Vorlesung Kinder- und jugendpsychiatrische Klassifikation, Ätiologie und Pathogenese Barbara Frühe, Yvonne Schiller Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Pettenkoferstr. 8a, 80336 München http://www.kjp.med.uni-muenchen.de 1 Kurzer Rückblick: Kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik Kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik: Bestandteile Anamnese Körperliche Untersuchung Neurologische Untersuchung Psychischer / psychopathologischer Befund Psychologische Diagnostik Familiendiagnostik Apparative Untersuchungen und Labordiagnostik Diagnostischer Prozess – Weg zur Diagnose Die wichtigsten Beobachtungen von Krankheitserscheinungen werden analog zu anderen medizinischen Disziplinen in Form einer oder mehrerer Diagnosen zusammengefasst. Diagnostischer Prozess – Weg zur Diagnose Befunderhebung (Untersuchung) Symptome Allgemeinzustand Neurologischer Befund Kinderpsychiatrischer Befund - Anamnese - Exploration - Tests Symptomgewinnung Einzelsymptome Leitsymptome Syndrome (Symptomkomplexe) Diagnose Kinder- und jugendpsychiatrische Krankheitsbilder Symptomzuordnung Funktionen von Diagnosen Gemeinsame Bezeichnung für ein Störungsbild: Zusammenfassung von gleichartigen psychischen Auffälligkeiten und Abgrenzung von andersartigen Erleichterung der Kommunikation Zuweisung zu geeigneter Therapie Zentral für die Forschung, z.B. bzgl. Ursachen und Prognose Erster Schritt jeglicher wissenschaftlicher Klassifikation Diagnostischer Prozess – Weg zur Diagnose Von einer psychischen Störung mit Krankheitswert spricht man nur, wenn das Verhalten / Erleben bei Berücksichtigung des Entwicklungsalters { { abnorm ist und / oder zu einer Beeinträchtigung führt Kriterien der Abnormität Der Entwicklung nicht angemessen Dauer Lebensumstände Kulturelle Maßstäbe Ausmaß der Störung Art des Symptoms Schweregrad und Häufigkeit Situationsabhängigkeit Diagnostischer Prozess I Klassifikation Hat das Kind ein psychiatrisches Störungsbild, eine psychiatrische Erkrankung? Passt das klinische Bild zu einem definierten Störungsbild? Diagnostischer Prozess II Ätiologie Welche individuellen biologischen und psychologischen, familiären und soziokulturellen Faktoren wirken bei Entstehung des Störungsbildes mit? { Wie groß ist deren relativer Einfluss? Diagnostischer Prozess III Pathogenese Aufrechterhaltende Bedingungen Bewältigungsmöglichkeiten Was erhält die Störung aufrecht? Was begünstigt die normale Entwicklung? Welches sind die Stärken von Kind und Familie? Diagnostischer Prozess IV Von der Diagnose zur Behandlung Wie verläuft das Störungsbild ohne Behandlung? Welche Behandlung ist bei diesem Störungsbild erforderlich? Welche Behandlungsart ist am effektivsten? Störungsspezifische Behandlungen Leitlinien Kinder- und jugendpsychiatrische Klassifikation 15 Klassifikation: Definition Ordnungssystem Systematik Krankheitslehre 16 Klassifikationssysteme Zwei Klassifikationssysteme sind für die Kinder- und Jugendpsychiatrie besonders relevant: { { Diagnostic and Statistical Manual der APA (DSM-IV) Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 der WHO (MAS) 17 18 19 Gemeinsamkeiten von DSM-IV und ICD-10/MAS Kategoriale Diagnostik: { { Gesundheit vs. Krankheit Psychische Störungen als klar voneinander abgegrenzte, diskrete Einheiten Multiaxiale Diagnostik: { Erfassung auf mehreren Achsen / Dimensionen 20 Multiaxiale Diagnostik Erste Achse: Klinisch-psychiatrisches Syndrom Zweite Achse: Umschriebene Entwicklungsrückstände Dritte Achse: Intelligenzniveau Vierte Achse: Körperliche Symptomatik Fünfte Achse: Aktuelle abnorme psychosoziale Umstände Sechste Achse: Globalbeurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus 21 Erste Achse ICD-10/MAS 22 Zweite, dritte, vierte Achse ICD-10 23 Fünfte Achse ICD-10 Assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände z.B. { Abnorme intrafamiliäre Beziehungen (Mangel an Wärme, sex./körperl. Missbrauch) { Psychische Störung oder Behinderung in der Familie { Abnorme Erziehungsbedingungen (Elterl. Überfürsorge, Unzureichende elterl. Steuerung) { Abnorme unmittelbare Umgebung (Erziehung in Institution, abweichende Elternsituation) 24 Sechste Achse ICD-10 Globalbeurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus Anpassung vs. Beeinträchtigung in folgenden Bereichen: { { { { Soziale Beziehungen (Familie, Freunde) Bewältigung sozialer Situationen Schulische / berufliche Anpassung Interessen und Freizeitaktivitäten Skalierung von 0 bis 8 { { 0 (hervorragende Anpassung auf allen Gebieten) 8 (braucht ständige Betreuung) 25 Störungstypen Internalisierende Störungen { Externalisierende Störungen { Emotionale Störungen Verhaltensbezogene Störungen Entwicklungsrückstände 26 Dimensionaler Ansatz Ausprägungsgrad Geeignet für: { { Screening Verlaufsbeurteilung Beispiel: { { CBCL (Child Behavior Checklist) Verhaltenscheckliste: externalisierende und internalisierende Syndromskalen Connorskalen - Hyperaktivität 27 CBCL Mutter über Junge, 6 Jahre 28 Connorskalen 29 Kategorialer und dimensionaler Ansatz in Gegenüberstellung Sich nicht ausschließende, sondern einander ergänzende Ansätze Unterschiedliche Vorzüge und Grenzen Für die klinische Praxis ist eine Verbindung beider Ansätze sinnvoll. 30 Beispiel I 31 CBCL Mutter über Junge, 12 Jahre 32 CBCL Lehrer über Junge, 12 Jahre 33 YSR, Junge selbst, 12 Jahre 34 Fallbeispiel IV: Multiaxiale Klassifikation I Klinisch-psychiatrisches Syndrom { II Umschriebene Entwicklungsstörung { III Keine Psychosoziale Belastungen { VI Durchschnittlich Körperliche Symptomatik { V Kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten (ICD-10: F81.3) Intelligenz { IV Hyperkinetische Störung mit Störung des Sozialverhaltens (ICD-10: F90.1) Keine Globale Anpassung { 4 Ernsthafte soziale Beeinträchtigung in mindestens zwei Bereichen 35 Ätiologie und Pathogenese 36 Begriffsbestimmung Ätiologie { Krankheitsursachen Pathogenese { Entstehung und Entwicklung von Krankheiten Risikofaktoren Biologische Risikofaktoren { { Psychosoziale Risikofaktoren { { Genetik Konstitution Persönlichkeit Familie, Schule Soziokulturelle Risikofaktoren { soziale Schicht Protektive Faktoren Kind { { Familie { { positives Temperament, Selbstwertgefühl hohe Intelligenz Wärme Struktur Soziales Umfeld { soziale Unterstützung 40 Beispiel II: Mädchen, 7 Jahre 41 Anlass zur Vorstellung Keine Konzentration { { Schule, Hausaufgaben schon im Kindergarten 42 Psychischer Befund Psychischer Befund { Normale Intelligenz Somatisch – neurologischer Befund { in Ordnung 43 Entwicklung I Schwangerschaft, Geburt regelrecht 3 Jahre: Kinderzentrum { V.a. autistische Züge { Wutanfälle und Aggressionen { Sprachentwicklungsrückstand 4 ½ Jahre: { Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0) { Verhaltens- und emotionale Störung NNB (F98.9) 44 Entwicklung II 5,3 Logopädie (Artikulationsschwierigkeiten) { Mutter-Kind-Interaktionstherapie { Konzentration und Verhalten gebessert 5,9 Mutter-Kind-Kur: { Psychoreaktive Auffälligkeiten Zeugnis 1. Klasse: { eine eigensinnige Schülerin 45 46 Multiaxiale Beschreibung I Psychiatrische Diagnosen { { II III IV V Umschriebene Entwicklungsstörungen: keine Intelligenzniveau: regelrecht Körperliche Symptomatik: keine Aktuelle abnorme psychosoziale Umstände { VI Hyperkinetische Störung mit Störung des Sozialverhaltens (F90.1) „emotionale Problematik“ Psychische Störung eines Elternteils Globale Anpassung: { deutliche und übergreifende soziale Beeinträchtigung Rahmenbedingungen Regelschule Heilpädagogische Gruppe Einzelpsychotherapie 48 49 Empfehlungen Das Mädchen reagiert stark auf Lob und Zuwendung. Das System ist gut { { Ergänzungen: punktuelle Verstärkung Medikament Kooperation abstimmen Krisen vorbereiten ambulante Behandlung der Mutter 50 Beispiel III: Junge 2 Jahre, 7 Monate 51 Symptome Fehlende Sprachentwicklung Essverhaltens auffällig (keine festen Speisen) Keine sozialen Kontakte 52 Diffenzialdiagnosen Geistige Behinderung Autismus Reaktive Bindungsstörung 53 Multiaxiale Klassifikation Klinisch-psychiatrisches Syndrom { Kombinierter Entwicklungsrückstand { { Haareausreißen Anämie Psychologische Belastungen { ICD 10: F 83 körperliche Symptomatik { Reaktive Bindungsstörung (ICD 10: F 94.1) zahlreich Globale Anpassung { Braucht ständige Aufsicht 54 Behandlung Klinisch-stationäre Behandlung { { Esstraining Logopädische Behandlung Heilpädagogische Tagesstätte Verlaufsdiagnostik nach Intervention! 55 Beispiel IV: Mädchen, 7 Jahre 56 Symptomatik I „kurz weg“ „schlecht“ verdreht die Augen holt tief Luft „ist wieder da“ seit September = Einschulung = 3 Monate 57 Symptomatik II Erbrechen, Bauchschmerzen { Unverträglichkeit? Wird in der Schule gehänselt Fehltage Schule Will von der Mutter abgeholt werden Abwehrhaltung Verschließt sich 58 Symptomatik III - auf Station zufrieden im Krankenhaus recht anhänglich zu allen Bauchweh { auffällig leicht zu trösten Anfälle { { { { nicht klar, ob sie was vorspielt blass Luftholen, runterschlucken horizontaler Nystagmus „nicht da“ Mutter: Nutzt sie die Situation aus? Station: Inszenierung? 59 60 61 62 Stationsbesprechung Zum Spiel motivierbar, nicht sehr lange Schule: wenig Ausdauer { Rechnen Schwach Rechts - Links Verwechslung Unsicher in der Leistung „alles für die Mama“ IQ normal Mutter schnell genervt Angst vor Situation zu Hause 63 Symptomatik bei Mutter und Kind Kind { Schwächen: { Stärken: Konzentration Raumwahrnehmung Rechnen Hoch angepasst gibt sich viel Mühe Mutter { { { überfordert Angst Hohe Kompetenz 64 Ergebnisse des Klinikaufenthaltes Epilepsie Hilfen zur Krankheitsbewältigung { { 6 Stunden Konsil 3½ Wochen Klinikaufenthalt 65 Maßnahmen Information über Epilepsie (Neurologe) Entwicklungsstand vs. Erwartungen Videofeedback Unterstützende Beratung der Mutter Information über Epilepsie in der Schule Heilpädagogische Übungsbehandlung Verlauf (3 Monate) { { Keine Schulversäumnisse Geht gut 66 Einflussfaktoren Hirnorganische Erkrankung { { Belastungen { { Epilepsie Teilleistungsproblematik ZNS Erkrankungen Angst der Familie, der Schule Stärken { { Hohe Kompetenzen Familiärer Zusammenhalt 67