Psychiatrie Vor 8 Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen Definition: Reaktionen auf belastende Lebensereignisse, die nach Art und Ausmaß deutlich über das nach allgemeiner Lebenserfahrung zu Erwartende hinaus gehen und denen aufgrund ihrer Ausprägung oder Folgen Krankheitswert zukommt. Dabei werden in der Regel die affektive Situation, die Leistungsfähigkeit und die sozialen Beziehungen beeinträchtigt. Die dargestellten Erkrankungen sind pathologische Reaktionen auf Belastungen im psychischen und sozialen Bereich. Auch bei gesunden Menschen kommt es zu reaktiven Veränderungen in Belastungssituationen. Solche Reaktionen können eine adäquate Form der Verarbeitung sein (z.B. Trauerreaktionen). Anpassungsstörungen umfassen Symptome, die über eine normale und zu erwartende Reaktion auf die bestehende Belastung hinausgehen. Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen können nach Art, Schwere und Dauer der ursächlichen Störung und der Reaktion differenziert werden Historisches: Frühere Ansätze zur Beschreibung solcher Beschwerdebilder waren insgesamt uneinheitlich. In der klassischen deutschen Psychiatrie wurden u.a. charakterabhängige und übercharakterliche Erlebnisweisen unterschieden. Außerdem wurden neurotische Entwicklungen abgegrenzt. In ICD-10 und DSM-IV werden Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen unterschiedlich klassifiziert (Tab. 4.58). Epidemiologie: Die Häufigkeit ist abhängig von der Häufigkeit traumatisierender Erfahrungen. Die posttraumatische Belastungsstörung ist eine der häufigsten psychischen Störungen. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. 5-20% der Patienten in psychiatrischen Kliniken leiden an Anpassungsstörungen. Akute Belastungsstörungen sind sehr häufig, führen aber oft nicht zu psychiatrischer Behandlung. Anpassungsstörungen können in jedem Lebensalter auftreten, besonders aber bei jugendlichen und älteren Menschen. Atiopathogenese: Für die Entstehung wesentliche Faktoren sind das belastende Ereignis, die biologische Vulnerabilität (Verletzbarkeit) des Patienten, seine Persönlichkeitszüge sowie die sozialen Interaktionen. Zwischen dem belastenden Ereignis und der Störung besteht ein kausaler Zusammenhang. Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer pathologischen Reaktion erhöhen können, sind: -gezielte Schädigung durch andere Menschen -organische Störungen -auffällige Persönlichkeitszüge -neurotische Verhaltensauffälligkeiten -extreme Erschöpfung. Bewältigungsstrategien (Coping-Strategien) und ein stabiles soziales Netzwerk verringern das Risiko. Nach neurobiologischen Theorien kommt einer schon prämorbid bestehenden Neigung zu überschießenden vegetativen Reaktionen eine wichtige Bedeutung zu. In der psychoanalytischen Theorie wird erörtert, ob die Symptombildung als Regression verstanden werden kann. Aus lerntheoretischer Sicht kommt den o. g. Coping-Strategien eine besondere Rolle zu. Bei der Genese ist zudem ein sekundärer Krankheitsgewinn zu berücksichtigen. Symptomatik und klinische Subtypen Akute Belastungsreaktion Definition: Stunden- bis tagelang anhaltende Reaktionen auf außergewöhnliche körperliche und/oder seelische Belastungen bei einem ansonsten psychisch nicht manifest gestörten Patienten. Nach einem anfänglichen Zustand der „Betäubung" kommt es zu affektiven und vegetativen Symptomen. Die Störung klingt in der Regel nach einigen Stunden ab. Akute Belastungsreaktionen treten innerhalb von Minuten nach einem massiv traumatisierenden Ereignis auf (z. B schwerer Unfall, Naturkatastrophe). Zunächst kommt es zu einem Zustand der „Betäubung" mit eingeengtem Bewusstsein, anschließend zu Depression, Angst, Überaktivität und sozialem Rückzug. Die Symptome wechseln rasch, es treten auch vegetative Symptome auf. Nach einigen Stunden (maximal drei Tagen) ist die Störung abgeklungen. Bei entsprechender Veranlagung kann es zu dissoziativen Störungen kommen. Es kann teilweise oder vollständige Amnesie für die Episode vorliegen. Posttraumatische Belastungsstörung Definition: Verzögerte oder protrahierte Reaktion auf eine extreme Bedrohung. Wichtigste Symptome sind die wiederholte unausweichliche Erinnerung an das belastende Erlebnis, emotionaler oder sozialer Rückzug sowie ein Zustand vegetativer Übererregtheit Posttraumatische Belastungsstörungen können auf wirklich außergewöhnliche Bedrohungssituationen oder Veränderungen katastrophalen Ausmaßes folgen (z.B. schwere Naturkatastrophen, Kampfhandlungen, Terroranschläge). Die Störung beginnt nach Wochen bis Monaten. Die Symptomatik ist sehr vielgestaltig. Die wichtigsten Symptome sind: wiederholtes Erleben in sich aufdrängenden Erinnerungen („Flashbacks") und Träumen emotionaler und sozialer Rückzug mit Teilnahmslosigkeit und Verlust der Lebensfreude vegetative Übererregtheit, Vigilanzsteigerung und Schreckhaftigkeit. Folge der PTBS kann das Auftreten einer Vielzahl anderer psychischer Störungen sein, in erster Linie von Abhängigkeitserkrankungen und affektiven Störungen Anpassungsstörungen Definition: Gestörter Anpassungsprozess nach einer einschneidenden Lebensveränderung oder nach belastenden Lebensereignissen. Es kommt zu unterschiedlichen affektiven Symptomen sowie sozialer Beeinträchtigung. Die Störung dauert meist nicht länger als sechs Monate. Die Belastung kann im Verlust enger Beziehungspersonen oder in gravierenden Veränderungen der sozialen Umgebung (z. B. Emigration, Flucht) bestehen. Gewöhnlich tritt ein Zustand vegetativer Übererregtheit auf mit Vigilanzsteigerung, übermäßiger Schreckhaftigkeit, Schlaflosigkeit. Angst und Depressionen sind häufig assoziiert, Suizidgedanken sind nicht selten. Zeitkriterien: Die Störung folgt dem Trauma mit einer Latenz, die Wochen bis Monate dauern kann. Innerhalb eines Monats kommt es zu depressiver Verstimmung, Angst, andauernder Besorgnis, Beeinträchtigung der beruflichen oder schulischen Leistungsfähigkeit, evtl. auch zu sozial destruktivem Verhalten. Mehrere Unterformen werden nach der vorherrschenden Symptomatik unterschieden. Art und Schwere der Symptomatik können sich im Laufe der Zeit wiederholt ändern. Die Störung beginnt in der Regel nach 1-3 Monaten und dauert selten länger als 6 Monate. Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung Definition: Nach extremer Belastung kann sich eine andauernde Persönlichkeitsänderung entwickeln. Diese äußert sich in unflexiblem und unangepasstem Verhalten, das zu Beeinträchtigungen in den zwischenmenschlichen, sozialen und beruflichen Beziehungen führt. Nach lang andauernden extremen Belastungen (Konzentrationslager, Geiselhaft, Folter), kann es zu einer tiefgreifenden Veränderung der Persönlichkeitsstruktur kommen. Merkmale extremer Belastungen sind permanente Todesfurcht und absolute Entwürdigung der persönlichen Existenz (z. B. Konzentrationslager). Die Persönlichkeitsänderung zeigt sich in einer vorher nicht bestehenden, misstrauischen oder gar feindlichen Haltung der Umgebung gegenüber Beim sog. „KZ-Syndrom" nach Haft in einem Konzentrationslager kommt es zu lang anhaltender Angst und depressiver Verstimmung, Leistungsinsuffizienz, vegetativen Störungen und angsterfüllten Erinnerungen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die „Überlebensschuld", die intensive psychotherapeutische Betreuung erfordert. Weitere Reaktionsformen Praktisch jedes psychopathologisch auffällige Verhalten kann auch als Reaktion auf eine äußere Belastung auftreten. Wichtige Formen sind: -reaktive Erregungszustände (heftigste Affekte, ziellose Hypermotorik, „Amoklauf") -psychogene Störungen (v. a. bei histrionischen Persönlichkeiten) -paranoide Reaktionen (z.B. in sprachfremder Umgebung) -abnorme Eifersuchtsreaktionen. Nach der deutschen Wiedervereinigung wurde von einigen Autoren die sog. „Posttraumatische Verbitterungsstörung" beschrieben. Deren Abgrenzung von den Anpassungsstörungen ist unscharf. Zweckreaktionen (Tendenz-Reaktionen) dienen der Erreichung eines als positiv empfundenen äußeren Zieles. Fließende Übergänge zur Simulation kommen vor. Wichtige Formen der Zweckreaktion sind: -Unfallreaktion (besonders nach Schädel-Hirn-Traumen), maßgeblich ist die subjektive Unfallverarbeitung -reaktive Haftzustände (bei Haft; meist bewusstseinsnah oder ganz überlegt gespielt). -Beim Ganser-Syndrom und bei der (reaktiven) Pseudodemenz finden sich oft bizarre, psychogen bedingte Störungen der Orientiertheit und kognitive Störungen. Die Patienten verhalten sich oft so, wie man sich laienhaft einen psychisch gestörten Patienten vorstellt. In forensischer Hinsicht können akute Belastungsreaktionen eine „tiefgreifende Bewusstseinsstörung" darstellen. Diagnostik und Differenzialdiagnose Diagnostik: Für die Diagnose wird ein zeitlicher Zusammenhang zwischen der Belastung und dem Auftreten der Störung gefordert (je nach Störungsform Minuten bis Monate). In der Regel besteht auch ein inhaltlicher oder gefühlsmäßiger Bezug. Es gibt weitgehend fließende Übergänge zwischen normalen Reaktionen und Reaktionen mit Krankheitswert. Differenzialdiagnose: -Angststörungen -depressive Störungen -Persönlichkeitsstörungen -psychotische Störungen (insbesondere schizophrene Störungen) -organische Störungen Therapie Belastungs- und Anpassungsstörungen erfordern differenzierte therapeutische Interventionen. Sämtliche Maßnahmen müssen auf der genauen Analyse des Einzelfalls beruhen. In der Therapie gibt es eine Vielzahl neuer Entwicklungen mit denen sich besonders die „Psychotraumatologie" befasst. Nichtpharmakologische Therapie: Vorwiegend psychotherapeutisch werden akute Belastungsreaktionen behandelt. Durch die Krisenintervention soll Unterstützung gegeben und emotionale Entlastung erreicht werden. Bei Anpassungsstörungen werden verhaltenstherapeutische Ansätze zur Verbesserung der Kommunikations- und Problemlösungsstrategien eingesetzt. Psychoanalytische Ansätze unterstützen Patienten bei der Mobilisierung eigener Fähigkeiten in der Krisenbewältigung. Posttraumatische Belastungsstörungen erfordern evtl. eine mehrjährige Psychotherapie. Bei psychodynamischen Therapieansätzen liegt das Schwergewicht auf der Lösung von intrapsychischen Konflikten. Verhaltenstherapeutisch werden u.a. folgende Verfahren angewendet: -Angstmanagement-TrainingStressimpfungs-Training, -Augenbewegungsdesensibilisierung und -Verarbeitung (EMDR) Wesentliche Elemente psychotherapeutischer Behandlungsverfahren sind u.a. Hilfe für den Patienten, seine Erlebnisse in einer realistischen Sichtweise zu betrachten, Neuinterpretation des Traumas, Wiedergewinnung von Kontrolle über die Symptome. Das sog. Debriefing ist ein (meist einmaliges) gruppentherapeutisches Gespräch in den Tagen nach dem traumatisierenden Ereignis. Die Wirksamkeit ist nicht gesichert, negative Folgen sind beschrieben. Pharmakologische Therapie: Die Therapie mit Psychopharmaka muss in eine tragfähige therapeutische Beziehung eingebettet sein. In erster Linie werden Serotonin-Wiederaufnahmehemmer und trizyklische Antidepressiva eingesetzt. Benzodiazepine sollen nur kurzfristig angewendet werden Verlauf Unterschiede finden sich bei den einzelnen Störungen bezüglich der Latenzzeit (zwischen dem Ereignis und dem Beginn der Symptomatik) und der Dauer der Störung. Bei der Belastungsreaktion ist zu berücksichtigen, dass die Symptomatik nach 3 Tagen abgeklungen sein muss. Andauernde Persönlichkeitsänderungen sollten erst diagnostiziert werden, wenn ein Krankheitsverlauf von mindestens 2 Jahren besteht. Der Verlauf wird häufig durch Folgen der Problematik geprägt (Gefahr der Medikamenten- oder Alkoholabhängigkeit, Suizidalität).