Der Staatsdiener Autor(en): Salvioni, Sergio Objekttyp: Postface Zeitschrift: Du : die Zeitschrift der Kultur Band (Jahr): 56 (1996) Heft 4: Bedienung, bitte! : Trägikomödien eines Verlusts PDF erstellt am: 02.04.2016 Nutzungsbedingungen Die ETH-Bibliothek ist Anbieterin der digitalisierten Zeitschriften. Sie besitzt keine Urheberrechte an den Inhalten der Zeitschriften. Die Rechte liegen in der Regel bei den Herausgebern. Die auf der Plattform e-periodica veröffentlichten Dokumente stehen für nicht-kommerzielle Zwecke in Lehre und Forschung sowie für die private Nutzung frei zur Verfügung. Einzelne Dateien oder Ausdrucke aus diesem Angebot können zusammen mit diesen Nutzungsbedingungen und den korrekten Herkunftsbezeichnungen weitergegeben werden. Das Veröffentlichen von Bildern in Print- und Online-Publikationen ist nur mit vorheriger Genehmigung der Rechteinhaber erlaubt. 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Schon Ari¬ wählt, die von den Parteien vorgeschla¬ stoteles, der die Konsequenzen aus einer langen Debatte und aus gen werden. Die Parteien werden von einer jahrhundertealten Erfahrung zog, rückte die Politik in die Di¬ der mension des Möglichen und definierte sie als praktische Aktivität, ie eidgenössischen Gesetzgebung nicht offiziell anerkannt, und - soviel die - im Gegensatz zur Theorie - auf keinerlei unumstösslichen ich weiss - auch nicht von den meisten Gesetzgebungen der Kan¬ Wahrheiten bemht. Der Volksmund, der die Politik als die Kunst tone und Gemeinden. Die Beziehung der Abgeordneten zu ihren des Parteien ist nicht gesetzlich, sondern von vertraglichen Abkom¬ genau, auch wenn er Gefahr läuft zu verflachen bei einer Politik, die eng mit Kompromissen um ihrer selbst willen verwoben ist men privaten Charakters geregelt. Die Bundesverfassung sieht in Artikel 91 allerdings vor, dass die Mitglieder beider Räte ohne In¬ struktionen stimmen, was sie der Einhaltung jeglicher privater Ab- DER Möglichen bezeichnet, vermittelt diesen Gedanken ziemlich und von kleinkarierten Interessen getragen wird. Wenn man aber die notwendigen Unterscheidungen macht, lässt sich in der Poli¬ tik auch ein höheres Interesse ausmachen, nämlich jenes, STAATSDIENER das dar¬ ordneten stehen, könnte damit als rhetorisch erscheinen. Aber so auf ausgerichtet ist, bestimmte Werte zu bewahren, oder eine Po¬ litik, die mindestens in diese Richtung zielt. Um nochmals zu Aristoteles zurückzukehren : Eine hohe Politik ist jene, die ihr prag¬ ist es nicht. matisches Vorgehen Die Antwort, die einem spontan einfällt, wäre: im Dienste des Volkes. Aber diese Antwort besagt nichts. Wer ist das Volk? Die misse Mehrheit, nach den demokratischen Spielregeln, oder auch die Dschungel der Interessen und ihren unvermeidlichen Divergen¬ Minderheiten? Welches sind seine Interessen? Mit dieser Formel zen einen Weg einschlagen, der den Partikularinteressen Rech¬ lassen sich praktisch alle politischen Stossrichtungen stützen. ein einfaches Beispiel zu nennen: Es gibt Leute, die sagen, man nung trägt und sie dem Gemeinwohl unterordnet. Das ist nicht leicht und auch nicht risikofrei. Der fähige und verantwortungs- müsse die Situation der Armen dadurch verbessern, dass man die bewusste Politiker, so hat uns Machiavelli gelehrt, ist jener, der Reichen weniger besteuert; diese würden dann mehr Geld ausge¬ ben können, den Konsum ankurbeln und dadurch das Bruttoso¬ gleichzeitig Löwe und Fuchs sein kann. Und der glaubwürdige machungen entbindet. Die Frage, in wessen Diensten die Abge¬ Um zialprodukt erhöhen. Ihnen stehen jene gegenüber, die sagen, man müsse die Steuern für die Reichen erhöhen, damit der Staat seine Ausgaben - vor allem jene sozialer Art - decken könne, ohne sich allzustark zu verschulden. Dann gibt Ansicht sind, es wieder jene, die der - und damit ihre unvermeidbaren Kompro¬ - dem allgemeinen Interesse oder dem Gemeinwohl unter¬ ordnet. Je fähiger ein Politiker ist, desto besser kann er im Po¬ litiker ist jener, der nicht auf Gmnd seiner Partikularinteressen handelt, sondern - um einen schönen Ausdmck Rawls zu ge¬ brauchen - mit einem Schleier der Unwissenheit. Es versteht sich, dass solch allgemeine Feststellungen nach¬ vollziehbar und auch überzeugend wirken, wenn sie eben allge¬ fahr erhöht werden können, und jene, die dagegen halten, dass die mein bleiben; sie sind aber weniger überzeugend, wenn sie in einer Wirklichkeit wie der unseren gemacht werden und in dieser öffentliche Schuld innerhalb des darauffolgenden Jahres amorti¬ - die dass die Schulden der siert werden müsse (wie es öffentlichen Hand ohne Ge¬ die Bundesverfassung in Artikel 42bis vorsieht). Und so weiter. Also: Wer vertritt die wahren Interessen ihrerseits aus der komplexen und mühevollen Geschichte des Entstehens unserer westlichen ging liberalen Demokratie hervor¬ - in spezifische Aussagen umgemünzt werden müssen. des Volkes? Welches sind die Interessen des Volkes? Da die wirt¬ In unserer offenen Gesellschaft, um eine Definition von Karl schaftlichen Theorien auf dem Sand unvorhersehbarer Ereignisse R. Popper zu verwenden, füsst das demokratische politische Sy¬ gebaut sind, können alle recht haben und niemand. Deshalb stem nicht auf einer absoluten Wahrheit (um so mehr als alle wis¬ stützt sich der Abgeordnete auf die grundsätzlichen Programm¬ senschaftlich fundierten Wahrheiten nur solche sind, wenn sie ver¬ punkte seiner Partei, die sich ihrerseits nach der einen oder andern fälschbar und folglich durchgehend sind im Verlauf einer ökonomischen Doktrin richtet. Forschung, die kein Ende hat). In Wirklichkeit ist also das demo¬ Auf keinen Fall kann sich der Abgeordnete allzuweit von den kratische System in Gefahr, in der Substanz zu einem System Programmen seiner Partei entfernen, denn wenn er wiedergewählt werden will, muss er aufdie Mitglieder seiner politischen Gmppe formaler Prozeduren zu werden, die den Auftrag haben, die Be¬ achtung der Spielregeln zu garantieren; sie sollen ein Zusammen¬ zählen können. Die Konsequenz ist klar: Die Kandidaten werden leben erlauben, bei dem die Bürger ihre Probleme ohne Gewalt¬ von den Parteien unter jenen Personen ausgesucht, die ganz be¬ stimmte Kreise vertreten, in denen sich Stimmen sammeln lassen. anwendung lösen, in dem sie den Gebrauch der Gewalt nur dem Wer gewählt wird, muss irgendwie die Erwartungen jener Kreise halten; ein System, in dem die Parteien kein anderes Ziel haben, er¬ Staat zugestehen und nur gegen jene, die sich nicht an die Regeln füllen, die ihn gewählt haben. Weshalb der Abgeordnete sehr oft als das System eine beschränkte politische Klientel bedient und sich nicht immer wachsen - zu verewigen und über die anderen hinauszu¬ mit andern Worten, das Mittel (die demokratische in ei¬ satorischen Fortschritt der Gesellschaft und einer Verbessemng der ner Demokratie alle Parteien das Gemeinwohl zum Ziel haben; da aber die Wahrheit die Tendenz hat, aus dem Vokabular der Politiker Lebensbedingungen der Bürger auf längere Sicht beitragen will, ris¬ kiert auf fatale Weise, am Rande des politischen Lebens zu bleiben. Struktur) wird das Ziel. Generell könnte man annehmen, dass Es entsteht also eine zu verschwinden, wird für jede Bewegung das Überleben der heuti¬ gen Gesellschaft und - nach Möglichkeit - die Verbessemng der ma¬ teriellen Lebensbedingungen zum Zweck ihrer Existenz. Abgesehen Kluft zwischen der pragmatischen Politik kurzfristigen Aushandelns von unmittelbaren Interessen und einer Politik, die eine Vision der Gesellschaft und ihrer Entwick¬ des sich die Gesellschaft in Zukunft entwickeln sollte, noch über die Mit¬ lung verfolgt. Wem nützt letztere? Meines Erachtens besteht der fundamentale Unterschied zwischen der einen und der andern Po¬ tel, um diese Evolution anzustreben; jede Gmppe oder Bewegung litik im Gewicht, das man der Zukunft beimisst, im Horizont, den An sich der Politiker steckt, indem er über die Probleme entscheidet, diesem Punkt muss man sich die Frage stellen: Riskiert es das demo¬ die ihm unterbreitet werden. Der Politiker, der sich nur oder vor¬ kratische System, zu einem Apparat zu werden, der nur für sein genes Überleben arbeitet, eine Art nutzlose Maschine von Tinguély? wiegend um die unmittelbaren Probleme kümmert, kümmert sich dabei unausweichlich gleichzeitig um die Gunst der Wähler und Hauptziel politischer Aktion ist, die Präsenz einer den Konsens mit seiner Partei; diese Vermischung lässt ihn schliess¬ Gmppe zu stärken und zu verewigen, ist der Abgeordnete zur Na¬ belschau verdammt, ohne je die Augen zum Horizont zu richten. lich den Blick für den wirklichen Zweck der Politik verlieren, näm¬ von Ralf Dahrendorf anknüpfend, len. Um die Sache noch komplizierter zu machen, treten Lobbies könnte man sagen, auch eine Gesellschaft müsse die Quadratur des Kreises schaffen, indem sie gleichzeitig für ihre Mitglieder, für auf, welche die Parteien finanzieren: Bei uns hält sich dieses Phä¬ davon gibt weder einen Konsens über die Stossrichtung, in der es setzt sich andere Ziele, die oft untereinander unvereinbar sind. Wenn es das An den letzten Essay ei¬ lich für die Kunst, die für die Gesellschaft besten Entscheide zu fäl¬ die Freiheit, für den Wohlstand und für den sozialen Zusammen¬ nomen noch in Grenzen, weil die grossen Unternehmen nicht be¬ reit sind, Geld in die Politik zu stecken. Aber anderswo ist das an¬ halt arbeitet. Aber dies ist eine fast unmögliche Übung, da jedes ders: In den USA wird man dieses Jahr beim dieser Ziele mit den anderen in Konflikt steht. Alexis de Tocqueville hat auf prophetische Weise die Gefahr gesehen, dass wir uns in Richtung einer «unermesslichen, bevor¬ Kampf um die Präsidentschaft schätzungsweise total 600 Millionen Dollar inve¬ stieren, die bei den Anhängern der verschiedenen Kandidaten sammelt werden. Es versteht sich, dass der ge¬ einmal gewählte Kan¬ Jean Guéhenno hat das Ende der Nationen und der Demokratie didat sich seinen Anhängern gegenüber auf handfeste Weise erkenntlich zeigen muss. In diesem Fall steht der Politiker eindeu¬ vorausgesehen, das Entstehen einer diffusen Macht auf planetari¬ tig im Dienste der Lobbies, so sehr sogar, mundenden Macht» sowie eines weichen Despotismus bewegen; scher Ebene mit anderen Charakteristiken als der heutigen, vor¬ wiegend auf den neuen Informatiktechnologien basierend. Aber dass der Politologe Mich¬ Lind feststellt: «Unser System ist eines, das dank der Reichen eine Regiemng der Reichen für die Reichen garantiert.» ael das ändert nichts daran, dass ohne die Wiederbelebung von allge¬ Ich bin der Ansicht, dass heutzutage derjenige ein glaubwürdi¬ Politiker ist, der die Schwierigkeiten und Widersprüche der Ge¬ mein anerkannten Werten (die neuen Bürgerrechte, die Rechte der ger zukünftigen Generationen) und ohne ihre Verankerung in einem System, das als Ziel füngiert, sich die Krise verschärft und unab¬ der genwart angeht, indem er sich um die zukünftige Gestaltung Gesellschaft kümmert und dabei die unglaubliche Beschleuni¬ wendbar wird. Planeten Erde gung der Technologie und die Gefahren für den mitberücksichtigt; einer, der sich über ein Projekt kundig macht Die Frage, die wir uns zu Beginn stellten, bleibt deshalb aktu¬ ell: Wem dient der Politiker? Für jene, die mit den Stimmen einer ganz bestimmten Kategorie von Menschen vorgeschlagen und ge¬ wählt wurden (Gewerkschaften, Wirtschaftsorganisationen), ist das Problem relativ einfach: Sie müssen die Interessen ihrer Kreise wahren, um nicht vom politischen Markt zu verschwinden. Wenn sie beim Verfolgen dieses Ziels auch die Interessen der übrigen Mit¬ nur, um ihre sie dass nur die In¬ Vorschläge durchzusetzen), kann man sagen, teressen ihrer Kreise vertreten. Angesichts der übrigen im Parla¬ glieder der Gesellschaft berücksichtigen (und sei es - mit oft sehr divergierenden Inter¬ essen über die aktuellen Ziele - wird man zu einem Kompromiss ment vertretenen Kategorien kommen, bei dem man das mögliche tut, um alle einigermassen zufriedenzustellen, mit dem Idar ersichtlichen Risiko allerdings, dass dadurch auf mittlere und lange Sicht nicht die Interessen der Gemeinschaft gewahrt werden; anders ausgedrückt hätte man also statt eines Parlamentes eine Kammer der Korporationen. Wer keine spezifischen Wirtschaftsinteressen verfolgt, aber zum zivili¬ und den zukünftigen Generationen die notwendige Aufmerk¬ samkeit schenkt, auch wenn diese heute nicht zu seinen aktuellen Wählern gehören. Um die eingangs gestellte Frage zu beantworten: Da der Politi¬ ker «ohne Instruktionen» agiert, findet sich die Antwort in den Taten des Politikers, in seiner Weltanschauung; er kann auf eitle Art (eigenen oder fremden) kleinkrämerischen Interessen oder aussch¬ liesslich dem Ideal der Verewigung der formalen Staatsregeln die¬ nen (die zwar garantiert werden müssen, aber nicht Selbstzweck werden dürfen), oder er kann versuchen, die Zukunft vorzuberei¬ ten. Es ist Idar, wem meine Sympathie gilt. Auf gar keinen Fall darf der Politiker ein «Diener zweier Hercen» sein, eines fingierten, öf¬ fentlichen und eines geheimen, wirklichen Herrn, weil er damit Sergio Salvioni sich selber und seine Wähler betrügen würde. ¦ Sergio Salvioni, geboren 1927, hat 1951 an der Universität Bern in Rechtswissenschaft promoviert. Er war von 1971 bis 1983 Mitglied des Gran Consiglio ticinese, von 1983 bis 1991 National-, und von 1991 bis 1995 Ständerat. Führt seit 1953 ein Advokats¬ und Notariatsbüro in Locamo.