Einführung in die Politikgeschichte des industriellen Zeitalters A. Politische Grundbegriffe 13. Intermediäre Interessenvermittlung (Stykow, S.101ff.) Der intermediäre Raum der Politik bezeichnet in der modernen bürgerlichpluralistischen Gesellschaft denjenigen Bereich, der zwischen dem Staat im Sinne des politischen Entscheidungs- und Regierungssystems und den Individuen als Privatpersonen liegt. Es geht dabei um jedwede Vermittlungsinstanzen, die den wechselseitigen Kontakt zwischen den Staatsbürgern und der politischen Entscheidungsebene aufrechterhalten. Fragen zur intermediären Interessenvermittlung: § Wie effizient wird die Kommunikation zwischen Bürger und Politik von diesen Instanzen gestaltet ?. § In welchem Maße sind intermediäre Räume zwischen Individuum und Staat imstande , notwendige Gemeinschaftsaufgaben eigenverantwortlich wahrzunehmen. Diesen Anspruch bezeichnet der Begriff „Zivilgesellschaft“. Gemeint ist eine breite tragende Schicht verantwortlich denkender Bürger, die selbständig notwendige Gemeinschaftsaufgaben wahrnehmen, sei es im karitativen, kulturellen, politischen, ökologischen oder sportlichen Raum. Das Mittel dazu ist die Selbstorganisierung in Vereinigungen. Es handelt sich dabei um solidarische Vergemeinschaftungsprozesse, die sich wie ein Puffer zwischen Behördenwelt und Bürger legen. These von Alexis de Tocqueville: freiwillige Vereinigungen als notwendige Sicherung gegen die Tyrannei. 1 Freiwillige Vereinigungen sind ein Lernfeld für zielgerichtetes selbständiges Organisieren in demokratisch-egalitären Willensbildungs- und Abstimmungsprozessen. Politische Fertigkeiten wurden dort systematisch trainiert, angefangen von der Fertigkeit des Debattierens über die Verhandlungsleitung bis hin zu verbindlichem geschäftsmäßigen Auftreten. In solchen Aktionsräumen entwickelte sich das Selbstbewusstsein des liberalen und demokratischen Bürgers, der die Gängelung des Untertanen abzulehnen begann. Teil dieses intermediären Welt sind die sog. „NGO“, Non-Profit-Organisations“, in denen ehrenamtliches Engagement die Grundlage darstellt. Sie stellen augenfällig eine Alternative zur bürokratisch-staatlichen und zur marktmäßigen Steuerung gesellschaftlicher Prozesse dar. Im Unterschied zur sog. Partizipationsforschung geht es bei der Erforschung des intermediären Raumes um kollektive Akteure, um Organisationen, nicht um Individuen. 2 Akteure des intermediären Raums Die Akteure des intermediären Raums lassen sich in zwei Großgruppen unterteilen, soweit bei ihnen die Funktion der Interessenartikulation den Schwerpunkt bildet: • erstens die Interessengruppen bzw. organisierten Interessen • zweitens die „Medien“. Interessengruppen bzw. organisierte Interessen Kommen wir zu den Interessengruppen bzw. organisierten Interessen als wichtigen Trägergruppen des intermediären Raumes. Sie nehmen die Funktion der Interessenartikulation gegenüber der politischen Sphäre wahr. Häufig werden diese organisierten Interessen auch „pressure groups“ bezeichnet. Es gilt hier zu unterscheiden zwischen spontanen, kurzfristigen und informellen Vergemeinschaftungsformen und Gruppenbildungen, und dem klassischen Typ der Interessenorganisation, die auf freiwilliger und durch regelmäßige Beitragszahlung immer wieder bestätigte Mitgliedschaft beruht. Parteien stellen neben Interessenverbänden in der modernen pluralistischen Gesellschaft den wichtigsten Typus der Interessenorganisation dar. Sie verknüpfen das Handeln der politischen Eliten mit den Präferenzen der Wahlbevölkerung, wobei die Mitgliedschaften der Parteien strukturierende Funktionen für die Interessenartikulation der Wahlbevölkerung wahrnehmen. 3 Spezifische Merkmale der Parteien sind: § Dauerhaft organisierte Zusammenschlüsse von Bürgern, die gemeinsame programmatisch-ideologische Anliegen teilen (Der Begriff „Ideologie“ ist hier nicht negativ im Sinne von falschem, realitätsverleugnendem Bewusstsein gemeint, sondern als ein System grundlegender politischer Leitbilder und Ordnungsvorstellungen für die Gesamtgesellschaft, nicht nur für partikulare Interessen) § Teilnahme an Wahlen zur Besetzung öffentlicher Ämter § Instrumente der politischen Elitenrekrutierung § Stimmenmaximierung bei Wahlen als erster Erfolgsmaßstab § Zentrale Rolle der politischen Legitimationsbeschaffung in der Vermittlungsrolle zwischen Wahlvolk und Regierungssphäre Die Kernfunktionen von Parteien lassen sich unterteilen in § repräsentative Funktionen o Interessenartikulation o Interessenaggregation o Integration gesellschaftlicher Interessen o Politikformulierung (Formulierung praktisch umsetzbarer politischer Ziele und Entscheidungsvorlagen) § Institutionelle Funktionen o Elitenrekrutierung o Organisation von Repräsentativkörperschaften (Parlamenten) o Stellung von Regierungs- und höherem Verwaltungspersonal 4 Von Parteien unterscheiden sich Interessenverbände in einigen wichtigen Punkten. Spezifische Merkmale sind: § Mehr oder minder offene Organisierung von Sonder(Partikular)interessen § Beeinflussung der politischen Entscheidungsinstanzen durch Expertenwissen, Beratungstätigkeit und öffentliche Interessenartikulation (Lobbytätigkeit) § Indirekter Einfluss auf die Politik; keine Übernahme von formellen Parlaments- oder Regierungsämtern Gemeinsam haben Interessenverbände mit Parteien die auf Dauer gestellte freiwillige Mitgliedschaft. Die Funktion von Interessengruppen ist keineswegs an die klassisch verbandliche Form gekoppelt: § Zum einen gibt es institutionelle Interessengruppen wie Unternehmen oder Kirchen, § Zum anderen spielen informelle Gruppierungen eine nicht geringe Rolle, sog. ad-hoc-Gruppen, die sich aus einem konkretem temporären Anlass bilden, und als lockere Gruppenbildungen persönliche Beziehungsnetzwerke darstellen 5 Interessenartikulation über „soziale Bewegungen“: Bestreben, über unkonventionelle Formen der Interessenartikulation einen grundlegenden politischen Wandel herbeizuführen. Ihre spezifischen Merkmale sind: § Protestartikulation außerhalb der etablierten Institutionen zwecks Durchsetzung eines grundlegenden Politikwechsels § Mehr oder minder lockere Netzwerke ohne formalisierte Organisationsverhältnisse im Ganzen mit fließenden Übergangen zwischen Aktivisten und Sympathisanten § Unscharfe politische Programmatik mit visionär-utopischem Überschuss § Führungsstellungen auf Grundlage charismatischer Ausstrahlung, nicht auf Basis formeller Nominierungs- und Wahlakte § Mobilisierung als Lebenselexier § Eingeengte Programmatik wegen Beschränkung auf bestimmte Politikfelder § Maximalforderungen und Radikalität als Integrationsausgleich für den mangelnden Organisationsgrad Soziale Bewegungen erfüllen wichtige politische Funktionen im intermediären Raum: § Ausfüllung einer Repräsentationslücke für vernachlässigte politische Fragen § Funktion eines Warnmechanismus § Folge gravierender Repräsentationslücken: visionärer Überschuss 6 Medien Als intermediäre Akteure stellen sie eines der wichtigsten kommunikativen Bindeglieder zwischen den politischen Eliten und den Bürgern dar. Medien als Themensetzer in der Öffentlichkeit (agenda setting) neben den Parteien und Interessenverbänden „Mediendemokratie“: Bedeutungszuwachs der Medien an den Parteien und Interessenverbänden vorbei; Medien als „vierte Gewalt im Staate“ Eigengesetzlichkeiten der Medien: • Medien sind keine neutralen Informationskanäle; sie liefern kein Abbild der außermedialen Wirklichkeit. • Medien sind Akteure mit institutionellen Eigeninteressen. • In pluralistischen Gesellschaften unterliegen sie der Funktionslogik eines auf öffentliche Aufmerksamkeit spezialisierten Nachrichtenmarktes, an dem sich die Ware „Nachricht“ orientiert. Der „Nachrichtenwert“ und sog. „Nachrichtenfaktoren“ entscheiden über die Nachrichtenwürdigkeit eines Ereignisses. Entscheidende Auswahlkriterien (Nachrichtenfaktoren): o Überraschungsgrad o Sensationsgrad o Dramatik eines Ereignisses; offener Ausgang mit Spannungsbogen o Erzeugung von Betroffenheit o Prominenz o Konflikthaftigkeit o Identifikationsmöglichkeit für den Medienkonsumenten. o Kurze Dauer von Ereignissen (abnehmender Unterhaltungswert von Ereignissen mit zunehmender Länge unabhängig von der politischen, moralischen oder sonstigen Bedeutsamkeit) 7 Die genannten Nachrichtenfaktoren sind ein Selektionsfilter und wirken darüber als kommunikativer Zerrspiegel hinsichtlich der außermedialen Wirklichkeit (Verzerrungseffekte). Ebenso einseitig wirken die institutionellen Eigeninteressen der Medienmacher, seien sie wirtschaftlicher, politischer oder weltanschaulicher Natur. Mediokratie: stärkere Abhängigkeit der Politikerklasse von den Medien als von Parteien und Verbänden Negative Folgen des übermäßigen Einflusses der Medien auf die Politik bestehen darin, dass die Marktlogik der Medien in ein bedenkliches Spannungsverhältnis zur Logik der Politik tritt: Kluft zwischen der Prozesslogik der Politik und der medialen Selektions- und Darstellungslogik: Die Berichterstattung über Politik nach Maßgabe der Nachrichtenfaktoren führt zu einer Übergewichtung konfliktträchtiger, sensationeller, dramatischer und problematischer Ereignisse, während die Grundlage der Politik, namentlich schwer durchschaubare Beratungs-, Verhandlungs- und Abstimmungsprozesse kein angemessenes mediales Abbild findet. Politik erzeugt aus Werbegründen sog. „Medienereignisse“ mit ShowEffekten ohne außermediale Substanz; substantielle politische Willensbildung oder Entscheidungsrelevanz wird vorgetäuscht, um Aufmerksamkeitsmaximierung zu erzielen (Definition: Medien- oder Pseudo-Ereignisse sind Ereignisse, die nur um der Berichterstattung stattfinden.) 8 Widerspruch zwischen politischer Prozesszeit und medialer Produktionszeit: Langwierigkeit politischer Entscheidungsprozesse im Widerspruch zur schnellen Verfallszeit von massenmedialen Neuigkeitswerten; strukturelle Folge: Neigung der Politik, die massenmediale Selbstdarstellung der Politik an die mediale Produktionszeit anzupassen und langwierige politische Entscheidungsprozesse in der öffentlichen Wahrnehmung zu entwerten. Infolgedessen wächst der Zeitdruck auf die Politik und in der Öffentlichkeit Ungeduld und Politikverdrossenheit wegen vermeintlichen Stillstands und Leerlaufs. Die Macht der Medien und ihre verzerrenden Wirkungen lassen sich solange mit dem Leitbild der liberalen Offenheit vereinbaren, wie Meinungsvielfalt und Pluralität auf den Medienmärkten herrscht. Gefahr der Presse- und Medienkonzentration, die zu Monopolen führen kann, u. a. „Ein-Zeitungs-Regionen“ Rückgang der Parteizeitungen zugunsten einer parteiunabhängigen Generalanzeiger-Presse hat die Pluralität der Presselandschaft geschwächt. Gleichwohl gibt es noch einen weitverbreiteten Zwischentypus, die sog. Parteirichtungspresse. Dämpfung der Verzerrungseffekte der Nachrichtenfaktoren durch den öffentlichrechtlichen Status und Gebührenzwang bei den Rundfunkanstalten: § Unabhängigkeit gegenüber der ungedämpften Wirkung der Marktzwänge § Unabhängigkeit gegenüber dem Staat § Aufsichtsorgane, in denen ein fein austariertes, repräsentatives Gleichgewicht der gesellschaftlichen Kräfte repräsentiert ist; Prinzip der Ausgewogenheit 9 Systeme der Interessenvermittlung Im Rahmen dieser Struktur der verbandlichen Interessenvertretung bildeten sich zwei Ordnungsmuster heraus, das pluralistische und das korporatistische. Das pluralistische System ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl autonomer Interessengruppen, die auf dem politischen Markt gegeneinander und um Einfluss auf staatliche Entscheidungsträger konkurrieren. Anders sieht es in korporatistischen Systemen aus. Dort vollzieht sich interessenpolitische Einflussnahme auf den Staat im Rahmen stärker institutionalisierter Aushandelungsprozesse. Entscheidungen werden dort im Miteinander von Staat und Verbänden eher auf Basis des Konsensprinzips getroffen, wobei das Gemeinwohlprinzip im Vordergrund steht. Entscheidend ist, dass die Verhandlungspartner des Staates im korporatistischen System als monopolistische Vertreter ihrer Interessengruppe betrachtet werden, gegebenenfalls bis hin zur Pflichtmitgliedschaft. Von liberaler Seite aus ist der demokratische Verbandspluralismus stets mit Skepsis betrachtet worden, weil aus dieser Warte Interessenverbände dazu neigen, im Sinne ihrer Mitglieder die freie Entfaltung der Marktkonkurrenz zu behindern und die staatliche Seite zu zwingen, Subventionen oder Marktregulierungen zu gewähren, um auf marktwidrige Weise Gewinnsteigerungen zu erzielen. Es entstehen mächtige „Verteilungskoalitionen“. In Krisenzeiten können solche Verbände zu wichtigen Vetoakteuren werden, die aus Gründen des Statuserhalts notwendige Reformen verhindern. 10