Schlaf und psychische Gesundheit: Der Tiefschlaf als Spiegel der Hirnre... http://www.nzz.ch/wissenschaft/medizin/der-tiefschlaf-als-spiegel-der-h... 1 von 4 Zur Beta-Version der NZZ-Website wechseln MENSCH UND MEDIZIN NZZ.CH Schlaf und psychische Gesundheit Lena Stallmach 28.1.2015, 05:30 Uhr Kinder verbringen mehr Zeit im Tiefschlaf als Erwachsene. Die Hirnaktivität in dieser Schlafphase spiegelt die Entwicklung des Gehirns und erlaubt einen neuen Blick auf psychische Erkrankungen. Der Schlaf ist keine verlorene Zeit. Für Forscher ist er sogar ein ziemlich ergiebiges Arbeitsfeld. Am kürzlich abgehaltenen Symposium über Schlaf und Gesundheit an der Universität Zürich wurde wiederholt betont, dass gestörter Schlaf bei der Entstehung von psychischen Erkrankungen eine zentrale Rolle spielt. Da diese grosses Leid in jungen Jahren und für das Gesundheitssystem hohe Kosten verursachen, besteht ein grosses Interesse an geeigneten Massnahmen zur Prävention. Langsame Wellen nehmen zu Ein Aspekt von Schlaf, der am Kinderspital der Universität Zürich erforscht wird, ist seine Rolle in der Hirnentwicklung. Während der REM-Schlaf – der durch schnelle Augenbewegungen (rapid eye movement) gekennzeichnet ist und in dem die Träume besonders lebhaft sind – in der frühen Hirnentwicklung wichtig zu sein scheint, ist für die spätere Entwicklung wahrscheinlich eher der Tiefschlaf von Bedeutung. Die in dieser Schlafphase vorherrschende Hirnaktivität wird im EEG als 28.01.2015 08:30 Schlaf und psychische Gesundheit: Der Tiefschlaf als Spiegel der Hirnre... http://www.nzz.ch/wissenschaft/medizin/der-tiefschlaf-als-spiegel-der-h... 2 von 4 langsame Wellen mit einer tiefen Frequenz gemessen. Bis kurz vor der Pubertät nimmt der nächtliche Tiefschlaf zu und währenddessen wieder ab. Dies zeigt sich in einer starken Zu- und Abnahme der langsamen Wellen. Sie korreliert mit der ebenso starken Zu- und Abnahme in der Verknüpfung der Nervenzellen. Diese Veränderung in der Vernetzung wird als Zeichen der Hirnreifung gesehen. Denn beim Lernen werden die Synapsen zwischen den beteiligten Nervenzellen zunächst grösser und zahlreicher. In der Folge wird aussortiert: Unwichtige Verbindungen werden abgebaut, wichtige ausgebaut. Besonders radikal ist der Abbau während der Pubertät. Dabei wird das gesamte Netzwerk effizienter, und der Energieverbrauch des Gehirns sinkt. Eine zentrale Studie wurde von Forschern unter der Leitung von Reto Huber vom Kinderspital der Universität Zürich im Jahr 2010 veröffentlicht. Sie zeigt, dass die Aktivität der langsamen Wellen im Tiefschlaf auch mit der gestaffelten Entwicklung der einzelnen Hirnregionen korreliert. Die gesamte Hirnrinde reift nämlich nicht gleichzeitig, sondern in einer bestimmten Reihenfolge: jene Regionen als Erstes, die früh benötigt werden. Es beginnt mit Arealen im Hinterkopf, wo visuelle Sinneseindrücke verarbeitet werden. Darauf folgen die motorischen und sprachlichen Areale in den oben und seitlich gelegenen Scheitel- und Schläfenlappen. Als Letztes reifen die frontalen Bereiche, die beim zielgerichteten Handeln und bei der Selbstregulation involviert sind. Wie die Forscher zeigten, verschiebt sich parallel dazu auch die Aktivität im Tiefschlaf von hinten nach vorne (siehe Grafik). Die Intensität der langsamen Hirnwellen war jeweils in den Bereichen am stärksten ausgeprägt, die gerade die grösste Entwicklung durchmachten. Das starke Signal entstehe durch die zunehmende Vernetzung der Nervenzellen, erklärt Huber. Denn nur wenn sehr viele Nervenzellen über grosse Distanzen im gleichen Takt aktiv seien, könne man ein starkes Signal messen. Schon in den 1980er Jahren wies der amerikanische Psychiater Irvin Feinberg darauf hin, dass die Hirnaktivität im Tiefschlaf sowohl mit der Dichte der Synapsen als auch mit dem Energieverbrauch im Laufe der Entwicklung korreliert. Er 28.01.2015 08:30 Schlaf und psychische Gesundheit: Der Tiefschlaf als Spiegel der Hirnre... http://www.nzz.ch/wissenschaft/medizin/der-tiefschlaf-als-spiegel-der-h... 3 von 4 postulierte, dass diese Korrelation kein Zufall sein könne, sondern dass ein Zusammenhang bestehen müsse. Nach der Jahrtausendwende habe die Idee Aufwind bekommen, dass die langsamen Hirnströme sogar eine aktive Rolle in der Hirnreifung spielen könnten, erklärt Huber. Giulio Tononi und Chiara Cirelli von der University of Wisconsin formulierten die Hypothese der synaptischen Homöostase. Demnach werden im Wachzustand beim Verarbeiten von Informationen die synaptischen Verbindungen aufgebaut und jeweils im Schlaf auf ein Mass reduziert, das ein möglichst effizientes Arbeiten des Netzwerks erlaubt. Dieser Abbau geschieht laut der Hypothese insbesondere durch die langsamen Wellen im Tiefschlaf. Kausalität unklar Der erste Teil der Hypothese sei relativ gut belegt, sagt Huber. Viele Studien zeigen, dass die Aktivität der langsamen Wellen jeweils in dem Hirnareal am stärksten zunimmt, das tagsüber am meisten beansprucht wird. Ausserdem werden die Grösse und die Anzahl der Synapsen tatsächlich während des Tiefschlafs reduziert. Doch ob die langsamen Wellen wirklich für diesen Abbau verantwortlich seien und wie sie das anstellten, sei unklar, sagt Huber. Die Forscher kamen aufgrund ihrer und anderer Studien auf die Idee, die Hirnaktivität im Tiefschlaf als eine Art Biomarker für die Hirnentwicklung zu betrachten. Nun sind sie dabei, zu untersuchen, inwiefern sich dieses gut messbare Signal bei gesunden und psychisch kranken Kindern unterscheidet. Über erste Ergebnisse berichtete Huber kürzlich am Symposium in Zürich. In Zusammenarbeit mit der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Zürich untersucht sein Team derzeit die Hirnaktivität im Schlaf von Kindern mit Depressionen und ihren nicht erkrankten Geschwistern. Eine andere, bereits publizierte Studie über Kinder mit AufmerksamkeitsdefizitHyperaktivitätsstörung (ADHS) zeigt, dass die zeitliche Verschiebung der Hirnaktivität im Tiefschlaf jener bei gesunden Kindern hinterherhinkt (siehe Grafik). Eine verlangsamte Hirnreifung sei eine der möglichen Erklärungen für die ADHS-Symptomatik, sagt Huber. Dies spiegle sich offensichtlich in der TiefschlafAktivität. Doch wollen sich die Forscher mit dieser Schlussfolgerung, die auf der Beobachtung von Korrelationen beruht, nicht begnügen. Ihr eigentliches Ziel ist, zu erforschen, ob der Tiefschlaf eine aktive Rolle in der Hirnentwicklung spielt. Dafür müsste man ihn manipulieren. Doch die Möglichkeiten dazu sind begrenzt. Den Tiefschlaf manipulieren Eine dauerhafte Manipulation des Schlafs könnte verheerende Folgen haben. Zumindest gehen die meisten psychischen Erkrankungen mit gestörtem Schlaf einher. Hingegen kann man die Aktivität im Tiefschlaf vorübergehend beeinflussen, etwa durch eine schwache, externe Elektrostimulation (transkranielle Gleichstromstimulation). Einen ersten solchen Versuch bei Kindern mit ADHS unternahmen Forscher unter der Leitung von Lioba Baving von der ChristianAlbrechts-Universität in Kiel. Sie zeigten, dass eine gezielt eingesetzte Elektrostimulation während des Tiefschlafs die Aktivität der langsamen Wellen im Frontalhirn steigerte. Nach einer solchen Behandlung konnten sich die Kinder am Tag zuvor gelernte Wortpaare besser merken. 28.01.2015 08:30 Schlaf und psychische Gesundheit: Der Tiefschlaf als Spiegel der Hirnre... http://www.nzz.ch/wissenschaft/medizin/der-tiefschlaf-als-spiegel-der-h... 4 von 4 Huber will einen ähnlichen Effekt mit Tönen erzielen. Mit zeitlich gut abgestimmten Tönen könne man die Aktivität der langsamen Wellen verstärken oder abschwächen. Es gehe ihm nicht um eine therapeutische Intervention. Wenn man aber durch eine Manipulation des Tiefschlafs auf einzelne Symptome einer psychischen Erkrankung einwirken könne, spreche das dafür, dass der Schlaf bei ihrer Entstehung beteiligt sei. Diese Erkenntnis könnte wiederum für Therapien nützlich sein. COPYRIGHT © NEUE ZÜRCHER ZEITUNG AG - ALLE RECHTE VORBEHALTEN. EINE WEITERVERARBEITUNG, WIEDERVERÖFFENTLICHUNG ODER DAUERHAFTE SPEICHERUNG ZU GEWERBLICHEN ODER ANDEREN ZWECKEN OHNE VORHERIGE AUSDRÜCKLICHE ERLAUBNIS VON NEUE ZÜRCHER ZEITUNG IST NICHT GESTATTET. 28.01.2015 08:30