S C H W E R P U N K T | B e h in d e r u n g NR.5_MAI 2009 | SOZIALAKTUELL Soziale Probleme, Selbstbestimmung und Inklusion Text: Dieter Röh Bilder: Beatrice Will Die professionellen Grundlagen der Sozialen Arbeit in der Behindertenhilfe Zu den Fotos Gelebte Selbstbestimmung Die Fabrik-Crew: Helena Schmid, Roland Altherr, Martin Baumer, Franco Scagnet, Massimo Schilling, Hanspeter Dörig, Heinz Büchel (von links nach rechts) Für die Fotos zu diesem Schwerpunkt hat die Fotografin Beatrice Will «Die Fabrik» im toggenburgischen Ebnat-Kappel besucht. «Die Fabrik» – das sind ehemalige Räume einer Färberei, die jetzt viel Platz für eine bunte Mischung aus Gastronomie, Musik und bildender Kunst bilden. Sie sind der Arbeits- und Lebensmittelpunkt von fünf behinderten ­Männern und zwei «Normal-Behinderten». Unter dem Namen ihrer Musikband «Die ­Regierung» sind sie seit über zwei Jahrzehnten eine bekannte Grösse in der Behindertenszene und darüber hinaus. Im Sommer gehts auf Konzerttournee nach Paris. Ihr jüngstes Projekt «Die Fabrik» beschreiben sie selbst als «sozial-kultureller Dienstleistungsbetrieb, der die Akzente nicht auf Konsum und Kommerz, sondern vor allem auf die gestalterische Selbstständigkeit der Menschen legt». Helena Schmid und Heinz Büchel als verantwortliche Leiter betonen ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit. Sie sind vom Kanton als Behinderteninstitution anerkannt, beziehen aber keine Unterstützungsbeiträge. Die Fotos begleiten die Sieben einen Nachmittag lang bei der Vorbereitung zu einem gastronomischen Anlass. Am Abend wird die örtliche Männerriege zu Gast sein. fw > www.die-fabrik.ch; www.die-regierung.ch 12 B e h in d e r u n g | S C H W E R P U N K T SOZIALAKTUELL | NR.5_MAI 2009 Inhalt dieses Artikels ist eine Gegenstands- und Funktionsbestimmung Sozialer Arbeit im Handlungsfeld «Behindertenhilfe»1, welche einerseits ihrem disziplinären Hintergrund und andererseits einem integrativen Verständnis ihres professionellen Beitrages in der Unterstützung behinderter Menschen2 entspricht. Darüber hinaus werden ethische Fragen der Inklusion und der Gerechtigkeit behandelt. Im Vergleich zu anderen Professionen konzentriert sich die Soziale Arbeit auf die Erkennung und Bearbeitung der sozia­ len Probleme behinderter Menschen (vgl. zu deren verschiedenen Formen: Wüllen­ weber 2004), wobei soziale Probleme im Allgemeinen als das Ergebnis mangelnder Befriedigung biopsychosozialer Bedürf­ nisse (Staub-Bernasconi 2007) angesehen werden können. Der professionelle Bei­ trag der Sozialen Arbeit besteht in der me­ thodisch geleiteten und wissenschaftlich begründeten Bearbeitung sozialer Proble­ me mittels personenzentrierter Unterstüt­ zung auf der einen und dem Arrangieren der dafür notwendigen Umweltbedingun­ gen auf der anderen Seite (vgl. Röh 2009). Soziale Probleme als Ausgangspunkt für die Soziale Arbeit Damit unterscheidet sich die professio­ nelle Expertise der Sozialen Arbeit von einer sonder- oder heilpädagogischen Ausrichtung, die hauptsächlich auf die personenbezogene Förderung, Erziehung und Bildung der betroffenen Menschen abzielt. Die Soziale Arbeit hat dagegen eine bifokale Sicht auf lebensweltlichsystemische und individuelle Faktoren, die sie hinsichtlich der Genese und Ent­ wicklung sozialer Probleme als gleichbe­ rechtigte Einflüsse erkennen und auf die sie einwirken kann. Ein klassisch sozial­ pädagogischer Zugang zur Lebenswelt der Men­ schen vor dem Hinter­ grund ihrer Lebensfüh­ rung korrespondiert dabei mit dem klassisch sozial­ arbeiterischen Zugang zur Lebenswelt der Men­ schen vor dem Hinter­ grund sozialer Gerechtig­ keit (siehe Abbildung 1). Abbildung 1: Ein integratives Modell Sozialer Arbeit Gerade in der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen finden wir diese beiden Seiten wieder: So besteht die Soziale Ar­ beit hier immer in der Förderung des Ein­ zelnen als Befähigung zu einer besseren, weil gelingenderen Vermittlung seiner Bedürfnisse mit den Anforderungen der Umwelt – als Teil seiner Lebensführung etwa im Bereich von Beschäftigung und Arbeit – und gleichzeitig in der Beeinflus­ sung der Umweltkomponenten (z. B. Fa­ milie, Nachbarschaft, Institutionen, Ge­ meinwesen, Gesellschaft) mit dem Ziel des Abbaus von Barrieren jedweder Art. Damit verbunden ist eine allgemeine ­Lebensphilosophie, die mit dem Begriff der «Daseinsmächtigkeit» (Gronemeyer 2002, 44) spezifiziert werden kann. Für Gronemeyer ruht Daseinsmächtigkeit auf drei Bereichen: • dem ungehinderten Zugang zur Natur, • dem ungehinderten Gebrauch der Fähigkeiten zur Daseinsgestaltung, • und der Selbstbestimmung. In einer Adaption für die Soziale Arbeit bestünde Daseinsmächtigkeit m. E. darin, a.ausreichend ökonomische und ökolo­ gische Mittel zur Verfügung zu haben, um den eigenen «oikos» (Haushalt) ­besorgen zu können (soziomaterielle Lage; sozialökologische Ressourcen), b.anstehende Entwicklungsaufgaben mit­ hilfe relevanter Bezugspersonen meis­ tern zu können (Entwicklung/Bildung) und c.innerhalb relevanter Lebensbereiche entsprechende Rollen ausüben zu kön­ nen (Inklusion/Integration). Die besondere Expertise der Profession Soziale Arbeit besteht nun darin, diese Themen und die Verbindung zwischen ihnen als Aspekte zu verstehen, die zu sozialen Problemen führen können. Be­ teiligt sind gleichermassen personale und soziale Komponenten. Zum Thema Frank Will Frank Will ist Sozial­ pädagoge und Mitglied der Redaktion von ­SozialAktuell. Soziale Arbeit und Behinderung Dieser Schwerpunkt kreist um den Begriff der Selbstbestimmung, denn diese ist für Menschen mit einer Behinderung noch immer nicht selbstverständlich. Selbstbestimmung und Behinderung bleiben trotz vielerlei Bemühungen auf gesellschaftlicher und politischer Ebene weiterhin ein Gegensatzpaar. Einleitend stellt Dieter Röh sich die Frage, welchen spezifischen Beitrag die Soziale Arbeit als wissenschaftliche Disziplin und als Profession in der Behindertenhilfe leisten kann. Urs Dettling zeichnet in seinem Beitrag die politische Realität nach (S. 17): Das in der Verfassung festgeschriebene Diskriminierungsverbot und das seit 2004 gültige Behindertengleichstellungsgesetz lösen langsam einen Bewusstseinswandel aus, schaffen aber nicht automatisch Gleich­ behandlung und Gleichberechtigung. Die Neuregelung der Finanzierung von Heimen im Rahmen des NFA bewegt da schon mehr. Die grossen Behinderteninstitutionen müssen unter mehr oder weniger grossem Druck mit den Kantonen Anpassungen aushandeln. Neue finanzielle Modelle wie das Assistenzbudget ermöglichen Heimaustritte und den Betroffenen ein Leben in den eigenen vier Wänden. Die Chancen und Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, beleuchten Katharina Kanka (S. 28) und Susi Aeschbach (S. 30). Auch neue theoretische Konzepte wie das der Funktionalen Gesundheit verändern innerhalb der Institutionen das Selbstverständnis im Umgang mit Behinderten. Kathrin Wanner von den Behindertenwerken Oberemmental schildert, wie das ICF-Modell in ihrer Praxis umgesetzt wird (S. 36), während Jean Louis Korpès das Konzept der Funktionalen Gesundheit mit dem Vergleich von ICF und dem vor allem im ­frankofonen Raum angewendeten PPH-Modell unterfüttert (S. 34). Aus aktuellem Anlass beschäftigen sich zwei Beiträge mit der beruflichen Integration von psychisch Behinderten: Niklas Baer zieht aus psychiatrischer Sicht eine Bilanz der Mass­ nahmen aus der fünften IV-Revision (S. 21), während Bettina Bärtsch und Deborah Paul das in der Praxis erfolgreiche Konzept von «Supported Employment» vorstellen (S. 24). 13 S C H W E R P U N K T | B e h in d e r u n g Was verstehen wir unter dem Persona­ len? Die personale Dimension, die einen Teil des Gegenstands professioneller So­ zialer Arbeit ausmacht, lässt sich z. B. in folgende Bereiche gliedern: • Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen, • soziale Kompetenzen, • intellektualität bzw. Emotionalität, • psychosomatische Befindlichkeit (inkl. Krankheit als Spezialfall). Was ist dagegen das Soziale? Die soziale Dimension, die hier als zweiter Teil des Gegenstands professioneller Sozialer Ar­ beit konturiert wird, lässt sich z. B. in fol­ gende Bereiche auffächern: • soziales Netzwerk und soziale Unterstützung, • soziale Integration, • sozioökonomische Lage. Personale wie soziale Dimensionen kön­ nen als Ressourcen vorliegen oder einen problematischen Charakter besitzen, der die Betroffenen in der einen oder anderen Weise in ihrer Daseinsmächtigkeit ent­ weder unterstützt oder behindert. Die entsprechenden empirischen Belege kön­ nen an dieser Stelle nicht umfassend re­ feriert werden, deshalb beschränke ich mich auf jeweils ein problematisches Bei­ spiel aus dem personalen und sozialen Sektor. Probleme des sozialen Netzwerkes sind in diversen empirischen Studien mit dem Ergebnis beschrieben, dass sie sich bei behinderten Menschen sowohl in ihrer Grösse (sie sind eher kleiner als bei nicht behinderten) als auch in ihrer Zusam­ mensetzung (sie sind eher von Beziehun­ gen zu professionellen bzw. ebenfalls behinderten Menschen gekennzeichnet) als problematisch herausstellen (Hamel/ Windisch 1993). Probleme der Selbstwirksamkeit ergeben sich aus Prozessen erlernter Hilflosigkeit (Seligman 1999) und ihrer Wirkung auf Dieter Röh ist Professor für Sozialarbeitswissenschaft an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. Seine Schwerpunkte sind die Klinische Sozialarbeit und die Rehabilitation. 14 NR.5_MAI 2009 | SOZIALAKTUELL aufwirft. So kann man mit Kulig fragen, ob der Inklusionsanspruch nicht bloss ein normativer bzw. ethischer ist, wenn «an­ genommen wird, dass Inklusion, verstan­ den als eine vollständige Eingebunden­ heit, die einzig pädagogisch angemessene Lösung ist (im Sinne theoretischer Wahr­ heit und praktischer Richtigkeit) und des­ halb in der Gesellschaft etabliert werden muss» (Kulig 2006, 51). Ob er allerdings auch eine gesellschafts­ theoretische Tauglichkeit besitzt, ist frag­ lich. Tatsächlich wird der verwendete Theoretische Unschärfen und Begriff der «Inklusion» nur selten mit der begriffliche Ungenauigkeiten funktionalen Systemtheorie eines Niklas Seit rund zehn Jahren ersetzt der Begriff Luhmann verbunden, der Inklusion und der «Inklusion» den der «Integration» in Exklusion als die zentralen Mechanismen Theorie und Praxis in zunehmendem in der modernen, funktional differenzier­ Masse. Dabei impliziert Inklusion ein ten Gesellschaft ansieht. Luhmann geht präventives Verständnis sozialer Teilhabe, davon aus, dass sich moderne Gesell­ wohingegen Integration oder Eingliede­ schaften funktional differenziert haben, rung, wie der Begriff im deutschen d. h. im Zuge der Arbeitsteilung haben Sozial­recht (SGB XII) lautet, ein vorheri­ sich Teilsysteme gebildet, die mittels ges Ausgegliedert-Sein voraussetzt: «Da ­autopoietischer Kräfte von der Umwelt Menschenrechte aber immer auch miss­ relativ stark abgeschlossene Strukturen, achtet werden, ist mit Integration die samt eigenen Regeln und Sprachen, her­ Eingliederung behinderter Menschen in ausgebildet haben und durch strukturelle das soziale System Nichtbehinderter ge­ Kopplung mit anderen Teil­ Inklusion sollte der Freiheit und systemen verbunden sind. der Wahl des Menschen überlassen Sie zeigen damit, wofür sie funktional zuständig sind. werden Deshalb geht Luhmann da­ von aus, dass sich mit «Inklusion» und meint, aus dem nie alle behinderten «Exklusion» die Modi feststellen lassen, Menschen vollständig ausgegliedert wa­ nach denen sich diese Teilsysteme für ren und sind, und verweist damit auf den Menschen öffnen oder schliessen. systematischen Antagonismus von Aus­ Zusätzlich sieht Luhmann in einer «Ex­ sonderung und Integration, während In­ klusionsindividualität» jene Freiheitsgra­ klusion es erst gar nicht zur Ausgrenzung de beschrieben, deren Wirkung darin be­ kommen lässt.» (Cloerkes 2007, 212). stehen, dass Menschen nicht mehr qua Wohingegen Integrationsbemühungen auf Tradition, Stand, Geschlecht u. a. Merk­ die Wiederherstellung sozialer Integra­ malen automatisch in bestimmte gesell­ tion abzielen, und damit auf die An­ schaftliche Teilsysteme inkludiert wer­ passung der zu Integrierenden an die den, sondern sich erst durch Sozialisation Massstäbe der bereits Integrierten, setzt und Wahl in diese inkludieren lassen oder Inklusion auf strukturelle Veränderungen inkludiert werden. Zudem seien Men­ in der Gesellschaft, die behinderten Men­ schen immer nur Teil bestimmter Teil­ schen ein Leben in derselben und nicht systeme und dies auch nur zeitlich oder am Rande ermöglichen sollen. Inklusion funktional begrenzt. Es stellt sich somit wird daher auch mit «Nicht-Aussonde­ die Frage, ob Vollinklusion, wie sie häufig rung» oder «unmittelbarer Zugehörig­ suggestiv in der Literatur auftaucht, über­ keit» übersetzt (Theunissen 2006, 13). haupt erstens möglich und zweitens Wesentliches Merkmal ist hierbei, behin­ wünschenswert wäre. Luhmann selbst derte Menschen vor allem als Bürger ei­ geht davon aus, dass die Autonomie der nes Gemeinwesens zu sehen, mit all den Teilsysteme über einer Gesamtautorität für nicht behinderte Bürger geltenden steht: «Die Idealisierung des Postulats der Rechten und Pflichten. Vollinklusion aller Menschen in die Ge­ Allerdings muss man feststellen, dass der sellschaft täuscht über gravierende Prob­ Inklusionsbegriff, wie er in der heil- und leme hinweg. Mit der funktionalen Diffe­ sonderpädagogischen Literatur derzeit renzierung des Gesellschaftssystems ist verwendet wird, theoretische Probleme die biografischen Erfahrungen von behin­ derten Menschen. Jenseits von klassi­ schen Hospitalisierungseffekten durch grosse Anstalten oder Heime sind auch in heutigen Versorgungssystemen Struktu­ ren wirksam, die eine optimale Entwick­ lung behinderter Menschen, z. B. hin­ sichtlich des Erwerbs angemessener, zur Alltags- und Lebensbewältigung notwen­ diger Kompetenzen, erschweren oder be­ hindern. SOZIALAKTUELL | NR.5_MAI 2009 leme als auch in der Mitwirkung am sozia­len Wandel sieht. Menschenwürde und Gerechtigkeit spiegeln dabei auf ei­ ner allgemeinen ethischen Ebene die konkreten Probleme behinderter Men­ schen wider. Diese sind z. B. Erfahrungen von Stigmatisierung und Diskriminierung (trotz veränderter Anerkennung und Rechtsstellung etwa in der Verfassung [Artikel 3 Abs. 3 Satz 2], durch das Behin­ derten-Gleichstellungsgesetz oder durch spezifische Regelungen, wie z. B. Autonomie und Bedürftigkeit im deutschen Betreuungsrecht), Erfahrungen soziomaterieller bedingen einander Benachteiligung, etwa durch ein durchschnittlich geringeres Einkommen sehen. Obwohl z. B. das Gleichstellungs­ behinderter Menschen, Erfahrungen so­ gesetz alle Lebensbereiche betrifft, bleibt zialökologischer Benachteiligung, etwa der Luhmann’sche Ansatz wahr, dass durch fehlende Barrierefreiheit im In­ niemand – egal, ob behindert oder nicht – formations- und Kommunikationssektor in alle Teilsysteme (und damit in die ge­ oder auch im öffentlichen Personennah­ samte Gesellschaft) inkludiert ist. Aller­ verkehr, Erfahrungen zwischenmenschli­ dings sollte – als Verbindungsstelle zwi­ cher Distanzierung und sozialer Isola­ schen der normativen Forderung nach tion, z. B. weniger soziale Kontakte zu Inklusion und der systemtheoretisch be­ nichtbehinderten Menschen. gründeten Exklusion – das Bemühen der Wieder können wir auch im ethischen Gesellschaft doch dahin gehen, die Inklu­ Bereich sowohl personelle als auch sozia­ sion in die für das Individuum oder die le Faktoren identifizieren, die die Stellung soziale Gruppe bedeutsamen, ressourcenbehinderter Menschen in der Gesellschaft oder identitätsschaffenden Teilsysteme zu erklären. Im gerechtigkeitstheoretischen ermöglichen. Ob eine Zugehörigkeit oder Ansatz Martha Nussbaums etwa findet Inklusion dann gewünscht wird, sollte man hierzu eine entsprechende Grundla­ der Freiheit und der Wahl des Menschen ge, auf der ethische Konflikte der zwi­ überlassen werden (vgl. Knust-Potter schenmenschlichen Begegnung von be­ 1998). Ob und inwieweit sich also ers­ hinderten und nicht behinderten Men­ tens eine selbstverständliche Inklusion schen sowie der gesellschaftlichen Teil­ von Menschen (mit Behinderungen) in habe zumindest theoretisch gelöst die Bürgergesellschaft erreichen lässt (vgl. werden können. Dörner 2007), ob diese zweitens von den Nussbaum nimmt, im Gegensatz zur Ge­ Betroffenen immer gewünscht wird oder rechtigkeitstheorie eines John Rawls, an, ob sie drittens stellvertretend durch so­ dass die blosse Bereitstellung von Gütern, ziale Institutionen stattfindet, müsste die eine soziale Teilhabe ermöglichen, noch geklärt werden, ehe man den Begriff nicht ausreicht, um eine gerechte Gesell­ der Inklusion allzu inflationär benutzt. schaft zu begründen. M. a. W. eine Ge­ sellschaft, die zwar die formalrecht­lichen Soziale Arbeit zwischen Verantworoder auch materiellen Grundlagen für die tungsethik und Empowerment Teilhabe behinderter Menschen legt, hat Im Zusammenhang mit den bisherigen damit notwendige, aber noch keine hin­ Erwägungen stellen sich natürlich auch reichenden Bedingungen für deren Aner­ ethische Fragen in Bezug auf Selbstbe­ kennung als Bürgerinnen und Bürger der stimmung und Empowerment. Diese Gesellschaft mit allen Rechten, Chancen können auf einer berufsethischen Grund­ und Pflichten geschaffen. Erst in der Er­ lage (International Federation of Social möglichung, die zu Verfügung Behinderte Menschen sind vor stehenden Ressourcen nutzen zu können, mithin in der Befähi­ allem als Bürger eines Gemeingung der Menschen zur best­ wesens zu sehen möglichen Daseinsgestaltung, wird das Gerechtigkeitsproblem vollstän­ Workers 2004) bearbeitet werden, die die dig erfasst: «Man kann also annehmen, Zuständigkeit Sozialer Arbeit sowohl in dass Bürger, die die moralischen Fähig­ der Lösung zwischenmenschlicher Prob­ die Regelung des Verhältnisses von Inklu­ sion und Exklusion auf die Funktionssys­ teme übergegangen, und es gibt keine Zentralinstanz mehr (so gern sich die Po­ litik auch in dieser Funktion sieht), die die Teilsysteme in dieser Hinsicht beauf­ sichtigt» (Luhmann 1997, 630). Eine solche Zentralinstanz wäre jedoch in normativ wirksamen und gesellschaft­ lich sich durchsetzenden Ansprüchen auf Gleichstellung und soziale Teilhabe zu Fabrik-Impressionen: Aussenansicht, Eingang durch die Lifttüre, der grosse Saal 15 S C H W E R P U N K T | B e h in d e r u n g keiten bei sich selbst und bei anderen schätzen und deren Ziel ein Gerechtig­ keitsbegriff ist, der ihnen ein gutes Zu­ sammenleben in der Gemeinschaft er­ möglicht, über diese Voraussetzungen nachdenken und gute politische Prinzi­ pien nicht nur darin erblicken, die Vertei­ lung der instrumentellen Grundgüter zu regeln, sondern auch darin, die angemes­ sene Verwirklichung dieser und anderer menschlicher Fähigkeiten der Bürger zu fordern» (Nussbaum 1999, 61). Im Sinne der oben bereits angeführten Diskussion um Inklusionsbedingungen erscheint es sinnvoll, von einem ethi­ schen Kontinuum auszugehen, welches auf der einen Seite Selbstbestimmung und Autonomie und auf der anderen Ab­ hängigkeit und Bedürftigkeit beinhaltet. Dieses realistische Menschenbild ergänzt die Sicht auf das nach Autonomie und Selbstbestimmung strebende Individuum um seine vom sozialen Miteinander ab­ hängige Bedürftigkeit. Menschen, ob mit oder ohne Behinderung, benötigen, um mit Ralf Dahrendorf zu sprechen, sowohl Optionen, um ihr Leben führen und ge­ stalten zu können, als auch Ligaturen, durch die sie Halt, Unterstützung und Si­ cherheit erfahren. Lernen setzt Angstfrei­ heit voraus, und Angstfreiheit wiederum ermöglicht erst Selbstbestimmung. Zu­ sätzlich bedarf es, um selbstbestimmt entscheiden zu können, gewisser indivi­ dueller Kompetenzen und sozialer Res­ sourcen, um diese Freiheit nutzen zu können. Ethisches Handeln in der Behindertenhilfe ist deshalb in das Kontinuum von Selbst­ bestimmung/Empowerment und Abhän­ gigkeit/Verantwortung eingespannt, aus dem es keinen – höchstens einen ideali­ sierenden oder hegemonialisierenden – Ausweg gibt. Idealisierend wäre dieser, wenn er menschliche Selbstbestimmung und Autonomie absolut setzte; hegemo­ nialisierend, wenn Menschen mit pater­ nalistischer Macht andere in abhängige Positionen zwängen. Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe ist gehalten, diese Am­ biguität gegen die Einseitigkeit allzu idea­ listischer Formen der Selbstbestimmungs­ diskussion und gegen die bestehenden Zugriffe gesellschaftlicher Macht auf be­ hinderte Menschen zu verteidigen. Gleichzeitig ist noch einiges zu tun, da­ mit Menschen mit Behinderungen die Selbstbestimmungsmöglichkeiten erhal­ ten, die allen anderen Bürgern der Gesell­ schaft zur Verfügung stehen. | 16 NR.5_MAI 2009 | SOZIALAKTUELL Fussnoten Mit dem Begriff «Behindertenhilfe» meine ich keine disziplinäre (z. B. sonder- oder heilpädagogische) Kennzeichnung, sondern das Berufsfeld, in dem Menschen mit geistigen, körper­ lichen bzw. psychischen Behinderungen Unterstützung, Begleitung, Assistenz oder Betreuung erfahren. 2 Ich spreche bewusst von «behinderten Menschen», da ich die Behinderung, also das mehr oder weniger bewusste, aktive Behindertwerden durch personelle und umweltbedingte Einflüsse, betonen möchte (vgl. auch Lindmeier 2004, 5) 1 Literatur Cloerkes, Günter: Soziologie der Behinderten, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2007. Dörner, Klaus: Leben und sterben, wo ich hingehöre. Dritter Sozialraum und neues Hilfesystem, Neumünster: Paranus-Verlag 2007. Gronemeyer, Marianne: Macht der Bedürfnisse. Überfluss und Knappheit, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002. Hamel, T.; Windisch, M. (1993): Soziale Integration. Vergleichende Analyse von sozialen Netzwerken nichtbehinderter und behinderter Erwachsener. In: neue praxis, Heft 5, 425–439. International Federation of Social Workers (IFSW). Ethics in Social Work, Statement of Principles 2004. www.ifsw.org. Knust-Potter, Evemarie: Behinderung – Enthinderung. Die Community-Living-Bewegung gegen Ausgrenzung und Fremdbestimmung, Köln: Klaus-Novy-Institut 1998. Kulig, Wolfgang: Soziologische Anmerkungen zum Inklusionsbegriff in der Heil- und Sonderpädagogik. In: Theunissen, Günther; Schirbort, Kirsten (Hrsg.): Inklusion von Menschen mit geistiger Behinderung. Zeitgemässe Wohnformen – Soziale Netze – Unterstützungsangebote, Stuttgart: Kohlhammer-Verlag 2006. Lindmeier, Christian: Biografiearbeit mit geistig behinderten Menschen. Weinheim: Juventa-Verlag 2004. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. Nussbaum, Martha: Gerechtigkeit oder das gute ­Leben, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999. Röh, Dieter: Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe, München: Reinhardt-Verlag/UTB 2009. Schablon, Kai-Uwe: Community Care: Professionell unterstützte Gemeinweseneinbindung erwachsener geistig behinderter Menschen, Marburg: LebenshilfeVerlag 2008. Seligman, Martin: Erlernte Hilflosigkeit, Weinheim/ Basel: Beltz 1999. Staub-Bernasconi, Silvia: Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft: systemtheoretische Grundlagen und professionelle Praxis – ein Lehrbuch. Bern [u.a.]: Haupt 2007. Theunissen, Georg: Inklusion – Schlagwort oder zukunftsweisende Perspektive? In: Theunissen, Günther; Schirbort, Kirsten (Hrsg.): Inklusion von Menschen mit geistiger Behinderung. Zeitgemässe Wohnformen – Soziale Netze – Unterstützungsangebote, Stuttgart: Kohlhammer-Verlag 2006. Wüllenweber, Ernst (Hrsg.): Soziale Probleme von Menschen mit geistiger Behinderung. Fremdbestimmung, Benachteiligung, Ausgrenzung und soziale ­Abwertung, Stuttgart: Kohlhammer 2004. Buchtipp Soziale Arbeit in der ­Behindertenhilfe Der Sozialarbeitswissenschaftler Dieter Röh führt im nebenstehenden Beitrag Auszüge aus seiner frisch erschienenen Monografie «Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe» aus. Er stellt sich und seinen LeserInnen die Frage, welchen spezifischen Beitrag die Soziale Arbeit als wissenschaftliche Disziplin und als Profession in diesem Themenfeld leisten könnte und sollte. Und er gibt Antworten darauf, wie der besondere Blickwinkel Sozialer Arbeit zwischen Individuum und Gesellschaft sich eigenständig positionieren kann. Das Buch gliedert sich dazu in drei Abschnitte. • Im ersten Abschnitt werden die historischen Grundlagen der sozialen Arbeit in der Behindertenhilfe dargestellt. Zudem wird das wissenschaftstheoretische Feld Sozialer Arbeit zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften ausgeleuchtet. Daran anschliessend folgen eine Gegenstands- und Funktionsbestimmung Sozialer Arbeit als genuin sozialarbeitswissenschaftliche Disziplin. • Der zweite Abschnitt beschreibt «Behindertenhilfe als Handlungsfeld» und eröffnet mit einem Diskurs um Behinderung und die Entwicklung des Behinderungsbegriffs. Das anschliessende Kapitel fächert die sozialethischen Grundlagen auf. In Unterkapiteln werden das Recht auf Selbstbestimmung, das Normalisierungsprinzip und die aktuelle Diskussion um die Begriffe Inklusion versus Integration thematisiert. • Der dritte Abschnitt führt – unter dem Titel «Professionelle Bestimmung und Konzepte der Sozialen Arbeit in der Behindertenhilfe» – die Synthese von beiden Seiten als wissenschaftliche Disziplin und als professionelle Praxis mit einer Auswahl der aktuellen Theorien zur So­ zialen Arbeit und den daraus abgeleiteten Methoden zusammen. Insgesamt 68 Übungsfragen runden die einzelnen Kapitel jeweils mit einer Verständnisfrage zum Text- und einer Diskussions-/Reflexions­frage ab. Lösungsvorschläge sind im Anhang beigefügt. Dieter Röhs Synthese zeichnet den aktuellen disziplinären Hintergrund umfassend und schlüssig nach, ohne sich theoretisch oder gar ideologisch zu verwirren. Er bietet so überzeugende Denk­ anstösse, wie sich Soziale Arbeit als Praxis und Disziplin in der Behindertenhilfe stärker positionieren kann. Das Buch ist in erster Linie als Studienbuch für die Ausbildung von Studierenden angelegt. Es eignet sich auch als Einstieg und Auffrischung für PraktikerInnen, die nicht in diesem Arbeitsgebiet spezialisiert sind. Frank Will > Röh, Dieter: Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe. München und Basel: Ernst Reinhardt. 2009. 243 Seiten, ISBN 978-3-8252-3217-7. CHF 44.–.