Demenz: geistiger Abstieg, Beginn im Hypocampus

Werbung
Manfred Spitzer: „Digitale Demenz“.
Zusammenfassung des Buches.
Zitate sind nicht einzeln angezeigt.
Wikipedia: Manfred Spitzer (* 27. Mai 1958 in Lengfeld in der Nähe von Darmstadt) ist ein
deutscher Psychiater, Psychologe und Hochschullehrer. Seit 1998 ist er ärztlicher Direktor
der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm, als der er auch die Gesamtleitung des 2004
dort eröffneten Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen (ZNL) innehat, das
sich vor allem mit Neurodidaktik beschäftigt.
1895 wurde die Röntgenstrahlung entdeckt und bald wurden auf Partys der
Oberschicht Fotos damit gemacht, so dass die Gäste ihre Knochen damit sehen
konnten. Erst später wurde herausgefunden, dass Röntgenstrahlung Krebs
erzeugen kann. Heute wird nur in abgeschirmten Räumen unter höchsten
Sicherheitsbestimmungen damit gezielt für medizinische Zwecke fotografiert.
Bezüglich der elektronischen Bildschirmmedien empfiehlt Manfred Spitzer, eine
ebenfalls sehr kritische Haltung dazu einzunehmen. Aufgrund der Interessen
der Firmen, die ihre Bildschirmmedien verkaufen wollen, wird Aufklärung über
die Gefahren unterdrückt. Die Firmen haben inzwischen sehr viel Macht, selbst
die Politik wird von den Firmeninteressen so sehr bestimmt, dass falsche
Informationen von Politik und den Medien (Zeitung, TV) verbreitet werden,
wissenschaftliche Erkenntnisse werden nicht an die Öffentlichkeit gegeben.
Das Gehirn als Muskel: Er muss trainiert werden, damit er wächst, wird er nicht
benutzt, verkümmert er.
Demenz: Geistiger Abstieg, Beginn im Hyppocampus. Je mehr Gehirn aufgebaut
wurde, desto länger dauert der „Abstieg“.
Bildung neuer Nervenzellen und Gehirnwachstum sind nicht dasselbe:
Hyppocampus: Zuständig für Bildung neuer Nervenzellen = Neuronen,
gleichzeitig können diese auch schnell wieder absterben. Diese Neuronen sind
sehr lernfähig. Durch Lernen (schwierige Aufgaben, die sehr fordern) können
sie erst genutzt und in vorhandene Strukturen eingebaut werden. Geschieht
dies nicht, sterben sie wieder ab.
Großhirnrinde: Vorhandene Neuronen werden durch Training größer, ihre
Verbindungsstellen dicker, es entstehen mehr baumartige Fortsätze und
Verzweigungen, dort wachsen keine Zellen nach. Lernen dauert ein Leben lang,
dabei wird das Hirn immer wieder neu umstrukturiert.
Wie das Gehirn sich entwickelt: Bis zum 17. Lebensjahr entwickelt sich das
Gehirn sehr schnell, in „großen Schritten“, dann immer langsamer, dafür aber
immer feiner, ähnlich wie beim Golf: Erst schieße ich weit, aber ungenau, dann
1
immer kürzer, dafür aber immer genauer. Das Gehirn entwickelt sich ähnlich,
nur dass es kein bestimmtes Ziel hat.
Die Langsamkeit im Alter ist Ausdruck von Optimierung von Lernprozessen.
Die vielen und schnellen Veränderungen unserer Zeit sind daher für Ältere sehr
schwer nachzuvollziehen. Die Optimierungen der Erfahrungen werden nicht
mehr gebraucht.
Erwachsene lernen anders als Kinder. Sie docken an bereits vorhandene
Strukturen an und verändern sie dadurch. Kinder entwickeln neue Strukturen
im Gehirn.
Navigationsgerät: Im Hyppocampus befindet sich der Ortspeicher, Zellen, die
für das Merken von Orten zuständig sind. Je mehr Orte und Plätze jemand im
Gehirn abspeichert, desto größer ist dieser Speicher im Hyppocampus. Das
konnte bei Londoner TaxifahrerInnen nachgewiesen werden, die sich 25 000
Straßen und mehr als 1000 Plätze und wichtige Orte merken müssen.
Das Navigationsgerät nimmt uns diese Arbeit ab, was zu einem kleineren
Ortspeicher im Hyppocampus führt.
Gehirnnutzung führt zum Wachstum der Gehirnbereiche, die für diese spezielle
Tätigkeit vorgesehen sind.
Verarbeitungstiefe: Im Gehirn gibt es Bereiche für das Sehen, Hören, Fühlen,
Tasten, Sprechen, Planen, Farben, Gesichter, Gegenstände, Bewegung und
vieles mehr. Je mehr Zentren beim Lernen aktiviert werden, desto besser
merke ich mir etwas.
Beispiel: Wenn ich Wörter nach dem Merkmal unterscheide, ob es kleine oder
große Buchstaben hat, merke ich es mir weniger gut, als wenn ich auch noch
untersuche, ob es ein Hauptwort oder ein Zeitwort ist, ob das Wort etwas
Bewegtes oder Unbewegtes darstellt. Drei Gruppen von Menschen haben sich
anhand von ein, zwei oder drei Merkmalen Wörter merken sollen und die,
welche die drei Merkmale hatten, konnten sich die meisten Wörter merken.
Je mehr jemand über Wörter nachdenkt, umso mehr Zentren werden aktiviert,
desto tiefer ist die Verarbeitung.
Bei digitalen Medien werden weniger Zentren aktiviert, die Bewegung der
Hand wird auf das Klicken mit dem Zeigefinger auf die Maus reduziert. Das ist
einfacher als Schreiben. Im Netz surfen wir oft nur (gleiten also oberflächlich
über Inhalte), zudem sind sehr viele Informationen vorhanden, was ebenfalls zu
einem oberflächlichen darüber gleiten werden kann. Werbung, Filme und
Bilder lenken ab. Etwas abschreiben hat mehr Verarbeitungstiefe, sich dazu
bewegen auch. Mehr Sinneseindrücke und damit Verarbeitungstiefe haben wir
in der Natur, im Zusammensein mit anderen Menschen, durch das “Begreifen“
der Gegenstände.
2
Lernen durch Begreifen: Ein Drittel unseres Gehirns ist dafür ausgelegt, dass
wir unseren Körper bewegen, dass wir handeln und aktiv sind. Die Hände und
Finger spielen beim Lernen eine große Rolle. Fingerspiele im Kindergarten und
das Schreiben mit der Hand sind sehr wichtig. Sie unterstützen Lernprozesse
weitaus mehr als Mausklicken mit einem Finger oder Tastaturschreiben.
Lernen und gleichzeitig dabei körperliches Bewegen vertiefen Lernprozesse und
die Merkfähigkeit.
Studie: Zwei Kontrollgruppen wurden verglichen bezüglich Merkfähigkeit von
Objekten. Die eine bekam Begriffe mittels Bild und Name zu sehen, die andere
sollte zusätzlich eine zuvor festgelegte Bewegung mit der Hand dazu machen.
Bei der Zuordnung der Begriffe in Kategorien war die „Handlungsgruppe“ dann
schneller. Digitales Lernen führt daher zur Beeinträchtigung der Gehirnbildung.
Erste Hinweise aus Studien zeigen: Die zunehmende Digitalisierung des
Schreibens, die bereits im Kindesalter ihren Anfang nimmt, negative Folgen für
die Lesefähigkeit von Kindern und Erwachsenen hat.
Das Erlernen von Buchstaben durch Tippen auf einer Tastatur im Vergleich zu
Schreibtraining mit dem Stift führt zu schlechteren Leistungen beim Erkennen
von Buchstaben.
Das Erkennen von Buchstaben, die durch das Schreiben mit einem Stift gelernt
wurden, führt zu einer verstärkten Aktivität in der motorischen Gehirnrinde.
Manfred Spitzer folgert daraus, dass nur das Formen von Buchstaben mit der
Hand (nicht das Tippen auf einer Tastatur) motorische Gedächtnisspuren
hinterlässt. Diese würden beim Lesen aktiviert und erleichtern das Lesen.
Gehirnentwicklung statt LehrerInnen: Kinder, die ihre Muttersprache lernen,
werden von Beginn an mit der vollständigen Sprache konfrontiert. Wir bringen
einem Kind nicht systematisch, wie in der Schule, erst einfache Sätze bei und
steigern dann das Niveau, sondern sprechen mit ihm von Beginn an fast wie mit
Erwachsenen. Kinder lernen die Muttersprache, weil das Gehirn aufgrund
seiner Reifung in der richtigen Reihenfolge lernen kann, sich das herausholt an
Informationen, die es gerade verarbeiten kann und darauf aufbaut.
Baby-Fernsehen, Kinder vor TV:
In den USA beginnen Kinder mit 9 Monaten TV zu sehen. Vor dem zweiten
Geburtstag schauen 90% aller Kinder regelmäßig TV, Videos, DVD’s, etwa 1,5
Stunden am Tag.
Studie: Neugeborene können alle Sprachlaute, die weltweit gesprochen
werden, gleich gut unterscheiden. Einjährige dagegen können nur noch
Sprachlaute der eigenen Muttersprache unterscheiden.
3
In einer Krabbelgruppe wurden vier Kontrollgruppen mit 9 – 10 Monate alten
Babys gebildet, deren Muttersprache Englisch war:
Die erste Gruppe bekam von einer chinesischsprachigen Person erst 10
Minuten vorgelesen, danach spielte die Person noch 15 Minuten mit den
Kindern. Über vier Wochen fand dies statt, insgesamt 5 Stunden, auf 12
Einheiten verteilt. Die Kinder waren der Person sehr nahe, es gab viel
Augenkontakt und direktes Ansprechen. Die Kinder hörten etwa 26 000 bis
42 000 chinesische Silben.
Die zweite Gruppe bekam denselben Unterricht in Englisch. Es wurde dann
untersucht, welche der beiden Kontrollgruppen zwei chinesische Silben, die es
im Englischen nicht gibt, besser unterscheiden konnte. Die Gruppe mit dem
chinesischen Live-Unterricht schnitt dabei deutlich besser ab.
Um zu testen, wie wichtig der soziale Kontakt ist, wurde der chinesische
Unterricht auf DVD aufgenommen und einer dritten Kontrollgruppe gezeigt,
statt des Live-Unterrichts. Einer vierten Gruppe wurde die DVD mit dem
Audiokanal vorgeführt (entspricht dem Hören einer CD). Der Unterricht auf
DVD enthielt sogar mehr Silben: etwa 50 000. Trotzdem zeigte der Test
bezüglich des Unterscheidungsvermögens zweier unbekannter chinesischer
Laute, dass die Kinder der dritten und vierten Gruppe NICHTS gelernt hatten,
sie konnten genauso wenig wie die englischsprachige Kontrollgruppe die
chinesischen Laute unterscheiden.
Kinder unter zwei Jahren lernen nicht nur nichts an Bildschirmmedien, sie
verdummen in dieser Zeit, weil sie nichts währenddessen lernen. Da Kinder
unter zwei Jahren viel schlafen ist die Wachphase besonders wichtig zum
Lernen und Kinder lernen zu jeder Zeit, außer vor den Bildschirmmedien.
Studie mit 1000 Babys: Eltern wurden nach Mediennutzungsgewohnheiten der
Babys befragt und es wurden Sprachtestes durchgeführt: Tägliches Vorlesen bei
8 – 16 Monate alten Kindern förderte Sprachentwicklung, Baby-TV und BabyDVD’s hatten eine verzögerte Sprachentwicklung zur Folge!
Studie: Bei 1797 Kindern wurde der Fernsehkonsum im Alter von unter drei
Jahren sowie im Alter von 3-5 Jahren mit Testwerten (z.B. Lesefähigkeit,
Sprachverständnis, Mathe, Konzentration) im Alter von sechs Jahren in
Beziehung gesetzt. Zudem wurde der IQ der Mutter erfasst und die soziale
Herkunft, um diese Einflüsse aus den Effekten herausrechnen zu können.
Der durchschnittliche Fernsehkonsum betrug 2,2 Stunden bei den unter dreijährigen; 3,3 Stunden bei den 3-5 jährigen, mit sechs Jahren 3,5 Stunden.
4
Je höher der Konsum war, desto schlechter waren die genannten Fähigkeiten.
Bei starkem TV-Konsum vor dem dritten Lebensjahr war dieser Effekt
besonders auffällig.
Soziale Netzwerke:
Die Größe des präfrontalen Cortex (vorderer Teil der vorne liegenden
Gehirnrinde) steht im direkten Zusammenhang zu der Anzahl von sozialen
Kontakten. Je mehr jemand soziales Denken (sich einfühlen können…) einsetzt,
desto größer das soziale Netz ist, desto größer ist dieser Teil des Gehirns.
Beispiele:
 Der Mandelkern im Hirn steht im engen Zusammenhang mit sozialem
Denken – die Größe des Mandelkerns steht im direkten Zusammenhang mit
der Fähigkeit sich einzudenken.
 Die Größe des orbifrontalen Cortexes steht im Zusammenhang mit der
Fähigkeit sich auf gegebene soziale Situationen einzustellen und auch mit
der Größe des REALEN sozialen Netzwerkes.
Je mehr eine Person ihr soziales Gehirn einsetzt, desto mehr fördert sie dessen
Wachstum. Bei Kindern, die sich mehr in sozialen Online-Netzwerken aufhalten
als in realen sind diese Regionen weniger ausgebildet, als bei jenen, die mehr
reale Kontakte haben.
Bei Erwachsenen der heutigen Zeit, die sich in Kindheit und Jugend nur in
realen, wirklichen Netzwerken aufhielten, reale Freunde haben und diese dann
mit Online-Netzwerken wie Facebook (seit 2008 verfügbar) ergänzten, konnte
festgestellt werden, dass die Anzahl der realen Freunde im Zusammenhang mit
der Anzahl der Online-Freunde: wer viele reale Freunde hatte, hatte auch viele
Online-Freunde.
Ganz anders bei Kindern: Eine Studie mit 8 - 12-jährigen Mädchen ergab, dass,
je mehr sie sich in Online-Netzwerken aufhielten, desto geringer waren die
Anzahl der realen Kontakte. Wenn sich Kinder, die sich in der Entwicklung
befinden, den Bildschirmmedien zuwenden, werden für eine gesunde
Entwicklung erforderliche Erfahrungen verhindert. Wer in jungen Jahren viel
Online ist, wird sich in der realen Welt entsprechend wenig einbringen. Sie
gewöhnen sich Realkontakte ab und haben weniger soziale Kompetenz. Die
entsprechenden Gehirnbereiche schrumpfen.
Umfrage: 3461 Mädchen zwischen 8 und 12 Jahren (viele Studien beziehen sich
auf die USA, dort ist die Mediennutzung noch ausgeprägter als hier!) mit einer
durchschnittlichen Mediennutzungszeit von 6,9 Stunden pro Tag.
 Diejenigen, welche weniger online waren schliefen mehr, waren in sozialen
Beziehungen erfolgreicher, fühlten sich weniger als Außenseiterin.
 Je mehr die Mädchen online waren, desto weniger schliefen sie, desto mehr
Multitasking machten sie.
5
 Nur 10% der Mädchen gaben an, dass ihre Online-Freunde ihnen positive
Gefühle vermitteln, selbst die Vielnutzerinnen von digitalen Medien gaben
an, dass sie gute Gefühle vor allem mit persönlichen Freunden in der realen
Welt erfahren.
 50% gaben an, dass Online-Kontakte mit negativen Gefühlen verknüpft sind.
 Digitale Medien machen Kinder einsam und unglücklich.
Anonymität im Netz: Menschen kontrollieren sich weniger und bemühen sich
weniger um soziales Verhalten. Kinder, die noch in der Entwicklung sind lernen
hier deswegen weniger soziales Verhalten als in der realen Welt. Das Internet
ist voll mit scheiternden Sozialkontakten, die vom Vorgeben, dass man jemand
anderer sei, über Schummeln, Betrügen bis hin zu Kriminalität reichen. Es wird
gelogen, gemobbt, gehetzt und diffamiert. Einsamkeit, Stress und Depression
(vor digitalen Bildschirmmedien) führen zum Absterben von Nervenzellen in
Gehirn und begünstigen langfristig die Entwicklung einer Demenz.
Digitale Medien Kindern schenken, weil sie sonst zu Außenseitern werden?
Studien zeigen, dass das so NICHT stimmt, im Gegenteil!
Studie 1987/88 mit 976 Personen im Alter von 15 Jahren: Für jede Stunde mehr
TV stieg das Risiko einer geringeren Elternbindung um 13 % und das Risiko
einer geringeren Bindung an Freunde um 24%.
Studie 2004 mit 3043 Personen im Alter von 14 - 15 Jahren. Im Vergleich
zwischen Fernsehen und Konsole hatte die Konsole einen um 20% höheren
negativen Effekt.
Gewaltspiele:
In einem Versuch wurden zwei Kontrollgruppen verglichen. Die eine spielte ein
gewaltfreies PC-Spiel, die andere eines mit Gewaltausübung (Abschießen, etc).
Drei Minuten nach Beendigung des PC-Spieles wurde vor der Tür des VersuchsRaumes ein Tonband abgespielt, worauf eine tätliche Auseinandersetzung zu
hören war, die immer mehr eskalierte (von SchauspielerInnen gespielt). Es
waren Streit, ein krachender Stuhl, Schmerzäußerungen und Stöhnen zu hören.
Die TeilnehmerInnen der Kontrollgruppe mit dem Gewaltvideospiel brauchten
fünfmal soviel Zeit, um zu Hilfe zu eilen. Auch bemerkten manche SpielerInnen
dieser Gruppe gar nicht, was da zu hören war. Und wenn, dann empfanden
viele das, was sie hörten, als weniger bedenklich, als die SpielerInnen ohne
Gewalt im PC-Spiel.
Kurz gesagt: Wer gerade digitale Gewaltszenen erlebt hatte, der war gegenüber
realer Gewalt abgestumpft.
Selbstkontrolle: Ein Baby kann nach der Geburt erst einmal nur auf Reize
reagieren, wird es in den Fuß gekniffen, zieht das Baby den Fuß reflexartig
zurück. Nur die Neuronen in den unteren Arealen des Gehirns sind mit
schnellen Fasern verbunden und damit reaktionsfähig. Die Neuronen in den
6
höheren Arealen sind zwar da, die Informationen zu diesen Arealen fließen
aber noch zu langsam. Mit der Zeit bilden sich schnellere und komplexere
Verbindungen aus, die rationales Denken einbeziehen und so einen
Entscheidungsspielraum schaffen.
Kinder, die ein Eis sehen, wollen es reflexartig essen, Gegenargumente werden
vom Gehirn noch nicht verarbeitet. Erwachsene haben im Zuge der Reifung des
Gehirns weit reichende Vorstellungen zur Planung vom richtigen Essverhalten
entwickelt. Der Erwachsene kann die Handlung „ruhig bleiben und nicht essen“
aktivieren und den Reflex zu essen unterdrücken, das Kind kann das noch nicht.
Es kann sein Verhalten noch nicht steuern.
Selbstkontrolle ist die Fähigkeit:
 Reflexe zu unterdrücken, Verzicht zu üben, um ein langfristiges anderes Ziel
zu erreichen,
 Regeln zu ändern, wenn es sinnvoll ist, so dass ich nicht Prinzipien
unterworfen bin, die mein Glück verhindern,
 sich auf ein Ziel, eine Sache konzentrieren zu können, ohne sich ablenken zu
lassen, so dass etwas schnell und gut erledigt werden kann.
Dieses Nein zu äußeren oder inneren Reizen ist ein flexibles und planvolles
Nein, das im Frontalhirn aktiv aufrecht erhalten werden muss, sonst wird es
von automatischen Reaktionen oder Handlungen beherrscht. Wenn wir müde
oder hungrig sind, wird die Selbstkontrolle geringer.
Selbstkontrolle ist bei Menschen unterschiedlich ausgeprägt, kann aber wie ein
Muskel trainiert werden.
Kinder zu Selbstkontrolle durch Ermahnungen und Verbote erziehen zu wollen
ist nicht sinnvoll, sondern das Ausüben von Sport, Musik, Spiele, usw. ohne
dass Selbstkontrolle selbst dabei zum Thema gemacht wird. Verschiedenste
Erfahrungen der realen Welt trainieren unseren Willen zur Selbstkontrolle.
Zu diesen Erfahrungen gehört das planvolle Gestalten von Handlungsabläufen,
um zu einem Ziel zu gelangen, das sich Einstimmen auf andere Menschen, um
gemeinsam zu einem Ziel zu kommen, das Dranbleiben an einer Sache, um zu
einem Ziel zu gelangen.
Der Marshmallow-Test: Vierjährige Kinder wurden mit einem Marshmallow
alleine gelassen mit dem Versprechen ein weiteres zu bekommen, wenn es
dieses nicht essen würde, bis der Versuchsleiter wieder käme. Wenn das Kind
es isst, dann solle es mit einer Glocke läuten und der Versuch wird beendet. Die
Kinder wurden bis zu 15 Minuten alleine gelassen. Nur etwa 30 % der Kinder
waren in der Lage das abzuwarten.
Langzeituntersuchungen ergaben: Kinder mit einer guten Selbstkontrolle sind
später kompetenter und erfolgreicher in sozialen und schulischen Bereichen,
können besser mit Stress und Frustrationen umgehen.
7
Stress aufgrund von mangelnder Selbstkontrolle:
Ein Tierversuch mit Ratten zeigte, dass machtloses Ausgeliefertsein Stress
bewirkt. Eine Ratte bekam willkürlich Stromstöße versetzt und wurde darauf
hin krank, weil sie keine Strategie entwickeln konnte, dem zu entkommen. Eine
andere Ratte wurde auch mit Stromstößen traktiert, aber nach einem System,
das die Ratte mit der Zeit kannte. So konnte sie durch schnelles Reagieren den
Stromschlägen entkommen, sie musste aber immer auf der Hut sein. Trotzdem
zeigte sie keine Stresssymptome. Sie wurde nicht krank, weil sie die Lage unter
Kontrolle hatte, sie wusste, was zu tun war.
Aufmerksamkeitsstörungen sind das Gegenteil von Selbstkontrolle:
Passivität vor Bildschirmen führt zu Aufmerksamkeitsstörungen, besonders in
der frühen Kindheit!
Studie: 60 Kinder im Alter von vier Jahren wurden in drei Gruppen aufgeteilt.
Die erste Gruppe bekam einen schnell geschnitten Cartoon im TV zu sehen
(Szenewechsel im Schnitt alle 11 Sekunden), die zweite Gruppe bekam einen
Lehrfilm zu sehen (Szenewechsel im Schnitt alle 34 Sekunden), die dritte
Gruppe sollte 9 Minuten zeichnen. Danach wurden bei allen drei Gruppen vier
Tests durchgeführt, um die Funktionen des Frontalhirns zu untersuchen:
 Arbeitsgedächtnis: Planvolles Umbauen eines Turmes. Zahlen vorwärts
sagen und rückwärts nachsprechen lassen.
 Unterdrücken reflexartigen Handelns: Wenn ich Kopf sage, Zehen berühren
und umgekehrt.
 Belohnungsaufschub: Eine Version des Marshmallow-Tests.
Beim Zeichnen wurde die Selbstkontrolle deutlich gefördert, bei dem schnellen
Cartoon wurde sie sehr schlecht. Der Lehrfilm förderte die Selbstkontrolle in
drei Tests, bei einem wurde diese geringfügig schlechter.
Aufmerksamkeitsstörungen am PC:
Eine Studie zeigte, dass PC-Spieler von Ego-Shootern auf Ablenkreize leichter
reagieren als Nicht-Spieler. Daraus wurde gefolgert, dass PC-Spieler eine
bessere Aufmerksamkeit hätten. Es ist jedoch das Gegenteil der Fall. Wer
ablenkende Reize leichter verarbeitet, kann sie gleichzeitig auch schlechter
unterdrücken. Oder wer auf viele Reize besonders schnell reagiert, kann sich
auf einen schlechter konzentrieren. Wer seine Aufmerksamkeit auf viele Reize
verteilt, kann sich schlechter auf eine Sache fokussieren. Gegen Überlastung
von Reizen gibt es ein Schutzsystem, dass bewirkt, dass nicht zu viele Reize
aufgenommen werden können.
Automatische Informationsverarbeitungsprozesse im Sehsystem stoppen die
Verarbeitung weiterer Reize für eine Viertelsekunde. PC-Spieler haben sich
diesen Mechanismus teilweise abtrainiert.
8
PC-Spieler von Ego-Shootern trainieren sich eine Aufmerksamkeitsstörung an!
Selbstkontrolle und Konzentration gehen verloren.
Mediales Multitasking:
Es wird vieles gleichzeitig gemacht: Im Internet recherchieren, dabei Musik
hören, E-Mails erhalten und gleich beantworten, das Handy klingelt, das
Festnetztelefon auch und eigentlich wird gerade ein Zeitungsartikel gelesen.
Eine amerikanische Studie hat gezeigt, dass der Mensch der heutigen Zeit alle
11 Minuten unterbrochen wird, vom Klingeln eines Handys, von E-Mails, die
durch Töne angezeigt werden. Oft wird sofort darauf geantwortet.
Studie: In Amerika wurde 2005 eine Studie mit 2032 Kindern und Jugendlichen
zwischen acht und achtzehn Jahren zum Thema Mediennutzung gemacht.
Sie nutzten 8,5 Stunden lang verschiedenste Medien auf einen realen Zeitraum
von 6,5 Stunden, weil sie gleichzeitig mehrere Medien verwendeten, vor allem
PC und Handy. Die Mädchen neigen eher zum Multitasken.
Weitere Studien mit Multitaskern haben gezeigt: Diese schneiden im Vergleich
zu Nicht-Multitaskern in allen Bereichen der Studie schlechter ab.
 Je mehr ablenkende, unwichtige Reize hinzukamen, desto schlechter war
die Konzentration auf die eigentliche Aufgabe.
 Multitasker brauchen länger für die ihnen gestellte Aufgabe.
 Unwichtige Gedächtnisinhalte werden nicht so gut ausgeschlossen oder
ignoriert.
 Multitasker haben eine verlangsamte Reaktionszeit beim Wechsel zwischen
Aufgaben!
Sucht:
Studie zur Internetsucht: 15 024 Deutsche im Alter von 14 – 64 Jahre nahmen
an einer telefonischen Befragung teil.
1,5% zeigten eine Internetsucht, mit einer durchschnittlichen Nutzung von 29,2
Stunden pro Woche.
Bei den 14-16 jährigen betrug der Anteil 4%. Wobei der Anteil der Mädchen
hier etwas höher lag, was an der Nutzung von sozialen Netzwerken lag, die
Jungen spielen eher im Netz.
Besonders intensive Netzaktivitäten bei Internetsüchtigen:
Einkaufen im Internet, ausgeprägter Videokonsum, Onlinenetzwerke,
Chatrooms, Online-Spiele.
Ein Teufelskreis aus Rückzug, Angst vor echten Begegnungen, weiterer Rückzug
kann entstehen.
9
Studie (Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen) zur PC-Spielsucht:
15168 Jugendliche, 15 Jahre alt, nahmen an einer Befragung teil.
4,3% der Mädchen und 15,8% der Jungen spielen täglich mehr als 4,5 Stunden
PC- oder Video-Spiele. Als süchtig werden in dieser Studie 3 % der Jungen und
0,3 % der Mädchen eingestuft. Das Spiel World of Warcraft wird in der Studie
mit dem höchsten Suchtfaktor eingestuft. Der Leiter der Studie fordert, dass
dieses Spiel erst ab 18 Jahre freigegeben werden darf. Derzeit wird es Kindern
ab 12 Jahren verkauft. Spitzer schließt sich dem an.
Suchtentstehung: Im Gehirn gibt es eine Ansammlung von Nervenzellen, die für
Glücksgefühle sorgen. Diese Nervenzellen werden aktiviert, wenn zufällig etwas
Positives geschieht. Es werden Endorphine im Frontalhirn ausgeschüttet, was
als angenehm erlebt wird.
Alle süchtig machende Stoffe wie Drogen, Alkohol und Nikotin aktivieren dieses
Zentrum. Auch Bildschirmmedien aktivieren dieses Zentrum!
Spiele: Die Kombination aus virtuellen Belohnungen (zum Beispiel für im Spiel
verbrachte Zeit oder für regelmäßiges Spielen) und Zufall (Belohnungen nach
dem Zufallsprinzip) führen am ehesten zur Sucht. Erfolgreiche PC-Spiele sind
sogar extra so programmiert, dass diese Kombination enthalten ist, um zur
Sucht zu führen.
Internet: Die suchterzeugende Wirkung des Internets kann auch auf das
Belohnungs- und Zufallsprinzip zurückgeführt werden. Schließlich ist es nicht
vorhersagbar, ob ich etwas Bestimmtes auf Ebay bekomme oder nicht, ob ich
Freunde bei Facebook finde oder nicht. Das Belohnungssystem wird durch das
Finden von Waren oder Freunden, von Tönen, wenn Mails reinkommen,
aktiviert.
Medienkonsum verringert Selbstkontrolle, daher ist der Suchtfaktor umso
größer.
Alkoholsucht und Mediensucht im Vergleich:
Alkohol macht süchtig, schadet Körper und Geist, führt zu sozialem Abstieg,
Vereinsamung, Depression und vorzeitigem Tod.
Je früher der Konsum beginnt, desto schneller entwickelt sich die Sucht.
Solange sich das Gehirn entwickelt (bis 25 Jahre) ist Sucht besonders schädlich
für das Gehirn.
Studien haben gezeigt, dass Aufklärung, um Menschen vom (übermäßigen)
Konsum von Alkohol und Zigaretten abzuhalten, nichts bringen! Das was helfe,
sei eine Verteuerung dieser (durch Steuern) und ein Verbot der Abgabe unter
18 Jahren.
Bezüglich der Digitalen Medien wird immer wieder behauptet, Aufklärung
würde genau das Richtige sein, um den Problemen zu begegnen. Es bräuchte
Medienkompetenz und einen Internetführerschein.
10
Internetführerschein:
In Schulen werden Internetführerscheine angeboten, Autoführerscheine
dagegen nicht, obwohl jeder siebte Arbeitsplatz direkt oder indirekt von Autos
abhängt. Wer nicht Auto fahren kann, ist schlechter qualifiziert. Daher wäre es
empfehlenswert, in der Schule einen Autoführerschein zu machen, was aber
niemand vorschlägt.
Im Gegensatz dazu wird den Eltern (von der Industrie) eingeredet, ihr Kind
würde im Beruf nicht erfolgreich sein, wenn es nicht von klein auf am PC säße.
Professoren für Medienpädagogik und Politiker lassen sich zu Marktschreiern
der Industrie missbrauchen.
Medienkompetenz in Kindergärten und Grundschulen: Spitzer stellt die Frage,
was wir sagen würden, wenn bereits in Kindergärten und Grundschulen das
Training von Alkoholkompetenz eingeführt würde, um Kindern so früh wie
möglich einen verantwortungsvollen Umgang damit beizubringen.
Tatsächlich wurde schon einmal solch ein Versuch mit Drogen gestartet. Für die
achten Klassen wollte man Jugendliche mit einem Drogenkoffer mit Mustern
über Drogen aufklären und von Drogen fernhalten.
Tatsächlich aber weckte der Koffer das Interesse! Wer das noch nicht kannte
wurde spätestens jetzt neugierig und probierte Drogen nach der Schule aus.
Der Drogenkoffer wurde wieder aus der Schule verbannt, da er das Gegenteil
bewirkte. Dasselbe gilt für Digitale Medien: Letztlich kommt es einem Anfixen
(neugierig machen, im Drogenmilieu: Überreden) gleich, diese in der Schule
bereits zur Verfügung zu stellen!
Wer schon in jungen Jahren mit digitalen Medien in Kontakt kommt, lernt auch
eher früher, wie man an verbotene Spiele oder virtuelle Inhalte kommt.
Das Gehirn von Erwachsenen ist vergleichsweise fertig: Wenig veränderbar und
damit robust gegenüber schlechten Gedanken. Es dauert sehr lange, bis diese
wirken. Bei Kindern ist das anders. Sie lernen schnell und was auch immer sie
lernen, es hat große Chancen, ein Leben lang hängen zu bleiben.
Deswegen und aus allen oben genannten Gründen empfiehlt Spitzer, Kinder so
lange als möglich von digitalen Medien fernzuhalten.
11
Herunterladen