Das große Therapiedefizit

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THEMEN DER ZEIT
KOMMENTAR
Prof. Dr. med. Herbert Löllgen, Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie, Sportmedizin
W
er die Entlassungsbriefe aus
den internistischen Kliniken
und kardiologischen Abteilungen aufmerksam verfolgt, sieht bei den Therapieempfehlungen zahlreiche Medikamente, mitunter zehn oder mehr, aber
keinerlei Hinweise zu regelmäßiger körperlicher Aktivität und Lebensstiländerung. Dabei sind diese Empfehlungen
zur Prävention und Therapie innerer Erkrankungen mit hoher bis höchster Evidenz gesichert. Zahlreiche Metaanalysen und prospektive Kohortenstudien
mangel auf die Gesundheit gehört zu
haben. So wissen junge Ärztinnen und
Ärzte häufig nicht, wie man körperliche
Aktivität korrekt verschreibt. Es gilt,
dringend, die Aus- und Weiterbildungsordnung zu ergänzen und zu ändern –
dort mehr Bewegung hineinzubringen.
Dem Hausarzt kommt bei der Bewegungsförderung eine zentrale Rolle zu.
In der Schweiz wurde 2009 das Paprica-Projekt (Physical Activity Promotion in Primary Care) im Kanton Waadt
initiiert und seit 2012 in Kantonen der
oder FITT im Angloamerikanischen:
Frequency, Intensity, Time and Type).
Diese Angaben gehören in jeden
Anamnesebogen. Jeder Arzt sollte bei
jedem Patientenkontakt, ob Klinik oder
Praxis, danach fragen. Damit wird dieser Teil des gesunden Lebensstils auch
dem Patienten bewusst werden.
Der Entlassungsbrief sollte mit Hinweisen zur regelmäßigen körperlichen
Aktivität versehen sein. Die Krankenkassen können dies unterstützen, indem die Kostenübernahme von einer
KÖRPERLICHE AKTIVITÄT
Das große Therapiedefizit
belegen dies. Die relative Änderung
von Morbidität und Mortalität übersteigt
sogar in einigen Bereichen die der teuren Medikamente.
Regelmäßige körperliche Aktivität ist
zudem die bisher einzige gesicherte
Maßnahme des „Anti-Aging“ und kann
zu einer Lebensverlängerung führen.
Darüber hinaus ist sie preisgünstig,
kann zum Teil Medikamente einsparen
und ermöglicht im Alter eine längere
Zeitspanne der Selbstbestimmung und
Autonomie. Die Verzögerung einer Demenz durch körperliche Aktivität sei nur
am Rande erwähnt.
Daher erstaunt es sehr, dass in den
Entlassungsbriefen keinerlei Hinweise
auf diese Therapieform zu finden sind.
Selbst die Ärzte des Medizinischen
Dienstes der Krankenversicherung oder
die Krankenkassen beachten dies
nicht, könnten sie doch durchaus von
einer solchen Empfehlung (und Umsetzung) eine erhebliche Einsparung erwarten.
Wo liegen die Gründe dafür? Das
geringe Wissen vom therapeutischen
Wert von Sport und Bewegung ist zunächst einmal der Ausbildung der Medizinstudierenden zu verdanken. Es gibt
keine Pflichtvorlesung Sport- und Bewegungsmedizin; daher erreichen viele
die Approbation, ohne von den negativen Auswirkungen von Bewegungs-
A 1296
deutschsprachigen Schweiz umgesetzt.
Neben regelmäßigen Fortbildungsveranstaltungen wurden ein Handbuch als
Leitfaden und Nachschlagewerk, Patientenbroschüren und didaktische
Hilfsmittel erarbeitet, die den Ärztinnen
und Ärzten die klinische Arbeit mit dem
Patienten rund um die Bewegungsmedizin erleichtern sollen. Auch in Österreich liegen entsprechende Empfehlungen vor.
Für Deutschland sind zu erwähnen
die Aktion IN FORM des Bundesgesundheitsministeriums und das schon
länger erfolgreich bestehende Konzept
Sport pro Gesundheit des Deutschen
Olympischen Sportbundes (DOSB) mit
der Bundesärztekammer (BÄK). Bundesweit eingeführt ist mittlerweile
ebenfalls das Rezept für Bewegung
(Deutsche Gesellschaft für Sportmedizin, DOSB und BÄK), das inzwischen
auch europaweit als „Exercise prescription for health“ umgesetzt wird.
Die Frage nach der regelmäßigen
körperlichen Aktivität eines Patienten
ist immer in die Anamnese aufzunehmen. In Amerika wird die körperliche
Aktivität auch als „5th vital sign“ erfasst, neben Körpertemperatur, Herzfrequenz, Atemfrequenz und Blutdruck.
Die regelmäßige Aktivität wird eingeteilt
und „verordnet“ nach Frequenz, Intensität, Dauer und Art der Aktivität (FIDA
solchen Empfehlung zur körperlichen
Aktivität als Prävention, Rehabilitation
und Therapie abhängig gemacht wird.
Ergänzend hierzu kann dem Patienten auch ein Rezept für Bewegung zum
Entlassungsbericht mitgegeben werden, so dass er einen Verein mit dem
Siegel Sport pro Gesundheit aufsuchen
oder mit Fitnessgeräten zu Hause oder
mit Bewegung in der Freizeit aktiv werden kann. Dazu muss er kompetent
beraten werden nach der FITT-Regel.
Hinweise hierzu sind verschiedentlich
publiziert worden. Zu begrüßen wäre
eine gemeinsame Aktion der Ärzte, Kliniken, Krankenkassen und der an Gesundheit interessierten Einrichtungen
(Vereine, Studios).
Natürlich gehört zu diesem Konzept
auch eine Beratung zu optimalem Gewicht, zu Ernährung und Vermeidung
schädlicher Genussmittel. Hierzu sind
die Techniken des transtheoretischen
Modells geeignet sowie das motivierende „Interviewing“. Diese Gesprächstechniken sind Standard, sie sollten
auch Standard in der ärztlichen Ausbildung sein. In der Praxis können solche Beratungsgespräche zur Lebensstiländerung zum Teil abgerechnet
werden. Körperliche Aktivität statt
teurer Medikamente kann auch zur
Entlastung des Budgets in der Praxis
beitragen.
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 111 | Heft 29–30 | 21. Juli 2014
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