Spektrum endodontischer Behandlungs

Werbung
52
BZB November 11
Wissenschaft und Fortbildung
Spektrum endodontischer Behandlungsmaßnahmen nach einem Zahnunfall
Verbesserung der Prognose verunfallter Zähne
Ein Beitrag von Priv.-Doz. Dr. Jan Kühnisch, Dr. Katharina Bücher und Prof. Dr. Reinhard Hickel, München
Bei einem Zahnunfall werden in Abhängigkeit von
Art, Richtung und Stärke der äußeren Gewalteinwirkung typischerweise folgende Gewebe der orofazialen Region in Mitleidenschaft gezogen: die
Zahnhartsubstanz, das Endodont, das Parodontium, der Alveolarknochen und die Gingiva. Ziel
der vorliegenden Übersichtsarbeit ist es, das Verletzungs-, Diagnose- und Behandlungsspektrum
des Endodonts darzustellen, um einerseits Maßnahmen für eine erfolgreiche Vitalerhaltung zu
beschreiben und andererseits Strategien im Falle
eines Vitalitätsverlusts aufzuzeigen.
Klassifikation von Unfallverletzungen
In der Zahnmedizin sind bei Unfallverletzungen
der peri- und intraoralen Region meist die oberen
Frontzähne unter Einbeziehung der umliegenden
Weichgewebe betroffen (Andreasen 1972). Bis in
die Gegenwart wurde eine Vielzahl an Vorschlägen
unterbreitet, um unfallbedingte Zahnverletzungen
zu klassifizieren. Dabei hat sich im Laufe der Jahre
die Einteilung nach Andreasen (1972) etabliert und
ist sowohl für das Milch- als auch das bleibende
Gebiss anwendbar (Tab. 1). In Ergänzung zu den
international etablierten Klassifikationen ist die
ZEPAG-Klassifikation nach Filippi et al. (2000)
als derzeit jüngste Einteilung zu erwähnen, welche
auf der diagnostischen Graduierung der Zahnhartgewebe, des Endodonts, des Parodontiums, des Alveolarknochens und der Gingiva beruht. Entsprechend dem Verletzungsmuster können jedem der
genannten Gewebetypen verschiedene Schweregrade zugeteilt werden. Für das Endodont werden
hierbei folgende Abstufungen empfohlen:
· intaktes, vitales Endodont,
· Dentinexposition ohne Pulpaperforation,
· kleine beziehungsweise große Eröffnung der Pulpa,
· Quetschung des apikalen Endodonts und
· infizierte Pulpa als auch endodontische Komplikationen (Filippi et al. 2000).
Diese Einschätzung dient letztlich nicht nur der
Therapieplanung, sondern auch der Abschätzung
der Prognose (Berthold 2007; Filippi et al. 2000).
Während über die wissenschaftliche Eignung des
ZEPAG-Systems bislang nur wenige Informationen
aus der Literatur vorliegen, trägt jedoch die Idee
zu einer Verbesserung der Diagnostik aufgrund der
systematischen Untersuchung aller relevanten Gewebe bei. Zudem verbessert die Einteilung das Verständnis von Unfallverletzungen der Zähne (Filippi 2009).
Verletzungsmuster des Endodonts nach einem
Zahnunfall
Das Endodont kann in mehrfacher Hinsicht geschädigt werden. Im Fall einer unkomplizierten
Kronenfraktur, welche makroanatomisch durch
Frakturverletzungen
Luxationsverletzungen
Schmelzfissur, Schmelzriss:
unvollständige Fraktur des Zahnschmelzes ohne Substanzverlust
Konkussion:
Verletzung des Zahnhalteapparats
ohne Anzeichen einer Lockerung.
Nahezu jeder betroffene Zahn ist
perkussionsempfindlich.
Unkomplizierte Kronenfraktur:
Fraktur der Zahnkrone unter Mitbeteiligung des Zahnschmelzes
und/oder des Dentins ohne Eröffnung der Pulpa
Subluxation:
Verletzung des Zahnhalteapparats
mit erhöhter Zahnbeweglichkeit,
aber ohne Lageveränderung. Perkussionsempfindlichkeit und Sulkusblutung sind Zeichen einer
Subluxation.
Komplizierte Kronenfraktur:
Extrusive und laterale Luxation:
Schmelz-Dentin-Fraktur der Zahn- Lockerung und Verlagerung des
krone mit Eröffnung der Pulpa
Zahns aus seiner Alveole. Bei der
extrusiven Luxation ist der Zahn in
koronaler Richtung verschoben. Bei
der lateralen Luxation erfolgte die
Verlagerung des Zahns in nicht axialer Richtung. Letztere oft in palatinaler Richtung und in Kombination
mit einer Fraktur der vestibulären
Alveolarwand.
Kronen-Wurzel-Fraktur:
Schmelz-Dentin-Fraktur unter Mitbeteiligung der Zahnkrone und
der Zahnwurzel ohne beziehungsweise mit Eröffnung der Pulpa
Intrusion:
Verlagerung des Zahns in den Alveolarknochen. Aufgrund der Keilwirkung der Zahnwurzel ist ausnahmslos von einer Fraktur des
Alveolarfortsatzes auszugehen.
Wurzelfraktur:
Fraktur im zervikalen, mittleren
oder apikalen Drittel der Zahnwurzel
Avulsion:
Der Zahn ist vollständig aus der
Alveole verloren gegangen.
Tab. 1: Klassifikation von Zahnfrakturen und Luxationen nach Andreasen (1972)
Wissenschaft und Fortbildung
das Vorliegen eines unverletzten Pulpakavums
charakterisiert ist, muss dennoch auf mikroskopischer Ebene von einer indirekten Pulpabeteiligung
ausgegangen werden. Dies begründet sich in den
exponierten Dentintubuli, die einen direkten Kommunikationsweg in Richtung Pulpa darstellen. Daher erfordern insbesondere pulpanahe Frakturen –
im Vergleich zu pulpafernen Frakturverläufen –
eine zeitnahe Primärversorgung nach dem Unfallereignis. Nichtsdestotrotz sind diese Situationen in
der Regel als prognostisch günstig einzustufen.
Neben Verletzungsmustern mit einer indirekten
Beteiligung des Endodonts sind solche zu differenzieren, die einerseits mit einer direkten Perforation
des Pulpakavums infolge einer komplizierten Kronen(-Wurzel)-Fraktur und/oder andererseits mit einer Quetschung, Stauchung, Zerrung oder Ruptur
am Foramen apikale infolge einer Luxation, Intrusion oder Avulsion des Zahns assoziiert sind (Filippi 2001). Während die direkte Pulpaeröffnung
mit ansteigender Expositionszeit immer wahrscheinlicher mit einer bakteriellen Infektion des Pulpakavums einhergeht, ist mit der Verletzung der Pulpaintegrität im Bereich des Foramen apikale die Blutzirkulation der Pulpa gefährdet (Olsburgh und Krejci 2003). In letztgenannten Situationen ist vor allem die Vitalität von Zähnen mit abgeschlossenem
Wurzelwachstum gefährdet, wenn sie apikal mehr
als einen Millimeter ausgelenkt wurden. In Situationen mit nicht abgeschlossenem Wurzelwachstum kann das apikale Endodont durchaus größere
Auslenkungen des Zahns tolerieren.
Während koronale Verletzungen vergleichsweise
gut im Rahmen der klinischen Befunderhebung
beurteilt werden können, ist die Evaluation des
apikalen Endodonts deutlich schwieriger, da dieses
der direkten klinischen Inspektion nicht zugänglich ist. Zudem sollten ergänzende Diagnoseverfahren, wie etwa Sensibilitätstests oder die Röntgendiagnostik, vor allem am Unfalltag und in den
ersten Wochen nach dem Unfallereignis eine zurückhaltende Interpretation in Bezug auf die Indikationsstellung zu nicht vitalerhaltenden, endodontischen Maßnahmen erfahren, da die pulpale
Reizantwort nach einem Unfallereignis Veränderungen unterworfen sein kann und die genannten
Methoden keine hundertprozentige Diagnosesicherheit aufweisen. Um bei einer verzögerten Reizantwort der Pulpa Veränderungen zu erfassen, bedarf
es eines engmaschigen Recalls. Endgültige Aussagen über Erfolg oder Misserfolg pulpaerhaltender
Maßnahmen können ohnehin in der Regel frühes-
BZB November 11
tens ein Jahr nach dem Unfallereignis getroffen
werden. Als prognostisch ungünstig sind grundsätzlich großflächige Pulpaexpositionen und/oder
-quetschungen bei Kronen-Wurzel-Frakturen zu
beurteilen. Gleichermaßen sind ausgeprägte Luxationsverletzungen, Intrusionen oder Avulsionen
zu bewerten, da diese meist mit einem Abriss des
apikalen Endodonts einhergehen. In diesen Fällen
ist die zeitnahe Trepanation und anschließende
Wurzelkanalbehandlung unstrittig (IADT 2007a,
2007b).
Unabhängig vom Verletzungsmuster ist eine Reihe von Co-Variablen zu berücksichtigen, die die
Indikationsstellung beziehungsweise Prognose beeinflussen können. In Anlehnung an Hänni und
von Arx (2008) sind folgende Faktoren zu diskutieren:
· Die Dauer der koronalen Pulpaexposition bis zur
Therapie: Eine kurze Expositionszeit von < 24 Stunden bis zur therapeutischen Versorgung sichert in
der Vielzahl der Fälle den Fortbestand der Vitalität. Mit einem zunehmend größer werdenden
Intervall zwischen dem Unfallzeitpunkt und der
Erstversorgung sinkt die Überlebenswahrscheinlichkeit der Pulpa (Andreasen et al. 2002).
· Maßnahmen der Primärversorgung: Eine optimale, indikationsgerechte Primärversorgung entsprechend aktueller Empfehlungen (IADT 2007a,
2007b, 2007c) wird als essenzieller Baustein für
eine gute Prognose angesehen (Cox et al. 1985;
Sandalli et al. 2005).
· Die Ausdehnung der Pulpaeröffnung und die damit einhergehende Wahrscheinlichkeit einer bakteriellen Kontamination: Eine punktförmige Perforation ist, im Vergleich zu großflächigen beziehungsweise multiplen Pulpaeröffnungen, prognostisch günstiger einzustufen (Olsburgh und Krejci
2003).
· Eine Kombination aus einer (großflächigen) Pulpaperforation und begleitenden Luxationsverletzung wirkt sich in der Regel ungünstig auf die
Prognose aus (von Arx et al. 2005a).
· Das Stadium der Wurzelentwicklung: Zahnauslenkungen beziehungsweise Luxationsverletzungen werden in der Regel bei einem noch unvollständigen Wurzelwachstum am jugendlichen bleibenden Zahn besser toleriert als an Zähnen mit
abgeschlossenem Wurzelwachstum (Andreasen
et al. 2004a; Robertson et al. 2000). Das Wurzelwachstum der Zähne ist im Durchschnitt etwa
drei Jahre nach vollständigem Zahndurchbruch
abgeschlossen. An den oberen Frontzähnen der
53
54
BZB November 11
Wissenschaft und Fortbildung
bleibenden Dentition ist dies etwa im Alter von
zehn Jahren der Fall (Moorrees et al. 1963).
· Der Pulpazustand vor dem Unfall: Zähne beziehungsweise Pulpen, die einem kariösen Prozess
ausgesetzt sind beziehungsweise waren, verfügen
in der Regel über eine reduzierte Reparations- und
Regenerationsfähigkeit im Vergleich zu Pulpen gesunder Zähne (Baume und Holz 1981; Raslan und
Wetzel 2006). Daher ist die Prognose vitalerhaltender Behandlungsmaßnahmen an entzündungsfreien Pulpen günstiger zu beurteilen als im Vergleich zu solchen mit einer reversiblen Pulpitis.
· Das Alter des Patienten (und damit der Pulpa): Es
beeinflusst die Reparations- und Regenerationsfähigkeit der Pulpa beziehungsweise der Odontoblasten dahingehend, dass dieses Potenzial mit
zunehmenden Alter abnimmt beziehungsweise
umgekehrt im Kindes- und Jugendalter als besonders hoch einzuschätzen ist (Andreasen et al.
2004a; Auschill et al. 2003; Olsburgh und Krejci
2003).
Diagnostische Maßnahmen
Neben der Anamnese zum Unfallhergang ist eine
strukturierte klinische Untersuchung unabdingbar. Ein systematisches Vorgehen ist sinnvoll, um
sicherzustellen, dass alle extra- und intraoralen
Gewebe auf vorhandene Verletzungen untersucht
werden. Zudem unterstützt es die Erstellung einer umfassenden und genauen Diagnose. Während die Befundung der Zahnhartsubstanz beziehungsweise des Parodontiums primär auf die
klinische Erfassung möglicher Frakturen beziehungsweise Luxationen fokussiert ist (vgl. Tab. 1),
ergeben sich aus dieser Untersuchung bereits wesentliche Hinweise auf den Zustand des Endodonts. Mit dem Vorliegen einer komplizierten Kronenfraktur liegt definitionsgemäß auch eine Verletzung des koronalen Endodonts vor, sodass entsprechende vitalerhaltende Maßnahmen notwendig werden. Im Fall von Luxationsverletzungen
müssen insbesondere das Ausmaß der Zahnlockerung und der Stand der Wurzelbildung in die
diagnostische Evaluation mit einfließen. Während Zähne mit einem ausgeprägten Lockerungsgrad mit hoher Wahrscheinlichkeit einer endodontischen Therapie im Sinne der Wurzelkanalbehandlung bedürfen, kann in allen anderen Fällen einem beobachtenden Ansatz unter Einschluss
regelmäßiger Sensibilitätsproben der Vorzug gegeben werden. Erst wenn ein Vitalitätsverlust der
Pulpa mit hoher Wahrscheinlichkeit diagnostisch
gesichert ist, muss eine Trepanation vorgenommen werden.
Maßnahmen zur Vitalerhaltung der Pulpa
Zu den vitalerhaltenden Maßnahmen zählen alle
Vorkehrungen, die dem Schutz und der Vitalerhaltung der Pulpa dienen. Diese umfassen im Fall von
Verletzungen des koronalen Endodonts die adhäsive Abdeckung exponierten Dentins, gegebenenfalls die Auswahl eines geeigneten Wundverbands
sowie die Verfahren der direkten Überkappung und
Vitalamputation. Liegt eine Luxationsverletzung
vor, so sind die Reposition und Schienung der betreffenden Zähne angezeigt, um eine Regeneration
des apikalen Endodonts zu ermöglichen.
Bei unkomplizierten Kronenfrakturen kann die
Pulpavitalität insbesondere bei pulpanahen Frakturen gefährdet sein. Daher sollte bei der Versorgung derartiger Verletzungen immer die Abdeckung des exponierten Dentins an erster Stelle des
Handelns stehen (Love 1996). Dazu eigenen sich
adhäsiv verankerte, zahnfarbene Füllungswerkstoffe. Neben der Sicherstellung ästhetischer Ansprüche im Frontzahngebiet sind die funktionellen Aspekte dieses Vorgehens nicht zu vernachlässigen, da damit ein bakteriendichter Verschluss
erfolgt. Die Applikation eines zusätzlichen Wundverbands, wie zum Beispiel eines Kalziumhydroxidpräparats, wird aus heutiger Sicht nur für pulpanahe Frakturen empfohlen. Liegt zudem ein Zahnfragment vor, das adhäsiv wiederbefestigt werden
kann, kann aus Sicht der Autoren auf den Wundverband verzichtet werden, um Passgenauigkeit
und Haftung nicht negativ zu beeinflussen.
Die direkte Überkappung und (partielle) Pulpotomie (Abb. 1a bis i) werden als endodontische Behandlungsstrategien bei komplizierten Kronenfrakturen eingesetzt. Die Indikationsstellung hängt
in erster Linie vom Ausmaß der Pulpaeröffnung
und dem Zeitpunkt der Vorstellung ab. Unter Berücksichtigung beider Faktoren ist zwischen beiden Verfahren abzuwägen. Als Faustregel zur Entscheidungsfindung kann angenommen werden:
Je kleiner die Pulpaperforation ist und je kürzer die
Vorstellung nach dem Unfallereignis (< 24 Stunden) erfolgt, umso eher kann für die direkte Überkappung plädiert werden (Andreasen und Andreasen 1992; Andreasen et al. 2002). Bei längeren
Expositionszeiten empfiehlt sich die (partielle) Pulpotomie (Cvek und Lundberg 1983). Allerdings zeigen Einzelfälle auch, dass eine direkte Überkappung selbst noch nach fünf Tagen erfolgreich sein
Wissenschaft und Fortbildung
1a
1b
BZB November 11
55
1c
1d
1e
1f
1g
1h
1i
Abb. 1a bis i: Vitalamputation nach komplizierter Kronenfraktur des Zahns 21 infolge eines Sturzes beim Eislaufen. Mit der klinischen (a) und röntgenologischen Untersuchung (b) wurde offensichtlich, dass mehrere Perforationen zum koronalen Endodont bestehen (c). Daher wurde die Indikation zur Vitalamputation gestellt (d). Nach Blutstillung mit Eisen(III)sulfat (e) erfolgte die Applikation des MTA-Wundverbands (f). Im Anschluss an die Unterfüllung mit Glasionomerzement wurde das vorhandene koronale
Zahnfragment adhäsiv wiederbefestigt (g, h). Im Rahmen der regelmäßigen Kontrolluntersuchungen konnten bis vier Jahre posttraumatisch keine Komplikationen dokumentiert werden (i).
kann (Kühnisch et al. 2008). Zur Abdeckung der
Pulpawunde als auch zur Induktion einer hartgewebigen Reparation (Bridging) wird aus heutiger Sicht die Applikation eines MTA-Zements
(Parirokh und Torabinejad 2010a, 2010b; Torabinejad und Parirokh 2010) oder einer wässrigen
Kalziumhydroxidsuspension empfohlen. Im Anschluss an die Sicherstellung der Vitalerhaltung
des Endodonts wird die definitive restaurative Versorgung vorgenommen. Unter Berücksichtigung
limitierter zeitlicher Ressourcen kann diese auch
zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen, wobei der
dichte Wundverband als Schutz vor einer bakte-
riellen Infektion als unabdingbar angesehen wird
(Cox et al. 1985).
Trepanation und Wurzelkanalbehandlung
Wie bereits oben dargestellt, kann die Vitalität der
Pulpa unmittelbar infolge des Unfallereignisses
oder auch zu einem späteren Zeitpunkt verloren gehen und damit weiterführende Therapiemaßnahmen im Sinne der Trepanation und Wurzelkanalbehandlung indizieren. Grundsätzlich richtet sich
hier das therapeutische Vorgehen nach dem Stand
des Wurzelwachstums und es wird zwischen Zähnen mit bereits abgeschlossenem Wurzelwachstum
56
BZB November 11
Wissenschaft und Fortbildung
Abb. 2: Typischer Zustand eines offenen Foramen apikale nach Chronifizierung einer apikalen Parodontitis. Im Bereich des Apex ist eine
knöcherne Hartgewebsbrücke zu erkennen, die als Widerlager für den MTA-Stopp dient.
und solchen mit noch nicht abgeschlossenem Wurzelwachstum beziehungsweise offenem Foramen
apikale unterschieden. Während für erstere das
Vorgehen der Wahl die konventionelle Wurzelkanalbehandlung darstellt, hat sich in den vergangenen Jahren für die zweitgenannten Fälle die einzeitige Apexifikation als eigenständiges Verfahren
etabliert. Per definitionem wird darunter der nicht
chirurgische, orthograde Verschluss des offenen Foramen apikale mit einem biokompatiblen, kondensierbaren Material verstanden (Morse et al. 1990).
Das klinische Prozedere gestaltet sich wie folgt: Im
Anschluss an die Trepanation und Chronifizierung
gegebenenfalls vorhandener akuter Beschwerden
mithilfe temporärer Wurzelfüllmaterialien, zum
Beispiel einer wässrigen Kalziumhydroxidsuspension, erfolgt die systematische endodontische Therapie. Zuerst sind die optimale Gestaltung einer
einflächigen Zugangskavität zum Endodont, die
Begradigung des Zugangs zum radikulären Endodont, die endometrische beziehungsweise röntgenologische Bestimmung der Arbeitslänge und die
schonende, möglichst nur wenig Hartsubstanz abtragende Aufbereitung des Kanalsystems sowie die
intermittierende Reinigung und desinfizierende
Spülung sicherzustellen. Zudem ist vor der Apexifikation diagnostisch abzuklären, ob am Apex eine
solide Hartsubstanzbarriere vorhanden ist (Abb. 2).
Dies ist als Voraussetzung für die Applikation des
apikalen MTA-Stopps anzusehen, da anderenfalls
ein Überpressen des Wurzelfüllmaterials nicht ausgeschlossen werden kann. In der Regel ist eine tastbare knöcherne Barriere mithilfe des Operationsmikroskops bereits zwei bis drei Monate nach Trepanation zu beobachten. Mit der Erfüllung der oben
genannten Voraussetzungen zur Apexifikation wird
nunmehr der MTA-Zement mit einer Applikationshilfe (MTA-Gun) in den Kanal eingebracht und anschließend mit einem passenden Plugger auf die
definierte Arbeitslänge kompaktiert. Die MTA-Applikation und -Kondensation wird so lange wiederholt, bis 3 bis 5 mm Material in den Kanal eingebracht wurden. Nach Anfertigung einer Röntgenkontrollaufnahme ist der Kanal mit Sealer und
Guttapercha zu obturieren. Als Verfahren hat sich
hier die Backfill-Technik bewährt, bei der erwärmte Guttapercha in den Kanal eingebracht und anschließend vertikal kondensiert wird. Die endodontische Behandlung wird mit einer dichten, bevorzugt adhäsiv befestigten, definitiven Restauration
abgeschlossen. Sowohl die eigenen Erfahrungen als
auch die bislang publizierten Fallkontrollstudien
bescheinigen dem Verfahren eine hohe Erfolgswahrscheinlichkeit (Abb. 3a bis i).
Fazit
Ziel der vorliegenden Arbeit war es, wichtige Aspekte bei der diagnostischen und prognostischen
Wissenschaft und Fortbildung
3a
3b
3c
3f
BZB November 11
3g
3d
3e
3h
3i
Abb. 3a bis i: Einzeitige Apexifikation nach Avulsion und physiologischer Rettung des Zahns 11 (a). Der Replantation, Repositionierung
und Schienung des avulsierten Zahns (b) sowie dem Nahtverschluss der Schleimhautverletzungen folgte die röntgenologische Kontrolle
(c). Aufgrund des nicht abgeschlossenen Wurzelwachstums (c) wurde bei Fortbestehen der klinischen Beschwerdefreiheit (d) vier Wochen
nach Trepanation die Apexifikation vorgenommen. Nach endometrisch-röntgenologischer Festlegung der Arbeitslänge (e) erfolgte die
Applikation des MTA-Stopps am Apex (f) sowie die Obturation des Wurzelkanals mit der Backfill-Technik (g). Im Rahmen der regelmäßigen
Kontrolluntersuchungen über zwei Jahre (h) zeigten sich dezente Zeichen einer Ankylose. Ersatzresorptionen wurden nicht beobachtet (i).
Beurteilung des Endodonts im Zusammenhang
mit unfallbedingten Verletzungen sowie das Spektrum endodontischer Behandlungsmaßnahmen
darzustellen, unter besonderer Würdigung vitalerhaltender Verfahren und der einzeitigen Apexifikation. Dies soll dem Zahnarzt eine sichere (Differenzial-)Diagnostik im klinischen Alltag ermöglichen
und demzufolge helfen, die optimale Therapie zu
wählen und damit die Prognose verunfallter Zähne
signifikant zu verbessern.
Korrespondenzadresse:
Priv.-Doz. Dr. Jan Kühnisch
Ludwig-Maximilians-Universität München
Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie
Goethestraße 70, 80336 München
[email protected]
Literatur bei den Verfassern
57
Herunterladen