nicht. Auch die ethische Reflexion über die Möglichkeit einen zutiefst ungerechten
Herrscher selbst mittels eines Tyrannenmordes zu beseitigen, zielte nicht auf eine Änderung
der Herrschaftsstrukturen ab, sondern darauf, einen ungerechten durch einen gerechten Herrscher zu ersetzen.
Gegen absolute Monarchen richteten sich im 19. Jahrhundert die Bewegungen zu einer parlamentarischen Demokratie. Monarchien wie demokratische Systeme wurden schon bald darauf
seit Anfang des 20. Jahrhunderts aber von totalitären Bewegungen wie dem Kommunismus
und dem Nationalsozialismus bedroht. Angesichts dieser totalitären Systeme setzte sich die
Sozialverkündigung der Kirche seit der Weihnachtsansprache Pius XII. 1944 zunehmend positiv für demokratische Systeme ein.3 Dies geschieht vor allem auch in der Konzilskonstitution
Gaudium es spes des Zweiten Vatikanischen Konzils 1965. Die Konzilspäpste, Johannes
XXIII. und Paul VI., traten ebenfalls für die politische Demokratie ein. Aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen mit den zwei totalitären Systemen nimmt der Einsatz für die politische
Demokratie in der Sozialverkündigung Papst Johannes Paul II. eine wichtige Rolle ein.
II. Weltverantwortung der Christen im demokratischen Staat
Die Weltverantwortung der Christen stützt sich auf zentrale Motive des Neuen Testaments.
Wenn Jesus in der Bergpredigt, die selig preist, „die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit“ (Mt 5,6), dann hat dies auch eine politische Dimension, geht es doch um die Gerechtigkeit im Zusammenleben der Menschen. In seiner Gerichtsrede hebt Jesus hervor: „was ihr für
einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Dies gilt nicht
nur für die individuelle Hilfe im Sinne der Werke der Barmherzigkeit, sondern auch für denjenigen, der durch ein Entwicklungsprojekt Hungernden durch bessere Anbaumethoden hilft,
sich besser zu ernähren. Dies gilt für Politiker, die durch Wohnungsbau für Menschen Obdach
schaffen. Dies gilt für Menschenrechtsorganisationen, die Gefangene vor ungerechter Haft
bewahren. Ins Zentrum seiner Verkündigung stellt Jesus das zentrale Gebot der Gottes- und
Nächstenliebe (Lk 10,25-37). Auf die Frage, wer der Nächste sei, erläutert er dies am Beispiel
des Barmherzigen Samariters. Wer dieses Gleichnis hinsichtlich der Bedeutung für heute näher reflektiert4, muss auch nach den „Strukturen der Räuberei“ fragen, die dazu führen, dass
immer wieder Menschen Hilfe bedürfen. Kann man nicht etwas dafür tun, dass nicht in Zukunft erneut immer wieder Menschen auf barmherzige Samariter angewiesen sind? Solche
Fragen haben sich Christen im demokratischen Staat mit umfassenden Rechten der Gesellschaftsgestaltung, wo die Politik ein wichtiger Ort der Nächstenliebe ist, zu stellen.
Eine demokratische Organisation des Staates entspricht von allen bisher erprobten Staatsformen am besten der christlichen Anthropologie.5 Diese geht von einer fundamentalen Gleichheit aller Menschen als Ebenbild Gottes (Gen 1,26) aus. Alle Menschen sind von Jesus Christus gleichermaßen zum Heil berufen. “Es gibt nicht mehr, Juden und Griechen, nicht Sklaven
und Freie, nicht Mann und Frau, denn ihr alle seid eine in Christus Jesus“ (Gal 3,28).
Alle Menschen sind zur Freiheit berufen und zur Übernahme von Verantwortung befähigt
(Gaudium et spes Nr. 17). Da die Menschen für sachliche wie moralische Irrtümer anfällig
3
Vgl. dazu: Karl Jüsten, Ethik und Ethos der Demokratie, Paderborn Wien München Zürich 1999.
Vgl. Franz Grave, a.a.O., S. 110f.
5
Vgl. Franz Furger, Affinität christlicher Ethik zu demokratischen Organisationsformen, in: Otto Kimminich u.a.
(Hrsg.), Mit Realismus und Leidenschaft, FS V. Zsifkovits, Graz-Budapest 1993, S. 414-422.
4
3
sind, soll eine demokratische Staatsform sachliche wie moralische Fehlleistungen begrenzen,
indem öffentlich über verschiedene Lösungsmöglichkeiten gerungen wird und Fehlentwicklungen öffentlich kritisiert werden können. Demokratische Rechtsstaaten sind dadurch gekennzeichnet, dass Macht nur auf Zeit bis zur nächsten Wahl vergeben wird, die Macht der
Regierenden immer begrenzt ist und kontrolliert wird. Theologisch formuliert könnte man
davon sprechen, dass man versucht, die Gelegenheiten zur Sünde zu verringern und deren
Folgen zu begrenzen. Demokratie garantiert aber keine sachlich wie moralisch richtigen Ergebnisse.
Denn wenn sich wenige Bürger politisch informieren und engagieren, wenn sie auf politische
Demagogen hereinfallen, unfähige oder unmoralische Politiker wählen, können die Institutionen der modernen Demokratie dies nicht verhindern, höchstens die Schäden gering halten.
Der wichtigste Vorteil der Demokratie ist, dass man Politiker wieder friedlich - ohne Gewalt
und Bürgerkrieg - aus dem Amt entfernen kann.
Gerade das demokratische System lebt vom gesellschaftlichen Engagement seiner Bürger.
„Die Bürger sollen soweit wie möglich am öffentlichen Leben aktiv teilnehmen.“ (Katechismus der Katholischen Kirche Nr. 1915). Das 2. Vatikanische Konzil lobt alle Nationen, „in
denen ein möglichst großer Teil der Bürger in wahrer Freiheit am Gemeinwesen beteiligt wird
(Gaudium et spes Nr. 31). Daher soll jeder Christ darauf bedacht sein, „Institutionen anzuregen und zu fördern, welche die menschlichen Lebensbedingungen verbessern“ (Katechismus
Nr. 1926). Ihre soziale Natur veranlasst die Menschen, sich in „einer reichen Vielfalt von
Verbänden, Vereinigungen, Einrichtungen mit wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, kultureller,
unterhaltender, sportlicher, beruflicher und politischer Zielsetzung sowohl im nationalen
Raum wie auf Weltebene“ (Johannes XXIII., Mater et magistra Nr. 60) zusammenschließen.
Es ist Aufgabe der Laien „sich in die ´Politik´ einzuschalten, das heißt in die vielfältigen und
verschiedenen Initiativen auf wirtschaftlicher, sozialer, gesetzgebender, verwaltungsmäßiger
und kultureller Ebene, die der organischen und institutionellen Förderung des Gemeinwohls
dienen.“6 Dazu haben sie die in demokratischen Systemen bestehenden umfangreichen Möglichkeiten zu nutzen und politische Rechte wahrzunehmen.
Der einzelne Bürger sollte aufmerksam das politische Geschehen verfolgen, sich über politische Sachverhalte informieren und sich um eine ethisch fundierte Urteilsbildung bemühen.
„Eine Demokratie ohne Demokraten ist auf Dauer nicht lebensfähig.“7 Dies bedeutet z.B.,
dass man politische Entscheidungen nicht allein nach seinen eigenen persönlichen Vorteilen
(etwa der eigenen Steuerbelastung, den Sozialleistungen usw.) beurteilt, sondern auch nach
den Interessen aller, dem Gemeinwohl fragt, sowie den Interessen von Gruppen, die sich nicht
oder nur unzureichend selbst Gehör verschaffen können. Gemeinwohlanliegen wie die Sicherung stabiler Preise, Interessen der Konsumenten, nachfolgender Generationen (Staatsverschuldung) werden häufig nicht hinreichend berücksichtigt. Ebenso gilt dies für Personen, die
gar nicht an der politischen Willensbildung (Ausländer) beteiligt sind. Hinreichende Information, Bemühungen um eine gerechte Urteilsfindung in politischen Fragen und Wahrnahme der
politischen Rechte sind also Aufgabe der Staatsbürger. „Alle Staatsbürger aber sollen daran
denken, von Recht und Pflicht der freien Wahl Gebrauch zu machen zur Förderung des Gemeinwohls.“ (Gaudium et spes Nr. 75, auch Katechismus Nr. 2240)8.
6
Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Christifideles Laici Nr. 42 (1989).
Werner Remmers, Was kann Politik leisten? (Kirche und Gesellschaft Nr. 292), Köln 2002.
8
Als es 1953 in Deutschland noch keine Möglichkeit der Briefwahl gab, waren deutsche Pilger am Wahlsonntag
in Rom. Sie wurden von dem damaligen Papst Pius XII. zurechtgewiesen, weil sie ihre staatsbürgerlichen Pflichten versäumen. Auch eine Pilgerreise nach Rom sei für das Wahlversäumnis keine Rechtfertigung.
7
4
Neben den regelmäßigen Wahlen gibt es innerhalb des demokratischen Staates eine Vielzahl
weiterer Rechte. Gewählte Mandatsträger halten auch zwischen den Wahlen Sprechstunden
und öffentliche Versammlungen ab. Dort kann man seine Anliegen vortragen. Weiterhin ist es
möglich, eine Partei mit anderen zu gründen, bestehenden Parteien beizutreten und dort aktiv
mitzuwirken. Auf das politische Geschehen nehmen aber auch Verbände und Bürgerinitiativen Einfluss. Auch dort kann man sich engagieren, zum einen für die Ziele und gemeinsamen
Leistungen der Organisation selbst, wie ihren Beitrag zur Öffentlichkeit. In vielen Staaten
bestehen (zumindest auf der Ebene der Kommunen und Länder) Möglichkeiten nicht nur die
Parlamente zu wählen, sondern durch Volksabstimmungen auf einzelne Sachfragen (z.B. EUBeitritt) unmittelbar Einfluss zu nehmen. Dazu kann man, z.B. Volksinitiativen unterstützen,
sich an der Sammlung von Unterschriften beteiligen, um Abstimmungen herbeizuführen. Die
moderne Gesellschaft ist eine Mediengesellschaft. Vor allem über Medien werden Bürger
über das politische Geschehen unterrichtet. Etwa über Leserbriefe in Zeitschriften kann sich
der einzelne Bürger auch aktiv an gesellschaftlichen Debatten beteiligen. Heute ist als neues
Medium das Internet dazugekommen, das auch für die politische Meinungsbildung genutzt
werden kann.
Bürger, die ihre Anliegen bei den etablierten Parteien und Verbänden sowie in den Medien
bisher nicht als hinreichend beachtet ansehen, haben die Möglichkeit auch in Demonstrationen und öffentlichen Aktionen die Bevölkerung auf ihre Forderungen aufmerksam zu machen.
Die Zahl der Demonstrationsteilnehmer zeigt dann, wie groß die Anzahl der Personen ist, die
sich solche Forderungen zu eigen machen und sie für so wichtig halten, dass sie dafür in der
Öffentlichkeit eintreten. Dazu gehört gelegentlich auch Zivilcourage, wenn man für seine Positionen in seiner Umgebung keinen Beifall findet, sondern auf Ablehnung oder sogar aktiven
Widerspruch stößt. Bei Demonstrationen muss die Rechtsordnung beachtet werden, so dass
Demonstranten weder fremde Personen verletzen noch das Eigentum anderer zerstören oder
beschädigen dürfen.
Jeder einzelne Bürger kann sich mit seinen Anliegen an seine Abgeordneten wenden oder aber
an den offiziellen Petitionsausschuss des Parlamentes. Diese Ausschüsse haben häufig begründete Beschwerden und gut durchdachte Vorschläge von Bürgern aufgegriffen und gesetzliche Regelungen geändert bzw. den Bürgern gegen Willkür der Verwaltung geholfen.
Gelegentlich können sogar ein einziger Bürger bzw. wenige Bürger erheblichen Einfluss ausüben, wenn man z.B. gegen politische Entscheidungen klagt. Durch eine Musterklage oder
eine Klage, die beim höchsten Gericht des Landes erfolgreich ist, können auch Gesetze aufgehoben werden. Politisch wichtige Entscheidungen gehen auch auf den Gerichtshof der EU
zurück, wo z.B. eine Deutsche die Öffnung des deutschen Militärs für Frauen erklagt hat.
Es steht also ein breites Spektrum an Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten jedem einzelnen Staatsbürger zur Verfügung. Die einzelnen Christen sollten solche Rechte wahrnehmen, um vor allem Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft zu bekämpfen oder Möglichkeiten
einer Humanisierung der Gesellschaft zu nutzen. Verfehlt wäre es, wenn Christen zur Überzeugung gelangen, dass erhebliche gesellschaftliche Missstände vorliegen, man aber aus Bequemlichkeit den Sachverhalt auf sich beruhen lassen sollte. Es gibt auch die „Sünde des
´Apolitischen´“, die unchristliche Haltung von „Lethargie und Phlegma, Resignation und
Gleichgültigkeit“, die „auch ein Vergehen gegen Gott“9 ist, weil man an den Nöten der Menschen vorbeigeht. Wenn man unsicher ist, ob die eigene Beurteilung einer politischen Situation sachgerecht ist, kann man sich darüber mit anderen Christen austauschen. Dies kann auch
in politischen Parteien geschehen, wo die Mitgliedschaft eine intensive und dauerhafte Ausei9
Franz Grave, a.a.O., S. 116f.
5
nandersetzung mit politischen Fragen bedeuten kann und eine breitere Identifikation mit den
Zielen dieser Partei voraussetzt.
III. Christen und politische Parteien
1. Die Rolle politischer Parteien im demokratischen Staat
In modernen Demokratien können sich nicht nur eine große Zahl von Wählern und eine geringe Anzahl hauptamtlicher Politiker gegenüberstehen. Vielmehr müssen Massendemokratien
organisiert sein. Die gesellschaftliche Willensbildung wird daher durch die Zivilgesellschaft,
ihre Organisationen und Gruppen, strukturiert. Parteien sind dabei ein Bindeglied zwischen
der Zivilgesellschaft, wo ihre breite Mitgliedschaft verankert ist, und dem Staatsapparat, der
von den hauptamtlichen Mandatsträgern der Parteien geleitet wird. Parteien sind in modernen
Demokratien unverzichtbare Bestandteile der politischen Willensbildung.10 Da Parteien an der
demokratischen Willensbildung des Staates teilhaben wollen, muss ihre interne Organisation
selbst demokratisch sein. Dies erfordert regelmäßige Wahlen auf allen Parteiebenen. Ebenso
dürfen Parteivorstände nicht Mitglieder mit anderen Auffassungen oder Konkurrenten um
politische Ämter einfach aus einer Partei ausschließen können. Ein Ausschluss ist nur bei
überprüfbarem (z.B. durch unabhängige Parteigerichte) parteischädigendem Verhalten möglich. Ebenso muss eine Partei prinzipiell für neue Mitglieder offen sein. Eine Abweisung von
Beitrittswilligen darf nur nach strengen Kriterien erfolgen, etwa von Personen, die sich tatsächlich gar nicht mit den Grundwerten einer Partei identifizieren, oder die aufgrund ihres
Rufes (z.B. vorbestraft) für eine Partei schädlich sein können. Für Parteien ist auch die interne
wie externe Transparenz ihrer Finanzmittel wichtig. Intern ist dies wichtig, weil die Verfügung über finanzielle Mittel nicht die innerparteiliche Demokratie beeinflussen darf, extern
damit den Wählern mögliche finanzielle Abhängigkeiten von Interessengruppen bekannt sind.
Die Aufgaben von Parteien liegen zunächst darin, dass sie die in ihrer Mitgliedschaft vorhandenen verschiedenen Interessen bündeln und zusammenführen. So können etwa Landwirte
unterschiedliche Interessen haben, je nachdem welche Hofgröße sie haben, welches Produkt
bei ihnen dominiert (Viehhaltung versus Ackerbau). Alle Parteimitglieder, die aus diesem
Bereich stammen, werden ihre Interessen aufeinander abstimmen müssen. Da aber Parteien
nicht nur aus einer homogenen Gruppe bestehen, dann wären sie von der möglichen Stimmenzahl selten parlamentsfähig, sondern Junge und Alte, Männer und Frauen, Bewohner von
Städten und des ländlichen Raumes, Akademiker und einfache Arbeitskräfte, Selbständige
und Arbeiter, in vielen Ländern auch Personen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit umfassen, müssen innerhalb von Parteien Kompromisse geschlossen werden. Nur dann kann eine
gemeinsame Programmatik entwickelt werden, die alle wesentlichen Punkte der Politik beinhalten muss, weil man ja z.B. bei der Aufstellung eines Haushaltsplans entscheiden muss,
welchem Politikbereich man welche Bedeutung zumisst. Aufgabe politischer Parteien ist dann
auch, die Politik verschiedener Ebenen, nämlich von der Kommune, über die Region, den
Zentralstaat bis hin zur europäischen Ebene abzustimmen, indem in den Parteigremien Politiker aller Ebenen ihre Problemsichten einbringen und das politische Handeln koordinieren.
Eine zentrale Funktion von Parteien ist es aus der großen Masse der Staatsbürger diejenigen
auszuwählen, die als hauptberufliche Mandatsträger wie Parlamentsabgeordnete und Minister
wirken. Innerhalb der Mitgliedschaft von Parteien übernimmt man verschiedene Aufgaben,
wo man sich in der Überzeugungskraft auch durch rhetorische Fähigkeiten, durch politische
Ideen, politischen Einsatz, die Fähigkeit, Menschen zusammenführen zu können, in der Lei10
Aus politikwissenschaftlicher Sicht zur Rolle von Parteien: Ulrich von Alemann, Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2000.
6
tung von Sitzungen usw. bewähren muss. Auch die dabei erwiesene persönliche Integrität
spielt eine wesentliche Rolle. Insofern in vielen Ländern Parteien bei der Personalauswahl für
politische Ämter ein Monopol haben, kommt ihnen für das politische Führungspersonal der
Gesellschaft eine Schlüsselrolle zu.
In Wahlkämpfen werben Parteien für ihre Programme und ihre Kandidaten und versuchen, die
Bürger davon zu überzeugen, dass mit ihrem Programm und ihrem Personal die Zukunftsprobleme der Gesellschaft am besten gelöst werden können. Sie versuchen dabei nachzuweisen, dass die politischen Gegner nicht die richtigen Ideen und die geeigneten Personen haben.
Nach Wahlen bilden die ins Parlament gewählten Vertreter einer Partei, eine Fraktion. Ggf. in
einer Koalitionsregierung bilden die Wahlgewinner die Regierung, während die Wahlverlierer
die Oppositionsaufgabe wahrzunehmen haben.
Zwischen den Wahlen haben die Parteien die Aufgabe, die politischen Entscheidungen zu
vermitteln, etwa wie sie in der Regierungsverantwortung ihre Wahlversprechen umsetzen oder
was im Oppositionsfall an der Regierung zu kritisieren ist. Bei einer mitgliederstarken Partei
können diese Mitglieder am Arbeitsplatz, in Vereinen, im sozialen Leben usw. die Position
ihrer Partei vertreten. Umgekehrt können aber auch die Parteimitglieder die im Alltagsleben
erfahrenen Meinungen, Sorgen und Erfahrungen der Bürger innerhalb der Partei an ihre gewählten Mandatsträger weitergeben. Dies erfordert in Parteien aber eine offene Kommunikation und Diskussionskultur.
2. Die Mitgliedschaft von Christen in Parteien
Die Gründung von politischen Parteien entzündet sich traditionell an realen gravierenden gesellschaftlichen Konfliktlagen. In vielen europäischen Ländern längerfristig vertretene Parteirichtungen sind liberale, sozialistische, später getrennt in sozialdemokratische und kommunistische, sowie christdemokratische Parteien. In den letzten 20 Jahren sind die Grünen aus der
ökologischen Bewegung hinzugekommen. Es gibt eine Vielzahl weiterer Parteien, die entweder auf nationale Besonderheiten zurückgehen, keine internationale Verbreitung gefunden
oder nur für wenige Jahre politische Bedeutung erlangt haben.
Parteien mit einem dauerhaften Bestand und internationaler Verbreitung haben sich um folgende gesellschaftliche Konfliktlagen herum organisiert: Liberale Parteien wollten im 19.
Jahrhundert die Interessen des Bürgertums, von Selbständigen und Intellektuellen, gegen die
Vorherrschaft des Adels durchsetzen und auch Meinungs- und Forschungsfreiheit gegen
kirchliche Bevormundung erkämpfen. Später verteidigten sie Privateigentum und Marktwirtschaft gegen sozialistische Ideen. Sozialistische Parteien vertraten die im Gefolge der industriellen Revolution entstandene gesellschaftliche Großgruppe der Industriearbeiter. Sie strebten eine umfassende Neuordnung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft an. Christdemokratische Parteien sind vor allem dort entstanden, wo es heftige Konflikte zwischen Staat und
Kirche gab, etwa in Deutschland, im Kulturkampf, den in Preußen der Reichskanzler Bismarck gegen die katholische Kirche nach 1871 führte. Katholiken schlossen sich damals in
der Zentrumspartei zusammen, die katholische Arbeiter wie Unternehmer, Bauern wie Großgrundbesitzer und Handwerker umfasste. Es galt für diese - unbeschadet ihrer gegensätzlichen
sozio-ökonomischen Interessen - die Rechte der Kirche zu verteidigen. Die in der Partei notwendigen Kompromisse in sozio-ökonomischen Fragen prägten später die deutsche Wirtschafts- und Sozialordnung, weil von unterschiedlichen Seiten sich liberale und sozialdemokratische Parteien den von christlich-sozialen Vorstellungen geprägten Konzepten einer sozialverpflichteten Marktwirtschaft annäherten. Nach dem Nationalsozialismus schlossen sich im
Sinne einer moralischen Erneuerung der Gesellschaft in Deutschland evangelische und katho-
7
lische Christen in einer Partei zusammen. Die zunehmenden Umweltprobleme haben dazu
geführt, dass aus Bürgerinitiativen und Umweltverbänden grüne Parteien entstanden sind.
Wenn Christen einer politischen Partei beitreten wollen (analoges gilt auch wenn sie eine eigene Partei gründen) wollen, müssen sie bei ihrem Parteibeitritt überprüfen, ob die von ihnen
ins Auge gefasste Partei mit grundlegenden Wertvorstellungen des Christentums konform
geht. So ist für Christen die Mitgliedschaft in Parteien ausgeschlossen, die umfassende Weltanschauungsparteien sind und eine dem Christentum entgegengesetzte Weltanschauung vertreten. Solche Parteien waren sozialistisch-kommunistische Parteien, die Religion aus dem
öffentlichen Leben verdrängen und im öffentlichen Leben (Schule, Medien usw.) nur eine
unchristliche Weltanschauung gelten lassen wollten. Ebenso gilt dies für altliberale Parteien,
die zwar in der Regel die individuelle Religionsfreiheit dulden, aber eine institutionelle Präsenz von Kirchen im öffentlichen Leben ablehnen. So hat Pius XI. 1931 die Trennung der
sozialistischen Bewegung in Kommunisten und Sozialdemokraten zwar zur Kenntnis genommen, hält aber auch Warnungen gegenüber den gemäßigten Sozialdemokraten für angebracht (QA Nr. 111-126). 1971 setzt sich Paul VI. erneut mit verschiedenen ideologischen
Strömungen auseinander und fordert die Christen auf, in der praktischen Politik sich genau
über die weltanschaulichen Grundauffassungen politischer Gruppierungen zu informieren
(OA Nr. 31-34 zum Marxismus, Liberalismus Nr. 35). In Deutschland haben nach dem 2.
Weltkrieg sozialdemokratische und liberale Parteien ihre kirchenfeindlichen Grundauffassungen schrittweise aufgegeben. Katholiken sind als Mandatsträger und Mitglieder in diesen Parteien aktiv. Sie werden auch von katholischen Wählern unterstützt.
Politische Parteien, die für Christen annehmbar sein sollen, müssen demokratische Parteien
sein, für Menschenrechte eintreten, gewaltfreien Lösungen in Konflikten den Vorrang geben
und die Sicherung des Friedens anstreben, sich für die Bewahrung der Schöpfung einsetzen
und für gesellschaftliche Solidarität wie für weltweite Gerechtigkeit („Option für die Armen“)
eintreten. Wichtig ist auch ein Schutz der Familie in der Gesellschaft. Innerhalb dieses Rahmens gibt es in der Regel in demokratischen Ländern mehrere Parteien, die diese Ziele vertreten. Dabei kann es möglich sein, dass eine Partei nicht alle Ziele zugleich intensiv vertritt, so
dass Christen Kompromisse schließen müssen. Wenn etwa in einer christlichen Partei Katholiken und Protestanten zusammenarbeiten, gibt es eine Reihe von ethischen Fragen, in denen
Protestanten eine andere Auffassung als Katholiken vertreten.
Das Zweite Vatikanische Konzil hat in Gaudium et spes Nr. 43 einen legitimen Pluralismus
politischer Optionen von Katholiken anerkannt. Es gibt eine legitime „Freiheit der katholischen Bürger, unter den politischen Meinungen, die mit dem Glauben und dem natürlichen
Sittengesetz vereinbar sind, jene auszuwählen, die gemäß dem eigenen Urteil den Erfordernissen des Gemeinwohls besser gerecht wird.“11 Das Konzil fordert die Katholiken auf, Glaubensgeschwister mit anderen Optionen nicht zu verketzern und ihre eigene Auffassung nicht
als die einzig katholische auszugeben. Vielmehr gilt, „dass einige Entscheidungen in sozialen
Fragen kontingenten Charakter haben, dass moralisch oft unterschiedliche konkrete Strategien
möglich sind, um denselben Grundwert zu verwirklichen oder zu garantieren, dass einige politische Grundprinzipien auf verschiedene Weise interpretiert werden können und dass ein guter
Teil der politischen Fragestellungen komplexer Natur sind.“12
Dieser legitime Pluralismus politischer Option erfordert dann auch eine Zurückhaltung der
kirchlichen Hierarchie, von Bischöfen und Priestern in einem demokratischen Rechtsstaat. Sie
sind die Hirten aller Katholiken jenseits ihrer konkreten parteipolitischen Optionen und sollten daher weder selbst Partei sein, noch im legitimen Meinungsstreit unter Katholiken, z.B. in
11
12
Kongregation für die Glaubenslehre, a.a.O., S. 8f.
Vgl. ebenda S. 9.
8
Predigten oder Hirtenbriefen Partei ergreifen. Deshalb fordert das kanonische Recht eine politische Zurückhaltung von Amtsträgern (CIC § 287,2).
Sie haben das konkrete gesellschaftliche Engagement den Laien zu überlassen. Daher ist ihr
Eingreifen in die Tagespolitik abzulehnen.13 Dies ist nur dann geboten, wenn es um die Verteidigung der demokratischen Ordnung selbst geht oder um fundamentale Werte, die die
menschliche Würde betreffen. Die Kirche selbst und christliche Organisationen können aber
in der staatsbürgerlichen Erziehung vor allem junger Christen eine wichtige Rolle spielen,
indem sie ihnen das notwendige Sachwissen über politische Strukturen und Entscheidungsprozesse vermitteln, indem sie durch die Soziallehre der Kirche das Wertfundament christlichen Gesellschaftsengagements weitergeben und Kurse zum Erlernen zentraler politischer
Fähigkeiten (z.B. Rhetorik, Pressearbeit) anbieten. In Deutschland haben katholische Bildungsträger und Verbände diese Aufgaben übernommen, und viele Katholiken zur Übernahme öffentlicher Ämter qualifiziert. Denjenigen Christen, die sich in besonderer Weise politisch engagieren, sollten sie spirituelle Hilfe anbieten, z.B. besondere Einkehrtage für Politiker.
Die kirchlichen Amtsträger haben Katholiken zu einem gesellschaftlichen Engagement zu
ermuntern, weil der Einsatz für das Gemeinwohl wie für das Wohl der Mitmenschen im politischen Handeln praktizierte Nächstenliebe ist. Wer als Christ gesellschaftlich engagiert ist,
wird vielfach nicht nur Erfolge aufweisen, sondern auf Widerstände und Ablehnung seiner
Bemühungen stoßen, Misserfolge erzielen, und häufig an ein Resignieren denken. Daher bedarf dieses Engagement immer wieder auch der Ermutigung.
3. Der Christ als Politiker
Diese politische Nächstenliebe kann für christliche Laien ihre spezifische Berufung für die
Welt darstellen. „Wer dazu geeignet ist oder sich dazu ausbilden kann, soll sich darauf vorbereiten, den schweren, aber zugleich ehrenvollen Beruf des Politikers auszuüben, und sich diesem Beruf unter Hintansetzung des eigenen Vorteils und materiellen Gewinns widmen. Sittlich integer und klug zugleich, soll er angehen gegen alles Unrecht und jeder Unterdrückung,
gegen Willkürherrschaft und Intoleranz eines einzelnen oder einer politischen Partei. Redlich
und gerecht, voll Liebe und politischen Muts soll er sich dem Wohl aller widmen“ (Gaudium
et spes Nr. 75). Es waren katholische Politiker wie Robert Schuman, Alicide de Gasperi und
Konrad Adenauer, die in einem solchen Geist wie ihn später das Konzil beschrieben hat, nach
den Schrecken des zweiten Weltkrieges in der Europäischen Union einen Weg der Versöhnung und der Zusammenarbeit einschlugen, der Europa dauerhaft von der Geißel des Krieges
befreien sollte.
Weil ein Politiker eine hohe Verantwortung für das Wohl seiner Mitmenschen hat und die
Politik ein eigenständiger Kultursachbereich mit Eigengesetzlichkeiten ist, lautet die erste
Verpflichtung der Christen in der Politik, sich die notwendige Sachkenntnis anzueignen.14
Häufig kann man nicht alle Gebiete der Politik zugleich überblicken. Man kann sich aber auf
einigen wenigen Bereichen eine hohe Kompetenz erwerben. Zweitens ist ein christlicher Politiker gefordert, bei politischen Entscheidungen immer auch nach der ethischen Dimension der
jeweiligen Entscheidung zu fragen und sich um die rechte Hierarchie der Werte zu bemühen.
Dabei gibt es im demokratischen Staat immer auch andere Auffassungen, so dass man sich
zumal in Koalitionsregierungen immer um Kompromisse bemühen muss. Dabei stehen Politiker häufiger vor schwierigen Güterabwägungen. Manchmal kann man auch von zwei Übeln
13
Vgl. Gerhard Kruip, Die Kompetenz der Kirche für die Politik - aus theologisch-sozialethischer Sicht, in: Joachim Wiemeyer u.a. (Hg.) Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, S. 112- 126, bes. 120ff.
14
Vgl. Franz-Josef Stegmann, Die katholische Kirche in der Sozialgeschichte, München-Wien 1983, S. 149.
9
nur das geringe wählen. Diese Kompromisssuche und Güterabwägungen dürfen von denjenigen, die nicht selbst bereit sind, sich in die schwierigen und komplexen Entscheidungsprozesse eines demokratischen Staates zu begeben, nicht von außen im Sinne einer „reinen Lehre“
kritisiert werden.15 Die Welt ist nach dem Sündenfall und vor dem Ausstehen der Vollendung
des „Reiches Gottes“ von Unzulänglichkeiten und Grenzen geprägt, die Güterabwägungen
und Kompromisse unausweichlich machen.
Gelegentlich stellen sich in der Politik grundlegende ethische Wertentscheidungen: Wenn im
deutschen Bundestag Abstimmungen stattfinden, die z.B. Fragen der Abtreibung oder embryonale Stammzellenforschung betreffen, gilt nicht die Fraktionsdisziplin, sondern die Abstimmung ist von den Parteien und Fraktionen freigegeben, so dass alle Abgeordneten nach
ihrem Gewissen abstimmen können. Das kirchliche Lehramt16 erwartet von katholischen Abgeordneten, dass diese bei ihrem Stimmverhalten in solchen Fragen sich an der kirchlichen
Moral- und Soziallehre orientieren. Um schlimmere Übel zu verhindern, dürfen Katholiken
auch gesetzlichen Regelungen zustimmen, die lediglich eine „Schadensbegrenzung“ darstellen. Dabei haben sie aber den Kompromisscharakter ausdrücklich herauszustellen und zu verdeutlichen, dass sie eigentlich eine andere Lösung anstreben, die besser christlichen Werten
entspricht.
Das Engagement in der Politik stellt, je höher man eine Stellung erreicht, desto mehr, eine
Versuchung dar. Je öfter man Hauptredner in Veranstaltungen ist, die Menschen Beifall spenden oder gar zujubeln, je häufiger man sich in Presse, Rundfunk und Fernsehen präsentieren
kann, desto stärker besteht die Gefahr, dass man unter Selbstüberschätzung leidet, den Kontakt für das Lebensgefühl der Bevölkerung verliert oder aber auch den Versuchungen des Besitzes politischer Macht erliegt. Erforderlich ist, dass ein Politiker Mitarbeiter hat, die jederzeit kritische Positionen vortragen können. Er darf sich nicht mit Schmeichlern und Jasagern
umgeben. Ebenso benötigen sie Personen außerhalb der Politik, Familienangehörige und
Freunde, die kritische Rückmeldungen geben. Weiterhin darf der gesamte Tagesablauf eines
Politikers nicht allein durch die Hetze von Termin zu Termin bestimmt sein. Vielmehr benötigt ein Politiker selbst auch Zeiten zur Besinnung und Selbstreflexion. Die christliche Tradition mit regelmäßigen Gebets- und Gottesdienstzeiten, Meditationen usw. liefert dafür gute
Hilfen.
Zu den Versuchungen der Macht gehört auch, diese Macht zum eigenen Vorteil zu missbrauchen. Dies kann dadurch geschehen, dass man sich selbst oder Familienangehörige illegal
bereichert. Auch von Parteimitgliedern und Freunden werden nach Erringung der Macht hohe
Erwartungen herangetragen, sie zum Beispiel bei der Vergabe von Positionen im Staatsdienst
oder bei der Vergabe öffentlicher Aufträge zu begünstigen.
Zur Demokratie gehört der Meinungsstreit zwischen verschiedenen politischen Strömungen.
„Politik ist institutionalisierter Streit“17, weil die konkreten Inhalte des Gemeinwohls nicht
feststehen, sondern erst in der demokratischen Auseinandersetzung gefunden werden müssen.
Dabei ist wichtig, von welcher Grundhaltung her politische Konkurrenten in der Demokratie
behandelt werden. Sind dies Feinde, die man mit allen Mitteln zu bekämpfen hat, oder sind
dies gleichermaßen wie man selbst um das Gemeinwohl engagierte Mitbürger, deren Vorstellungen man bloß für weniger geeignet hält, die Probleme des Gemeinwesens zu lösen, als die
eigenen? Die Christliche Sozialethik tritt einem Freund-Feind-Verhältnis und einer moralischen Diskreditierung des politischen Gegners entgegen.
15
Vgl. Franz Grave, a.a.O., S. 113.
Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben v. 24.11.2002.
17
Werner Remmers, a.a.O., S. 3.
16
10
Die in der christlichen Tradition vermittelten klassischen Kardinaltugenden18 können für Politiker im demokratischen Rechtsstaat in folgender Weise aktualisiert und konkretisiert werden:
1. Die Tugend der Klugheit19 fordert vom Politiker zunächst, sich in den jeweiligen politischen Sachverhalten das hinreichende Fachwissen anzueignen. In komplexen Zusammenhängen und laufenden Änderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse die richtigen Entscheidungen zu treffen, erfordert ein hohes Maß an Klugheit. Es verlangt auch, nicht wegen
eines kurzfristigen politischen Vorteils ethische Normen aufs Spiel zu setzen, statt ihnen
Geltung zu verschaffen. Bei der Durchsetzung seiner Ziele soll der Politiker besonnen vorgehen und sie nicht mit Brachialgewalt durchsetzen. Ein kluges Vorgehen kann etwa bedeuten, dass man schrittweise und mit kleinen Schritten vorgeht, um die Politik in die richtige Richtung zu lenken statt etwa eine Alternative des „Alles oder Nichts“ anzusteuern.
2. Die Tugend der Tapferkeit kann im heutigen politischen Geschehen für einen Politiker bedeuten, dass er für bestimmte inhaltliche Positionen, die er im Interesse des Gemeinwohls
für unverzichtbar hält, auch dann eintritt, wenn sie im aktuellen Meinungsklima nicht populär sind. Tapferkeit bedeutet dann zu solchen grundlegenden Überzeugungen zu stehen
und für diese zu kämpfen, anderen seine Auffassung nahezubringen und intensiv dafür zu
werben, statt kurzfristigen Popularitätstendenzen nachzugeben und sich jeweils den aktuellen Umfragewerten der schwankenden öffentlichen Meinung anzupassen. Dies kann im Extremfall bedeuten, dass man z.B. eine Wahl verliert, und eine ausreichende Zahl von Wählern erst bei der nächsten Wahl in vier oder fünf Jahren von der Richtigkeit der eigenen Position überzeugt werden kann. Tapferkeit20 ist kein blinder Heroismus, sondern setzt Nüchternheit und Sachlichkeit voraus. Tapferkeit führt zur Zivilcourage, Konfliktfähigkeit und
Durchsetzungsvermögen.
3. Die Tugend des Maßes bedeutet im politischen Kampf21, sich nicht aller Mittel der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner zu bedienen, sondern deutlich zu machen, weshalb er dessen Ziele und vorgeschlagene Mittel für verfehlt hält und die eigenen Ideen besser geeignet sind, das Wohl der Gemeinschaft zu fördern. Dies bedeutet auch, dass man
nicht gute Vorschläge der politischen Konkurrenz allein deshalb ablehnt, weil sie von dort
kommen. Die Tugend des Maßes fördert auch die Kompromissbereitschaft.
4. Die Tugend der Gerechtigkeit fordert vom Politiker, nicht allein die eigenen Interessen
oder die Interessen seiner Partei und ihrer Anhänger zu verfolgen, sondern zu fragen, ob es
berechtigte Interessen anderer gibt, die nicht gut organisiert sind (Arbeitslose), die heute
noch keine Stimme haben (nachfolgende Generationen) usw. Auch deren berechtigte Interessen sind bei politischen Entscheidungsprozessen zu berücksichtigen, selbst wenn sie
nicht mit Lautstärke vorgetragen werden.
Eine weitere, für den politischen Bereich zentrale Ergänzung der vier Kardinaltugenden ist
hinzuzufügen, die Tugend der Wahrhaftigkeit.22 Sie fordert vom Politiker, die Bürger richtig
zu informieren und sie nicht über seine wahren Absichten, Fakten usw. zu täuschen. Für eine
Demokratie ist zentral, dass die Bürger den gewählten Repräsentanten vertrauen können. Dies
18
Vgl. zu politischen Tugenden: Bernhard Sutor, Politische Ethik, Paderborn 1991, S. 68ff., Franz Furger,
Christliche Werte und Normen in der Politik, in: Anton Rauscher (Hg.) Christ und Politik, Köln 1989, S. 36-66
sowie Karl Jüsten, a.a.O., S. 298ff.
19
Vgl. zur politischen Klugheit auch: Hans Langendörfer, „Seid klug wie die Schlangen“ (Mt 10,16) Zur Aktualität einer kardinalen Tugend in der Politik, in: Susanna Schmidt/ Michael Wedell (Hg.) „Um der Freiheit willen
..!“ Kirche und Staat im 21. Jahrhundert, Freiburg 2002, S. 115-121.
20
Vgl. Sutor, S, 78f.
21
Vgl. ebenda S. 83f.
22
Vgl. dazu: Philipp Schmitz, Wohin treibt die Politik? Über die Notwendigkeit von Ethik, Freiburg, Basel,
Wien 1993, S. 185ff.
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erfordert, dass sie von den Politikern sachgerecht informiert und nicht bewusst getäuscht werden. Offenheit und Transparenz sind für den demokratischen Staat unverzichtbar. Es gibt natürlich Situationen, wo es für das Gemeinwesen schädlich wäre, eine Absicht frühzeitig zu
benennen. (z.B. von der Änderung des Wechselkurses einer Währung könnten nur Spekulanten profitieren). Deshalb können Politiker nicht jederzeit verpflichtet werden, „alles zu sagen,
was sie wissen und beabsichtigen.“23
Diese Tugenden stellen an Politiker hohe moralische Anforderungen. Genauso wie im wirtschaftlichen Wettbewerb die Moral der Marktteilnehmer sinken kann, wenn ein aggressiver
Wettbewerb rücksichtsloser Unternehmer, diejenigen Unternehmer mit höherem ethischen
Bewusstsein zur Anpassung zwingen kann, kann dies auch für den politischen Wettbewerb
gelten. Der ethisch bewusste Politiker hat dann den Eindruck, er habe im Ringen um die
Macht im Staat keine Erfolgschance, wenn er sich an hohe moralische Standards hält. Ob dies
tatsächlich der Fall ist, hängt zum einen davon ab, wie die Wähler Politiker beurteilen und ihr
Verhalten durch ihre Stimmabgabe bewerten. Wenn Wähler gerne getäuscht werden wollen,
hat ein Politiker der die Tugend der Wahrhaftigkeit vertritt, wenig Chancen. Dies gilt ebenfalls, wenn Wähler nur ihre kurzfristigen Eigeninteressen verfolgen und Politiker in Wahlen
abstrafen, die auch die im Namen der Gerechtigkeit auch Interessen benachteiligter Gruppen
sowie nachfolgender Generationen vertreten. Insofern gibt es eine Wechselwirkung der moralischen Standards der Wähler und der von ihnen gewählten Politiker.
Auf diese Bedingungen wirkt sich auch die „Öffentliche Meinung“ aus. Es spielt daher eine
wichtige Rolle, welche moralischen Standards durch die Medien transportiert werden. Gibt es
kritische Journalisten, die sich selbst sachkundig gemacht haben, und damit in der Lage sind,
Politiker entsprechend kritisch zu befragen. Werden Verstöße gegen die Wahrhaftigkeit in den
Medien angeprangert und entsprechend unglaubwürdig gewordene Politiker sanktioniert?
Oder wird der überzogene Konflikt der Politiker zur Unterhaltung des Publikums forciert, so
dass der Streit zum Selbstzweck wird und nicht mehr dazu dient, die richtigen Lösungen herauszufinden?
Auf solche Standards der politischen Kultur eines Landes können auch die verfasste Kirche
wie christliche Vereinigungen und Verbände Einfluss nehmen, wenn sie sich nicht zu den
konkreten tagespolitischen Inhalten der Politik äußern, aber in der Gesellschaft und der Öffentlichkeit für eine politische Kultur werben und versuchen, Wähler und mediale Öffentlichkeit auf die Standards der öffentlichen Auseinandersetzung hinzuweisen, die für eine funktionierende Demokratie unverzichtbar sind.
IV. Das gesellschaftliche Engagement von Christen in freien Vereinigungen
1. Die Bedeutung der Zivilgesellschaft für eine demokratische Gesellschaft
Dem Subsidiaritätsprinzip (Quadragesimo anno Nr. 79) der kirchlichen Sozialverkündigung
entspricht es, dass sich die Bürger eines Staates zu freien Vereinigungen zusammenschließen.
In diesen freien Vereinigungen können sie selbst bestimmen, wie sie ihre gemeinschaftlichen
Angelegenheiten regeln. Indem solche freien Vereinigungen in der Regel demokratisch strukturiert sind, werden hier auch für das politische System wichtige demokratische Verhaltensweisen eingeübt. Menschen können in solchen Organisationen ihre politischen Fähigkeiten
entdecken bzw. erlernen. Solche freien Vereinigungen können Leistungen für die Gesellschaft
erbringen und somit auch die staatliche Tätigkeit entlasten.
23
Sutor, a.a., S. 102.
12
Bei freien Vereinigungen muss man zunächst zwischen dauerhaften Vereinen und Verbänden
und Bürgerinitiativen unterscheiden. Letzte haben häufig spezifische Ziele, die kurzfristig
angestrebt werden und nach Erreichung der Ziele (z.B. Verhinderung einer Ansiedlung einer
Mülldeponie) lösen sie sich wieder auf. Vereine und Verbände lassen sich nach ihren Aufgabenbereichen unterteilen:
Verbände des Wirtschaftslebens (Gewerkschaften, Unternehmer-, Bauern- und Verbraucherverbände)
Verbände von Kultur und Wissenschaft
Verbände im Sozialbereich, zum einen die sozialpolitische Interessen vertreten (Rentner,
Behinderte, sowie Verbände, die Sozialleistungen bereitstellen, etwa das Rote Kreuz, Caritas).
Verbände der Freizeitgestaltung, etwa im Bereich des Sportes
Verbände der gesellschaftspolitischen Einflussnahme: Dies sind Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, Antikorruptionskampganen wie Transparency international, Umweltorganisationen wie Greenpeace, Dritte Welt-Organisationen wie Ärzte ohne
Grenzen, Globalisierungskritiker wie ATTAC.
Solche Verbände erbringen durch ihre Tätigkeit eigene Leistungen, die gesellschaftlich wertvoll sind. Zum anderen nehmen solche Verbände auch Einflüsse auf das Wertbewusstsein der
Gesellschaftsmitglieder und die politische Willensbildung.
2. Christliche zivilgesellschaftliche Organisationen und Christen in zivilgesellschaftlichen Organisationen
Aus der Sicht der Christlichen Sozialethik ist das Engagement von Christen in solchen Organisationen zu begrüßen.24 Für die Beteiligung von Christen an solchen Organisationen gelten
die Maßstäbe, die oben bereits für politische Parteien genannt wurden. Durch die eingebrachte
Zeit, vor allem durch unbezahlte Arbeit in Organisationen sowie ihre finanziellen Beiträge
leisten Mitglieder einen wichtigen Dienst für die Gesellschaft.
Da der normale Bürger einer Erwerbsarbeit nachgeht, in der Regel Verpflichtungen gegenüber
Familie und Angehörigen hat, auch Zeit für Entspannung und Muße notwendig ist, handelt es
sich bei der Frage nach gesellschaftlichem Engagement auch um die verantwortungsvolle Nutzung der eigenen Zeit. Verfehlt wäre es, wenn der Einzelne seine Familie vernachlässigt und
voll im gesellschaftlichen Engagement aufgeht. Daher kann der einzelne Mensch nicht eine
Vielzahl von gesellschaftlichen und politischen Aktivitäten leisten. Dabei hat jeder zu prüfen,
worin die eigenen Fähigkeiten und Neigungen liegen, die man in unterschiedlichen Bereichen
einbringen kann (Paul VI., Octogesima adveniens, Nr. 50). Neben der Fehlhaltung der Überforderung oder Verzettelung in eine Vielzahl von Aktivitäten, gibt es aber auch die Problematik, wenn jemand, der nicht durch berufliche und familiäre Verpflichtungen voll beansprucht
wird, sondern ausreichend Freizeit und finanzielle Mittel hat, sich in keinem Bereich - weder
durch regelmäßigen Einsatz, noch durch finanzielle Beiträge - engagiert. Die Nutzung umfangreicher Freizeit und von finanziellen Mitteln allein für den privaten Konsum widerstreitet
einer christlichen Grundhaltung, die eine aktive Beteiligung am Gemeinschaftsleben fordert.
Wenn Christen ein Anliegen sehen, welches in der Gesellschaft noch nicht vertreten ist, können sie eigene christliche Organisationen bilden. Dies ist besonders dort sinnvoll, wo z.B. in
einer Gesellschaft umfangreiche Berufsorganisationen (Unternehmer, Ärzte, Juristen, Ingeni24
Vgl. Andrzej Zwollinski, Katolik i Polityka, Krakow 1999, S. 164 (Diesen Hinweis verdanke ich meinem Mitarbeiter Marcin Morawski).
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eure, Lehrer, Soldaten usw.) bestehen, die aber kein eigenes normatives Profil aufweisen. Indem sich dann spezielle christliche Teilgruppen herausbilden, können sie die mit ihrer Berufsgruppe besonders relevanten ethischen Fragen untereinander diskutieren und nach den Lösungsvorschlägen fragen, die mit den Grundprinzipien christlicher Ethik konform gehen. So
gibt es im medizinischen Bereich wegen der immer größeren Vielfalt neuer technischer Möglichkeiten immer wieder auch neue ethische Herausforderungen, z.B. in der Feststellung des
Todes bei einer Organentnahme. Ähnliches gilt für Unternehmer, wo man immer wieder neu
darüber nachdenken muss, welche Verhaltensweisen im Wettbewerb als sittlich annehmbar
gelten und welche nicht. Ingenieure müssen sich nach der ethischen Dimension der von Großtechnologien ausgehenden Risiken fragen. Die Rechtsordnung einer Gesellschaft hat nicht nur
den Charakter funktionaler Regelungen (etwa für einen reibungslosen Straßenverkehr), sondern wirft auch immer wieder grundlegende ethische Fragen der Gerechtigkeit auf. Wenn Soldaten sich im Auslandseinsatz befinden, liegen Fragen etwa des Umgangs mit gegnerischen
Soldaten, mit der Zivilbevölkerung anderer Kulturen usw. auf der Hand. Ebenso ist die Ausbildung in Schulen nicht nur rein funktionell, sondern es ist auch immer nach den Inhalten
und Zielen der Erziehung zu fragen. Für solche Fragen könnte sich die Bildung christlicher
Organisationen anbieten.
3. Ethische Probleme einer Organisationsgesellschaft
Moderne Gesellschaften sind durch eine heterogene Vielfalt von Organisationen gekennzeichnet. Die Fülle solcher Organisationen ist Ausdruck der Selbstorganisation der Gesellschaft. In
ihnen wird auch das soziale Kapital25 einer Gesellschaft gebildet und gepflegt. Gesellschaften,
die nicht durch eine größere Anzahl freiwilliger Organisationen gekennzeichnet sind, weisen
häufig einen geringen sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft und eine geringe gesellschaftliche Problemlösungsfähigkeit auf. Ein geringer sozialer Zusammenhalt zeigt sich etwa durch
hohes Ausmaß abweichenden Verhaltens (z.B. hohe Kriminalitätsraten). Auch werden Probleme nicht durch Selbstorganisation der Bürger aufgegriffen, sondern man wartet auf ein Handeln politischer Instanzen. Wenn hingegen in Organisationen der Bürgergesellschaft das soziale Kapital der Gesellschaft gepflegt und regelmäßig aktiviert wird, wird der soziale Zusammenhalt der Gesellschaft gefördert.
Da der Kommunismus autonome zivilgesellschaftliche Organisationen unterbunden hat und
die von unten sich entwickelnden gesellschaftlichen Initiativen der Bürger längere Zeit in Anspruch nehmen, sind in den Transformationsländern Mittel- und Osteuropas die Strukturen der
Zivilgesellschaft auch mehr als 10 Jahre nach Ende des Kommunismus noch nicht voll ausgeprägt. Christliche Organisationen, die gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen und
Christen auch auf politische Ämter vorbereiten, könnten hier eine wichtige Rolle einnehmen.
Neben solchen positiven Elementen eines breiten Spektrums der gesellschaftlichen Organisation darf aber nicht übersehen werden, dass nicht alle gesellschaftlichen Probleme und gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen organisierbar sind und nicht alle organisierten Gruppen
gleichermaßen Einfluss ausüben können.26 Häufig gewinnen kleine, aber sehr gut organisierte
Gruppen einen erheblichen Einfluss und können ihre Position gut absichern. Die Organisationsfähigkeit von Gruppen hängt erstens davon ab, ob es Personen gibt, die aus latenten Gruppen aktive Gruppen machen. Es bedarf dazu Initiatoren, die eine Organisationsbildung vorantreiben. Eine solche Organisationsbildung ist dann erfolgversprechend, wenn sie sich an klare
25
Vgl. Sachverständigengruppe „Weltwirtschaft und Sozialethik“ Das soziale Kapital – Ein Baustein im Kampf
gegen Armut von Gesellschaften, hrsg. v. der Wissenschaftlichen Arbeitsgruppe für weltkirchliche Aufgaben der
Deutsche Bischofskonferenz, Bonn 2000.
26
Grundlegend für die Organisationsmöglichkeit unterschiedlicher Gruppen: Mancur Olson Jr., Die Logik kollektiven Handelns, Tübingen 1968.
14
Zielgruppen wendet und weiß, wen man ansprechen muss. Dabei entstehen dann relativ homogene Gruppen, die gemeinsam Interessen vorbringen können. Ein Problem von Interessengruppen ist, dass häufig auch Personen von den Erfolgen einer Interessengruppe profitieren,
die selbst dieser Gruppe nicht angehören. So können z.B. nicht nur Gewerkschaftsmitglieder,
die Beiträge aufgebracht, Arbeitskämpfe vorbereitet und durchgeführt haben, sondern auch
passive Nichtgewerkschaftsmitglieder von erkämpften Lohnanhebungen profitieren. Wenn
sich Gruppen organisieren, die gerechte Anliegen vorbringen und sich dazu legitimer Mittel
bedienen, sollte man als Christ sich dem solidarischen Einsatz nicht entziehen und darauf
setzten, dass andere für einen selbst Vorteile durchsetzen, sondern sich solidarisch beteiligen.
Wie versuchen nun Interessensverbände im politischen Prozess Einfluss auszuüben? Erstens
können sie es dadurch unternehmen, dass sie versuchen ihre Mitglieder zu einem einheitlichen
Stimmverhalten bei Wahlen zu bewegen. Wenn eine Partei einen großen Teil ihrer Stimmen
einem Interessenverband verdankt, wird sie diesem zur Unterstützung verpflichtet sein. Verbände können ebenfalls versuchen, Führungspersonen aus ihrer Verbandsarbeit auch in die
Politik zu bringen, so dass sie nicht nur ihrer Partei, sondern ihrem Verband verpflichtet sind.
Kleine Gruppen können dabei durchaus einflussreich werden, wenn z.B. zwar nur 5% der Abgeordneten sich einer Berufsgruppe verbunden fühlen, aber im zuständigen Fachausschuss des
Parlaments die Mehrheit bilden (z.B. Landwirte) oder den verantwortlichen Minister stellen.
Weiter können Verbände ihre Anliegen in der Öffentlichkeit als Gemeinwohlanliegen zu
verbreiten und dafür die öffentliche Meinung zu gewinnen versuchen. Problematische Formen
der Einflussnahme sind, wenn finanzstarke Verbände ihnen nahestehende Parteien oder Politiker, z.B. für Wahlkämpfe fördern. Einflussreich sind auch Verbände, die ein gesellschaftliches Drohpotential haben, indem sie Leistungen der Gesellschaft entziehen können. So können z.B. Unternehmen Kapital und Arbeitsplätze ins Ausland verlagern, Arbeitnehmer streiken.
Auf der anderen Seite gibt es aber Gruppen, die nicht oder nur schlecht organisierbar sind,
bzw. als organisierte Gruppen nur geringen Einfluss ausüben können. Bei schlechtorganisierten Gruppen kann es sich durchaus um Personen handeln, die einem erheblichen Druck ausgesetzt sind oder eine erhebliche Benachteiligung erleiden. Diese Gruppen werden als „die vergessenen Gruppen - die schweigend leiden“27 bezeichnet. Es können Gruppen sein, denen finanzielle Ressourcen und Initiatoren für eine Organisationsbildung fehlen. Dies können z.B.
Langzeitarbeitslose und Sozialhilfeempfänger sein.
Ebenso schlecht organisierbar sind Gemeinwohlanliegen, die fast alle Bürger eines Staates
betreffen. Solche Gemeinwohlanliegen sind etwa die Interessen der Sparer an stabilen Preisen,
die Interessen der Steuerzahler nach einem sorgfältigen Umgang mit ihren Steuermitteln, Interessen der Konsumenten an guten Produktinformationen und sicheren Gütern usw.
Diese Strukturdefizite der Organisationsgesellschaft stellen einen Ansatzpunkt für christliches
Engagement dar. Erstens können sich Christen besonders bei der Organisation benachteiligter
Gruppen in der Gesellschaft engagieren. Wenn solche Gruppen trotz Hilfe nicht organisationsfähig oder selbst bei einer Organisation nicht hinreichend durchsetzungsfähig sind, können
sich Christen zweitens stellvertretend für solche berechtigte Anliegen einsetzen. Ebenso bilden drittens die schlecht organisierbaren Gemeinwohlanliegen einen Anknüpfungspunkt für
christliches Weltengagement.
4. Zur ethischen Problematik der Durchsetzung von Interessen
Verbänden und Bürgerinitiativen stehen im demokratischen Rechtsstaat ein umfangreiches
Instrumentarium legaler politischer Mittel zur Verfügung. Manchen Interessengruppen gelingt
27
Vgl. ebenda S. 160.
15
es aber nicht, ihre politischen Zielvorstellungen auf legalem Wege durchzusetzen. Manche
rufen dann zum Widerstand auf und bedienen sich dann rechtswidriger, häufig gewaltsamer
Mittel. Innerhalb eines demokratischen Rechtsstaates sind solche Mittel entschieden abzulehnen, weil eine Minderheit von Bürgern kein Recht hat, der Mehrheit ihren Willen aufzuzwingen. Dies hat daher eher diktatorischen Charakter.
Nur in einer Diktatur ist bewaffneter Widerstand erlaubt, wenn gleichzeitig fünf Bedingungen
erfüllt sind: (1) dass nach sicherem Wissen Grundrechte schwerwiegend und andauernd verletzt werden; (2) dass alle anderen Hilfsmittel erschöpft sind; (3) dass dadurch nicht noch
schlimmere Unordnung entsteht; (4) dass begründete Aussicht auf Erfolg besteht und (5) dass
vernünftigerweise keine besseren Lösungen abzusehen sind (Katechismus Nr. 2243).
Im demokratischen Staat stellt der „Zivile Ungehorsam“28 einen Grenzfall dar. Es ist wie der
Widerstand eine rechtswidrige Handlung. Diejenigen, die Aktionen „Zivilen Ungehorsams“
planen, tun dies aber nicht in grundsätzlicher Opposition zum demokratischen Rechtsstaat.
Vielmehr unternehmen sie ihre Handlungen in der Öffentlichkeit und sind bereit, sich für diese Handlungen auch bestrafen zu lassen. Mit dieser Handlungsweise wollen sie demonstrieren, dass sie eine gewissensbestimmte Handlung vollziehen und auf dem Boden der Verfassung stehen. Sie wollen, dass die Regierung bzw. politische Mehrheiten die Einsicht gewinnen, dass die Grundwerte der Verfassung eigentlich ein anderes politisches Verhalten erfordern.
Das traditionelle Beispiel für ethisch legitimen zivilen Ungehorsam war die Bürgerrechtsbewegung der amerikanischen Schwarzen. In den 50er Jahren gab es in den Südstaaten der USA
viele Vorschriften (Rassentrennung in Bussen, Schulen, Hochschulen und anderen öffentlichen Gebäuden), die den Grundwerten der gleichen Würde aller Menschen der amerikanischen Verfassung widersprachen. Indem man solche, zwar von der weißen Mehrheit der Bundesstaaten demokratisch beschlossenen, aber ungerechten Gesetze übertrat, ohne andere zu
schädigen, sich dann dafür bestrafen ließ, wollten die Mitglieder der Bürgerrechtsbewegung
an das Gewissen der Mehrheit appellieren. Durch ihre Gewaltlosigkeit demonstrierte die von
dem protestantischen Pastor, Martin Luther King, geführte Bewegung den moralischen
Grundgehalt ihres Protestes. Dieser hatte letztlich Erfolg, weil die öffentliche Meinung in den
USA die moralische Legitimation der Protestbewegung anerkannte. Weil sich auch in demokratischen Staaten Ungerechtigkeiten halten oder neu entstehen können, hat „Ziviler Ungehorsam“ eine paradoxe Wirkung: Einerseits verletzt er die demokratisch beschlossene aktuelle
Rechtsordnung. Wenn er aber zur Korrektur ungerechter Regelungen beiträgt, stabilisiert er
damit insgesamt eine demokratische Ordnung, indem ihre Mängel beseitigt werden.
In Deutschland werden Aktionen „Zivilen Ungehorsams“ von christlichen Gruppen und einzelnen katholischen wie evangelischen Kirchengemeinden im Rahmen des sogenanntes „Kirchenasyls“29 praktiziert. Wenn Ausländer, z.B. nach einem abgewiesenen Asylantrag, von
einer Abschiebung ins Ausland bedroht sind, und ihnen dort nach Überzeugung ihrer Helfer,
Verfolgung droht, nehmen sie diese in Kirchenräumen auf, um sie vor einer Abschiebung zu
schützen. Von der Polizei wird die Aufnahme in kirchlichen Räumen respektiert, so dass die
Menschen nicht in einer Polizeiaktion in der Kirche verhaftet werden. Vielmehr wird nach
einer Problemlösung gesucht, z.B. indem Asylgesuche erneut überprüft werden oder aber es
28
Vgl. dazu John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1979, S. 399ff. sowie Kurt Remele,
Ziviler Ungehorsam. Eine Untersuchung aus der Sicht christlicher Sozialethik, Münster 1992.
29
Vgl. dazu Joachim Wiemeyer, Kirche als Asylbewegung?, in: Reinhard Göllner (Hrsg.): Das Christentum und
die Weltreligionen, Münster 2000, S. 103-126. Zum „Kirchenasyl auch: Kommission XIV (Migration) der deutschen Bischofskonferenz, Hilfe und Schutz bedrohter Menschen im Einzelfall, Bonn 1998.
16
wird nach Wegen gesucht, dass die betroffenen Personen in ein anderes Land (z.B. klassische
Einwanderungsländer wie USA, Kanada, Australien) weiterwandern können.
Da „Ziviler Ungehorsam“ immer mit einem Rechtsverstoß verbunden ist, müssen diejenigen,
die einen solchen Verstoß auf sich nehmen, immer eine sorgfältige Gewissensprüfung vornehmen, ob das von ihnen bemerkte Unrecht eindeutig ist und die angestrebte Überschreitung
der Rechtsordnung rechtfertigt. Sie dürfen sich nur der Mittel bedienen, die erforderlich sind,
ihr Anliegen in der Öffentlichkeit hinreichend präsent zu machen ohne dabei andere zu schädigen. Auch müssen sie bereit sein, die Folge hinzunehmen, nämlich, die für den Rechtsbruch
vorgesehene Bestrafung. Sie dürfen sich nicht der Strafe entziehen. Daher kann dieses Mittel
immer nur in besonderen Ausnahmefällen eingesetzt werden.
V. Schlussfolgerung
Demokratische Gesellschaften sind auf das politische Engagement möglichst vieler Staatsbürger angewiesen. Indem sich Christen im öffentlichen Leben engagieren, nehmen sie eine Verpflichtung wahr, die sich aus ihrem Glauben ergibt. Johannes XXIII. mahnte die Christen „sie
möchten sich für Wahrnehmung der öffentlichen Aufgaben bereitwillig zur Verfügung stellen
und mitwirken, das Wohl der gesamten Menschheit und des eignen Staates zu fördern“ (Pacem in terris Nr. 146). Das Handeln in der Politik widerspricht somit nicht einer christlichen
Lebensführung. Vielmehr gibt es eine Reihe „politischer Heiliger“. So hat Papst Johannes
Paul II., Thomas Morus zum Patron der Politiker erklärt.
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