1. Frühkindliche Regulationsstörungen

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Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter der Psychiatrischen Universitätsklinik Tübingen
Kinder- und Jugendpsychiatrie für Medizinstudenten
Dieses Skript ist die verbindliche Grundlage im Fach Kinder- und Jugendpsychiatrie für die Klausuren im Rahmen des Medizinstudiums an der Universitätsklinik Tübingen. Dieses Skript ist im Aufbau begriffen, gültig ist der
Stand zum jeweiligen Semesterbeginn.
Ziel dieses Skript ist es zum einen, die stark psychodynamisch und personal-psychotherapeutisch geprägten
Perspektiven und stark milieu-, kunst- und körpertherapeutisch geprägten Therapieansätze der Tübinger Kinderund Jugendpsychiatrie anzubieten und zugleich aber auch zunehmend eine Kongruenz des Wissensstoff mit
dem eher biologisch-verhaltenstherapeutisch geprägten Inhalt des Gegenstandskatalogs herzustellen und über
diese Annäherung and die Inhalte der Schwarzen Reihe eine Vertiefung des Lernens anhand dieses Lehrbuchs
zu erleichtern.
Ziel des kinder-jugendpsychiatrischen Unterrichts an der Universitätsklinik Tübingen ist es, den Blick zu öffnen
für kinder-jugendpsychiatrische Fragen und das Interesse an diesen Fragen zu wecken. Um unnötige Belastungen der Studenten angesichts des übervollen Lernzielkatalogs zu vermeiden, ist es äußerst knapp gehalten, obwohl wir Kinder- und Jugendpsychiatrie und Kinder- und Jugendpsychotherapie gerade in der heutigen Zeit für
sehr relevant halten und dieser Bedeutung gemäß einen größeren Raum würden.
Version 1.0 vom 30.11.2006
1. Frühkindliche Regulationsstörungen
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Schrei-, Schlaf- und Fütterstörungen
Präverbale Interaktionen in alltäglichen Situationen
Zentrale psychische Bereiche:
– Arousal
– Aktivität
– Affekt
– Aufmerksamkeit
Fehlanpassung durch
– zu starke Aktivierung
– zu starke Hemmung
Ambulanz für „Schreibabys“:
Ein Angebot für Kinder von 0-3 Jahren und ihren Eltern mit folgenden Problemen:
• Probleme der Schlaf-Wach-Regulation (innerhalb des ersten Lebenshalbjahres)
• Schlafstörungen (nach dem 6.Lebensmonat)
• Fütterstörungen
• Exzessives Schreien
• Dysphorische Unruhe
• Exzessives Klammern
• Exzessives Trotzen
• Aggressives/oppositionelles Verhalten
Phasenspezifität der Störungsbilder - Adaptive Entwicklungsaufgaben:
Adaptive Entwicklungs- Phasentypische ProbAlter
aufgaben
leme
0-3 Monate
Nahrungsaufnahme
Verdauung
Energiehaushalt
Regulation der Verhaltenszustände
Schlaf-WachOrganisation
Exzessives Schreien
Probleme der SchlafWach-Organisation
Fütterstörungen
3-7 Monate
Zufüttern
Schlaf-Wach-Rhythmus
Nachtschlaf
Regulation von
Aufmerksamkeit, Selbstwirksamkeit,
Affekt
Motorische Unruhe
Dysphorie
Spielunlust
Fütterstörungen
Schlafstörungen
Ab 7-9 Monate
Beginn der eigenständigen Fortbewegung
Bindungssicherheit
Exploration
Fremde
Abstillen
Exzessives Klammern
Übermäßige Fremdenangst
Trennungsangst
Fütterstörungen
Schlafstörungen
Ab 15-18 Monate
Selbständige Fortbewegung
Selbst Essen
Abhängigkeit und Autonomie
Regeln und Grenzen
Reifung präfrontaler inhibitorischer Prozesse
Exzessives Trotzen
Aggressivoppositionelles Verhalten
Fütterstörungen
Schlafstörungen
Entwicklungsphasen in der frühen Kindheit
Frühkindliche Regulation:
Die Herausforderungen der frühen Kindheit sind von Eltern und Baby gemeinsam im Sinne einer
Co-Regulation zu bewältigen.
Elterliche Seite
• Eltern unterstützen das Baby mit ihren eigenen intuitiven Kompetenzen, sie kompensieren,
was das Baby noch nicht allein bewältigen kann – sowohl physisch als auch psychisch.
Kindliche Seite
• Das Baby erlebt sich als gehalten, gesehen, beruhigt, angeregt etc. und entwickelt auf dieser
Basis das Gefühl der Selbstwirksamkeit und selbstregulatorische Fähigkeiten.
Funktionierender Anpassung und Kommunikation zwischen Eltern und Baby entsteht ein positives
kindliches Feedback an Mutter oder Vater.
Frühkindliche Dys-Regulation:
•
•
Es kommt zu einem negativen kindlichen Feedback, welches die Eltern an ihren eigenen
Kompetenzen zweifeln lässt, es entstehen Gefühle der
– Hilflosigkeit,
– Ohnmacht,
– Frustration,
– Wut,
– Angst vor Ablehnung,
– Depression,
– Aggression, etc..
Es entsteht somit ein „Teufelskreis“ aus negativer Gegenseitigkeit bestehend aus negativem
kindlichem Feedback auf die Eltern, die in ihrem Selbstvertrauen geschwächt werden und sich
selbst als inkompetent erleben, was wiederum auf das Kind zurückwirkt.
Modell zur Genese frühkindlicher Regulations- und Beziehungsstörungen:
Häufige Manifestationsformen frühkindlicher Regulationsstörungen:
Exzessives Schreien:
Definition:
Dreier-Regel von Wessel et.al. (Pediatrics,1954)
Ein ansonsten gesunder Säugling mit Schreianfällen von
„mehr als 3 Stunden am Tag,
an mehr als 3 Tagen der Woche,
seit mehr als 3 Wochen“
Unterscheidung von
• Frühkindlicher Regulationsstörung mit exzessivem Schreien innerhalb der ersten 3 Lebensmonate, meist selbstlimitierend („3-Monatskoliken“)
und
• Persistierendem exzessivem Schreien über den 3.Lebensmonat hinaus
Prävalenz:
• Im ersten Trimenon bei ca. 20% in repräsentativen Stichproben, (Quengeln und Schreien
mehr als 3 Stunden pro Tag).
• Bei diesen Babys persistiert die Schreiproblematik bei fast 40% über den 3.Lebensmonat hinaus.
• Bei einer Gesamtprävalenz von ca. 20% im Alter von 6 Wochen werden wiederum ca. 20 %
davon klinisch vorstellig, d.h. etwa 4% aller Säuglinge.
Auswirkungen des unstillbaren Schreiens auf die Eltern
Schlafstörungen:
Definition:
• Eine allgemeingültige Definition für die Schlafstörung in der frühen Kindheit hat sich bisher
nicht durchgesetzt!
Gründe
• rasche altersabhängige Veränderungen
• hohe individuelle Variabilität
Unterscheidung von
• Einschlafstörung
• Durchschlafstörung
Kriterien zur Beurteilung der Schlafstörung
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Aufwachhäufigkeit in der Nacht
Nächtliche Wachzeit
Einschlafdauer
Unfähigkeit, alleine einschlafen zu können
Einschlafhilfen (kindliche – elterliche)
Wachbefindlichkeit tagsüber (Kind-Eltern)
Störungsspezifische Anamnese
• 24-h Protokoll
• Schlafgewohnheiten der Familie
• Schlafsetting, Wer schläft wo?, räumliche Voraussetzungen,etc
• Stillen und nächtliches Füttern
• Einschlafrituale
• Genauer Ablauf und Form von Beruhigungs- und Einschlafhilfen
Prävalenz:
• Je nach verwendeten Kriterien und Alter schwanken die Prävalenzraten zwischen 15-25%
Fütterstörungen:
Definition:
• Vorübergehende Fütterprobleme im Säuglingsalter sind häufig, deshalb sollte man von Fütterstörung erst sprechen, wenn die Füttersituation über einen längeren Zeitraum (>1 Monat) als
von den Eltern problematisch erlebt wird.
Objektive Hinweise:
• durchschnittliche Dauer einzelner Fütterungen > 45 min
und/oder
• ab dem 2. Lebensjahr Intervall zwischen den Mahlzeiten < 2 Stunden
Erscheinungsbild:
• hartnäckige kindliche Nahrungsverweigerung oder Essunlust
• Füttern nur mit Ablenkung, „Theater“
• Füttern im Schlaf bzw. Halbschlaf
• Zu lange/kurze Intervalle zwischen den Mahlzeiten
• Zu lange Dauer der Füttersituation
• Eltern erkennen beim Kind schlechter sowohl Hunger- wie auch Sättigungsanzeichen
• Das kindliche Essverhalten ist nicht altersgemäß
• Nach traumatischen Füttererfahrungen oder traumatisierenden Eingriffen im MundRachenbereich angstvolle bis panische Abwehr
• Häufige Nahrungswechsel in der Vorgeschichte
• Nicht-altersentsprechende Nahrungsangebote
Oft in Kombination mit anderen regulatorischen Problemen
• chronische Unruhe
• unstillbare Schreiphasen
• Schlafprobleme
Typischer „Teufelskeis“ mit der Symptom-Trias
• kindliche Probleme der Verhaltensregulation (bei der Nahrungsaufnahme)
• damit einhergehende dysfunktionale Fütter-Interaktionsmuster und
• elterliche Anpassungsstörung mit Erschöpfung und Überforderung
Prävalenz:
• Breit gestreut aufgrund erheblich divergierender diagnostischer Kriterien und Stichproben.
• Vorübergehende Fütterprobleme im Säuglingsalter häufig
• In unausgelesener Stichprobe Fütterstörung im klinischen Sinne in 3-10%.
• Gedeihstörungen treten einer umfangreichen epidemiologischen Studie zufolge sowohl in
stark benachteiligten (7,5%) als auch in wohlhabenden (8,2%) Bevölkerungsschichten, weniger in der Mittelschicht (3,8%).
• Fütter- und Gedeihstörungen neigen zur Persistenz.
Diagnostik:
• 24-Stunden Protokoll von 5 aufeinander folgenden Tagen mit Dauer und tageszeitlicher Verteilung von
– Schreien, Quengeln
– Schlafen
– Füttern
– gemeinsames Spiel
• ausführliches diagnostisches Interview mit Erhebung
– der genauen Anamnese, Familienanamnese, Schwangerschaftsanamnese, etc.
– Belastungsfaktoren und Ressourcen der Familie
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•
– Psychodynamische und familiendynamische Anamnese
Pädiatrische Untersuchung
Fragebögen (Temperament, Befindlichkeit der Mutter, etc.)
Spontane und videogestützte Interaktionsbeobachtung von Kind und Eltern bei der ärztlichen
Untersuchung sowie in störungsrelevantem Kontext (Beruhigung beim Schreien und Schlafenlegen, Wickeln, Füttern, entspanntes Zwiegespräch, Spiel)
Ergänzt durch störungsspezifische Diagnostik
z.B. >
Laboruntersuchungen bei Gedeihstörungen
>
Anamnese mütterlich Essstörung?
>
„Home-Videos“ Schlafstörung
Therapieangebot:
Entwicklungsdynamisches, systemisches Konzept der Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Beratung und –
Psychotherapie
Im Mittelpunkt sowohl der Diagnostik als auch der therapeutischen Unterstützung steht
• die Kommunikation in der alltäglichen Eltern-Kind-Interaktion
sowie
• das Zusammenspiel der intuitiven elterlichen Kompetenzen und der selbstregulatorischen
Kompetenzen des Kindes.
Interdisziplinarität wichtiger Baustein der Patientenzuweisung und Behandlung
Grundelemente der Behandlung:
• Psychische und physische Entlastung der Eltern mittels
– Entwicklungsberatung
– Entlastende psychotherapeutische Gespräche; Zeit, Halt und Raum geben
– Kommunikationsanleitung, eventl. mit videogestützter Verhaltensbeobachtung
– Psychodynamisch orientierte Gespräche, die unbewusste Blockaden, Fixierungen, Konflikte der Eltern aufgreifen
• Immer auch Einbeziehung des Kleinkindes
2. Tiefgreifende Entwicklungsstörungen am Beispiel des Autismus
Tiefgreifende Entwicklungsstörungen
Gruppe von Störungen, die durch qualitative Beeinträchtigungen in gegenseitigen sozialen Interaktionen und
Kommunikationsmustern sowie durch ein eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von
Interessen und Aktivitäten charakterisiert ist. Es besteht eine deutliche Abweichung von der Entwicklungsstufe
und vom Intelligenzalter einer Person.
Zu diesen Störungen gehören:
frühkindlicher Autismus (Autistische Störung)
Asperger Syndrom (Autistische Psychopathie)
atypischer Autismus
Rett-Syndrom
desintegrative Störung des Kindesalters
hyperkinetische Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien
Autismus
ist
"... eines der kompliziertesten natürlichen Phänomene, die es überhaupt gibt"
Elisabeth und Niko Tinbergen
"... die schwierigste und am meisten irreführende, die bizarrste und am wenigsten
beeinflußbare Verhaltensstörung"
Carl H. Delacato
Erstbeschreibung des Autismus durch
Kanner (1943)
„early infantile autism“
Asperger (1944)
„autistische Psychopathie“
Gute bis überdurchschnittliche Intelligenz
Weniger hochgradige Beziehungsstörung
Extreme autistische Abkapselung von Umwelt Frühzeitige Sprachentwicklung, großer Wortschatz und originelle Wortneuschöpfungen
Störungen der Sprachentwicklung
Fähigkeit zu abstrahieren und logisch zu denken
Übermäßige und intensive Sonderinteressen
Ängstlich-zwanghaftes Bedürfnis nach
Andere, disharmonische Emotionalität
Gleicherhaltung der Umwelt
Gefahr der Isolation
Überschießende und unangemessene Reaktionen
Störungen der Intelligenzentwicklung
Klassifikationskriterien des Autismus (DSM IV):
A Auffällige/beeinträchtigte Entwicklung bis einschließlich 36.
Lebensmonat
B1 Qualitative Auffälligkeit der gegenseitigen sozialen Interaktion
nichtverbales Verhalten zur Regulation sozialer Interaktionen zu verwenden
B1a Unfähigkeit,
(Mangel an direktem Blickkontakt, sozialem Lächeln / eingeschränkte Mimik)
B1b
Unfähigkeit, Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzunehmen
(keine Phantasiespiele mit Gleichaltrigen /
fehlendes Interesse an anderen Kindern /
fehlende Reaktion auf die Annäherungsversuche anderer Kinder /
Mangel an Gruppenspiel mit Gleichaltrigen oder Freundschaften / Unangemessenheit eines Gesichtsausdrucks
/
Unangemessenheit sozialer Reaktionen)
B1c
B1d
Mangel an sozio-emotionaler Gegenseitigkeit
Unfähigkeit, Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzunehmen (keine Phantasiespiele mit Gleichaltrigen /
fehlendes Interesse an anderen
Kindern / fehlende Reaktion auf die Annäherungsversuche anderer Kinder / Mangel an Gruppenspiel
mit Gleichaltrigen oder
Freundschaften / Unfähigkeit, jemandem Trost zu spenden / der Körper einer anderen Person wird
zur Verständigung benutzt)
Mangel, Freude mit anderen zu teilen
(das Kind zeigt kaum Aufmerksamkeit und nimmt kaum Angebote wahr, etwas mit jemandem zu
teilen / teilt keine Bedürfnisse oder
Vergnügen mit anderen)
B2 Qualitative Auffälligkeit der Kommunikation / Sprache
oder Verzögerung der gesprochenen Sprache und fehlende Kompensation durch Gestik,
B2a Mangel
Mimik
B2b
B2c
B2d
(das Kind hat Schwierigkeiten, auf etwas zu deuten, um Interesse zu bekunden / zeigt kaum konventionelle, zielgerichtete Gesten, wie Nicken oder Kopfschütteln)
Relative Unfähigkeit, einen sprachlichen Austausch zu beginnen oder aufrechtzuerhalten
(kaum soziales Lautieren oder Plappern als Kleinstkind / stark verminderte wechselseitige Konversation)
Stereotype und repetitive Verwendung der Sprache und/oder idiosynkratischer Gebrauch von Worten
oder Phrasen
(verzögerte Echolalie, stereotype Lautäußerungen / unangemessene Fragen oder Fragestellungen /
Pronominalumkehr / Neologismen und bizarre Neubildungen von Ausdrücken)
Mangel an variierenden spontanen "so tun als ob"-Spielen oder (bei kleinen Kindern) im sozialen
Imitationsspiel
(beim Imitieren von Handlungen, phantasievollem Spiel, imitierendem sozialem Spiel)
B3 Begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster
Beschäftigung mit stereotypen und begrenzten / Spezialinteressen
B3a Umfassende
(Spezialinteressen / ungewöhnliche und sehr häufige Beschäftigungen)
B3b
B3c
B3d
C
offensichtlich zwanghaftes Festhalten an nicht funktionalen Handlungen oder Ritualen
(Wortrituale / Zwangshandlungen)
Stereotype und repetitive motorische Manierismen
(Hand- und Fingermanierismen)
Vorherrschende Beschäftigung mit Teilobjekten oder nicht funktionalen Elementen von Sachen
(repetitiver Gebrauch von Objekten / ungewöhnliche sensorische Interessen)
Das klinische Bild kann nicht durch andere Erkrankungen erklärt werden.
Autismus-Spektrum
„normal“
Frühkindlicher
high
functioning Autismus
autism
Asperger
Syndrom
Soziale Beeinträchtigung
Intelligenz
Spezialinteressen
frühe Sprachentwicklung
leichte
schwere
sprachliche Beeinträchtigung
Sondersprache, sprachliche Neuschöpfungen
Geistige
Behinderung
Skript - Kinder- und Jugendpsychiatrie – Tübingen Version 1.0 vom 30.11.2006
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Weitergehende Diagnostik und Differentialdiagnostik
Schwere geistige Behinderung.
Die Differentialdiagnose ist bei IQ < 35 und bei sehr jungen Kindern schwierig. Eine gute
Interaktion mit dem Kind entsprechend seinem Entwicklungsstand spricht gegen die Diagnose
eines frühkindlichen Autismus.
Sprachentwicklungsstörung
Die Art der spezifischen Auffälligkeiten der monotonen Modulation, Lautstärke, Sprachflüssigkeit, Sprechgeschwindigkeit, Tonfall und Rhythmus sowie stereotype und repetitive Verwendung der Sprache können von Artikulationsstörungen, expressiver Sprachstörung, entwicklungsbedingter Aphasie, rezeptiver Aphasie, Dysphasie im Rahmen einer rezeptiven
Sprachstörung, Epilepsie bei einem Landau-Kleffner-Syndrom meist gut abgegrenzt werden
Verzögerung und Störung der motorischen Entwicklung. Keine motorischen Stereotypien
in der Regel bei Störung der motorischen Entwicklung (F82).
Überaktive Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien (F84.4).
Es fehlen die für den Autismus typischen Kommunikations- und
Interaktionsstörungen.
Bindungsstörungen (F94.1/F94.2).
Kinder mit Deprivationssyndromen und/oder Sinnesstörungen zeigen nach einigen Monaten
in adäquatem Umfeld deutlich schnellere und bessere sprachliche Funktionen als Kinder mit
Autismus.
Rett-Syndrom.
Tritt nur bei Mädchen auf, erworbene Fähigkeiten gehen verloren und typische psychomotorische Entwicklungsstörungen treten auf.
Hellersche Demenz bzw. andere desintegrative Störungen.
Bis zum Alter von mindestens 2 Jahren liegt eine normale Entwicklung vor, der Verlust erworbener Fähigkeiten differenziert diese Störung vom Autismus.
Fragiles X-Syndrom.
Die Differenzierung vom Autismus ist durch molekulargenetische Untersuchungen eindeutig
möglich. Nur etwa etwa 2% der Kinder mit
Autismus zeigen auch ein Fragiles X-Syndrom.
Tuberöse Hirnsklerose.
Der Ausschluß ist durch spezifische Untersuchungsmethoden (Hautdiagnostik bzw. bildgebende Verfahren) möglich.
Phenylketonurie.
Hierbei ist der Nachweis des gestörten Phenylalaninabbaus erforderlich.
Frühkindliche schizophrene Psychose.
Die hierbei auftretenden Wahnsymptome, Halluzinationen oder Verschlechterung des erlangten Niveaus fehlen beim Autismus.
Schizoide Persönlichkeitsstörung.
Skript - Kinder- und Jugendpsychiatrie – Tübingen Version 1.0 vom 30.11.2006
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Die Differentialdiagnose gegenüber dem Asperger-Syndom ist schwierig (eine weit in die
frühe Kindheit zurückführende klare Anamnese mit Auffälligkeiten entsprechend den Leitlinien autistischer Störungen schließt eine Persönlichkeitsstörung aus).
Mutismus und Angstsyndrome.
Im Vergleich zum Autismus finden sich wesentlich bessere soziale Wahrnehmung, Bindungsund Spielverhalten bzw. deutlich bessere averbale Reaktivitäten von Mimik, Gestik und
Blickkontakt; die Situationen, in denen Auffälligkeiten gezeigt werden, sind selektiv, z.B.
unauffälliger Gebrauch der Sprache bei mutistischen Kindern in vertrauter Umgebung.
Perinatalschäden und neurologische Dysfunktion.
stellen keine Differentialdiagnose, aber häufig Begleiterscheinungen beim Autismus dar.
Folgende auffällige Verhaltensweisen können, aber müssen sich nicht zeigen.
Im ersten Lebensjahr:
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Fehlender oder seltener Blickkontakt
Auffälliges Verhalten bei Körperkontakt
(Schmusen, Streicheln,...)
Schlafstörungen
Wenig Interesse an Interaktions- oder
Bewegungsspielen wie «gugus-dada»oder «hoppe Reiter»-Spielen
Keine Reaktion, wenn das Kind beim
Namen gerufen wird
...
Im zweiten Lebensjahr:
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•
•
•
Fehlende Sprachentwicklung oder Verlust
bereits benutzter Worte
Kein gemeinsames Betrachten von Dingen
und Bildern
Kein Zeigen auf Objekte (ausser wenn das
Kind sie haben will)
...
Nach dem zweiten Lebensjahr:
•
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•
•
•
Wenig Interesse an anderen Kindern
Sprache fehlt oder ist auffällig, wird kaum
zur Kommunikation eingesetzt
Auffälliges Spielverhalten mit eingeschränkten Interessen und sich wiederholenden
stereotypen Abläufen
Kaum Interesse an Bilderbüchern oder
Geschichtenerzählen
Faszination an sich drehenden
Gegenständen
Auffällige Hand- und Körperbewegungen
Autismus-Beurteilungsskala
Skript - Kinder- und Jugendpsychiatrie – Tübingen Version 1.0 vom 30.11.2006
(CARS nach Schopler und Mitarbeiter 1980, bearbeitet von Steinhausen)
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Beziehungen zu Menschen
Ausgeprägte Distanz und Vermeidung
Imitation - verbal und motorisch
Kind imitiert selten, wenn überhaupt
Affekt
selten situationsangemessen, rigide
Körperbewußtsein, Einsatz des Körpers
eigenartige Haltungen oder Bewegungen
Beziehung zu nicht-belebten Objekten
mangelndes und übermäßiges Interesse
Anpassung an Veränderung
Überempfindlichkeit auf Veränderungen
Visuelle Reaktionsbereitschaft
Vermeidung u. bizarrer Gebrauch von Reizen
Akustische Reaktionsbereitschaft
Vermeidung, Überempfindlichkeit
Reaktion der Nah-Rezeptoren
taktile Exploration, Mangel an Schmerzreaktion
Angst-Reaktion
anhaltende nicht beruhigbare Angst
Verbale Kommunikation
Fehlen erkennbarer Wörter, bizarrer Einsatz
Nonverbale Kommunikation
fehlt oder bizarr und unverständlich
Aktivitätsniveau (Bewegungsmuster)
extrem hoch mit Problemen der Lenkung
Funktionsniveau der Intelligenz
z.T. retardiert mit extremer Streuung
Allgemeiner Eindruck
1 = altersgemäß bis 4 = hochgradig abnorm
Summe über 30 = autistisch, über 37 = hochgradig autistisch
Theorien über Autismus-Entstehung
Bleuler (1911)
• psychotische Persönlichkeitsstörung mit extremer Selbstbezogenheit und Insichgekehrtheit und phantastisch-impulsiver (autistischer) Sprache
Kanner 1943
• negative Einflüsse des Elternhauses (Kühlschrank-Eltern)
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Skript - Kinder- und Jugendpsychiatrie – Tübingen Version 1.0 vom 30.11.2006
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Bettelheim
• permanente Nicht-Reaktion der Mutter (der Eltern) auf die Wünsche des Säuglings,
führt zur Überzeugung, dass eigene Anstrengungen die Welt nicht beeinflussen
können bzw. dass eigenes Handeln katastrophale Folgen auslöse
Delacato:
• "Sensorismus"
• Sinnesbahn eines der 5 Sinne zum Gehirn gestört, Verhalten versucht diese Sinnesbahn zu aktivieren.
Tinbergen
• milieubedingte und psychogene Störung des emotionellen Gleichgewichts mit ununterbrochenem Motivationskonflikt und Wunsch des Ausweichens, als Angst
• Ursachen sind Komplikationen bei Geburt, Trennung von der Mutter, Milieuschäden,
organische Schäden
• Zivilisationskrankheit, Kinder in der heutigen Gesellschaft überfordert
• autistisches Verhalten ist funktionelle Anpassung, kann aber zur Abwärtsspirale führen
neuere Diskussion:
• erhöhte Endorphin-Ausschüttung
• Serotonin-Erhöhung
• rechte optische Großhirnhemisphäre stärker als linke sprachliche Großhirnhemisphäre
• genetisch bedingt
• vorgeburtliche Erfahrungen
Francis Tustin
(aktuelle psychoanalytische Sichtweise)
• Es gibt keine normale autistische Entwicklungsphase.
• Autismus ist damit auch nicht Regression in einen solchen frühen Zustand. Als autistisch
sollte nur ein pathologischer Zustand benannt werden.
• Dem Autismus liegt eine traumatisch erlebte (auch körperliche) Trennungserfahrung von
der Mutter (primäre Bezugsperson) zugrunde.
• Diese traumatische Erfahrung ist Folge einer unangemessenen Ungetrenntheit zwischen
Kind und Mutter, in der das Kind keine Verschiedenheit von der Mutter erleben konnte.
• Als Folge der traumatischen Trennungserfahrung meidet der Autist alle weiteren Kontakte
mit der Möglichkeit weiterer schmerzhafter Erfahrung.
• Stattdessen schafft er sich als Schutz eigene autistische Objekte.
• Autistische Symptome sind Schutz, sie sollen die noch dauernde Anwesenheit des mütterlichen Körpers suggerieren.
• Wenn mit zunehmendem Alter der Trennungsschmerz dann doch ins bewußte Erleben
vordringt, wird therapeutische Hilfe gesucht.
• Psychoanalytische Therapie versucht diese traumatisierende frühe Trennungserfahrung
aufzuarbeiten.
Dazu muß diese Therapie zunächst Halt geben, dann die Trauer über den Verlust ermöglichen. Dadurch wird Vorstellung für andere Menschen geschaffen und entsteht eine Symbolisierungsfähigkeit.
Skript - Kinder- und Jugendpsychiatrie – Tübingen Version 1.0 vom 30.11.2006
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Auftreten, körperliche Grundlagen und Erklärung des Autismus:
Häufigkeit:
3,9 bis 13,8 auf 10 000 Menschen
in Deutschland etwa 35 000 Autisten
Kontinuum von Störungen ohne klare Grenze
(Für Asperger-Autismus keine verlässlichen Zahlen zu nennen)
Geschlechtsverteilung:
überwiegend Jungen (ca. 4:1) (Asperger-Syndrom: ca. 12:1)
80% mit geistiger Behinderung
Ursachen:
ungeklärt
bei Störungen des Gehirns:
• Kleinhirnstörungen (Wurm und Hemisphären)
• häufig bei fragilem X-Syndrom
• Zwillingsuntersuchungen sprechen für familiäre Disposition
Erklärungsmodelle:
Neuropsychologisch:
Übergewicht der rechten Hinrnhälfte nach Beeinträchtigung der linken
(bei Schizophrenie umgekehrt)
Keine Hemisphären-Spezifizierung
Psychologisches Konzept:
Theory of mind (autistisches Kind kann sich nicht in andere hineinversetzen)
Microsoziologisch:
Reine geistige Existenz mit Denken und Bedeutungen ohne Selbst
Therapie des Autismus:
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•
Beginn möglichst im ersten Lebensjahr
Nicht zu viele Bezugspersonen
Möglichst 24-Stunden-Therapie
Aufbau von Beziehung, zunächst durch Imitation, Begleitung
Regelmäßige, vorhersagbare Routine
Verläßlich gleichbleibende Umgebung
Konkret statt abstrakt
Vorhandene Fähigkeiten ausbauen
Verhaltenstherapeutische Techniken
Visuelle Lernmethoden ohne lange mündliche Erklärungen
Musische Fähigkeiten fördern und einsetzen
Sensorische Integration
Kontakt zu Normalkindern
Skript - Kinder- und Jugendpsychiatrie – Tübingen Version 1.0 vom 30.11.2006
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Medikamente:
• Keine spezifischen Medikamente
• Angstlösende und antidepressive Medikamente helfen
Spezialmethoden:
• Festhaltetherapie (Tinbergen, Welche, Prekop, Janssen)
• Facilitated communication
Gedanken zur FC = Facilitated Communication
Hilfe geschieht durch Stütze des Armes/der Hand:
also auf körperlicher, damit auf vorsprachlicher Ebene
= auf primärprozeßhafter Ebene, nicht auf Ebene strukturierten Denkens
Auf dieser Ebene gibt es keine Gedanken und keine Getrenntheit
Deshalb ist es müßig, zu diskutieren ob die Texte der FC vom Patienten oder vom Unterstützer stammen, sie stammen aus einer ungetrennten Einheit von Unterstützer und Patient.
Alle Untersuchungen, die darauf abzielen, ob ein eigenes Denken des Autisten die Texte produziert, müssen zu einem negativen Ergebnis führen.
Die Texte geben etwas vom inneren Erleben von Autisten wieder, da in der ungetrennten Einheit mit dem Unterstützer auch der autistische Mensch mit seinem vorsprachlichen Erleben
enthalten ist.
Die Ansicht, dass das Denken der Autisten immer in diesem vorhanden ist und lediglich durch
fehlende Kommunikationsfähigkeit in diesem abgeschlossen bleibt, ist falsch, da es erst in
Verbindung mit dem Unterstützer entsteht.
Die therapeutische Wirkung der gestützten Kommunikation muß diskutiert werden:
• Liegt in der Versprachlichung der ungetrennten Einheit durch den Unterstützer ein
Lernen oder ein therapeutisches Potential für den autistischen Menschen?
• Ist die enge Unterstützung als Angstreduktion das therapeutische Wirkprinzip?
• Muß der Unterstützer nicht gerade ein gerade erträgliches Maß an Trennung einführen, um dem Autisten zu einer eigenen Sprache zu verhelfen?
• Muß dazu nicht gerade von einer Fixierung auf die genialen Inhalte der Texte abgesehen werden?
Prognose
•
Frühkindlicher Autismus (Kanner)
– 1-2% als Erwachsene unauffällig
– 5-15% grenzwertig auffällig
– 16-25% auffällig, aber gut betreubar
– Über 60% dauerhaft massiv auffällig mit bleibendem hohem Betreuungsbedarf
Skript - Kinder- und Jugendpsychiatrie – Tübingen Version 1.0 vom 30.11.2006
•
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Asperger
– Deutlich günstigerer Verlauf
– u.U. ebenfalls hoher Betreuungsbedarf (leben in spezialisierter Einrichtung
3. Emotionale Störungen am Beispiel der Schulphobie
mit Differenzierung der Unterformen des Schulverweigerung
Anhand der Differenzierung eines Symptoms ( = Fernbleiben vom Schulunterricht)
und der daraus ersichtlichen unterschiedlichen Ursachen und teilweise gegensätzlichen Therapiewege soll verdeutlicht werden, dass einfache Symptom – Therapie
Kurzschlüsse nichtsinnvoll sind und erst eine genaue Differenzierung und ein Verständnis für die inner- und interpersonalen psychodynamischen Zusammenhänge
eine geeignete und sinnvolle Therapie erlauben.
Differentialdiagnose der Schulverweigerung
nach Eggers, Lempp, Nissen, Strunk, 1993 und Steinhausen, 1993
Name:
Schultyp:
Notendurchschnitt:
Geburtsdatum:
Klasse:
schlechteste Zeugnisnote:
SScchhuullpphhoobbiiee
Angst in der
Schulsituation
Somatisierung
Persönlichkeit
Intelligenz
Lernstörungen
Lernmotivation
Schulbesuch
Elternverhalten
Pathogene Faktoren
Symptomgenese
stark ausgeprägt
SScchhuullaannggsstt
vorhanden, wechselnde
Intensität
stark
wechselnd
ängstlich, sensitiv
ängstlich, sensitiv
durchschnittlich bis hoch
durchschnittlich, heterogenes Profil
fehlen
häufig vorhanden
hoch
gestört
chronisch unterbrochen mit sporadisch unterbrochen
Wissen der Eltern
mit Wissen der Eltern
SScchhuullsscchhw
wäännzzeenn
fehlt
fehlt
aggressiv, dissozial
durchschnittlich bis erniedrigt
fehlen
niedrig
sporadisch oder chronisch
unterbrochen ohne Wissen
der Eltern
überprotektiv, bindend
unspezifisch
vernachlässigend
psychische oder physische mangelnde Gewissensbilpathologische Mutterdung (Über-Ich-Schwäche)
Insuffizienz (LernschwäKind-Beziehungen oder
begründete kindliche Ängs- che bzw. -störung, Körper- oder Ich-Schwäche (durch
frühkindliche Frustrierunte vor dem Verlassenwer- schwäche bzw. gen)
mißbildungen)
den
Verdrängung der Angst vor ersatzloses Ausweichen
Vermeiden der unlustgetön-
Skript - Kinder- und Jugendpsychiatrie – Tübingen Version 1.0 vom 30.11.2006
SScchhuullpphhoobbiiee
SScchhuullaannggsstt
dem Verlassenwerden von
der Mutter (Verlustangst)
und Verschiebung auf das
Objekt Schule
Folgen
Beziehungsdynamik
Psychophysiologie
vor Schulsituationen aus
Angst vor Kränkung
(Schulversagen) und Demütigungen (Prügelknaben)
infantile Gemeinschaft mit durch Ausweichhandlunder Mutter bleibt zunächst gen zunächst affektive
erhalten - Gefahr der Tren- Erleichterung, aber Angst
vor Kontaktabbruch der
nung bleibt bestehen
Eltern
sehr enge Beziehungen
normale aber oft angstvoloder beziehungsmeidend
le Beziehungen
dauernd sehr hohes inneres situativ hohes ErregungsErregungsniveau
niveau
18
SScchhuullsscchhw
wäännzzeenn
ten schulischen Leistungssituationen durch Überwechseln in lustbetonte Verhaltensweisen
ambivalente Bejahung der
Schulverweigerung und der
Risiken der Ersatzhandlungen (Tagträumen, Dissozialität), Furcht vor der Strafe
unstete, teilweise idealisierende Beziehungen
zu niederes Erregungsniveau
erfüllte Bedingungen
sinnvolle Reaktion durch Vertrauen des Kindes gewinnen, frühzeitig Verweis
Lehrer und Schule
an Kinder- und Jugendpsychiater
tiefenpsychologische ThePsychotherapie
rapie, Ermöglichung von
Getrenntsein,
häufig stationäre Therapie
notwendig
Testung auf Überforderung, Anleitung von Lehrern und Mitschüler
soziales Training, verhaltenstherapeutische Angstreduktion, Training von
isolierten Lernschwächen
strenge Führung, frühzeitige
Information von Eltern, bei
fehlender Reaktion Ordnungsamt, ggf. Jugendamt
Jugendhilfemaßnahmen,
pädagogische Führung, tiefepsychologische Angstreduktion
4. Störung der Aufmerksamkeit und Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
(Attention deficit hyperactivity disorder ADHD)
Hyperkinetische Störungen sind durch ein durchgehendes Muster von Unaufmerksamkeit,
Überaktivität und Impulsivität gekennzeichnet, das in einem für den Entwicklungsstand des
Betroffenen abnormen Ausmaß situationsübergreifend auftritt. Die Störung beginnt vor dem
Alter von 6 Jahren und sollte in mindestens zwei Lebensbereichen/Situationen (z.B. in der
Schule, in der Familie, in der Untersuchungssituation) konstant auftreten.
Leitsymptome sind Unaufmerksamkeit (Aufmerksamkeitsstörung, Ablenkbarkeit), Überaktivität (Hyperaktivität, motorische Unruhe) und Impulsivität.
Vermutlich handelt es sich um ein kontinuierlich verteiltes Merkmal. Der vorherrschend unaufmerksame Subtypus scheint eine weniger stark ausgeprägte Variante der Störung zu sein.
Generell lässt sich der Schweregrad an der Intensität der Symptomatik,
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•
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an dem Grad der Generalisierung in verschiedenen Lebensbereichen (Familie, Kindergarten/Schule, Freizeitbereich) und
an dem Grad bemessen, in dem die Symptomatik nicht nur in fremdbestimmten Situationen (z.B. Schule, Hausaufgaben),
sondern auch in selbstbestimmten Situationen (Spiel) auftritt.
Nach DSM-IV lassen sich hyperkinetische Störungen (Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörungen) wie folgt unterteilen:
• Vorherrschend unaufmerksamer Subtypus
• Vorherrschend hyperaktiv-impulsiver Subtypus
• Gemischter Subtypus.
Bei Jugendlichen und Erwachsenen, die nicht mehr alle notwendigen Symptome zeigen, kann
die Diagnose nach DSM-IV durch den Zusatz "in partieller Remission" spezifiziert werden.
ICD-10 macht die Unterscheidung
• Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0)
• Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F90.1), bei der sowohl die Kriterien für
eine hyperkinetische Störung als auch für eine Störung des Sozialverhaltens erfüllt
sind.
Diese Kombinationsdiagnose wird durch die Häufigkeit begründet, mit der beide Störungen gemeinsam auftreten, und mit der im Vergleich zur einfachen Aktivitäts- und
Aufmerksamkeitsstörung vermutlich ungünstigeren Prognose.
Wenn bei Patienten mit Intelligenzminderung hyperkinetische Symptome vorliegen, dann
müssen diese deutlich stärker ausgeprägt sein, als dies bei Menschen mit diesem Grad an Intelligenzminderung üblicherweise der Fall ist.
Diagnostik
Exploration der Eltern und des Kindes/Jugendlichen. Je älter das Kind ist, um so stärker
wird es in die Exploration einbezogen. Die Informationen der Eltern sind jedoch meist zuverlässiger.
Auftreten der Leitsymptome Hyperaktivität, Impulsivität und Aufmerksamkeitsstörung
Häufigkeit, Intensität und situative Variabilität der Symptomatik (z.B. Symptomatik in der
Familie, bei fremdbestimmten oder bei selbstbestimmten Aktivitäten, Symptomatik im Kindergarten bzw. in der Schule)
Elternfragebogen und (für ältere Kinder und Jugendliche) Selbsturteilsfragebogen zur Erfassung von hyperkinetischer Symptomatik können nützlich sein.
Informationen vom Kindergarten/von der Schule mit Einverständnis der Eltern (telefonisch, direkter Kontakt, Berichte oder Fragebogen)
Auftreten der Leitsymptome Hyperaktivität, Impulsivität und Aufmerksamkeitsstörung
Häufigkeit, Intensität und situative Variabilität der Symptomatik
Informationen der Eltern über das Verhalten des Kindes im Kindergarten bzw. in der Schule
sind in der Regel nicht ausreichend.
Verhaltensbeobachtung des Kindes/Jugendlichen während der Exploration sowie während
körperlicher und psychologischer Untersuchungen hinsichtlich des Auftretens hyperkinetischer Symptomatik (Symptome der hyperkinetischen Störung müssen jedoch nicht unbedingt
beobachtbar sein).
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Psychiatrische Komorbidität und Begleitstörung
Exploration der Eltern, Informationen vom Kindergarten/von der Schule und Exploration des Patienten
• Störungen des Sozialverhaltens
• Umschriebene Entwicklungsstörungen, schulische Leistungsdefizite und Hinweise auf
Teilleistungsschwächen
• Hinweise auf Intelligenzminderung (Lernbehinderung oder geistige Behinderung)
• Tic-Störungen (einschl. Tourette-Störung)
• Negatives Selbstkonzept oder depressive Störungen
• Angststörungen (insbesondere Leistungsängste)
• Beeinträchtigte Beziehungen zu Familienmitgliedern, zu Erziehern/Lehrern und zu
Gleichaltrigen.
Die häufigste psychiatrische Komorbidität sind Störungen des Sozialverhaltens und umschriebene Entwicklungsstörungen. Emotionale Störungen werden am häufigsten übersehen.
Intelligenz-, Entwicklungs- und Leistungsdiagnostik zur Abklärung von Intelligenzminderung, umschriebenen Entwicklungsstörungen oder Lernstörungen, soweit indiziert
Testpsychologische Diagnostik
Zumindest eine orientierende Intelligenzdiagnostik wird bei allen Schulkindern empfohlen
Bei Schulkindern ist immer dann eine ausführliche testpsychologische Untersuchung der Intelligenz und schulischer Teilleistungen notwendig, wenn Hinweise auf Leistungsprobleme
(Noten, Klassenwiederholung, Sonderbeschulung) oder schulische Unterforderung vorliegen
Bei Vorschulkindern wird eine ausführliche Entwicklungsdiagnostik wegen der hohen Komorbiditätsraten von Entwicklungsstörungen und wegen der meist fehlenden zuverlässigen
Angaben zum Entwicklungsstand grundsätzlich empfohlen.
Apparative Labordiagnostik. Zu achten ist auf mögliche begleitende körperliche Erkrankungen, z.B. Störungen des Schilddrüsenstoffwechsels sowie akute und chronische zerebrale
Erkrankungen, die durch eine EEG-Ableitung ausgeschlossen werden sollten.
Differentialdiagnostik
Exploration der Eltern, des Patienten und Informationen vom Kindergarten bzw. der
Schule sowie Beobachtung in der Untersuchungssituation
Störung des Sozialverhaltens (kann auch komorbide Störung sein)
Intelligenzminderung in Form von Lernbehinderung oder geistige Behinderung (kann auch
komorbide Störung sein)
Tiefgreifende Entwicklungsstörung
Borderline-Persönlichkeitsstörung (im Jugendalter; kann auch komorbide Störung sein)
Depressive Episode oder Dysthymia (kann auch komorbide Störung sein)
Panikstörung oder generalisierte Angststörung
Manische Episode (v.a. im Jugendalter)
Schizophrene Störung (v.a. im Jugendalter)
Medikamenteneffekte, z.B. von Antiasthmatika, Phenobarbital, Antihistaminika, Steroiden,
Sympathomimetika
Organische/neurologische Primärstörung, z.B. Epilepsie (z.B. Petit mal), Hyperthyreose, Migräne (kann auch komorbide Störung sein)
Desorganisierte, chaotische Familienverhältnisse; Misshandlung oder massive Vernachlässigung des Kindes, biopsychosoziale Belastungen; neurotoxische Substanzen in der Umgebung
des Kindes/Jugendlichen (können auch komorbide Bedingungen sein).
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1.1.
Die multimodale Behandlung
der hyperkinetischen Symptomatik kann folgende Interventionen umfassen:
• Aufklärung und Beratung (Psychoedukation) der Eltern, des Kindes/Jugendlichen und
des Erziehers bzw. des Klassenlehrers (wird immer durchgeführt)
• Elterntraining (auch in Gruppen) und Interventionen in der Familie (einschl. Familientherapie) zur Verminderung der Symptomatik in der Familie
• Interventionen im Kindergarten/in der Schule (einschl. Platzierungs-Interventionen)
zur Verminderung der Symptomatik im Kindergarten/in der Schule
• Kognitive Therapie des Kindes/Jugendlichen (ab dem Schulalter) zur Verminderung
von impulsiven und unorganisierten Aufgabenlösungen (Selbstinstruktionstraining)
oder zur Anleitung des Kindes/Jugendlichen zur Modifikation des Problemverhaltens
(Selbstmanagement)
• Pharmakotherapie zur Verminderung hyperkinetischer Symptome in der Schule (im
Kindergarten), in der Familie oder in anderen Umgebungen
• Außerdem können diätetische Behandlungen (oligoantigene Diät (II)) hilfreich sein.
Weitere Studien sind jedoch notwendig, um die Wirksamkeit und die Indikation dieser
Intervention genauer abschätzen zu können. Vermutlich ist diese Behandlung nur selten hilfreich, möglicherweise häufiger bei Kindern im Vorschulalter.
Zur Behandlung der komorbiden Störungen können ergänzend Interventionen durchgeführt
werden, vor allem:
• Soziales Kompetenztraining bei sozialen Kompetenzdefiziten und aggressiven Verhaltensstörungen
• Einzel- und/oder Gruppenpsychotherapie (auf tiefenpsychologischer, nondirektiver
oder verhaltenstherapeutischer Basis) zur Verminderung von geringem Selbstwertgefühl und/oder Problemen mit Gleichaltrigen
• Übungsbehandlungen zur Verminderung von umschriebenen Entwicklungsstörungen
(Teilleistungsschwächen).
Multimodale Behandlung bei Schulkindern und bei Jugendlichen.
Eine primäre Pharmakotherapie ist meist dann indiziert, wenn eine stark ausgeprägte, situationsübergreifende hyperkinetische Symptomatik mit einer erheblichen Beeinträchtigung des
Patienten oder seines Umfeldes (z.B. drohende Umschulung in Sonderschule, massive Belastung der Eltern-Kind-Beziehung) vorliegt
Liegt eine solche krisenhafte Zuspitzung nicht (mehr) vor und sind ausgeprägte Aufmerksamkeitsstörungen und Impulsivität auch unter optimalen Arbeitsbedingungen in der Untersuchungssituation zu beobachten, dann kann ein Selbstinstruktionstraining indiziert sein. Das
Kind ist dann typischerweise nicht in der Lage, auch bei dem Angebot von attraktiven Belohnungen Hausaufgaben über eine der Klassenstufe des Kindes angemessene Zeit mit angemessenem Arbeitstempo organisiert durchzuführen. Da nicht erwartet werden kann, dass durch
das Selbstinstruktionstraining die meisten Symptome in der Familie und in der Schule vermindert werden können, ist es sinnvoll, parallel Interventionen in der Familie und/oder in der
Schule durchzuführen und nicht den Effekt eines isolierten Selbstinstruktionstrainings abzuwarten
Treten hyperkinetische oder oppositionelle/aggressive (externale) Verhaltensstörungen im
Unterricht auf, dann können Interventionen in der Schule (einschl. Aufklärung und Beratung
der Lehrer) angezeigt sein. Sind diese Interventionen nicht (hinreichend) erfolgreich, dann
kann alternativ (ergänzend) Pharmakotherapie indiziert sein
Treten hyperkinetische oder oppositionelle/aggressive (externale) Symptome des Kindes/Jugendlichen in der Familie auf, dann können Elterntrainings mit Interventionen in der
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Familie angezeigt sein. Sind diese Interventionen nicht (hinreichend) erfolgreich, dann kann
alternativ (ergänzend) Pharmakotherapie indiziert sein. Dies erscheint jedoch nur dann angezeigt, wenn hyperkinetische Symptome auch in der Schule auftreten. Ist das nicht der Fall,
wird die Störung vermutlich durch spezifische familiäre Bedingungen aufrecht erhalten, die es
durch andere Interventionen zu behandeln gilt
Wenn Symptome sowohl in der Familie als auch in der Schule auftreten, sollten Interventionen in der Familie und in der Schule parallel durchgeführt werden, da Generalisierungen von
einem Lebensbereich auf den anderen nicht von vornherein erwartet werden können
Liegen nach der Behandlung der hyperkinetischen Symptomatik komorbide Störungen weiterhin vor, dann kann eine Behandlung dieser Störungen indiziert sein.
Besonderheiten bei ambulanter Behandlung
Aufklärung und Beratung (Psychoedukation). Die Aufklärung und Beratung der Eltern
wird immer durchgeführt. Aufklärung und Beratung des Kindes kann etwa ab dem Schulalter
in altersangemessener Form vorgenommen werden. Die Beratung der Erzieher bzw. der Lehrer wird mit Einverständnis der Eltern immer dann durchgeführt, wenn im Kindergarten/in der
Schule behandlungsbedürftige Symptome auftreten.
Die Aufklärung und Beratung der Eltern und der Erzieher/Lehrer oder anderer wichtiger Bezugspersonen umfasst:
• Information hinsichtlich der Symptomatik, der vermuteten Ätiologie und des vermutlichen Verlaufes sowie der Behandlungsmöglichkeiten
• Beratung hinsichtlich pädagogischer Interventionen zur Bewältigung konkreter Problemsituationen, insbesondere
• durch positive Zuwendung bei angemessenem Verhalten
• durch angemessene Aufforderungen und Grenzsetzungen in einer eindeutigen Weise
• durch angemessene negative Konsequenzen bei auffälligem Verhalten.
• Bei der Beratung der Eltern müssen die konkreten familiären Bedingungen und Belastungen berücksichtigt werden.
Die Aufklärung und Beratung des Kindes/Jugendlichen wird ab dem Schulalter entsprechend dem Entwicklungsstand des Kindes/Jugendlichen durchgeführt und umfasst:
• Information hinsichtlich der Symptomatik, der vermuteten Ätiologie und des vermutlichen Verlaufes sowie der Behandlungsmöglichkeiten
• Anleitung zur Selbstbeobachtung und Selbststeuerung.
Elterntraining und Interventionen in der Familie (einschl. Familientherapie) zur Verminderung externaler (hyperkinetischer/aggressiver) Symptomatik in der Familie
• Voraussetzung für die Durchführung von Elterntrainings und von Interventionen in
der Familie ist die Kooperationsbereitschaft der Hauptbezugsperson sowie das Vorhandensein von Ressourcen in der Familie, die bei den Interventionen genutzt werden
können
• Das Elterntraining einschl. der verhaltenstherapeutischen Interventionen in der Familie
beinhaltet die Anwendung positiver Verstärkung und negativer Konsequenzen bei umschriebenem Problemverhalten in spezifischen Problemsituationen unter Einbeziehung
spezieller verhaltenstherapeutischer Techniken (Token-Systeme, Verstärker-Entzug,
Auszeit)
• Selbstmanagement-Interventionen (mit Selbstbeobachtung, Selbstbeurteilung und
Selbstverstärkung) sollten ab dem Schulalter Bestandteil der Interventionen in der
Familie sein
• Bei Störungen der familiären Beziehungen und bei Jugendlichen können familientherapeutische Interventionen (auf verhaltenstherapeutischer, struktureller, systemischer
oder analytischer Basis) hilfreich sein.
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Interventionen im Kindergarten/in der Schule (einschl. Platzierungs-Interventionen) zur
Verminderung externaler (hyperkinetischer/aggressiver) Symptomatik im Kindergarten/in der
Schule
• Bei Vorschulkindern mit stark ausgeprägter Symptomatik kann eine Platzierung in einer vorschulischen Sondereinrichtung indiziert sein
• Bei Schulkindern Zusammenarbeit mit der Schule, den Schulbehörden und den Eltern
bei der Platzierung des Kindes in einer Schule/Klasse, die der grundlegenden schulischen Leistungsfähigkeit des Kindes entspricht. Eine Sonderbeschulung ist jedoch
nicht grundsätzlich notwendig
• Interventionen im Kindergarten/in der Schule auf verhaltenstherapeutischer Basis setzen Kooperation der Erzieher bzw. des Lehrpersonals sowie Ressourcen voraus, die
durch die Interventionen aktiviert werden können
• Verhaltenstherapeutische Interventionen im Kindergarten/in der Schule beinhalten die
Anwendung positiver Verstärkung und negativer Konsequenzen bei umschriebenem
Problemverhalten in spezifischen Problemsituationen unter Einbeziehung spezieller
verhaltenstherapeutischer Techniken (Token-Systeme, Response-Cost, Auszeit)
• Selbstmanagement-Interventionen (mit Selbstbeobachtung, Selbstbeurteilung und
Selbstverstärkung) sollten ab dem Schulalter Bestandteil der Interventionen in der
Schule sein.
Kognitive Therapie des Kindes/Jugendlichen zur Verminderung von impulsiven und unorganisierten Aufgabenlösungen und/oder zur Anleitung des Kindes/Jugendlichen zur Modifikation des Problemverhaltens
• Kognitive Therapie ist bei Kindern ab dem Schulalter durchführbar
• Eine ausschließliche Behandlung des Kindes/Jugendlichen mit Selbstinstruktionstraining oder Selbstmanagement-Interventionen ist im Allgemeinen nicht hinreichend erfolgversprechend.
Pharmakotherapie zur Verminderung hyperkinetischer Symptome in der Schule (im Kindergarten), in der Familie oder in anderen Umgebungen.
Bei medikamentöser Behandlung sind die Effekte in der Schule, zu Hause und während anderer Aktivitäten des Kindes zu kontrollieren. Das Kind ist als aktiver Teilnehmer in diesen Prozess einzubinden.
Psychostimulanzien sind im Allgemeinen die Medikation der Wahl. Absolute Kontraindikationen liegen nicht vor. Als relative Kontraindikationen, vor allem für eine initiale Behandlung, gelten:
• Anfallsleiden oder reduzierte Hirnkrampfschwelle
• Vorhandene Tic-Symptomatik beim Kind/Jugendlichen oder Familienanamnese einer
Tic-Störung
• Medikamentenmissbrauch/Drogenmissbrauch im unmittelbaren Umfeld des Kindes/Jugendlichen oder durch den Jugendlichen selbst.
Bei einer Stimulanzientherapie zur Verminderung hyperkinetischer Symptome in der Schule
erfolgt die Gabe nur an Schultagen. Erfolgt die Medikation auch zur Verminderung hyperkinetischer Symptome in der Familie, dann können täglich mehrfache Gaben, auch an Wochenenden, notwendig sein. Eine Stimulanzienbehandlung kann auch während der Ferienzeit indiziert sein, wenn hierdurch die soziale Integration des Kindes in die Familie oder in die
Gleichaltrigengruppen gewährleistet wird und keine Wachstumsverzögerungen auftreten.
Mehrfache Gaben pro Tag sind indiziert, wenn längere Tagesabschnitte abgedeckt werden
sollen oder wenn Rebound-Phänomene auftreten. Retard-Präparate können für eine kontinuierliche Wirkung über längere Tagesabschnitte besser geeignet sein.
Eine individuelle Einstellung der optimalen Dosierung ist in kontrollierten Versuchen beginnend mit niedrigen Dosen notwendig. Die Tages-Dosierungen des am häufigsten verschriebenen Stimulans Methylphenidat liegen im Allgemeinen unter 1 mg/kg Körpergewicht bzw.
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überschreiten auch bei Jugendlichen selten eine Tagesdosis von 60 mg. Pulsfrequenz und
Blutdruck sollten kontrolliert werden.
Wenn Methylphenidat nicht hinreichend wirksam ist, ist eine Behandlung mit Amphetamin
oder Fenetyllin angezeigt.
Die Wirksamkeit von Pemolin ist belegt. Doch darf die Substanz wegen vereinzelter Fälle von
schwerer Leberschädigung nur von einem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie verschrieben werden, nachdem die Therapie mit Methylphenidat und mit Amphetamin bzw. Fenetyllin erfolglos war und andere Behandlungsformen allein nicht ausreichend sind. Pemolin
darf nur bei lebergesunden Patienten mit normalen Leberfunktionswerten verschrieben werden. Zusätzlich gelten Auflagen zur Aufklärung und zur Verlaufskontrolle.
Atomoxetin ist eine neue Alternative, die Wirkung ist jedoch unsicherer und es können Nebenwirkungen z.B. an der Leber auftreten
Antidepressiva (Imipramin, Desipramin,) können ebenfalls in Betracht gezogen werden.
Blutdruck und Pulsfrequenz sollten vor der Verschreibung von Antidepressiva überprüft werden
Ein EKG sollte in Betracht gezogen werden, wenn Beeinträchtigungen kardialer Funktionen
vorliegen könnten
Eine EKG-Überwachung sollte durchgeführt werden, wenn die Tagesdosis 3,5 mg/kg KG
übersteigt
Die Risiken von Neuroleptika sind im Allgemeinen größer als ihr Nutzen bei der Behandlung
hyperkinetischer Störungen, deshalb ist eine Behandlung mit Neuroleptika sorgfältig abzuwägen.
Im Vorschulalter sollte die medikamentöse Therapie mit Stimulanzien eine Ausnahme darstellen. In diesem Alter ist an eine alternative Medikation mit Antidepressiva (z.B. Imipramin)
oder niederpotenten Neuroleptika (z.B. Pipamperon) zu denken.
Bei Stimulanzienbehandlung ist ein- oder mehrmals pro Jahr die Durchführung kontrollierter
Auslassversuche zur Überprüfung der Notwendigkeit der Weiterführung der Behandlung zu
bedenken.
Wenn bei Jugendlichen neben der hyperkinetischen Störung auch Störungen des Sozialverhaltens oder Drogen-/Medikamentenmissbrauch vorliegen, ist die Möglichkeit in Betracht zu
ziehen, dass der/die Jugendliche verschriebene Medikamente missbraucht oder verkauft. Antidepressiva können in diesem Fall die Medikamente der ersten Wahl sein.
Phosphatarme Diät gilt als obsolet
5. Geplante Ergänzungen des Skripts
Störungen des Sozialverhaltens
Essstörungen im Kindes- und Jugendalter
Besonderheiten bipolarer und depressiver Störungen im Kindes- und Jugendalter
Störungen mit körperlichen Symptomen
Enuresis
Enkopresis
Anhang: Bisherige Klausurfragen im Fach Kinder- und Jugendpsychiatrie
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