Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen Anpassungsstörungen sind nach Art und Ausmaß deutlich über das nach allgemeiner Lebenserfahrung zu Erwartende hinausgehende Reaktionen auf belastende Lebensereignisse. Dabei werden in der Regel die affektive Situation, die Leistungsfähigkeit und die sozialen Beziehungen beeinträchtigt. Die einzelnen Arten werden nach Art, Schwere und Dauer der ursächlichen Belastung sowie nach Art und Ausmaß der reaktiven Symptomatik unterschieden. Es sind also pathologische Reaktionen auf Belastungen im sozialen und psychischen Bereich gemeint. Auch bei gesunden Menschen kommt es zu reaktiven Veränderungen in Belastungssituationen, diese können eine adäquate Form der Verarbeitung sein (z.B. Trauerreaktion). Differenzierung der Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen nach folgenden Kriterien • Art, Schwere und Dauer der ursächlichen Belastung, • Beginn und Dauer der reaktiven Störung, • Art und Ausmaß der reaktiven Symptomatik. Im ICD-10 so erwähnt, im DSM-III-R sind Anpassungsstörung in eigenem Kapitel behandelt, posttraumatische Belastungsstörung werden den Angststörungen zugeordnet, nicht eigenständig beschrieben. Epidemiologie Es gibt noch keine ausreichend sicheren Angaben zu Häufigkeit und Lebenszeitrisiko. Posttraumatische Belastungsstörungen (verzögerte oder protrahierte Reaktion auf extreme Bedrohung) treten bei mehr als der Hälfte der Betroffenen nach schweren Belastungen (Naturkatastrophen, Geiselhaft) auf. Anpassungsstörungen (gestörter Anpassungsprozeß nach einschneidender Lebensveränderung) sollen sich bei etwa 5% der psychiatrischen Klinikaufnahmen finden. Akute Belastungsreaktionen sind die häufigste Form, wegen kurzer Dauer meist keine Behandlung. Anpassungsstörungen können in jedem Lebensalter auftreten (z.T. mit unterschiedlicher Symptomatik), besonders aber bei Jugendlichen und älteren Menschen Ätiopathogenese Wesentliche Faktoren für die Entstehung von Anpassungsstörungen und Belastungsreaktionen sind: • das belastende Ereignis • biologische Vulnerabilität des Patienten • Persönlichkeitszüge • soziale Interaktionen. Zwischen dem belastenden Ereignis und der Störung der Anpassung besteht ein kausaler Zusammenhang (d.h. ohne Ereignis wäre Symptomatik ausgeblieben). es besteht aber individuelle Vulnerabilität, die von folgenden Faktoren abhängt: organische Störungen (z.B. im Alter), auffällige Persönlichkeitszüge (asthenisch, ängstlich, emotional instabil), neurotische Verhaltensauffälligkeiten, extreme Erschöpfung. Copingstrategien (insbesondere aus lerntheoretischer Sicht) und stabiles soziales Netzwerk verringern andererseits die Wahrscheinlichkeit der Störung. neurobiologische Theorie vermuten eine prämorbide Tendenz zu überschießenden vegetativen Reaktionen im Rahmen einer Streßbelastung (Zshg. zu Katecholaminstoffwechsel). Psychoanalytische Theorie 1 vermutet das durch aktuelles Trauma ungelöste frühe Konflikte reaktiviert werden und so Symptombildung begünstigen (Regression). Zu berücksichtigen ist auch, ob sekundärer Krankheitsgewinn (z.B. finanzielle Entschädigung) zur Symptomaufrechterhaltung beitragen. Die zugrundeliegenden Ereignisse können nach den Aspekten Ausmaß (leicht, mittel schwer, sehr schwer, katastrophal) und Dauer (akut oder länger andauernd) eingeteilt werden. So wäre z.B. leicht und akut Schulbeginn oder -abschluß. Länger andauernd und katastrophal wäre Gefangennahme als Geisel. Symptomatologie und klinische Untertypen 1) Akute Belastungsreaktion (akute Krisenreaktion, Nervenschock) Stunden- bis tagelang anhaltende Reaktion auf außergewöhnliche körperliche und/oder seelische Belastungen bei einem ansonsten psychisch nicht manifest gestörten Patienten. Nach einem anfänglichen Zustand der „Betäubung“ kommt es zu affektiven und vegetativen Symptomen. Die Störung ist in der Regel nach einigen Stunden abgeklungen. Sie treten meist innerhalb von Minuten nach einem massiv traumatisierenden Ereignis (schwerer Unfall, Vergewaltigung, Naturkatastrophe etc.) auf. Zunächst kommt es zu einem Zustand der „Betäubung“ mit eingeengtem Bewußtsein, anschließend in fließenden Übergängen zu Depression, Angst, Überaktivität und sozialem Rückzug. Die Symptome wechseln rasch, es treten auch vegetative Symptome auf (Schwitzen, Erröten). Nach einigen Stunden (maximal 3 Tagen) ist Störung abgeklungen. Teilweise Amnesie für die Episode. 2) Posttraumatische Belastungsstörung Verzögerte oder protrahierte Reaktion auf eine extreme Bedrohung. Symptome sind die wiederholte unausweichliche Erinnerung, emotionaler und sozialer Rückzug sowie ein Zustand vegetativer Übererregtheit. Sie folgen auf wirklich außergewöhnliche Bedrohungssituationen oder Veränderungen von katastrophalem Ausmaß (schwere Naturkatastrophe, Kampfhandlungen, Terroranschläge etc.). Die Störung folgt dem Trauma mit einer Latenz von Wochen bis Monaten, selten aber länger als 6 Monate. Durch drei Symptomkomplexe gekennzeichnet: - wiederholtes Erleben in sich aufdrängenden Erinnerungen und Träumen, - emotionale und sozialer Rückzug (Teilnahmslosigkeit, Anhedonie, Vermeidungsverhalten), - Zustand vegetativer Übererregtheit (Vigilanzsteigerung, Schreckhaftigkeit, Schlaflosigkeit). Folgen können übermäßiger Alkoholkonsum, Drogeneinnahme und Suizidalität sein. Assoziiert sind häufig Angst und Depression. 3) Anpassungsstörungen Sind Ausdruck eines gestörten Anpassungsprozesses nach einer einschneidenden Lebensveränderung oder nach belastenden Lebensereignissen. Es kommt zu unterschiedlichen affektiven Symptomen sowie sozialer Beeinträchtigung. Die Störung dauert meist nicht länger als 6 Monate. Die Belastung kann im Verlust enger Bezugspersonen (Trennung, Tod) oder gravierenden Veränderungen der sozialen Umgebung (Emigration, Flucht) bestehen. Auch chronische Belastungsfaktoren (z.B. ernsthafte Schwierigkeiten im Beruf) können verursachend sein. Innerhalb eines Monats (ICD-10) kommt es zu depressiver Verstimmung, Angst, andauernder Besorgnis, Beeinträchtigung der beruflichen oder schulischen Leistungsfähigkeit, evtl. auch zu sozial destruktivem Verhalten. Unterformen werden nach vorherrschender Symptomatik unterschieden (affektive Symptomatik, soziale Beeinträchtigung oder Mischung). Art und Schwere der Symptomatik 2 können sich im Laufe der Zeit wiederholt ändern. Der Beginn ist nach 1-3 Monaten, die Dauer selten länger als 6 Monate 4) Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung Nach extremer Belastung (z.B. Folter, Geiselhaft) kann sich eine andauernde Persönlichkeitsveränderung entwickeln. Sie äußert sich in unflexiblem und unangepaßtem Verhalten, das zur Beeinträchtigung im zwischenmenschlichen, sozialen und beruflichen Beziehungen führt. Merkmale einer solchen extremen Belastung sind permanente Todesfurcht und absolute Entwürdigung der persönlichen Existenz. Es geht nicht um die Zuspitzung schon vorhandener Persönlichkeitszüge, sondern das neue auftreten von Symptomen, die im Zshg. mit der Belastungssituation stehen. Sie zeigt sich in einer vorher nicht bestehenden mißtrauischen oder gar feindlichen Haltung der Umgebung gegenüber, die meist zu sozialem Rückzug führt.- es kommt zu einem Gefühl der Leere und Hoffnungslosigkeit sowie Bedrohtsein und Entfremdung. Die Persönlichkeitsänderung muß über mindestens 2 Jahre bestehen. Das sogenannte KZ-Syndrom nach Haft im KZ ist eine Störung mit langanhaltender Angst und depressiver Verstimmung, Leistungsinsuffizienz, vegetativen Störungen und angsterfüllten Erinnerungen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Überlebensschuld, die intensive psychotherapeutische Betreuung erfordert. 5) Andere und seltene Reaktionsformen Als pathologische Reaktionsweise nach äußerer Belastung kann praktisch jedes psychopathologische Problem auftreten. Die wichtigsten Formen sind: - reaktive Erregungszustände (heftige Affekte, ziellose Hypermotorik, „Amoklauf“) - psychogene Störungen (Körperstörungen, Dämmerzustand, Stuporzustände), insbesondere bei histronischen/hysterischen Persönlichkeiten - paranoide Reaktionen (z.B. in sprachfremder Umgebung) - abnorme Eifersuchtsreaktion. Von diesen primärpersönlich geprägten Formen sind Zweckreaktionen (Tendenz-Reaktionen) abzugrenzen, sie dienen der Erreichung eines als positiv empfundenen äußeren Ziels (z.B. finanzielle Entschädigung). Fließende Übergänge zur Simulation kommen vor. Die wichtigsten Formen sind: - Unfallreaktion (bes. nach Schädel-Hirn-Traumen), für Auftreten ist subjektives Unfallverarbeitung maßgeblich (oft von Wunsch nach Entschädigung getrieben). - reaktive Haftzustände (bewußtseinsnahe oder ganz überlegt gespielte Zweckreaktion mit Ziel der Hafterleichterung) Beim reaktiven Ganser-Syndrom und bei der Pseudodemenz finden sich oft bizarre, psychogen bedingte Orientierungs- und kognitive Störungen. Die Patienten verhalten sich so, wie man sich laienhaft einen psychisch gestörten Patienten vorstellt. Patienten führen systematisch und offensichtlich falsche Handlungen durch. In forensischer Hinsicht können akute Belastungsreaktionen evtl. eine „tiefgreifende Bewußtseinsstörung“ darstellen. Dies kann verminderte oder aufgehobene Schuldfähigkeit zur Folge haben. Diagnostik und Differentialdiagnose: Diagnostik: Es muß zeitlicher Zusammenhang zwischen der Belastung und dem Auftreten der Störung bestehen (je nach Störung Minuten bis Monate). Meist besteht auch inhaltlicher und gefühlsmäßiger Bezug Die Übergänge zwischen normalen Reaktionen und Reaktionen mit Krankheitswert sind fließend. Ein organischer Faktor und andere spezifische psychiatrische 3 Störung sind auszuschließen. Bei der Diagnosestellung ist immer der Zusammenhang mit einem belastenden Ereignis zu berücksichtigen. bei einer akuten Belastungsreaktion müssen die Beschwerden spätestens nach 3 Tagen abgeklungen sein. Eine belastungsbedingte Persönlichkeitsveränderung muß mindestens 2 Jahre bestehen, meist sogar irreversibler Verlauf. Differentialdiagnose: Die wichtigsten Differentialdiagnosen sind Angststörungen, depressive und Persönlichkeitsstörungen, psychotische (insbes. schizophrene) Störungen, organische Störungen. Verlauf Unterschiede finden sich zwischen den einzelnen Störungen bzgl. der Latenzzeit (zwischen Ereignis und Beginn der Symptomatik) und Dauer der Störung (S. 217). So muß bei der akuten Belastungsreaktion die Symptomatik nach 3 Tagen abgeklungen sein. Andauernde Persönlichkeitsstörungen werden erst nach Krankheitsverlauf von mindestens 2 Jahren diagnostiziert. Therapie Sämtliche therapeutischen Maßnahmen müssen auf der sorgfältigen Analyse des Einzelfalls unter besonderer Berücksichtigung der modifizierenden Faktoren (organ. Störung, Persönlichkeit, neurotische Züge, Coping-Strategien, soz. Netzwerk etc.) beruhen. Psychotherapeutische Verfahren, meist in Einzeltherapie, stehen im Vordergrund. Ziel ist es eine bessere Anpassungsfähigkeit zu erreichen. Bei posttraumatischen Belastungsstörungen kann Therapie evtl. über Jahre nötig sein. Verhaltens- und soziotherapeutische Maßnahmen sollen folgen der Anpassungsstörung (soz. Rückzug) mildern. An Psychopharmaka kommen Anxiolytika (Angstlöser) und Antidepressiva in Frage. Bei akuten Erregungszuständen sind auch Neuroleptika manchmal erfolgreich. 4