Der moderne Nationalstaat als Lösung und Problem

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Jost Halfmann
Der moderne Nationalstaat als Lösung und Problem der Inklusion in das politische System
(Beitrag zu dem Band Schmalz-Bruns/Hellmann (Hg.), Niklas Luhmanns "Die Politik der
Gesellschaft", Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002)
1. Einleitung
"Die Politik der Gesellschaft" von Niklas Luhmann enthält nur wenige und zudem sehr skizzenhafte Ausführungen zum modernen Nationalstaat (vgl. Luhmann 2000, S. 210ff.). In diesen Passagen kommt es Luhmann im wesentlichen darauf an zu zeigen, welche Änderungen
sich am Staat durch das Präfix "National" ergeben. Neu am Nationalstaat sei die Idee des
Gemeinwohls. "Vom Staat wird jetzt verlangt, daß er für eine lebenswerte Ordnung in seinem
Staatsgebiet sorgt.... Die Formel, die am Ende des 18. und vor allem im 19. Jahrhundert die
Schärfe dieses Dilemmas verdeckt und sie gleichsam auf ein Ersatzziel hin ablenkt, heißt 'Nation'" (Luhmann 2000, S. 209f.). Die Orientierung der Politik am Gemeinwohl setzt voraus,
dass der Staat weiss, wer mit "Gemein" und was mit "Wohl" gemeint ist. Das erste Problem
wurde durch die Erfindung der Nation (vgl. Anderson 1988) gelöst, deren ethnische, linguistische oder kontraktuelle Fundierungskonstruktionen erlaubten, zwischen der dem Staat zugehörigen und nicht-zugehörigen Bevölkerung zu unterscheiden und der zugehörigen Bevölkerung die Idee einer Schicksalsgemeinschaft zuzumuten. Das zweite Problem wurde in Abgrenzung von konkurrierenden ständischen Machtansprüchen und durch Rückgriff auf naturrechtliche und rationalistische Postulate der Aufklärung angegangen. Der Staat schrieb sich
die Aufgabe zu, das Glück und die Wohlfahrt seiner Untertanen bzw. Bürger zu fördern (zur
Entstehung dieser staatlichen Selbstwahrnehmung im aufgeklärten Absolutismus vgl. Grimm
1988, S. 49ff.).
Nation und Wohlfahrt haben den Staat in eine Position manövriert, die aber nur vordergründig
der aufklärerischen und speziell der Hegelschen Beschreibung ähnelte: nämlich ein Gegengewicht zur Unruhe der Gesellschaft zu schaffen und die in der Gesellschaft ständig aufkommenden Konflikte und Ansprüche zu regeln. Tatsächlich ist es dem Staat primär nur gelungen,
die Gewaltnähe der meisten "innenpolitischen" sozialen Konflikte zu entschärfen; "aussenpolitisch" hingegen haben die Intensität und Häufigkeit von Kriegen seit der Entstehung von Nationalstaaten enorm zugenommen (vgl. Wright 1965; Tilly 1992, S. 165f.). Ob der moderne
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Staat zur Glückssteigerung beigetragen hat, obwohl er standesspezifische Beschränkungen
des ”pursuit of happiness” abgeschafft hat, kann mit guten Gründen bestritten werden (Argumente dafür bei Hirschman 1991). Und die Wohlfahrtsstaatspolitik war von Anfang ein "mixed blessing", da sie nicht nur mit Repression und Kontrolle (vgl. Swaan 1993), sondern auch
mit der Erzeugung neuer sozialer Ungleichheiten verbunden war (vgl. Halfmann/Bommes
1998).
Die mit funktionaler Differenzierung einhergehenden Selbstbezüglichkeiten sozialer Systeme
haben den Staat mit der Frage konfrontiert, wie er mit den ihm zur Verfügung stehenden, aber
nicht von ihm selbst generierbaren Mitteln (Geld, Recht) Organisationen und Personen zur
Partizipation an staatlich gesetzten Gemeinwohlzielen bringen kann. Angesichts der Unlösbarkeit der sozialen Probleme der Gesellschaft erreicht der Staat allenfalls, so Luhmann, dass
ihre Lösbarkeit simuliert wird (aktuelles Beispiel: Reduktion der Arbeitslosigkeit, vgl. Luhmann 2000, S. 216, 247). Dies klingt nicht gerade so, als ob Luhmann den modernen Nationalstaat für die gelungenste Errungenschaft der sozialen Evolution gehalten habe und ihm
eine unbefristete Überlebensgarantie ausstellen wolle. Die Persistenz des Nationalstaates bis
in das 20. Jahrhundert führt er letztlich darauf zurück, dass sich für die Bearbeitung der historischen und regionalen Besonderheiten politischen Entscheidens in der Weltgesellschaft keine
Alternative zu Nationalstaaten anbietet (so in allgemeinerer Form Luhmann 1995a, S. 573).
Charles Tilly hatte aber mit Blick auf die Europäische Union festgestellt, dass "states as we
know them will not last forever, and may soon lose their incredible hegemony" (Tilly 1992:
4). Man ist also genötigt zu fragen, welche andere Organisation für die "Lösbarkeit des Unlösbaren" einstehen soll und welche Implikationen das mögliche Fehlen einer Alternative zum
Nationalstaat für das Problem der Inklusion in die sozialen Systeme der modernen Gesellschaft haben könnte.
Aus politikwissenschaftlicher Perspektive mag deshalb Luhmanns sparsame Beachtung des
Nationalstaates, zumal der Funktion von Demokratie für dessen Identität verwundern, verwendet die Politikwissenschaft doch in den Sparten "Innenpolitik" und "comparative politics"
einen Grossteil ihrer Forschungsressourcen auf diese Themen. Aber Luhmann hat sein Buch
nicht "Die Politik der Politik" oder gar "Politik und Gesellschaft", sondern "Die Politik der
Gesellschaft" genannt, um die Besonderheiten der Politik als Funktionssystem, ihre Funktion
für die Gesellschaft und die Gleichheiten der Politik mit anderen Funktionssystemen herauszustellen. Ihm kam es also auf die gesellschaftstheoretische Einordnung der Politik, eben auf
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die strikte Abkehr von jeglicher Tradition der Gleichsetzung (im Sinne der antiken polis-Vorstellung), aber auch der Kontrastierung von Politik und Gesellschaft oder (Zivil)Gesellschaft
und (National)Staat (im Sinne des 19. Jahrhunderts) an.
Die Luhmannsche Gesellschaftstheorie geht von funktionaler Differenzierung als Primärdifferenzierung der modernen Gesellschaft aus. Die evolutionäre Besonderheit, aber auch Riskanz
der modernen Gesellschaft beruht auf der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen, die
exklusiv auf basale gesellschaftliche Probleme wie die Befriedigung zukünftiger Bedürfnisse
(Wirtschaft) oder transzendenter Sinnstiftung (Religion) konzentriert sind (vgl. Luhmann
1997, S. 706ff.). Riskant ist funktionale Differenzierung wegen ihres Redundanzverzichts:
Recht wird nicht mehr auch noch in Haushalten, sondern nur noch in Gerichten gesprochen.
Die Spezifizierung der Funktion geht mit Universalität der Zuständigkeit einher: Alles kann
mit einem Preis versehen werden, aber die Wirtschaft ist nur noch für Ressourcenallokation
zuständig. Zu diesen basalen Aufgaben gehört auch kollektiv bindendes Entscheiden, für das
das politische System alleinige Kompetenz beansprucht und das seit der Entstehung des Territorialprinzips im 15. Jahrhundert und des Nationalprinzips im 17./18. Jahrhundert in Form
staatlicher Organisation betrieben wird. Seither ist das politische System der Weltgesellschaft
flächendeckend segmentär in Nationalstaaten differenziert. Als Folge funktionaler Differenzierung können der moderne Staat nicht mehr als Instanz der Integration der Gesellschaft und
das politische System nicht mehr als Repräsentant der Einheit der Gesellschaft begriffen werden. Luhmann hat sich zwar durchaus zu dem Verhältnis von Staat und politischem System
(z.B. Luhmann 1987 a) und zu Fragen der Demokratie (z.B. Luhmann 1987 b) geäussert. Er
hat dies aber nicht mit Blick auf mögliche prekäre Bestandsvoraussetzungen kollektiv bindenden Entscheidens durch nationalstaatliche Organisation getan (s. jedoch die Skepsis über
die Zukunft des Nationalstaates in Luhmann 1995d). Zu der wichtigsten Bedingung funktionierenden Entscheidens im politischen System gehört gelingende Inklusion, also ausreichende
politische Bindung der Bevölkerung.
Es erscheint deshalb lohnenswert, die politikwissenschaftliche Fokussierung auf den Nationalstaat unter Verwendung der Luhmannschen Theoriemittel aufzugreifen, um mit Blick auf
post- und supranationalstaatliche Organisationsentwicklungen Strukturprobleme der Inklusion
in das politische System zu thematisieren, die zu kritischen Imbalancen einer funktional diffe-
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renzierten Gesellschaft führen können.1 Denn wegen des Redundanzverzichts der funktionalen Differenzierung ziehen Leistungsschwächen des einen Funktionssystems Strukturprobleme anderer Funktionssysteme nach sich. "In funktional differenzierten Gesellschaften gilt ...:
das System mit der höchsten Versagensquote dominiert, weil der Ausfall von spezifischen
Funktionsbedingungen nirgendwo kompensiert werden kann und überall zu gravierenden Anpassungen zwingt. Je unwahrscheinlicher die Leistung, je voraussetzungsvoller die Errungenschaften, desto größer ist auch das gesamtgesellschaftliche Ausfallrisiko" (Luhmann 1997, S.
769). Eine nachhaltige Schwächung der Inklusionsleistung des politischen Systems hätte Folgen für die Funktion der Politik. Die Bindewirkung kollektiv wirksamer Entscheidungen
hängt von ausreichender Motivierung der betroffenen Individuen (aber auch aller Organisationen auf einem Territorium) ab, diese Entscheidungen tatsächlich zu befolgen.
Die Stützung dieses Bindungseffekt wurde den Nations- und Demokratieideen zugemutet, die
das politisch zusammengeschlossene Kollektiv zugleich als Schicksalsgemeinschaft und als
Souverän stilisierten.2 In der Nation sollte das Volk den Staat konstituieren, eine Idee, die erst
mit der Durchsetzung von Demokratie an Plausibilität gewann. Mit der Schliessung des politischen Systems werden Individuen und Organisationen in die "zivilgesellschaftliche" Umwelt
der Politik verwiesen. Verfassung und Grundrechte legitimieren diese Trennung, und das
Prinzip politischer Repräsentation garantiert, dass die ”Zivilgesellschaft” nicht selber die
staatlichen Organisationen usurpiert (Luhmann 2000, S. 213f.). Die Gewinne an Leistungsfähigkeit des politischen Systems durch die Platzierung der Quellen der "Unruhe" in seine Umwelt werden durch eine verstärkte Abhängigkeit der Politik von der Bindewirkung ihrer Entscheidungen erkauft. Damit manövriert sich der moderne Staat in eine prekäre Konstellation,
da dessen Entscheidungswirkungen von der Bereitschaft zur Loyalität der Bevölkerung abhängen, die nicht mehr (wie bei den auf persönlichen Abhängigkeiten beruhenden Herr1
Dies erlaubt zugleich, besser die empirische Triftigkeit der Luhmannschen Theorie zu testen und an die empirische Sozialwissenschaft anschlussfähige Kriterien für das Funktionieren oder Nicht-Funktionieren von sozialsystemischer Autopoiesis zu entwickeln. Für das Problem der Inklusion in das politische System würde dies die
Frage einschliessen, wie viel Inklusion das politische System “braucht”, um sich selbst fortsetzen zu können.
Dieser Beitrag versteht sich auch als Versuch, am Beispiel von Inklusion in das politische System einige Überlegungen zum Problem der empirischen Operationalisierbarkeit der systemtheoretischen Begrifflichkeit vorzustellen (zu den Problemen einer Verbindung von systemtheoretischer Analyse von Politik und Empirie vgl. die
Hinweise bei Grunow 1994, S. 27).
2
Anders als in “fundierungstheoretischen” Ansätzen (vgl. Habermas 1996) wird hier nicht davon ausgegangen,
dass Demokratie und Nation Formeln der “Selbstbegründung einer politischen Gemeinschaft” (Offe 1998, S.
101) waren oder sind. Sie werden vielmehr als semantische Fiktionen behandelt, die einmal erfunden sich im
Nachhinein als temporär funktionierende Deutungsangebote für die Motivierung von Loyalität gegenüber dem
Staat herausgestellt haben (vgl. dazu Halfmann 1998b). Ein solcher Blick erlaubt besser zu verstehen, warum
und wann solche “Fundierungsmythen” ihre Wirkung verlieren, das politische System mit wachsender Indiffe-
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schaftsformen) direkt eingefordert werden kann. Dass diese Achillesferse auch nicht durch die
enormen Kontroll- und Gewaltandrohungskapazitäten des modernen Staates, sondern nur
durch Verweis auf die Legitimität politischer ”Herrschaft” kompensiert werden kann, hat die
Soziologie von Weber (Weber 1964, S. 700ff.) bis Giddens (Giddens 1985) immer wieder notiert. Wenn der Zusammenhang von Inklusion und kollektiv bindender Entscheidung sich
lockert oder auflöst, kann dies nicht ohne Folgen für die nationalstaatliche Organisation von
Politik bleiben.3
Ich werde zunächst skizzieren, inwiefern der moderne Staat einen doppelten Bezug auf Inklusion hat: Inklusion in das politische System und Vermittlung von Inklusion in alle anderen
Funktionssysteme (2.). Die Unwahrscheinlichkeit einer Ordnung, die Inklusion und Inklusionsvermittlung auf national-territorialer Basis zustande bringen will, wird deutlich, wenn einerseits für Organisationen in Wirtschaft, Bildung oder Recht nationale Markierungen ihrer
Inklusionsverfahren immer weniger eine Rolle spielen und andererseits die Bedeutung staatlicher Inklusion und Inklusionsvermittlung für die Selbstbeschreibung von Individuen abzunehmen beginnt (3.). Am Ende werden einige spekulative Überlegungen zu den Folgen der
Erosion nationalstaatlicher Organisation von Inklusion für die moderne Gesellschaft angestellt
(4.).
2. National- und Wohlfahrtsstaat: Inklusion und Inklusionsvermittlung
Luhmann ordnet die Probleme des Nationalstaates in die Theorie funktionaler Differenzierung
ein. Mit der Umstellung von stratifikatorischer auf funktionale Differenzierung bilden sich
nicht nur Funktionssysteme aus, darunter auch das politische System, das eine eigenständige
Gestalt erst mit der Entstehung des territorialen Staates gewinnt. Auch die Individuen gewinnen Individualität (im Sinne der Zurechnung von Entscheidungsfreiheit auf Personen) erst mit
der modernen Gesellschaft, die sie in ein neues Verhältnis zur Gesellschaft zwingt. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft unter Bedingungen funktionaler Differenzierung
lässt sich mit dem Begriff der Inklusion fassen. Inklusion ist der Mechanismus, der für Funk-
renz beobachtet und Bindungsbereitschaft gegenüber staatlichen Entscheidungen allmählich stärker von deren
Effektivität statt von ihrer blossen “Hoheitlichkeit” abhängig gemacht wird.
3
Wie der Zusammenbruch der DDR zeigt, in der die Inklusion des Publikums durch Stellvertretung und Mobilisierung auf die Dauer nicht die Abnahmebereitschaft für politische Entscheidungen des Staates garantieren konnte, folgte aber immer noch auf das Ende des einen (“would be”)-Nationalstaates der Anschluss an einen anderen
Nationalstaat, aber nicht eine irgendwie geartete postnationale politische Inklusionsform.
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tions- und Organisationssysteme Individuen als Personen unter den systemspezifischen Gesichtspunkten, die durch Kommunikationsmedien und Codes bzw. Mitgliedschaftsregeln bestimmt sind, identifizierbar und adressierbar macht.4 Inklusion ist andererseits für Individuen
das Verfahren, das über Rollenakquisition Zugriff auf die kommunikativen Ressourcen sozialer Systeme ermöglicht und so das Deutungsmaterial für den Aufbau einer über Inklusionskarrieren bestimmten Persönlichkeit bereit stellt. "Der Begriff der Inklusion meint die Einbeziehung der Gesamtbevölkerung in die Leistungen der einzelnen gesellschaftlichen Funktionssysteme. Er betrifft einerseits Zugang zu diesen Leistungen, andererseits Abhängigkeit der
individuellen Lebensführung von ihnen" (Luhmann 1981, S. 25). Exklusion ist im Gegenzug
die Bezeichnung von Individuen, die als Personen für soziale Systeme nicht in Frage kommen
bzw. die blockierte Chance, Sinnressourcen sozialer Systeme für die Entwicklung biografischer Identität zu verwenden. Da soziale Systeme Inklusion immer nur unter systemspezifischen Perspektiven offerieren, ist Inklusion in der einen Hinsicht immer mit Exklusion in anderen Hinsichten verbunden. Die Inklusion in das Wirtschaftssystem als ein System von Zahlungen sieht ab von Erwartungen an gleiche und gerechte Verteilung von Reichtümern. Exklusion heisst also Mitteilung der Irrelevanz von Teilnahmeerwartungen durch soziale Systeme, durch die Individuen in ihren sozialen Teilnahmemöglichkeiten eingeschränkt werden.
2.1 Inklusion in das politische System
Inklusion in die Politik heisst für die Individuen zunächst Betroffenheit von kollektiv bindenden Entscheidungen, aber auch Nicht-Ausschliessbarkeit von den Leistungen, die aus kollektiv bindenden Entscheidungen folgen – also Betroffenheit von der Steuerpflicht, aber NichtAusschliessbarkeit von der Gewährleistung öffentlicher Sicherheit. Besonders nachhaltige
Folgen für die Inklusion von Individuen hatte die Ko-Evolution eines ausdifferenzierten politischen Funktionssystems mit der Entstehung von Nationalstaaten. Dies führte dazu, dass Inklusion in das politische System nur durch die Vermittlung von Staaten möglich war und ist.
Inklusion in das politische System führte aber durchaus nicht zur Inklusion (im Sinne von
Mitgliedschaft) in die staatliche Organisation. Im Gegenteil: Mitgliedschaft in den staatlichen
Organisationen blieb den Amtsträgern vorbehalten. Für die durch die Staatsentstehung sich
bildende Bevölkerung war die Rolle des Publikums reserviert, die zwei Artikulationsmöglichkeiten offerierte: exit (Verzicht auf Ausübung dieser Rolle) oder voice (Artikulation von An4
Es gibt trotz der klärenden Darstellung von Göbel und Schmidt (1998) keine systematischen Gründen dafür,
warum der Inklusionsbegriff nicht auf Funktions- und Organisationssysteme gleichermaßen anwendbar sein soll
(vgl. auch Nassehi/Nollmann 1997, vor allem Bommes/Tacke 2001). Er meint eben nur im letzteren Fall Mitgliedschaft, aber in beiden Fällen die Art und Weise, wie Individuen als Personen für soziale Systeme relevant
werden (vgl. Luhmann 1995c, S. 241).
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sprüchen, in der Regel in der Form von Protest) (zu dieser Unterscheidung vgl. Hirschman
1970; Stichweh 1988, S. 270f.). Diese Differenz zwischen der Operationsweise des Funktionssystem der Politik und des Organisationssystems des Staates5 wird in den Regeln und Mechanismen der Repräsentation des Publikums bearbeitet, das in die Politik, aber nicht in den
Staat inkludiert ist. Die modernste Variante dieser Teilhabe durch Ausschluss ist Demokratie.
Die Übernahme der für das politische System typischen Publikums- und Leistungsrollen (aktives und passives Wahlrecht) ist eng verknüpft mit der Staatsangehörigkeit. Anders als in den
meisten Funktionssystemen ist der Inklusion in das politische System eine Statuszuschreibung
vorgeschaltet, die die Zugehörigkeit zu einer der segmentären Einheiten des politischen Systems, einem Nationalstaat dokumentiert. Dieser Status wird in der Staatsangehörigkeit ausgedrückt. Staatsangehörigkeit als statusabhängige Inklusion ist mit der Erwartung des Staates
verbunden, von den Individuen bestimmte Gehorsamsleistungen wie die Ableistung des Militärdienstes, die Zahlung von Steuern und das Befolgen von Gesetzen verlangen zu können.
Diese Erwartung kann umso mehr Folgebereitschaft finden, je mehr die durch die Staatsangehörigkeit territorial definierten Individuen als Staatsbürger, also als Individuen mit Rechten
gegenüber dem Staat verstanden werden (zur Differenz von Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft vgl. Grawert 1984; Holz 2001).
Staatsangehörigkeit hat nicht nur für die Inklusion in das politische System eine "Schleusenfunktion". Der askriptive Charakter von Staatsangehörigkeit trägt damit dem Erfordernis der
segmentären Differenzierung des politischen Systems der Weltgesellschaft Rechnung, das
eine Zuordnung von Individuen (und Organisationen) auf Staaten verlangt. In der staatsrechtlichen Literatur wird dieser Sachverhalt unter den Begriffen Permanenz und Exklusivität von
Staatsbürgerschaft notiert, die zu ihrer Unmittelbarkeit hinzutritt (vgl. Grawert 1984). Die
Sicherung von stabiler Zugehörigkeit (Permanenz) wird durch die Zuschreibung der Staatsangehörigkeit als Status gelöst, der durch Geburt und territoriale Zugehörigkeit erworben wird.6
Das Exklusivitätsprinzip reagiert auf die mit der französischen Revolution aufgeworfenen
Spannung zwischen einem menschenrechtlich motivierten Anspruch auf uneingeschränkte
Inklusion in das politische System und der faktischen Beschränkung auf die Zugehörigkeit zu
nur einem Nationalstaat (vgl. Riedel 1975), die zu einer Spaltung von Rechten in den moder5
der genauer nicht als eine einzige Organisation, sondern als Netzwerk von Organisationen zu fassen ist – ein
Aspekt, der für die hier angestellten grundlegenden Überlegungen zur Inklusion nicht von Belang ist.
6
Die Permanenzerwartung ist in den ”Nicht-Einwanderungsländern” immer schon und in den letzten Dekaden
zunehmend durch Immigration gelockert worden – mit Folgen für die Attraktivität der Inklusion in das politische
System (s. dazu unten mehr).
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nen Staatsverfassungen geführt hat: hier Rechte, auf die sich alle Individuen als ‚Menschen’
berufen können; dort Rechte, die nur Individuen als Staatsangehörigen zustehen (vgl. Halfmann 1998a). Das Unmittelbarkeits-Prinzip schließlich zielte auf die Abschaffung aller rechtlichen und politischen Privilegien des Adels, der Grundherren und Städte und bereitete den
Weg für den Inklusionsuniversalismus des politischen Systems. Staatsangehörigkeit ist aber
nicht nur eine Voraussetzung zur Inklusion in das politische System, sie geht auch der Chance
voraus, Laien- und Professionsrollen in anderen Funktionssystemen ausüben zu können.
2.2 Inklusionsvermittlung
Die Umsetzung der Permanenz-, Exklusivitäts- und Unmittelbarkeits-Postulate bereitet den
Weg für die zweite evolutionäre Leistung des modernen Nationalstaates: Inklusionsvermittlung. Der Anspruch territorialer Geltung staatlicher Entscheidungen verbindet sich mit der
Gemeinwohlverpflichtung zu dem ehrgeizigen Programm des modernen Nationalstaates, die
Inklusionschancen der Bevölkerung in möglichst alle Funktionssysteme der Gesellschaft zu
moderieren. Dies galt nicht nur für die Regulierung der Arbeitsbeziehungen in der Industrie,
die von Arbeitsschutzmassnahmen über Arbeitsstundenregelungen bis hin zur Ausgestaltung
der Tarifbeziehungen reichte; dies bezog sich auch auf die allgemeinen Voraussetzungen von
Inklusion in Funktionssysteme wie der Aufbau von Bildungs- oder Gesundheitsinfrastrukturen. Der moderne Nationalstaat ist von Anfang an Wohlfahrtsstaat, seit er mit dem Problem
des physischen und sozialen Verbleibs seiner aus allen ständischen Bezügen freigesetzten Untertanen konfrontiert ist (vgl. Bommes/Halfmann 1994; Halfmann/Bommes 1998). Denn Unabhängigkeit von den konkurrierenden ständischen Gewalten gewinnt der entstehende Nationalstaat gerade dadurch, dass er sich für die Bearbeitung der riskanten Folgen massenhafter
Exklusion der spätständischen Gesellschaft zuständig erklärt. Vor allem in den aufgeklärten
absolutistischen Monarchien des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches bietet der naturrechtliche Humanismus einen Deutungskontext für den staatlichen Anspruch auf Fürsorge
gegenüber den Untertanen.
Das mehr oder weniger erzwungene Interesse von Nationalstaaten an Inklusion, an der Transformation von Vasallen in Untertanen und Staatsbürger erlegte dem Staat Gemeinwohlpflichten auf, die schon in der revolutionären Idee der Staatsbürgergemeinschaft angelegt waren:
nämlich die Armen, Analphabeten und die Vaganten nicht nur instand zu setzen, ihren Staatsbürgerpflichten nachzukommen, sondern sie auch für die Organisationen der sich immer deutlicher absondernden Funktionssysteme inklusionsfähig zu machen. Je stärker sich der Natio8
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nalstaat als Wohlfahrtsstaat ausbildete, desto größer waren die Bestrebungen, die Bevölkerung zu homogenisieren (auch mit Mitteln der erzwungenen Exklusion bestimmter Bevölkerungsgruppen) – in der Sprache, der Bildung, der rechtlichen Betroffenheit und auch der Loyalität gegenüber dem Staat (vgl. Gellner 1991). Angestrebt wurde Inklusionsexklusivität für
Staatsbürger: also die Privilegierung von Staatsbürgern bei der Inklusionsvermittlung in die
nicht-politischen Funktionssysteme (vgl. Halfmann 1998b).
Der Begriff Wohlfahrtsstaat wird so abstrakt verwendet, dass er alle staatlichen Maßnahmen
der Vermittlung von Inklusion und der Vermeidung von Exklusion umfasst. In diesem Sinne
werden sowohl die Repressions- wie die Umverteilungsmaßnahmen als auch die Sozialversicherungs- und öffentlichen Dienstleistungen als wohlfahrtsstaatlich bezeichnet, da sie alle
dem staatlichen Ziel der Formulierung und Sicherung eines gesellschaftlichen ”Gemeinwohls”, d.h. der politischen Regulation der Inklusionsbedingungen anderer sich ausdifferenzierender Funktionssysteme zugeordnet sind (vgl. ähnlich Orszag/Snower 1999, S. 117)7. Mit
der Durchsetzung eines staatlichen Hoheitsanspruchs gegenüber der Bevölkerung im Zuge der
politischen Zerstörung traditionaler Inklusionsformen wird der Staat zur Adresse von Inklusionsansprüchen der Individuen. Die Willkür herrschaftlicher Zwangsmassnahmen transformiert sich allmählich zu einer rechtlich geregelten Sicherung der Ordnungsvoraussetzungen
von Inklusion.
Die effektive Sicherung von Lebenschancen für Staatsbürger wurde zu dem Preis, den der
Staat für seine expansiven Loyalitätserwartungen gegenüber den Staatsbürgern zahlen musste.
Diese Politik verband der Staat mit Leistungserwartungen sich selbst gegenüber, die ihn
zwangsläufig überfordern mussten. Die Orientierung des Wohlfahrtsstaates am "Gemeinwohl" und der kollektive Bindungsanspruch staatlicher Entscheidungen führten schliesslich
zur Illusion der Allzuständigkeit des Staates, die im Sozialismus kulminierte und spektakulär
scheiterte. Die Vielfalt der Materien, für die der Wohlfahrtsstaat Lösungen anbieten soll (Gesundheit, Alter, Arbeitsmarkt, Bildung), spiegelt die Pluralität der Funktionssysteme (vgl.
Luhmann 2000, S. 215f.). Die zunehmende Selbstbezüglichkeit und weltgesellschaftliche
Vernetzung von Funktionssystemen steigert die Ansprüche an den Wohlfahrtsstaat, die "Lösbarkeit unlösbarer Probleme" zu demonstrieren. Dadurch trägt der Wohlfahrtsstaat deutliche
7
Dieser Begriff des Wohlfahrtsstaates nimmt Abstand von einem primär auf die industriellen Beziehungen im
20. Jahrhundert beschränkten Konzept des Wohlfahrtsstaates als Agentur der "Dekommodifizierung" der Arbeitskraft (s. jüngst noch Offe 1999), geht aber auch über Luhmanns Vorschlag hinaus, den Wohlfahrtsstaat über
dessen Prinzip der "Kompensation" von Nachteilen zu erschließen (Luhmann 1981, S. 8).
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Züge utopischer Zukunftsorientierung, die oft zu paradoxen Lösungen der schwer traktierbaren Probleme der Gesellschaft führen. Aber aus der Sicht des politischen Systems ”entspricht
die politische Utopie genau den Erfordernissen eines Funktionssystems, das in einer für es
unkontrollierbaren, überkomplexen gesellschaftsinternen Umwelt operieren muss” (Luhmann
1995d, S. 129). Die Frage ist, ob die Umwelt diese utopische Orientierung noch zu tolerieren
geneigt ist.
3. Die Erosion der nationalstaatlich organisierten Inklusion
Nicht nur die Wohlfahrtsstaatspolitik ist mit zunehmend unlösbaren Aufgaben konfrontiert,
auch die Inklusion in das politische Systeme wird für den Nationalstaat zum Problem, wenn
die Diskrepanz zwischen den territorial basierten Verfahren der Inklusion und Inklusionsvermittlung des politischen Systems und den territoriums-indifferenten Inklusionen in andere
Funktionssysteme zunimmt. Im folgenden sollen drei Symptome der erodierenden nationalstaatlichen Organisation von Inklusion und Inklusionsvermittlung diskutiert werden: die Unterminierung der Bindewirkung von Inklusion durch Migration (3.1) und durch nachlassende
politische Teilhabe (3.2) und von Inklusionsvermittlung durch supranationale Wohlfahrtspolitik (3.3).8 Mit dieser selektiven Symptomatologie wird jedoch noch nicht der Anspruch erhoben, einer systematischen Analyse der Fähigkeit des Nationalstaates zur Gewährleistung von
Inklusion Genüge getan zu haben.
3.1 Migration
Nationalstaaten sahen sich parallel zu ihrem Aufstieg als hegemonialer Form der Konzentration von Macht mit dem Problem konfrontiert, die mit der funktionalen Differenzierung einhergehenden Tendenzen zur Autonomisierung sozialer Systeme territorial einhegen und kontrollieren zu müssen. Das Wirtschaftssystem entwickelte sich nicht zuletzt durch die staatliche
Förderung zu dem Funktionssystem, dessen wachsende Unkontrollierbarkeit die schwersten
Folgen für den Erfolg der staatlichen Leistungen der Inklusionsvermittlung hat. Denn die
Ausdehnung des Inklusionsuniversalismus der Ökonomie über territoriale Grenzen hinaus
ermöglichte nicht nur steigende grenzüberschreitende Transfers von Kapital und Waren, son-
8
Zu dem erweiterbaren Katalog von Leistungsrisiken des politischen Systems gehören auch misslingende, unvollständige oder verfallende staatliche Organisation von kollektiv bindenden Entscheidungen (Somalia, Angola,
das ehemalige Jugoslawien), unvollständige Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols (USA) oder Nichterreichbarkeit eines Teils der Bevölkerung durch den Wohlfahrtsstaat (Luhmanns brasilianische favelas).
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dern auch von Migranten (vgl. Sassen 1988). Gerade die durch wohlfahrtsstaatliche Leistungen erzeugten Wohlfahrtsgefälle zwischen einzelnen Nationalstaaten verstärkten den Anreiz
für grenzüberschreitende Migration, denen staatliche Maßnahmen zur Kontrolle und Begrenzung von Migration auf Dauer nicht standhalten können (vgl. Stichweh 1998).
Die entscheidende Ursache für die Erosion von nationaler Inklusionsexklusivität ist nicht
Migration als solche, sondern Migration mit (staatlicherseits) ungewollten dauerhaften Niederlassungsfolgen. Die Inklusionsexklusivität von Staatsbürgern wurde besonders in den Staaten durch Migration unterminiert, die in der Vergangenheit expansive Wohlfahrtsstaatsprogramme aufgebaut hatten, aber Immigration aus den verschiedensten Gründen förderten oder
nicht abweisen konnten. Für diesen Erosionsprozess ist es gleichgültig, ob Staatsbürgerschaft
über "ius soli"- oder "ius sanguinis"-Prinzipien zugeschrieben wird. Auf jeden Fall führt Migration zu einer Aufweichung der Eindeutigkeit des Zuschreibungsprinzips.
Dieser Sachverhalt soll kurz an zwei Beispielen illustriert werden. In Deutschland - als Staat
mit einer Dominanz von "ius sanguinis"-Prinzipien - wuchsen viele der sog. Gastarbeiter, die
während des Wirtschaftsbooms der fünfziger und sechziger Jahre rekrutiert worden waren, in
sozialrechtliche Anspruchspositionen hinein, die sie auch noch in den siebziger Jahren mit
Unterstützung der Justiz gegenüber staatlichen Plänen einer Rückführung der Migranten in
ihre Heimatländern verteidigen konnten (Joppke 1998). Am Ende stand die weitgehende
rechtliche Gleichstellung aller legal residierenden Personen auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland. In wohlfahrtsstaatlicher Hinsicht zählt also nicht Staatsbürgerschaft,
sondern legaler Wohnsitz (ius domicilii) als Kriterium für den Anspruch auf Inklusionsvermittlung (vgl. Hammar 1989, Halfmann 1997). Frankreich (als "ius soli"-Staat) sah sich mit
einer wachsenden Zahl von Migranten aus den ehemaligen Kolonien (vor allem Nordafrikas)
konfrontiert. Hier versuchte man, die Einreise und damit den Erwerb der Staatsbürgerschaft
für die nachfolgenden Generationen der Migranten aus den ehemaligen Kolonien zu beschränken, und gab damit die bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts verfolgte Politik
der Assimilation der Migranten immer mehr auf (vgl. Wenden 1998). In beiden Fällen kam
es immer wieder zu (mehr oder weniger vergeblichen, oft an rechtlichen Vorbehalten scheiternden) staatlichen Versuchen, die Inklusionsrisiken, die Migranten auf sich nehmen, zu verschärfen, um die Inklusionsexklusivität für die "einheimischen" Staatsbürger zu retten.
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Migration ist aber nicht nur für Migranten, sondern auch für eine bestimmte Tradition der
Selbstbeschreibung des modernen Nationalstaates riskant. Migration enthält für Migranten ein
doppeltes Risiko, wenn man sie als geographische Mobilität mit dem Ziel des Wiedereinschlusses in Funktionssysteme in dem durch den Aufnahmestaat kontrollierten Territorium
begreift (vgl. Bommes 1999). Sie birgt das Risiko des Misslingens des Einschlusses in das
politische System, repräsentiert durch einen Nationalstaat, wie auch in die von Nationalstaaten kontrollierten (wohlfahrtsstaatlichen) Leistungen der Vermittlung in die Organisationen
der nicht-politischen Funktionssysteme. Für Staaten entsteht durch Immigration das Risiko,
die Leistungsfähigkeit als Nationalstaat zu verlieren, die auf der besonderen Inklusions- und
Inklusionsvermittlungsbeziehung zwischen Staatsbürgern und Staat beruht. Diese speziellen
Beziehungen drückten sich in den semantischen, seine kulturelle oder politische Einzigartigkeit betonenden Angeboten des Staates und in den wohlfahrtsstaatlichen Leistungen aus, die
ursprünglich nur den Staatsbürgern vorbehalten waren. Migration zwingt Staaten dazu, auch
Ausländer an den wohlfahrtsstaatlichen Sonderbeziehungen teilhaben zu lassen, ohne von
ihnen die gleiche Abnahmebereitschaft gegenüber staatlichen Entscheidungen wie der als
Nation politisch inkludierten Bevölkerung erwarten zu können.
a. Politische Teilhabe
Politische Teilhabe soll hier als Umgang der Bevölkerung mit der Publikumsrolle der Politik
verstanden werden. Sie dient als Indiz für die Wirkungen der Schliessung des politischen Systems auf dessen Publikum. Die Publikumsrolle in der Politik besteht vor allem in der Teilnahme an Wahlen, in der Mitgliedschaft in Parteien oder im Engagement in Bürgerinitiativen und
sozialen Bewegungen, schliesslich aber auch in dem artikulierten Vertrauen in das politische
Systeme und in den Erwartungen an die Responsivität und Effektivität der Organisationen der
politischen Entscheidungsbildung und -implementation.
Die Entstehung von Parteien im 19. Jahrhundert zeigte die Schliessung des politischen Systems an, denn zum einen sorgten Parteien durch ihre "Ämterpatronage"-Funktion (Weber) für
die Ausbildung der politischen Professionsrollen, zum anderen sozialisierten sie die Staatsbürger in die Rolle des politischen Publikums ein; und schliesslich musste der Staat über Parteien (und andere Kanäle) in der Umwelt des politischen Systems nach Themen suchen, die
sich für politisches Entscheiden eignen (vgl. Lenk/Neumann 1968, und zur deutschen Entwicklung Bergsträsser 1954). Mit der Herausbildung von Parteien differenziert sich aber auch
das politische System intern, das nun neben den Staatsorganisationen auch andere Organisati12
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onen mit Bezug auf kollektiv bindende Entscheidungen aufweist. Seit geraumer Zeit zeichnet
sich ein Funktions- und Bedeutungswandel der politischen Parteien ab (vgl. Beyme 1997, und
für die USA Wattenberg 1984). Spätestens seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts lässt
sich ein säkularer Mitgliederschwund in den politischen Parteien beobachten (vgl. Katz/Mair
1992, Kaase/Newton 1995, S. 40ff.). Als Hauptursache gilt die nachlassende Fähigkeit der
politischen Parteien im 20. Jahrhundert zur Publikumsmobilisierung und –sozialisation. Die
Entwicklung zu "catch-all-Parteien" oder “Volksparteien” (vgl. schon Kirchheimer 1965)
zeigte schon die Abkehr von den parteipolitischen Zuordnungen zu den dominierenden politischen Fragen des 19. Jahrhunderts an, als die Differenz zwischen sozialistischer und liberaler
Wirtschaftsordnung die zentralen politischen "cleavages" begründete (vgl. Luhmann 1995b).
Im Übergang von der "Massenmitgliederpartei" zur "Partei der Berufspolitiker" (vgl. Beyme
1997) schliesslich rücken moderne Parteien von einer Schleusenposition auf der Grenze zwischen politischem System und seiner Umwelt in das politische System selbst ein. Die "Parteiendemokratie" lebt von der weitgehenden Nicht-Unterscheidbarkeit der politischen Parteien, die die Loyalität zu dem politischen Links-Rechts-Schema nur noch symbolisch anzeigen
(Beyme 1997, S. 376, dagegen: Schmidt 1997). Dies beeinflusst jedoch die Bereitschaft der
Wähler, sich mit der Demokratie als Parteiendemokratie zu identifizieren. Nachdem die "Parteien der Berufspolitiker" die "Vermittlerposition" auf der Grenze des politischen Systems
geräumt haben, zeigt sich, dass Parteien nicht mehr die einzigen politischen Organisationen
sind, die Themen für die politische Entscheidungsfindung aufbereiten. Da es für das politische
System nicht nur um die Inklusion von Individuen über die Publikumsrolle, sondern auch um
die Motivierung von Organisationen (wie Gewerkschaften, Unternehmen etc.) zur Abnahme
politischer Entscheidungen geht, treten auch immer mehr Lobbyorganisationen und Interessenverbände als "Transformatoren" von politischen Themen in Konkurrenz zu politischen
Parteien.
Damit werden die Motive der Inklusionsbereitschaft berührt, also der Erwartung, dass Inklusion in das politische System ein relevanter Bestandteil der individuellen Selbstbeschreibung
und Karrierechancen sei. Wenn Parteienidentifikation als Indikator für die biographische Relevanz des politischen Systems genommen wird, dann lässt abnehmende Parteienbindung,
wenn man den Fall Deutschland als Beispiel nimmt, seit den siebziger Jahren auf zunehmende
Indifferenz für Erwartungen an politische Sozialisation durch Parteien schliessen (vgl. Conradt 1980; Falter/Rattinger 1997). Dieser Eindruck wird durch den Anstieg der Wechsel- und
Protestwähler verstärkt, die die Entstehung kleiner Parteien seit den achtziger Jahren ermög13
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licht haben (vgl. Feist/Liepelt 1987; Müller-Rommel/Pridham 1991). Nicht so einfach ist die
Frage zu beantworten, ob sinkende Wahlbeteiligung als Indiz für politische Indifferenz gelten
kann (vgl. für Deutschland Niedermayer 1997, S. 121). Die Funktionsfähigkeit des politischen
Systems kann sicher nicht allein über die Wahlbeteiligung beurteilt werden. Offensichtlich
kann das politische System mit niedrigen Niveaus von Inklusion leben, wie die Wahlbeteiligung in den USA zeigt (vgl. Beyme 1986, S. 146).9 Denn abnehmende Wahlbeteiligung kann
auch Ausdruck eines Lernprozesses des Publikums sein, das nachvollzieht, dass durch Wahlen nicht selber politische Entscheidungen herbeigeführt, sondern bestimmten Personen und
Organisationen Chancen zugeteilt werden, politische Entscheidungen treffen zu können. Niedrige Wahlbeteiligung kann also als Inklusionskompetenz des Publikums verstanden werden,
das in Distanz zu emphatischen Ideen von Nation und Demokratie den Staat als eine funktionierende Organisation wie viele andere auch behandelt. In dieser Hinsicht wird der Staat vor
allem als Verwaltung interpretiert, die mehr oder weniger effektiv verbriefte oder postulierte
Ansprüche auf staatliche Leistungen befriedigt (vgl. Grunow 1996). Aus diesem Blickwinkel
trägt politische Inklusion jedoch nicht mehr zur normativen Bindung des Publikums bei, die
bisher als Stütze einer generalisierten Abnahmebereitschaft gegenüber politischen Entscheidungen für unentbehrlich galt.
Da die Entscheidungen politischer Organisationen sich aber in ihrer kollektiven Bindewirkung von den Entscheidungen anderer Organisationen nachdrücklich unterscheiden, gewinnen
Erwartungen an die Responsivität und Effektivität des Staates einen ungleich höheren Stellenwert für Inklusionsbereitschaft als bisher. Vor diesem Hintergrund artikuliert ein erheblicher Anteil des Publikums geringes Vertrauen in die Fähigkeit des Staates, politische Probleme lösen zu können oder zu wollen (für die USA vgl. Abramson et al. 1994, als Momentaufnahme für Deutschland nach der Vereinigung siehe Hoffmann-Lange 1997). In der Bevölkerung hat sich die Wahrnehmung der Überforderung des Staates mit der Erwartung an Allzuständigkeit als Enttäuschung über staatliche Leistungsschwächen niedergeschlagen. Die
empirischen Befunde der Wahlforschung lassen aber noch keinen eindeutigen Befund über
sinkende Inklusionskraft des politischen Systems zu. Denn die entscheidende Frage ist wohl,
ob nachlassendes politisches Engagement auch mit abnehmender Abnahmebereitschaft gegenüber staatlichen Entscheidungen zusammenhängt. Denn dies würde die zentrale Leistung
des Staates – die Kollektivbindung seiner Entscheidungen zu sichern – berühren. Diese Frage
harrt aber noch einer empirischen Erforschung.
9
Hinzu kommt auch der abnehmende Obligationscharakter von Inklusion über Wahlbeteiligung (Stichweh 1988,
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b. Supranationale Wohlfahrtspolitik
Die Anforderung an den Wohlfahrtsstaat, die zugehörige Bevölkerung mit ausreichend gleichen Chancen für die Inklusion in die diversen Funktionssysteme zu versehen, konnte nur mit
charakteristischen trade-offs gelingen, die bei diffusen Kompaktprogrammen nicht ausbleiben
können. So strebten die Wohlfahrtsstaaten Europas zu Beginn eine Linderung der Massenarmut an: Inklusionsvermittlung ging oft auf Kosten von Inklusion, oder anders formuliert: der
trade-off zwischen Demokratie und Gemeinwohl ging über lange Zeit zu Lasten der politischen Partizipation. Der fortgeschrittene Wohlfahrtsstaat in Europa orientierte sich immer
mehr am Ziel der Gleichheit der Lebensbedingungen. Diese Politik führte zu einem trade-off
zwischen Gleichheit und Beschäftigung, der in den meisten europäischen Staaten zu Lasten
der Vollbeschäftigung ging. Für die Angleichung der Lebensbedingungen der Staatsbürger
steht T.H. Marshalls Konzept der "social rights" (vgl. Marshall 1992). Schien in den fünfziger
und sechziger Jahren im Geiste dieser Programmatik der Sozialpolitik und der keynesianischen, nachfrageorientierter Wirtschaftspolitik das Ziel der dauerhaften und vollständigen Inklusionsvermittlung der Bevölkerung in greifbarer Nähe gerückt zu sein, so wurde mit zunehmender Wiederherstellung der internationalen wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen
nach deren Schrumpfung infolge des 2. Weltkrieges und des Kalten Krieges deutlich, dass
sich das "absolute(s) Recht auf einen bestimmten Kulturstandard" (Marshall 1992, S. 64) von
Nationalstaaten keineswegs für alle gleich und dauerhaft realisieren lässt.
Ein nicht-intendierter Effekt dieser Gleichheitspolitik, speziell unter der Bedingung neokorporatistischer Verhandlungssysteme ist die Spaltung des Arbeitsmarktes in Beschäftigte mit ausgebauten "social rights" und temporär oder befristet Beschäftigten und Arbeitslosen, die die
Leistungen des Wohlfahrtsstaates nur partiell, zeitlich befristet oder als Betroffene minderer
Relevanz erleben. Die harmonische Koexistenz von Vollbeschäftigung und Einkommensnivellierung ist unter Bedingungen ökonomischer Globalisierung und partieller Abkehr von der
Massenproduktion nicht länger aufrecht zu erhalten (vgl. Esping-Andersen 1996a, 1996b).
In diesem historischen Kontext bietet die europäische Integration zwar viele Chancen, Leistungsschwächen der beteiligten Nationalstaaten (in der Sicherheits-, Aussen- oder Geldpolitik) zu kompensieren oder zu kaschieren (vgl. dazu etwa Bredow 2000), sie schränkt aber
auch die Freiheit der Mitgliedsstaaten in Bezug auf Finanzierung und Ausgestaltung ihrer
S. 289).
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Wohlfahrtsstaaten ein. Gerade weil die europäische Integration primär als Marktintegration
angelegt war und noch ist, wird die zukünftig steigende EU-interne Mobilität der Arbeitskräfte zu einer allmählichen Angleichung der Lohnkostenniveaus im EU-Raum führen, zumindest
in Regionen, in denen Arbeitskräfte mit ähnlichen Qualifikationsprofilen nachgefragt werden.
Dies wird zu Anpassungsprozessen der nationalen wohlfahrtsstaatlichen Systeme führen,
wenn man das cream-skimming vermeiden will, dass also Arbeitnehmer (analog zu Investoren) ihr Arbeitsleben in Ländern mit geringer Besteuerung und ihre nachberufliche Lebensphase in Ländern mit großzügiger Alters- und Gesundheitsversorgung verbringen (vgl. Lindbeck 1999, S. 85).
Die Sozialpolitik der Europäischen Union ist zugleich eine Lösung und eine Herausforderung
für die wohlfahrtsstaatlichen Probleme der Mitgliedsstaaten. Sozialpolitik innerhalb der Europäischen Union ist bisher dem Ziel der Marktliberalisierung untergeordnet. Daraus folgte eine
Minimaldefinition von gemeinschaftlicher Sozialpolitik. Im wesentlich hat man sich nur auf
die Beachtung der Gleichstellung von Männern und Frauen an Arbeitsmärkten und einige
Standards im Bereich von Gesundheit und Arbeitssicherheit geeinigt (vgl. Streeck 1995). Dieser Minimalismus bietet eine Chance für solche Regierungen, die den Ausbau des Wohlfahrtsstaates in der Periode geringer Anbindung an den Weltmarkt (Keynesianismus der Nachkriegsepoche) (vgl. Scharpf 1996) rückgängig machen wollen. Sie ist zugleich ein Risiko für
diese Regierungen, da die Wählerklientel der Regierungsparteien gerade aus den Gewinnern
eines ausgebauten Wohlfahrtsstaates besteht. Globalisierung und Europäische Union sind je
für sich ernsthafte Herausforderungen für die auf den Glauben an relative nationalstaatliche
Autonomie aufgebauten Wohlfahrtsstaaten des kontinentalen Modells. Die sich andeutende
Regimekonkurrenz unter den EU-Mitgliedsstaaten, vor allem zwischen den kontinentaleuropäischen Kernstaaten, die auf eine komprehensive, aber subsidiaritätsorientierte Wohlfahrtsstaatspolitik ausgerichtet sind, und England, das sich einer "Residualisierung" des Wohlfahrtsstaates verschrieben hat, wird voraussichtlich eine wichtige Ursache für folgenreiche
Umbauten der nationalen Sozialstaaten sein (vgl. Leibfried 1996, S. 462ff., bes. S. 471f.).
Die Vorschläge für mögliche Reformen des Wohlfahrtsstaates innerhalb der EU und in den
einzelnen Mitgliedsstaaten umfassen in der Regel eine Kombination von drei Maßnahmen:
eine staatlich finanzierte Grundversorgung, eine Pflichtsozialversicherung und private Versorgungs- und Versicherungsmaßnahmen (vgl. Lindbeck 1999, S. 86). Die Anteile dieser drei
Elemente mögen unterschiedliches Gewicht in den einzelnen Nationalstaaten haben, jeweils
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in Abhängigkeit der spezifischen wohlfahrtsstaatlichen Traditionen. Auf jeden Fall werden
die Reformen zu einem Individualisierungs-Schub führen, der mit einer weitgehenden Lockerung der klassischen nationalstaatlichen Kopplung von Staatsbürgerschaft und 'social rights'
verbunden sein wird. Individualisierung soll in diesem Zusammenhang heissen, dass die Anstrengungen der Inklusion in soziale Systeme stärker als in der Hochphase wohlfahrtsstaatlicher Inklusionsvermittlung von den Individuen selbst erbracht werden müssen. Mit der Abnahme der auf Chancengleichheit ausgerichteten wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen wächst
der Druck auf die Selbstzurechnung von Erfolgen oder Misserfolgen der Individuen im Verlaufe ihrer Inklusionskarrieren. Dies wiederum mindert die Relevanz des politischen Systems
und dessen Inklusionsofferten für die Selbstbeschreibungen der Individuen als Personen und
trägt so zu einer Erosion nationalstaatlich organisierter Inklusion in das politische System bei.
4. Schluss
Die Eigentümlichkeit des modernen Nationalstaates resultiert aus seinem Doppelbezug auf
Inklusion: Inklusion in das politische System und Inklusionsvermittlung in alle anderen sozialen Systeme. Einerseits verband sich mit der Entstehung des Nationalstaates die Idee der uneingeschränkten Inklusion der Individuen in das politische System. Ihre Relevanz für das politische System zeigte sich in der Durchsetzung der Publikumsrolle in Form von freien, gleichen und allgemeinen Wahlen. Schon früh sorgte der moderne Nationalstaat durch seine organisatorische Schliessung dafür, dass die Publikumsrolle der Individuen scharf von der Professionsrolle der Politiker und Verwaltungsbeamten geschieden wurde, so dass alle durch die
erste Phase der französischen Revolution geweckten Erwartungen an eine Selbstregierung des
Publikums systematisch enttäuscht wurden. Andererseits verband sich mit der Funktion des
politischen Systems (Erzeugung kollektiv verbindlicher Entscheidungen) der Anspruch des
Staates, auf seinem Territorium Entscheidungen für alle Organisationen und Individuen verbindlich zu machen. Dies fand in der rechtlichen, polizeilichen und verwaltungstechnischen
und nicht zuletzt wohlfahrtsstaatlichen Durchdringung des Territoriums seinen Ausdruck.
Nicht nur den Staatsbürgern wurden im Gegenzug zur Einräumung von Anspruchsrechten
besondere Pflichten abverlangt (Steuer, Kriegsdienst, Unterwerfung unter das Recht). Der
Nationalstaat unternahm auch den Versuch, allen Organisationen auf dem Staatsgebiet nationalstaatliche Kriterien der Inklusion (Staatsbürgerprivilegien auf Arbeitsmärkten), aber oft
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auch der zu behandelnden Themen (Bildung) und der zu verfolgenden Ziele (Kriegswirtschaft) aufzuzwingen. Die staatliche Überformung des Organisationshandelns in den verschiedensten Funktionssystemen hat wesentlich zur operativen Schliessung und Autonomisierung dieser Funktionssysteme geführt (vgl. das Beispiel des deutschen Universitätswesens,
Stichweh 1996). Eine solche Bindewirkung hat vor der Entstehung des territorialen Nationalstaates keine politische Instanz erreicht. Die evolutionäre Unwahrscheinlichkeit dieses Anspruchs wird nun am Ende der "unglaublichen Hegemonie" des Nationalstaates überdeutlich.
Die territoriale Basis war der große Vorteil des modernen Staates in seiner Entstehungsphase
gegenüber seinen Konkurrenten (Kirche, Stadtstaaten, Städtebünde, vgl. Spruyt 1994). Sie ist
heute zu seinem grössten Handicap geworden (vgl. Halfmann 2000). Denn die weltgesellschaftliche Autonomisierung der Funktionssysteme tangiert die prekäre Fähigkeit des Nationalstaates, kollektiv bindende Entscheidungen territorial zu realisieren. Die Unwahrscheinlichkeit dieser Erwartung wird angesichts sich weiter durchsetzender Autonomisierung der
Funktionssysteme immer deutlicher. Das Risiko einer allmählich nachlassenden Folgebereitschaft gegenüber staatlichen Entscheidungen, der ein wachsendes Implementationsdefizit korrelieren würde, müsste die operative Schliessung des politischen Systems berühren. Dies hat
potentiell prekäre Auswirkungen auf andere Funktionssysteme, insbesondere auf solche Funktionssysteme, mit denen die Politik in vielen Hinsichten strukturell gekoppelt ist. Hier ist vor
allem an das Wirtschaftssystem zu denken. Kritisch ist womöglich nicht so sehr, dass das
Wirtschaftssystem und seine Organisationen dem Staat "über den Kopf wachsen", sondern
dass Staaten mit ihrer regionalen Verankerung nicht mehr ausreichend den politischen und
rechtlichen Rahmen für wirtschaftliche Operationen (wie Vertragssicherheit) garantieren können, die transregionale und transnationale Bezüge haben. Zwischenstaatliche Abmachungen
zur Lösung dieser Probleme erweisen sich als zeitaufwendig und krisenanfällig. Nicht von
ungefähr treten verschiedene Formen von ”private interest government” als Alternativen zu
staatlichen oder zwischenstaatlichen Entscheidungen in den Vordergrund. Staatliche "Deregulierung" und "Privatisierung" verstärken diese Entwicklung. Die nachlassende Fähigkeit des
Nationalstaates zur Inklusion und Inklusionsvermittlung wird nicht durch andere politische
Organisationen kompensiert, so dass die abnehmende Inklusionskraft des Nationalstaates die
Kapazität des politischen Systems zur Generierung ausreichender Bindewirkung politischer
Entscheidungen berührt. Dies wird je nach staatsspezifischer Tradition die Neigung von Staa-
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ten zur "parapolitischen" Einbindung relevanter nicht-politischer Organisationen in die politischen Entscheidungsprozesse10 oder zu mehr Rekurs auf Gewaltandrohung befördern.
Die Selbstfestlegung des modernen Nationalstaates auf das wohlfahrtsstaatliche Programm11
führt in die territoriale "Falle" (Halfmann 2000): Einerseits muss die Inklusion von Individuen
und Organisationen in die regionale Adresse des politischen Systems, den Nationalstaat, gewährleistet sein, andererseits sind Individuen und Organisationen in Funktionssysteme wie
Wirtschaft, Wissenschaft, Gesundheit oder (zunehmend) Recht inkludiert, die keine territorialen Beschränkungen kennen. Die Bindewirkung politischen Entscheidens im modernen Nationalstaat hängt von funktionierender Abnahmebereitschaft für politische Entscheidungen ab
und dies wiederum von der Erwartung, dass staatliche Organisationen tatsächlich effektiv
territoriale Autorität besitzen - eine dilemmatische Situation, aus der nur eine (unwahrscheinliche) Renaissance der regionalen Bindewirkung politischen Entscheidens über alle Funktionssysteme hinweg oder die (derzeit nicht absehbare) Entstehung supranationaler politischer
Organisationen (mit regional erweiterter Bindewirkung) herausführen würde. Im Alltag politischen Entscheidens und des Erlebens von Politik – und das heisst: im Ausschnitt, den die empirische Politikwissenschaft im Visier hat – sieht dies alles nur nach gradueller Erschwernis,
in vielen Hinsichten sogar nach "Normalisierung" der Rahmenbedingungen (vgl. Beyme
1997, S. 376 in Bezug auf Parteienbindung, dagegen aber mit Blick auf Regierungsbindung
Kaase/Newton 1995) aus. Aus der Perspektive der (gewiss noch sehr selektiven) Einordnung
des empirischen Datenmaterials in den Bezugsrahmen der Luhmannschen Theorie der Politik
deuten diese Entwicklungen auf weiter reichende Veränderungen der strukturellen Kopplungen zwischen dem politischen System und anderen Funktionssystemen hin. Auch wenn die
Indizien für nachlassende Inklusionskraft des politischen Systems sich noch nicht zu einer
Krisendiagnose bündeln lassen, kann dennoch nicht übersehen werden, dass die Politik wegen
der Erwartungen an deren kollektivbindenden Entscheidungsleistungen für die Gesellschaft
ein naheliegender Kandidat ist, zum "gesamtgesellschaftlichen Ausfallrisiko" zu werden.
10
Allerdings lässt sich, zumindest für den Fall Deutschland, seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine
abnehmende Fähigkeit der Tarifparteien beobachten, diese Aufgabe zu erfüllen, wie vor allem an dem Mitgliederschwund der Gewerkschaften und der schwindenden Tarifbindung der Arbeitgeber deutlich wird (vgl.
Schmidt 2000, S. 503).
11
Dies gilt bekanntlich auch für sogenannte "liberale Demokratien" wie die USA (vgl. Esping-Andersen 1990;
Gooding et al. 1999).
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