C U R R I C U LU M Schweiz Med Forum Nr. 32/33 14. August 2002 756 Klinik und therapeutische Optionen für niedriggradige Gliome WHO-Grad I–II S. Hofer a, b, A. Merlob a b Onkologie, St. Claraspital, Basel Neurochirurgie, Universitätsspital Basel Korrespondenz: Dr. med. S. Hofer St. Claraspital Kleinriehenstrasse 30 CH-4016 Basel [email protected] Niedriggradige Gliome (LGG = low grade glioma) sind eine histologisch und klinisch heterogene Tumorgruppe. Während die pilozytischen Astrozytome (WHO-Grad I) und die Gangliogliome im besten Fall chirurgisch geheilt werden können, trifft dies für die infiltrativen fibrillären und gemistozytischen Astrozytome, die Oligodendrogliome und die gemischten Oligoastrozytome WHO-Grad II nicht zu. Neben dem infiltrativen Charakter ist ihnen das Potential zur malignen Entartung eigen. Der Zeitpunkt für eine therapeutische Intervention ist bei diesen initial meist symptomarmen Tumoren nicht standardisiert und richtet sich primär nach Symptomen, Lokalisation der Läsion und den prognostischen Faktoren. Das Alter (>40 schlechter) und der Karnofsky-Index (Skala zur Bewertung des Allgemeinbefindens) sind mit dem Überleben am engsten korreliert [1]. Mehr als die Hälfte der Tumoren manifestieren sich mit einem epileptischen Anfall bei sonst unauffälligem neurologischem Status. Falls eine Blutung komplizierend dazu kommt, kann das Bild einer akuten Hirndrucksymptomatik vorherrschen. Das mediane Überleben liegt bei 4–7 Jahren, bei oligodendroglialem Tumoranteil sind Verläufe über 10 Jahre bekannt. Bei mehr als der Hälfte kommt es im Verlauf zu einer malignen Transformation in einen höher gradigen Tumor. Kontroversen bestehen bei der Frage des initialen Managements: reine Verlaufsbeobachtung (mit oder ohne histologische Diagnose) versus aktives Vorgehen mit Resektion und Nachbehandlung. Ein wirklicher Fortschritt kann erst erwartet werden, wenn die infiltrative Komponente einer Therapie zugänglich sein wird. Unbestritten ist die Indikation zu einem aktiven Vorgehen bei Manifestation von neurologischen Defiziten oder Auftreten eines Masseneffektes. worten eine möglichst komplette Resektion, da die Gefahr einer malignen Transformation rein statistisch betrachtet geringer wird durch eine Zytoreduktion. Radiotherapie Langzeitfolgen einer Radiotherapie bei Patienten mit einem Überleben bis zu 10 Jahren sind gefürchtet. Nach einer mittleren Beobachtungszeit von 6 Jahren wurden neurokognitive Einbussen bis Demenz bei über einem Drittel der Patienten beobachtet [2]. Daten einer prospektiv randomisierten Studie zeigen zudem, dass die RT bis zum Auftreten einer neurologischen Verschlechterung oder Tumorprogression verschoben werden kann, ohne dass das Gesamtüberleben dadurch beeinträchtigt wird [3, 4]. Chemotherapie Eine Chemotherapie ist nicht Standard für die LGG. Analog den anaplastischen oligodendroglialen Tumoren sprechen auch die niedriggradigen oligodendroglialen Tumoren auf eine Chemotherapie an [5]. Theoretisch könnte eine kontinuierliche niedrig dosierte Verabreichung des Zytostatikums bei einem langsam proliferierenden Tumor einen Vorteil aufweisen gegenüber der üblichen intermittierenden Stossverabreichung. Der Langzeittoxizität einer solchen Therapie muss besondere Beachtung geschenkt werden (z.B. Entwicklung eines myelodysplastischen Syndroms durch alkylierende Substanzen). Chirurgie Therapeutische Optionen für die Ependymome (WHO-Grad II, III) Eine chirurgische Resektion wird meist gewählt, wenn ein umschriebener Herd in einem Hirnlappen vorliegt, eine stereotaktische Biopsie eher, wenn die Läsion tief liegt oder sich diffus präsentiert. Viele Neurochirurgen befür- Ependymome sind beim Erwachsenen sehr selten. Die alleinige Resektion ist selten kurativ und erfordert sicher bei Grad-III-, eventuell auch bei Grad-II-Tumoren eine lokale Nachbestrahlung. Für Grad-II-Ependymome gibt es C U R R I C U LU M Quintessenz Bei niedriggradigen Gliomen scheinen der Zeitpunkt einer therapeutischen Intervention und die Therapiemodalität bisher wenig Einfluss zu haben auf das Gesamtüberleben. Die Spättoxizität nach Radiotherapie bei mehr als einem Drittel der Behandelten nach mehreren Jahren rechtfertigt Zurückhaltung einer solchen Therapie bis zum Auftreten von behandlungsbedürftigen Symptomen. Der Stellenwert der Chemotherapie wird zurzeit geprüft. Die Chemosensitivität von niedriggradigen Oligodendrogliomen wurde bisher an kleinen Patientenserien nachgewiesen. Patienten sollten nach Möglichkeit in laufenden Studienprotokollen behandelt werden (Information erhältlich bei den Autoren). keine Grundlagen für den Nutzen einer Chemotherapie. Bei den anaplastischen Ependymomen (WHO-Grad III) ist die Datenlage für Erwachsene sehr spärlich. Wir empfehlen die Behandlung dieser seltenen Tumoren innerhalb oder analog von Studienprotokollen (zurzeit HIT 2000, Hirntumorprotokoll der Gesellschaft für pädiatrische Onkologie und Hämatologie, Studienleitung, Universitäts-Kinderklinik, Würzburg, Deutschland, E-Mail: [email protected]). Supportive Massnahmen und Nachsorge Antiödematöse Behandlung Die Ödembildung ist ein häufiges Problem bei Hirntumoren. Natrium und Wasser treten vermehrt durch die gestörte Bluthirnschranke (BHS) in den interstitiellen Raum. Die lokale Produktion von VEGF (vascular endothelial growth factor) und von Leukotrienen fördern diesen Prozess. Kortikosteroide stabilisieren die Endothelzellen der BHS. Diese Wirkung tritt innert Stunden ein, verliert sich aber wieder bei chronischer Anwendung. Die perioperative Gabe von Steroiden hilft, die Morbidität und Mortalität neurochirurgischer Interventionen zu senken und unerwünschte Nebenwirkungen während der Radiotherapie gering zu halten. Dexamethason wird meist eingesetzt wegen der geringeren mineralokortikoiden Wirkung. Bei jeder Kontrolle eines Hirntumorpatienten sollte die Höhe der Steroidmedikation kritisch überdacht werden. Wegen der gefürchteten Langzeitnebenwirkungen und zunehmenden Hinweisen auf Interferenz mit der Zytostatikawirkung ist die Dosis möglichst niedrig zu halten. Dexamethason kann schon nach kurzer Zeit zu einer protrahierten Suppression der Nebennierenrinde führen. Die Kombination von Steroiden mit Zytostatika führt zu Immunsuppression mit der Möglich- Schweiz Med Forum Nr. 32/33 14. August 2002 757 keit von opportunistischen Infekten. Dexamethason fördert die Tendenz zur Hyponatriamie (verstärkt durch gewisse Antiepileptika), welche wiederum die Hirnödembildung begünstigt. Alternativen zu den Steroiden sind wissenschaftlich noch ungenügend geprüft. Es gibt laborchemische und klinische Hinweise für eine günstige Wirkung von Boswelliasäuren (Extrakte aus dem Weihrauchbaum). Die antiinflammatorischen Eigenschaften werden einer Hemmung der 5-Lipooxygenase und der Leukozyten-Elastase zugeschrieben. Eine klinische Studie mit 12 Hirntumorpatienten zeigte bei über der Hälfte entweder eine Regredienz des Hirnödems oder eine klinische Verbesserung über Monate [6]. Cyclooxygenase-2 (COX2) ist eine induzierbare Prostaglandin-Synthetase, welche auch im Hirn exprimiert wird. Die neuen COX-2-Hemmer haben wahrscheinlich einen therapeutisch günstigen Effekt auf die Hirnödembildung, die Tumorproliferation und die Angiogenese. Akuter Hirndruck kann mit Mannitol 20% (z.B. 200 mL über 30 Minuten zentralvenös verabreicht) und mit intravenösen Steroiden rasch behoben werden. Antiepileptika Das Auftreten von epileptischen Anfällen nimmt mit zunehmender Malignität der Gliome ab (Prävalenz aus einer Übersichtsarbeit mit >1000 Patienten: 85%, 69% und 49% bei LGG, anaplastischen Gliomen und beim GBM respektive). Wenn die Indikation für Antiepileptika gegeben ist nach einem Anfall oder perioperativ (prophylaktisch), so ist der Stellenwert einer länger dauernden Prophylaxe bei anfallsfreiem Patienten schlecht dokumentiert. In einer amerikanischen Übersichtsarbeit konnte kein Unterschied in der Häufigkeit des Auftretens von Anfällen mit oder ohne Prophylaxe festgestellt werden. Interaktionen mit Zytostatika und Steroiden hingegen wurden dokumentiert [7]. Wir empfehlen keine generelle, sondern eine individuelle, interdiszipliniär abgesprochene Prophylaxe mit Antiepileptika. Thromboembolie Das erhöhte Thromboembolie-Risiko bei Hirntumor-Patienten (bei etwa einem Drittel) ist multifaktoriell bedingt. Neben den perioperativen Risikofaktoren werden auch prokoagulatorische Mechanismen durch den Tumor selber postuliert. Mehrere retrospektive Studien haben gezeigt, dass das Blutungsrisiko bei einer therapeutischen Antikoagulation nicht erhöht ist bei enger Kontrolle der Gerinnungsparameter (INR 2–3). Neuropsychologie, Rehabilitation Ein einfacher Mini Mental Test ist zu wenig sensitiv, um diskrete kognitive Ausfälle und fokale Läsionen zu erfassen. Eine neuropsycho- C U R R I C U LU M Schweiz Med Forum Nr. 32/33 14. August 2002 logische Abklärung nach Abschluss der Primärtherapie und die ambulante Rehabilitation der erfassten Defizite ist sinnvoll. Die Arbeitsfähigkeit und die Fahrtauglichkeit müssen v.a. bei Patienten mit niedriggradigen Tumoren individuell beurteilt werden, letztere kann z.B. mit einem normierten Fahrtauglichkeits-Test überprüft werden. Über Anlaufstellen zur Unterstützung der Angehörigen im Hinblick auf eine möglichst lange Integration des Patienten zu Hause sollte frühzeitig informiert werden. Neuroendokrine Insuffizienz (posttherapeutisch) Eine mehr oder minder ausgeprägte Dysfunktion der hypothalamisch-hypophysären Achse wird häufig beobachtet, wenn sie gezielt im Labor gesucht wird. Die Symptome beim Er- 758 wachsenen sind oft diskret und unspezifisch, haben aber einen negativen Einfluss auf die Lebensqualität. Bei Patienten mit einem längeren Überleben (LGG) sollten deshalb regelmässig (z.B. jährlich) die Gonaden-Schilddrüsenund Nebennierenfunktion untersucht werden. Ein SIADH kann anamnestisch und mit Bestimmung der Elektrolyte erfasst werden. Verdankung Herrn Dr. med. Martin Landolt, FMH Neurologie, Neubadstrasse 35, 4054 Basel und Frau Dr. med. Brigitta Baumert, Institut für RadioOnkologie Universitätsspital Zürich, möchten wir ganz herzlich für die kritische Durchsicht des Manuskripts und die wertvollen Hinweise danken. Literatur 1 Bauman G, Lote K, Larson D, Stalpers L, Leighton C, Fisher B, et al: Pretreatment factors predict overall survival for patients with low grade glioma: a recursive partitioning analysis. Int J Radiat Oncol Biol Phys 1999;45:923–9. 2 Surma-aho O, Niemelä M, Vilkki J, Kouri M, Brander A, Salonen O, et al. Adverse long-term effects of brain radiotherapy in adult low-grade glioma patients. Neurology 2001;56:1285– 90. 3 Olson J, Riedel E, DeAngelis L. Long term outcome of low grade oligodendroglioma and mixed glioma. Neurology 2000;54:1442–8. 4 Karim A, Afra D, Cornu Ph, Bleehan N, Schraub S, De Witte O, et al. Randomized trial on the efficacy of radiotherapy for cerebral low-grade glioma in the adult: European Organization for Research and Treatment of Cancer Study 22845 with the Medical Research Council Study BR04: An Interim Analysis. Int J Radiat Oncol Biol Phys 2002;52:316–24. 5 Mason W, Krol G, DeAngelis L. Lowgrade oligodendroglioma responds to chemotherapy. Neurology 1996;46: 203–7. 6 Streffer J, Bitzer M, Schabet M, Dichgans J, Weller M. Response of radiochemotherapy associated cerebral edema to a phytotherapeutic agent, H 15. Neurology 2001;56: 1219–21. 7 Glantz M, Cole B, Forsyth P, Recht L, Wen P, Chamberlain M, et al. Practice parameter: Anticonvulsant prophylaxis in patients with newly diagnosed brain tumors. Neurology 2000; 1886–93.