Wissenschaftliche Argumentation Hinweise zum Verständnis und Verfassen sozialwissenschaftlicher Texte Ralph Schrader∗ Inhaltsverzeichnis 1 Zum Aufbau einer Hausarbeit oder eines Essays 2 2 Zuerst Collegium logicum 4 3 Argumente 10 4 Erklärungen 13 5 Theorien und Modelle 19 6 Worauf man achten kann 22 7 Schlussbemerkung 25 Anhang: Logische Symbole 26 Literatur 26 Studenten der Soziologie wird viel abverlangt. So fehlt es dem Fach an einem abgegrenzten Gegenstandsbereich – was kann nicht alles gesellschaftlich sein? Auch findet man, anders als z. B. in den Wirtschaftswissenschaften, keine Lehrbücher, die standardisiertes Wissen wiedergeben. Daher müssen Sie sich als Soziologiestudenten in besonderem Maße mit widerstreitenden Positionen beschäftigen, aktuelle wissenschaftliche Kontroversen verfolgen und sich mit diesen kritisch auseinandersetzen.1 Der vorliegende Text soll Ihnen helfen, sozial- und geisteswissenschaftliche Texte zu lesen und eigene Arbeiten zu verfassen. Dabei erhebe ich keinerlei Originalitätsanspruch. Viemehr möchte ich Ihnen einige zentrale Konzepte vorstellen, die für theoretische Arbeiten immer wieder gebraucht werden. Daher werden Sie ∗ 1 Für Kritik und Verbesserungsvorschläge danke ich Susanne Bellin und Oliver Stengel. Doch gilt dies sicher nicht nur für die Soziologie. Zumindest in der Philosophie steht man vor ähnlichen Problemen. Die anderen Sozial- und Geisteswissenschaften haben zwar einen halbwegs abgegrenzten Gegenstandsbereich – die Politik oder die deutsche Literatur –, verfügen aber ebenfalls nicht über ein Lehrbuchwissen. 1 Ralph Schrader Wissenschaftliche Argumentation die in meinem Paper vorgestellten Gedanken auch nicht nur in den beiden im Literaturverzeichnis angegebenen und sehr empfehlenswerten Büchern von Føllesdal et al. und Rosenberg wiederfinden, sondern auch in einer Reihe anderer Einführungstexte. Ein Kochbuch für das Verfassen von Hausarbeiten und Essays kann Ihnen aber niemand anbieten, denn das Verfassen wissenschaftlicher Texte kann man letztendlich nur durch eigenes Schreiben lernen. 1 Zum Aufbau einer Hausarbeit oder eines Essays Was eine universitäre Hausarbeit ist, ist zunächst recht einfach zu erklären. Es handelt sich um eine Arbeit, die zu Hause (oder in der Bibliothek) geschrieben wird und die dazu da ist, gelesen zu werden. Letzteres ist ein wichtiger Unterschied zu einem Referat, welches man vorträgt. Referate erfordern, anders als eine Hausarbeit, dass man Rücksicht auf die Bedürfnisse von Zuhörern nimmt. Sie müssen daher sprachlich einfacher verfasst sein und mehr Wiederholungen enthalten als Hausarbeiten. Größere Verständnisprobleme wirft in der Regel der Begriff des Essays auf. Unter ihm ist ein wissenschaftlicher Text zu verstehen, der argumentativ angelegt ist und in dem sich der Verfasser mit einer klar umrissenen Fragestellung auseinandersetzt. Seine Länge kann sehr unterschiedlich sein – den Autoren des 17./18. Jahrhunderts fiel es nicht schwer, Bücher von mehreren hundert Seiten zu schreiben und sie dann z. B. An Essay Concerning Human Understanding zu nennen. Für die Zwecke eines Proseminares ist es jedoch sinnvoll, nicht mehr als vier bis fünf Seiten pro Essay zu veranschlagen. Um Missverständnisse zu vermeiden, muss noch darauf hingewiesen werden, dass der Begriff »Essay« im Englischen und Französischen sehr unterschiedlich verwendet wird: Im Englischen versteht man darunter ein wissenschaftliches Paper, im Französischen eher eine literarische Textgattung, die sich zwar auch mit geistes- und sozialwissenschaftlichen Fragen befassen kann, in der jedoch mehr Wert auf Stil und Witz gelegt wird als auf eine kohärente Argumentation. Dem Gebrauch in diesem Text liegt die englische Bedeutung zugrunde. Idealtypisch kann eine Hausarbeit oder ein Essay folgenden Aufbau haben2 : (1) (2) (3) (4) (5) (6) Formulierung und Analyse einer Fragestellung oder eines Problems. Entwicklung von Kriterien für eine adäquate Lösung. Darstellung der Position eines oder mehrerer Bezugsautoren. Bewertung und Kritik der Position(en). Entwicklung eines eigenen Lösungsvorschlages. Überprüfung des Vorschlages anhand der Adäquatheitsbedingungen aus (2). (7) Eventuell Antworten auf erwartbare Kritik. Einige der genannten Punkte brauchen Sie nicht abzuarbeiten, da Sie sich als Studenten hauptsächlich in der Phase der Theorierezeption und nicht der 2 Die Aufstellung lehnt sich eng an Rosenberg (1993, 139) an. 2 Ralph Schrader Wissenschaftliche Argumentation Theorieproduktion befinden. Die Gliederung entspricht also vielleicht eher der einer umfangreichen Hausarbeit oder einer Magisterarbeit als der eines Essays in einem Proseminar. Aber dennoch ist es sicher nicht falsch, sich klar zu machen, wohin das Studium einen führen soll, nämlich zur Entwicklung eigener Lösungsvorschläge für (bekannte) Probleme. Vielleicht klingt es nach einem sehr hohen Anspruch, eine Fragestellung entwickeln zu sollen, und tatsächlich hat man eine der schwierigsten Hürden beim Verfassen eines Textes bereits genommen, wenn man genau weiß, worüber man schreiben will. Dann sollte es Ihnen aber auch leicht fallen, eine thematisch fokussierte Arbeit zu schreiben und den Bezugstext nicht lediglich zu paraphrasieren.3 Angenommen, man steht vor der Aufgabe, sich mit Karl Marx’ Manifest der kommunistischen Partei befassen zu müssen. Wie kann man zu einer Fragestellung gelangen? Nach der Lektüre könnten Sie sich für die Frage »Was steht in dem Text drin?« entscheiden. Doch das wäre etwas zu einfach. Sie sollten vielmehr überlegen, was Marx mit dem Text wollte und was Sie mit ihm anfangen können und wollen. Natürlich handelte es sich beim Manifest um eine politische Kampfschrift, aber dies ist für uns heute wohl nur noch historisch interessant. Schaut man näher hin, so sieht man, dass bestimmte Gruppen oder kollektive Akteure ausgemacht werden, die, nach Marx, notwendig in einen Konflikt geraten müssen. Bei diesen kollektiven Akteuren handelt es sich um Klassen, und die Zugehörigkeit von Akteuren zu einer Klasse wird ökonomisch bestimmt. Jetzt muss Marx noch erklären, wieso die individuellen Akteure sich überhaupt zu einem kollektiven Akteur zusammenschließen. Die Antwort besteht in den ökonomischen Interessen, die sie teilen. Nun haben wir kurz skizziert, wofür sich Marx im Kommunistischen Manifest (unter anderem) interessiert. Im nächsten Schritt kann man überlegen, worin die eigene Fragestellung bestehen kann. Eine Möglichkeit wäre zu fragen: Wie bestimmt Marx kollektive Akteure? Wie definiert er »Klasse«? Warum nehmen, nach Marx, Individuen an kollektiven Aktionen teil? Ist Marx Ansatz in sich schlüssig? Lässt sich das Verhalten heutiger kollektiver Akteure, z. B. der Gewerkschaften, mit den Mitteln der Marxschen Theorie erklären, oder zeigen uns die Neuen Sozialen Bewegungen (Friedensund Umweltbewegung), dass sich kollektive Akteure nicht mehr durch Klassenlagen erklären lassen? Bei der Formulierung einer Fragestellung ist außerdem zu beachten, dass Fragen immer bestimmte Prämissen enthalten. Häufig mögen sie trivial sein, doch gelegentlich bestimmen sie die Antwort unzulässig vor: »Hast du heute wieder Deine Fau geschlagen?« Die Antwort »Nein« würde nahelegen, dass man zumindest zugesteht, früher seine Frau geschlagen zu haben. Ebenso geht man, wenn nach einer Theorie kollektiver Akteure bei Marx gefragt wird, davon aus, dass es eine solche bei Marx gibt oder sich doch zuminest von Marx ausgehend ent3 Andererseits sollte die Entwicklung einer Fragestellung auch kein zu großes Problem darstellen, denn erstens werden im Proseminar Leitfragen ausgeteilt und zweitens ist es im Rahmen einer theoretischen Arbeit bereits eine legitime Problemstellung, eine Rekonstruktion der Position eines Autors zu entwickeln. 3 Ralph Schrader Wissenschaftliche Argumentation wickeln lässt. Daher kann man nicht nur über Antworten auf wissenschaftliche Frage streiten, sondern schon über die Prämissen der Fragen. Leider lässt sich nicht ein für alle mal festlegen, was eine gute Fragestellung ist. Dies hängt nämlich auch von Ihren Interessen und den Interessen ihrer Zuhörer ab. Vielleicht finden Sie das Kommunistische Manifest nicht interessant in bezug auf eine Theorie kollektiver Akteure, sondern in bezug auf die Geschichtsphilosophie. Und wahrscheinlich werden Sie auch, je nach dem vor welchem Publikum Sie sprechen, Ihr Thema unterschiedlich wählen, denn Ökonomen mag an Marx anderes interessieren als Soziologen oder Historiker. Sodann sollten Sie sich und anderen Rechenschaft darüber ablegen, wann Sie glauben, dass ein Problem gelöst ist. Nicht mehr verlangt (2). Sollte es offensichtlich sein, wann ein argumentatives Ziel erreicht ist, brauchen die Kriterien nicht extra angegeben werden. Die weiteren Punkte werde ich nicht einzeln durchgehen, denn um sie abzuarbeiten, ist einiges von dem begrifflichen Instrumentarium nötig, dass ich im folgenden vorstellen werde. 2 Zuerst Collegium logicum Keine Angst, es wird nicht schwer. Es geht hier nicht darum, eine Einführung in die formale Logik zu geben, sondern ausschließlich darum, einige Begriffe und Symbole einzuführen, die es in späteren Abschnitten erlauben, sich kurz zu fassen und den ein oder anderen Punkt klarer auszudrücken.4 Begriffe lassen sich in Hinblick auf ihre Intension 5 und ihre Extension analysieren. Betrachten wir »Morgenstern«. Die Bedeutung des Ausdruckes lässt sich erläutern, indem man sagt: »Ich meine das Objekt am Himmel, das morgens so hell leuchtet.« Den Begriff »Abendstern« kann man dagegen durch »das Objekt am Himmel, das abends so hell leuchtet« erläutern. Beide Begriffe beschreiben einen Gegenstand auf unterschiedliche Weise, d. h. sie haben unterschiedliche Intensionen. Der Gegenstand, auf den die Begriffe sich beziehen, die Venus, ist jedoch der gleiche, d. h. die Extension der Begriffe ist gleich. Extensionsgleichheit bei verschiedenen Intensionen ist also möglich, aber ist auch Intensionsgleichheit bei verschiedenen Extensionen möglich? Das mag man zunächst annehmen, denn »Morgenstern« bezeichnet nicht nur die Venus, sondern auch den Dichter des Kudeldadeldu. Doch spricht man hier nicht von der gleichen Intension, sondern davon, das es zufällig gleichlautende Wörter für verschiedene Intensionen gibt. Daher hat man es mit einer Äquivokation zu tun. Der Ausdruck »Abendstern« ist ein singulärer Terminus und hat daher nur einen Gegenstand als Extension. Klassenbegriffe, wie »Planet«, und generelle Termini, wie »schön«, finden dagegen ihre Extension in der Menge der Gegenstände, auf die sie zutreffen, also in der Menge der Planeten bzw. der schönen 4 In der formalen Logik werden für die gleichen Ausdrücke häufig verschiedene Zeichen verwendet. Eine Auflistung der gebräuchlichsten logischen Symbole finden Sie im Anhang. 5 Intension mit »s« – unter Intention versteht man meist eine Absicht. 4 Ralph Schrader Wissenschaftliche Argumentation Dinge.6 Gehen wir nun von Begriffen zu Aussagen und Aussagensystemen über und untersuchen ihre Eigenschaften. Dies geschieht insbesondere um auch Einsichten über eine bestimmte Klasse von Aussagensystemen gewinnen zu können, nämlich über wissenschaftliche Theorien.7 Zunächst kann man Aussagen danach unterscheiden, ob sie analytisch oder synthetisch sind. Analytisch sind sie, wenn ihre Wahrheit oder Falschheit sich allein aus der Bedeutung der in ihnen vorkommenden Ausdrücke bestimmen lässt. Das bekannteste Beispiel für Analytizität ist: »Alle Jungesellen sind unverheiratete Männer«. Synthetisch heißen Aussagen dagegen, wenn empirische Untersuchungen nötig sind, um zu bestimmen, ob sie wahr oder falsch sind.8 Zudem ist es in bezug auf Aussagensysteme sinnvoll zwischen ihrer Syntax, Semantik und Pragmatik zu unterscheiden. Die Syntax eines Aussagensystems besteht aus einer Menge von Zeichen, z. B. »p« für Aussagen und »F« für Eigenschaften sowie Regeln für die Verknüpfung von Zeichen, z. B. für den Gebrauch von »und« und »oder«. Es handelt sich also im gewissen Sinne um die Grammatik eines Aussagensystems. Bei der Analyse von syntaktischen Strukturen sieht man von der Bedeutung der Zeichen und Ausdrücke ab und untersucht lediglich, welche Zeichen benutzt werden und wie sie verknüpft sind. So wie es Verknüpfungsregeln in der Grammatik des Deutschen gibt (Subjekt – Prädikat – Objekt), so gibt es auch Verknüpfungsregeln für wissenschaftliche Theorien. Im Bereich der sozialwissenschaftlichen Statistik sind mit Daten auf kardinalem Skalenniveau z. B. Transformationen erlaubt, die für Daten auf ordinalem Niveau verboten sind. Um festzustellen, ob ein Satz unserer Muttersprache grammatisch korrekt ist, müssen wir nicht unbedingt die Bedeutung der Wörter kennen und müssen demnach auch nicht wissen, ob der Satz wahr ist. Analog muss man nicht wissen, worauf sich ein Aussagensystem bezieht, um zu überprüfen, ob es syntaktisch korrekt ist. Die Semantik beschäftigt sich mit dem Gehalt von Begriffen, Aussagen und Aussagensystemen. Hier wird festgelegt, auf welche Gegenstände in der Welt sich Zeichen und Aussagen beziehen, es wird also die Extension bestimmt. Die Extension von Begriffen wurde bereits oben erläutert. In bezug auf syntaktisch korrekte Ausssagen und Aussagensysteme lässt sich nun, je nach dem auf welche 6 Our local hero soll natürlich nicht vergessen werden. Frege war der Erste, der diese Unterscheidung einführte und die Intension als »Sinn« und die Extension als »Bedeutung« bezeichnete. Die Terminologie ist für uns heute unglücklich, da wir »Bedeutung« meist im Sinne von »Sinn« gebrauchen. 7 Aber auch hier ist die Sache wieder komplizierter. Zwar gelten Theorien nach den Standardmodellen der Wissenschaftstheorie als Aussagensysteme, doch gibt es auch einige Wissenschaftstheoretiker, die behaupten, man dürfe sie nicht als solche betrachten, sondern müsse Theorien mit Hilfe der Mengenlehre rekonstruieren (non-statement view). Diese Position werde ich hier jedoch außen vor lassen und Theorien weiter als Aussagensysteme betrachten. 8 Eine etwas schwierigerer Fall. Ist die Aussage »Der Papst ist unverheiratet« analytisch oder synthetisch? Ich will außerdem nicht verschweigen, dass die Unterscheidung von analytischen und synthetischen Aussagen auch als unsinnig verworfen wurde, vgl. Willard V. O. Quine, »Zwei Dogmen des Empirismus«, in: ders., Von einem logischen Standpunkt, Frankfurt a. M./Berlin 1979, 27-50. 5 Ralph Schrader Wissenschaftliche Argumentation Gegenstände und Sachverhalte sie sich beziehen, auch etwas darüber sagen, ob sie wahr sind. »Wahr« und »falsch« sind daher semantische Begriffe. Die Pragmatik bildet die dritte Ebene auf der Aussagen und Theorien untersucht werden können. Sprachliche Äußerungen sind nicht nur grammatisch korrekt oder empirisch wahr, gelegentlich tun wir auch etwas mit unseren Äußerungen. Auf dem Standesamt »Ja« zu sagen, ist nicht leeres Gerede, vielmehr ist man gerade einen Vertrag eingegangen. Ebenso besitzen auch wissenschaftliche Theorien Anwendungen. Auf den ersten Blick mag es beliebig erscheinen, wie eine wissenschaftliche Erkenntnis genutzt wird. Die Kriminologie kann für Polizisten wie für Verbrecher eine hilfreiche Disziplin sein. Schaut man genauer hin, so sieht man jedoch, dass aus bestimmten Theorien bestimmte Anwendungen folgen. Ein kriminalsoziologischer Ansatz, der die Ursache von Verbrechen in zerbrochenen Elternhäusern sieht, wird zu anderen sozialpolitischen Maßnahmen führen, als einer, der Verbrechen als Folge von schlechten ökonomischen Bedingungen betrachtet. Man kann zusammenfassen, dass Aussagensysteme und Theorien sich einerseits darin unterscheiden, ob sie analytisch oder synthetisch sind und andererseits darin, welche Art von Operationen erlaubt sind (Syntax), auf welche Gegenstände sie zutreffen (Semantik) und wie sie angewandt werden (Pragmatik). Gehen wir jetzt zur formalen Logik über, zur klassischen Logik um genau zu sein. Sie geht vom Bivalenzprinzip aus, d. h. der Annahme, dass es genau zwei Wahrheitswerte (»wahr« und »falsch«) gibt und jeder sinnvollen Aussage genau einer der Wahrheitswerte zukommt. Nichtklassische Logiken lassen dagegen auch weitere Wahhrheitswerte (z. B. »unbestimmt«) zu. Im folgenden wird nur auf die klassische Logik eingegangen werden. In der Junktoren- oder Aussagenlogik wird untersucht, in welchem Verhältnis Aussagen zueinander stehen, wie sie verknüpft werden dürfen und welche gültigen Schlüsse man aus Aussagen und Aussagenverknüpfungen ziehen kann. Gültig sind Schlüsse genau dann, wenn aus wahren Prämissen notwendig wahre Konklusionen folgen – wenn also der Wahrheitswert erhalten bleibt. Aussagen werden in der logischen Notation durch die Variablen p, q, r usf. dargestellt. Für sie können beliebige Aussagen eingesetzt werden. Hinzu kommen logische Junktoren, die Aussagen verknüpfen. Sie lassen sich auf zwei Weisen einführen, die der Unterscheidung von Syntax und Semantik entsprechen. Einerseits kann gesagt werden, worauf man schließen darf, wenn durch Junktoren verbundene Ausdrücke vorliegen und andererseits kann erläutert werden, unter welchen Bedingungen die gebrauchten Ausdrücke wahr sind. Betrachtet man zunächst die Konjunktion (das logische »und«), so kann man ihren Gebrauch erklären, indem man sagt: Von p ∧ q darf man auf p und auf q schließen. Dagegen besagt die semantische Deutung, dass p ∧ q genau dann wahr ist, wenn p und q wahr sind. Sie kann man auch der folgenden Wahrheitstafel entnehmen. 6 Ralph Schrader Wissenschaftliche Argumentation p w w f f p∧q w f f f q w f w f Wie ist die Tabelle zu lesen? Die erste Spalte gibt den Wahrheitswert von p an. Sie sagt also, ob p wahr oder falsch ist. Die zweite Spalte gibt den Wahrheitswert von q und die dritte Spalte den der Konjunktion an. Die erste Zeile besagt demnach, dass dann, wenn p wahr ist und wenn q wahr ist, auch die Konjunktion wahr ist. Die zweite Zeile besagt, dass dann, wenn p wahr und q falsch ist, auch die Konjunktion falsch ist. Ebenso ist sie falsch, wenn p falsch und q wahr ist und wenn sowohl p als auch q falsch sind. Analog zur Konjunktion kann man die Adjunktion (das nicht ausschließende »oder«) einführen. Von p kann man auf p ∨ q schließen und von q ebenfalls auf p ∨ q. Die Wahrheitsbedingungen des Ausdruckes kann man wiederum der Wahrheitstafel entnehmen.9 p w w f f p∨q w w w f q w f w f Für die Negation (das »nicht«) besteht die syntaktische Erläuterung zunächst darin, dass mann von ¬¬p auf p schließen darf. Hinzufügen kann man, dass von p ⊃ q ∧ ¬q auf ¬p schließen kann. Die semantische Interpretation, dass ¬p wahr ist genau dann, wenn p falsch ist, dürfte allerdings leichter nachzuvollziehen sein. ¬p f w p w f Während der Gebrauch der bisher genannten Junktoren gänzlich unserem intuitiven Gebrauch entsprach, so weist das Verständnis des Konditionals (»wenn . . . dann«) häufig Probleme auf. Schauen wir diesmal zuerst die Wahrheitstafel an. p w w f f 9 p⊃q w f w w q w f w f Gibt es Probleme, die Zeichen für die Konjunktion und die Adjunktion auseinander zu halten, so kann man daran denken, dass das lateinische Wort für »oder« »vel« lautet und es daher naheliegt »∨« für »oder« zu gebrauchen. 7 Ralph Schrader Wissenschaftliche Argumentation p ⊃ q ist also nur in einem Falle falsch und zwar dann, wenn q (auch Consequens genannt) falsch und p (auch Antecedens genannt) wahr ist. Ein einfaches Beispiel: Wenn die Sonne scheint, dann geht Oliver ins Schwimmbad. Es ist leicht einsichtig, dass diese Aussage falsch ist, falls die Sonne scheint und Oliver nicht ins Schwimmbad geht. Doch was sagt uns das Konditional für den Fall, dass keine Sonne scheint? Intuitiv würde man vielleicht sagen, dass Oliver dann nicht ins Schwimmbad geht, doch die Wahrheitstafel zeigt uns, dass über diesen Fall keine Aussage gemacht wurde. Das Konditional kann auch wahr sein, wenn Oliver bei schlechtem Wetter gelegentlich ins Schwimmbad geht. Ebenso bleibt das Konditional wahr, wenn wenn p und q falsch sind, also dann wenn weder die Sonne scheint, noch Oliver ins Schwimmbad geht. Letzteres ist wiederum leicht nachvollziehbar. Falsch ist das Konditional also nur, wenn die Sonne scheint und Oliver trotzdem nicht ins Schwimmbad geht. Wenn Antecedens und Consequens Sachverhalte bezeichnen, sagt man auch dass p die notwendige und q die hinreichende Bedingung ist: p ist eine hinreichende Bedingung für q genau dann, wenn bei jedem Auftreten von p auch q auftritt; q ist eine notwendige Bedingung für p genau dann, wenn p nicht auftreten kann, ohne dass auch q auftritt. Die Tatsache, dass die Sonne scheint, genügt (reicht hin), um Oliver ins Schwimmbad zu bewegen. Wie wir gesehen haben, geht er gelegentlich aber auch bei schlechtem Wetter schwimmen. Umgekehrt ist der Gang zum Schwimmbad eine notwendige Bedingung für Sonnenschein. Denn wenn das Konditional wahr ist, dann geht Oliver bei Sonnenschein immer ins Schwimmbad, d. h. es kann nicht sein, dass die Sonne scheint und Oliver nicht im Schwimmbad ist.10 Die Unterscheidung von hinreichender und notwendiger Bedingung wird im Zusammenhang mit den wissenschaftlichen Erklärungen ebenfalls wichtig sein. Das Bikonditional (»genau dann, wenn«) ist die Verknüpfung zweier Konditionale in der folgenden Art: p ⊃ q ∧ q ⊃ p. Wenn Sie die vorhergehenden Junktoren verstanden haben, können Sie die Wahrheitstafel für das Bikonditional nun eigentlich selbst entwickeln. Um der Einfachheit willen, sei sie hier jedoch nochmals angegeben. p w w f f p≡q w f f w q w f w f In Abwandlung des vorherigen Beispiels könnte es nun also heißen: Oliver geht ins Schwimmbad, genau dann, wenn die Sonne scheint. D. h. Oliver geht immer, aber auch nur dann, wenn die Sonne scheint ins Schwimmbad. Im Bikonditional sind p und q notwendige und hinreichende Bedingungen zugleich. 10 Das Beispiel kann in einer Hinsicht irritieren: Denn selbst wenn q eine notwendige Bedingung ist, so heißt das nicht, dass sie unbedingt einen kausal wirksamen Faktor angibt. Es wäre doch sehr überraschend, wenn Oliver durch seine Schwimmbadbesuche das Wetter beeinflussen könnte. 8 Ralph Schrader Wissenschaftliche Argumentation In der Quantoren- oder Prädikatenlogik wird über Gegenstände, ihre Eigenschaften und Relationen gesprochen. Gegenstände werden durch die Variablen x, y, z oder die Konstanten a, b, c abgekürzt. Eigenschaften von Gegenständen werden mit F, G, H ausgedrückt. Eingeführt werden zudem die beiden Quantoren »für alle« (∀) und »es gibt mindestens ein« (∃).11 Um die klassischen Syllogismen, wie »Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. Also ist Sokrates sterblich«, zu bilden, benötigt man die Quantorenlogik. Der Gebrauch der Quantoren entspricht fast unserem intuitiven Gebrauch. »Es gibt ein x mit der Eigenschaft F « wird darggestellt als »∃xF (x)«, »alle x haben die Eigenschaft F « durch »∀xF (x)«. In einer Hinsicht unterscheidet sich der logische Gebrauch von »alle« jedoch vom alltäglichen. Aus ∀xF (x) folgt nicht ∃xF (x), d. h. aus »Alle Zwerge sind Bergleute« darf man nicht darauf schließen, es gäbe mindestens einen Zwerg. Die Quantoren können näher erläutert werden, wenn man ihre logischen Äquivalenzen nennt, d. h. angibt, auf welche Weise quantifizierte Aussagen wahrheitswerterhaltend durch andere quantifizierte Aussagen ersetzt werden können. Der Ausdruck »alle x haben die Eigenschaft F« ist unter den gleichen Bedingungen wahr oder falsch wie der Ausdruck »es gibt kein x, das die Eigenschaft F nicht hat«. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Äquivalenzen: ∀xF (x) ∃xF (x) ∀x¬F (x) ∃x¬F (x) ≡ ≡ ≡ ≡ ¬∃x¬F (x) ¬∀x¬F (x) ¬∃xF (x) ¬∀xF (x) Zudem ist es möglich Quantorenausdrücke mit Junktoren zu verbinden. Möchte man sagen, dass alle Gegenstände, wenn sie die Eigenschaft F haben, auch die Eigenschaft G haben (oder kürzer: alle F sind G), so schreibt man: ∀x(F (x) ⊃ G(x))12 Doch fürchte ich, hier sind schon einige von Ihnen ausgestiegen, und ich möchte Sie daher nicht länger mit Formalismen quälen. Allerdings muss, nachdem das logische Vokabular eingeführt ist, nun noch etwas zum logischen Schließen sagen. Bereits in der Erläuterung der Junktorenlogik wurde ausgeführt, welche Schlüsse von einem junktorenlogischen Ausdruck ausgehend erlaubt sind. Ausgehend von diesen Schlussregeln und von gegebenen Prämissen kann man im Prinzip sehr viele Konklusionen herleiten. Zwei der wichtigsten Schlussformen möchte ich noch kurz erläutern – den Modus ponens und den Modus tollens. Unter den Modus ponens fällt auch der berühmteste aller Schlüsse: Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. Also ist Sokrates sterblich. Der Modus ponens hat in der junktorenlogischen Fassung die Form: 11 Für die Existenzquantifikation wird traditionell auch der Ausdruck »einige« benutzt. Entgegen unserer Alltagssprache betrachten Logiker schon einen Gegenstand als »einige«. Als Symbol für die Allquantifikation ist auch » « gebräuchlich und für die Existenzquantifikation » «. 12 Wer Lust hat kann sich an der Formulierung von (a) Einige F sind G, (b) Kein F ist G und (c) Einige F sind nicht G versuchen. W V 9 Ralph Schrader (1) (2) ∴ (3) Wissenschaftliche Argumentation p⊃q p q Wenn die Sonne scheint, dann geht Oliver ins Schwimmbad. Die Sonne scheint Also geht Oliver ins Schwimmbad. (1) und (2) sind die Prämissen des Schlusses. Bei (3) handelt es sich um die Konklusion, die aus den Prämissen gezogen wird. Dass es sich um die Konklusion handelt, wird auch durch das Zeichen »∴« signalisiert, das sich als »also« übersetzen lässt. Die quantorenlogische Fassung des Modus ponens lautet: (1) (2) ∴ (3) ∀x (F (x) ⊃ G(x)) F (a) G(a) Für alle Gegenstände gilt: wenn der Gegenstand ein Mensch ist, dann ist er sterblich. Sokrates ist ein Mensch. Also ist Sokrates sterblich Im Modus tollens wird ein anderer Gebrauch von den Schlussregeln für das Konditional gemacht. Er lautet in der Formalisierung: (1) (2) ∴ (3) p⊃q ¬q ¬p Wenn die Sonne scheint, dann geht Oliver ins Schwimmbad. Oliver geht nicht ins Schwimmbad. Also scheint die Sonne nicht. beziehungsweise (1) (2) ∴ (3) ∀x (F (x) ⊃ G(x)) ¬G(b) ¬F (b) Für alle Gegenstände gilt: wenn der Gegenstand ein Mensch ist, dann ist er sterblich. Der Highlander ist nicht sterblich. Also ist der Highlander kein Mensch. Mit beiden Schlussformen bekommt man es auch in wissenschaftstheoretischen Beispielen immer wieder zu tun. 3 Argumente Ein Argument ist zunächst eine Menge von Aussagen, die in zwei Teilmengen zerfällt: die Menge der Prämissen und die Menge der Konklusionen. Prämissen sind daran zu erkennen, dass sie häufig durch Floskeln wie »Angenommen, dass. . . «, »Gegeben. . . «, »Ausgehend von. . . « eingeleitet werden oder doch zumindest eingeleitet werden könnten. Konklusionen kann man dagegen an den Formeln »Weil. . . «, »Deshalb. . . « oder »Also. . . « erkennen. Definitionen. Eine Sonderstellung innerhalb der Prämissen haben die Definitionen inne. Sie sagen nichts über empirische Sachverhalte aus, sondern darüber, wie Wörter verwendet werden. So kann eine Definition z. B. festlegen, dass das Wort »Junggeselle« auf alle unverheirateten Männer anzuwenden ist oder das 10 Ralph Schrader Wissenschaftliche Argumentation Wort »Proletarier« auf alle Menschen ohne Eigentum an Produktionsmitteln. Doch tauchen hier schon die ersten Probleme auf. Was sind eigentlich »Produktionsmittel«? Auch dieser Ausdruck muss definiert werden, bevor wir »Proletarier« verstehen. Und sind wirklich alle Menschen ohne Eigentum an Produktionsmitteln Proletarier? Wie steht es mit Neugeborenen? Offensichtlich weist schon das Geschäft des Definierens einige Schwierigkeiten auf, die es weiter zu untersuchen lohnt Es ist üblich, zwischen Nominaldefinitionen und Realdefinitionen zu unterscheiden. Eine Nominaldefinition legt die Bedeutung eines Ausdrucks konventionell fest: Wir können uns einigen, alle roten Kerzen in Zukunft »Rorzen« zu nennen. Eine Realdefinition hat dagegen den Anspruch die Bedeutung eines Ausdrucks anhand von Merkmalen zu bestimmen, die für ihn wesentlich bzw. notwendig sind: »Menschen sind vernünftige Tiere.« Natürlich kann es immer Streit darum geben, was wohl wesentlich und notwendig sein mag. Menschen sind schließlich auch die einzigen Lebewesen, die sich das Kopffell scheren. Letzteres wird man aber wohl kaum als Merkmal für eine Realdefinition wählen.13 Manche Lehrbücher erwecken den Eindruck, es gäbe nur konventionelle Nominaldefinitionen und Realdefinitionen, die auf notwendige Eigenschaften abheben. Doch leider ist es wieder nicht ganz so einfach. Einen weiteren Typ von Definitionen stellen die funktionalen Definition dar: »Hammer« wird verwendet für einen Gegenstand, mit dem man Nägel einschlägt (der die Funktion hat, zum Nägeleinschlagen zu dienen). In diesem Sinne kann ein Stein genauso wie ein Metallstück ein Hammer sein. Da die Eigenschaft eines Steins, zum Nägeleinschlagen zu dienen, davon abhängt, dass ich ihn so benutze, ich es aber auch bleiben lassen kann, kann es sich nicht um eine notwendige Eigenschaft handeln. Ein interessanteres Beispiel für eine funktionale Definition bietet »Geld«. Was ist Geld? Mit Zahlen bedrucktes Papier? Eine sinnvolle Antwort besteht darin zu sagen, es sei (a) ein Standardisierungsmittel, (b) ein Zahlungsmittel, (c) ein Zirkulationsmittel und (d) ein Wertaufbewahrungsmittel. Aber was in einem Land Geld ist, ist in einem anderen vielleicht nur ein Sammlerstück. Ob ein Ding eine funktionale Eigenschaft hat, hängt also davon ab, als was wir es behandeln und betrachten. Die Eigenschaften, auf die funktionale Definitionen abheben, sind also beobachterrelativ. Gelegentlich trifft man auch auf operationale Definitionen: Intelligenz ist genau das, was der Intelligenztest misst. Der Gehalt des Begriffs »Intelligenz« wird gänzlich auf die Messoperationen reduziert, die benutzt werden. Doch hat man damit etwas über Intelligenz erfahren oder, genauer gesagt, über das, was wir normalerweise als Intelligenz bezeichnen? Operationale Definitionen sind häufig unbefriedigend, da sie die Frage, ob man wirklich das misst, was man messen will, nicht zulassen. Sie führen zu einer Form der Kritikimmunität. Allerdings brauchen wir uns hier nicht weiter mit den Feinheiten der Definitionenlehre zu beschäftigen. Wichtig ist zunächst nur, dass man sich Rechenschaft ablegt, wie der Bezugsautor einer Hausarbeit oder eines Essays (und man selbst) Begriffe gebraucht. Leider machen es einem die Autoren nicht immer 13 Menschen sind auch die einzigen Tiere, die lachen. Das könnte vielleicht ein interessantes Merkmal sein. 11 Ralph Schrader Wissenschaftliche Argumentation einfach. Nur selten tauchen explizite Definitionen in Texten auf, und daher ist es häufig Ihre Aufgabe, die Definitionen, die die Autoren im Sinn haben, aus den Texten herauszuarbeiten. Vor Wörterbüchern müssen Sie sich allerdings hüten. Es kann nämlich sein, dass im Meyers oder Brockhaus z. B. der Begriff »Kapitalismus« ganz anders definiert wird, als im Werk Max Webers oder Karl Marx’. Wenn Nominaldefinitionen Wortbedeutungen konventionell festlegen, so können sie nicht in der gleichen Art wie empirische Behauptungen wahr oder falsch sein: Zu sagen, dass Proletarier kein Eigentum besitzen, ist schlicht per definitionem wahr. Folgt daraus, dass solche Definitionen nicht kritisierbar sind? Nicht unbedingt, den Definitionen können im Rahmen einer Theorie brauchbar oder unbrauchbar sein. Betrachten wir nochmals den Begriff »Proletarier«. Er wurde eingeführt, um etwas über Klassen und Klassenkampf aussagen zu können. Da Neugeborene aber nicht am Klassenkampf teilnehmen, wäre es unsinnig, sie in die Definition von Proletarier aufzunehmen. Eine Definition, die, wie in dem Beispiel, zu viele Gegenstände in sich einschließt, nennt man extensional zu weit. Definitionen können aber auch extensional zu eng sein: »Religionen sind Überzeugungssysteme, in denen ein Gott oder mehrere Götter vorkommen.« Nach dieser Definition wäre der Buddhismus in seiner strengen Form keine Religion. Da wir ihn üblicherweise aber zu den Religionen zählen, ist die Definition zu eng. Eine Definition kann nicht nur extensional unangemessen sein, sondern eventuell auch intensional. Das ist dann der Fall, wenn die Intension nicht mit der intuitiven und üblichen Beschreibungsweise übereinstimmt. Intensionale Unangemessenheit ist jedoch nur dann ein Problem für eine wissenschaftliche Definition, wenn man der Ansicht ist, wissenschftliche Verwendungsweisen von Begriffen sollten sich nicht (zu sehr) von alltäglichen unterscheiden. Doch warum sollte man dieser Ansicht sein? Dass »Gold« ein gelbes Metall genannt wird, muss keine bessere Definition sein, als dass »Gold« das chemische Element mit der Atommasse 196.9665 und der Ordnungszahl 79 bezeichnet. Prämissen im engeren Sinne. Prämissen sind die Ausgangsannahmen, mit denen ein Argument beginnt. Im Allgemeinen sollten sie wahr sein. Doch leider ist es nicht einfach, diese Eigenschaft zu gewährleisten. Einen Teil der Prämissen betrachten wir (vorläufig) als wahr, weil sie aus verlässlichen Quellen stammen – vielleicht aus statistischen Jahrbüchern oder anderen wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Natürlich ist es auch hier wieder schwer genau festzulegen, was verlässliche Quellen sind: die Frankfurter Allgemeine Zeitung zählt vielleicht dazu, die Bild-Zeitung ist mit größerer Vorsicht zu genießen. Andere Prämissen akzeptiert man vorläufig, da sie dem common sense entsprechen. So wissen wir in bezug auf sprachliche Kommunikation, dass sich Menschen häufig verstehen, gelegentlich aber auch missverstehen. Manchmal geht man aber auch von Prämissen aus, von denen man vermutet, dass sie falsch sind, gelangt man dann formal korrekt zu einer Konklusion, von der man weiß, dass sie falsch ist, hat man begründet, dass auch eine der Prämissen falsch sein muss. Möchte man die Thesen eines Autors angreifen, so besteht eine Möglichkeit darin, seine Prämissen anzugreifen. Dazu muss man zunächst natürlich heraus12 Ralph Schrader Wissenschaftliche Argumentation arbeiten, welche Prämissen ein Autor vertritt, denn häufig stehen sie nicht so klar im Text. Sodann kann man sich überlegen, ob man bereit ist, die Prämissen zu teilen oder ob man sie aus guten Gründen verwirft. Schlüsse und Konklusionen. Verfügt man über Prämissen, so möchte man zu Konklusionen gelangen, und dies geschieht mittels gültiger Schlüsse. Schlüsse sind keine Aussagen, sondern Verknüpfungen von Aussagen. Um vollständig zu erläutern, welche Schlüsse gültig und welche ungültig sind, reicht der Platz hier nicht. Doch glücklicherweise verfügen wir intuitiv halbwegs über die Fähigkeit, sie zu unterscheiden. Deduktiv gültige Schlüsse lernt man in der formale Logik. Deren grundlegende Konzepte wurden bereits oben vorgestellt, und deshalb soll hier nur nochmals den Modus ponens und den Modus tollens erinnert werden. Sollten Ihnen diese Schlussformen entfallen sein, so blättern Sie doch nochmals nach vorne. Die deduktiven Schlüsse gelten vielen Wissenschaftstheoretikern als die einzigen wissenschaftlich legitimen. Bei induktiven Schlüssen handelt es sich um Schlüsse der folgenden Form: »Bisher fuhr mir der Bus immer direkt vor der Nase weg. Deshalb wird er mir, wenn ich das nächste Mal zur Haltestelle kome, wieder vor der Nase wegfahren.« Oder etwas formaler ausgedrückt: Aus (a) p und (b) q wird (c) p ⊃ q gefolgert. Induktive Schlüsse sind nicht formal gültig wie deduktive, denn natürlich könnte man beim nächsten Mal den Bus erwischen, doch bilden auch sie häufig gute Gründe innerhalb einer Argumentation. Wenn die letzten vier Wochen die Vorlesung in Hörsaal VI stattfand, so hat man einen guten Grund anzunehmen, dass sie auch in der nächsten Woche dort stattfinden wird. Der Schluss auf die beste Erklärung besteht darin, zu zeigen, dass sich für ein bestimmtes Ereignis eine Erklärung als die beste anbietet. Daher handelt es sich häufig nur um eine andere Bezeichnung für den induktiven Schluss. Es ist aber auch der Fall vorstellbar, dass man über mehrere verschiedene Erklärungsmöglichkeiten für einen Sachverhalt verfügt. Dann kann man unter dem Schluss auf die beste Erklärung verstehen, eine der Erklärung auszuwählen. Dafür, welche man wählt, gibt es keine exakten Maßstäbe, doch einige heuristische Kriterien. Man sollte z. B. eine Erklärung wählen, die mit möglichst wenig Prämissen auskommt und mit möglichst vielen anderen Beobachtungen verträglich ist. 4 Erklärungen Die Wissenschaften dienen dazu, Erklärungen zu liefern. Was eine (gute) Erklärung ist, ist allerdings nicht so einfach zu sagen. Zunächst sind Erklärungen Antworten auf Warum-Fragen und beginnen deshalb üblicherweise mit »weil«: »Warum halten sich Bürger an Gesetze?« »Weil sie glauben, dass eine Übertretung bemerkt wird, und weil bekannte Übertretungen bestraft werden.« Um die Frage zu beantworten, wurden hier zwei Faktoren bzw. Bedingungen genannt. Beide zusammen erklären, dass sich Bürger an Gesetze halten. Das, wonach gefragt wird, bezeichnet man auch als das Explanandum, das zu Erklärende, während das, wodurch erklärt wird auch als das Explanans be- 13 Ralph Schrader Wissenschaftliche Argumentation zeichnet wird.14 Die Erklärungsfaktoren sind in hinreichende und notwendige Bedingungen zu unterscheiden: x ist eine hinreichende Bedingung für y genau dann, wenn bei jedem Auftreten von x auch y auftritt; x ist eine notwendige Bedingung für y genau dann, wenn y nicht auftreten kann, ohne dass auch x auftritt. In dem obigen Beispiel waren beide Bedingungen für sich notwendig und gemeinsam hinreichend um den Gesetzesgehorsam zu erklären. Um genauer zu verstehen, was eine Erklärung ist, kann man zwischen verschiedenen Erklärungstypen unterscheiden. Zunächst zu den deduktiv-nomologischen Erklärungen, die insbesondere für die Naturwissenschaften charakteristisch sind. Sie werden durch das sogenannte Hempel-Oppenheim-Schema (HO-Schema) erlaütert15 : (1) (2) ∴ (3) G1 , G2 , . . . , Gn A1 , A2 , . . . , Am E Heiße Luft steigt nach oben. Dieser Ballon ist mit heißer Luft gefüllt. Er hat nur ein geringes Eigengewicht. Also steigt der Ballon nach oben. In DN-Erklärungen wird auf ein oder mehrere (Natur-)Gesetze Bezug genommen, die hier mit G1 bis Gn abgekürzt wurden. Hinzu kommen Randbedingungen. Da diese auch als Antecedens-Bedingungen bezeichnet werden, sind sie mit A1 bis Am abgekürzt. Die Gesetze und Randbedingungen bilden gemeinsam das Explanans und erklären, unter Verwendung der logischen Schlussform des Modus ponens, das Eintreten eines Ereignisses E. Allerdings werden in den Naturwissenschaften in der Regel keine logischen, sondern mathematische Operationen durchgeführt. Als einfaches Beispiel können die Fallgesetze dienen: s = 21 gt2 . Wenn man die Zeit kennt, die ein Gegenstand benötigt, um zur Erde zu Fallen, kann man den durchfallenen Weg berechnen. Zu den Randbedingungen gehört, dass zu Anfang t = 0 ist und g als Naturkonstante gleich 9, 81 sm2 ist. Hat man die Fallzeit gemessen, z. B. 3s, so kann man den Weg ausrechnen, hier also 44, 145m. Doch kann man mit DN-Erklärungen nicht nur das Eintreten eines einzelnen Ereignisses erklären, sondern auch von Ereignistypen. So kann man mit Hilfe der Gravitationsgesetze nicht nur einen vom Baum fallenden Apfel erklären, sondern auch das regelmäßige Auftreten von Ebbe und Flut. So schön deduktiv-nomologische Erklärungen sind, so gelten sie doch nur mit der Einschränkung »unter sonst gleichbleibenden Randbedingungen« (auch ceteris paribus-Klausel genannt). Denn es könnte schließlich auch ein Windstoß aufkommen, der die Fallzeit verlängert oder etwas ähnliches geschehen. In einem Labor lassen sich diese sonstigen Randbedingung vielleicht noch relativ gut kontrollieren, unter Bedingungen außerhalb des Labors ist dies jedoch nur schwer zu leisten. Ob in den Sozialwissenschaften deduktiv-nomologische Erklärungen möglich sind, ist umstritten. Gegen sie wird häufig eingewandt, dass scheinbar 14 Aus der Statistik kennen Sie eine analoge Unterscheidung zwischen abhängigen und unabhängigen Variablen. 15 Dass es HO-Schema genannt wird, soll angeblich zu heftigem Zorn bei Karl Poper geführthaben, der der Ansicht war, er habe es erfunden, so dass der angemessene Name »PoperSchema« wäre. 14 Ralph Schrader Wissenschaftliche Argumentation gesetzmäßige soziale Zusammenhänge, wie der Zusammenhang zwischen Frauenerwerbstätigkeit und Geburtenrate, nur verständlich werden, wenn man auf intentionale Erklärungen zurückgreift. Intentionale Erklärungen sind Erklärungen, in denen die Handlungen von Akteuren unter Bezug auf deren Wünsche und Überzeugungen erklärt werden. Sie entsprechen unserem alltäglichen Vorgehen, wenn wir verstehen wollen, warum Personen bestimmte Dinge tun: »Susanne liest Max Weber.« »Warum liest Susanne Weber?« »Weil sie ein Soziologieexamen machen will und glaubt, die Weberlektüre sei eine gute Vorbereitung hierfür.« Das klassische Schema für Handlungserklärungen ist der praktische Syllogismus: (1) A wünscht, dass p. (2) A glaubt, dass Handlung h ein Mittel zu p ist. ∴ (3) A vollzieht h. Susanne wünscht, ein Soziologieexamen zu machen. Susanne glaubt, dass sie über Max Weber geprüft wird, und sie glaubt, dass Max Weber zu lesen eine gute Vorbereitung darauf ist. Susanne liest Max Weber. Das obige Schema für intentionale Erklärungen ist jedoch unvollständig. Es sind nämlich eine Reihe von Fällen vorstellbar, in denen (1) und (2) zutreffen, (3) jedoch nicht. Susanne könnte z. B. der Ansicht sein, Habermas sei eine noch bessere Prüfungsvorbereitung. Sie könnte auch meinen, das Leben als Studentin sei so angenehm und man solle, da ein Examen dieses Leben beenden würde, besser keines machen. Oder vielleicht weiß sie nicht, wie sie Weber lesen soll, da sie seine Werke nicht in der Bibliothek finden kann. Oder sie kann nicht Weber lesen, da sie zur Zeit unter einer Augenkrankheit leidet. Bedingungen dieser Art müssen ausgeschlossen werden. In verallgemeinerter Form kann man sie in das Schema integrieren und erhält so eine erweiterte Form des praktischen Syllogismus: (1) A wünscht, dass p. (2) A glaubt, dass Handlung h ein Mittel zu p ist. (3) Es gibt keine Handlung h0 , die ein Mittel zu p ist und von A gegenüber h präferiert wird. (4) Es gibt kein q, dass A gegenüber p präferiert, und für das gilt q ⊃ ¬p. (5) A weiß, wie h auszuführen ist. (6) A kann h ausführen. ∴ (7) A vollzieht h. Es lassen sich wahrscheinlich noch weitere Bedingungen ausdenken. Wir wollen uns jedoch hier damit zufriedengeben, eine ceteris-paribus-Klausel einzufügen und das Schema somit als korrekt zu betrachten. Intentionale Erklärungen unterscheiden sich von DN-Erklärungen darin, dass sie nur dann gültig sind, wenn Akteure rational sind. »Rational« heißt in diesem Zusammenhang lediglich, dass Akteure entsprechend ihren (wichtigsten) Wünschen und (besten) Überzeugungen handeln. Diese Rationalitätsbedingung, die 15 Ralph Schrader Wissenschaftliche Argumentation man auch »Kontinenzprinzip nennt, markiert einen wichtigen Unterschied zwischen Natur- und Sozialwissenschaften. Denn während ein Stein dem Fallgesetz einfach unterliegt, sind Personen vorstellbar, die etwas wünschen und auch die Mittel für die Erfüllung des Wunsches kennen, aber trotzdem nichts tun. Der Zustand solcher Personen, für den es im Reich der Naturgesetze keine Analogie gibt, wird als Willensschwäche bezeichnet. Noch in einer weiteren Hinsicht unterscheiden sich deduktiv-nomologische und intentionale Erklärungen. In dem Naturgesetz s = 12 gt2 kann man die Masse eines Körpers nach Belieben in Gramm, Pfund oder Zentnern ausdrücken. Die Erklärung des durchfallenen Weges ändert sich dadurch nicht. Anders in Handlungserklärungen: »Michael glaubt, dass Max Weber der Autor der Protestantischen Ethik ist« lässt sich in den Prämissen des praktischen Syllogismus nicht unbedingt durch »Michael glaubt, dass der Autor von Wissenschaft als Beruf der Autor der Protestantischen Ethik ist« ersetzen. Zwar ist Max Weber der Verfasser beider Werke, doch vielleicht weiß das Michael nicht, und das könnte Auswirkungen auf seine Handlungen haben. In der oben eingeführten Terminologie können wir sagen: In intentionalen Erklärungen lassen sich extensionsgleiche Ausdrücke nicht unbedingt wahrheitswerterhaltend austauschen.16 Einen weiteren Erklärungstyp stellen die funktionalen Erklärungen dar. In ihnen wird das Auftreten eines Ereignisses oder einer Eigenschaft in einem System durch die Funktion, die es oder sie erfüllt, erklärt. »Warum haben Vögel hohle Knochen?« »Damit sie fliegen können.« Etwas formaler ausgedrückt: F 1: Sei S ein System, a eines seiner Teile, P (a) ein Zustand von a; dann ist die funktionale Erklärung »P (a) hat in S die Funktion F« ein Argument, das genauer besagt: S befindet sich im Normalzustand N (S), F (S) ist eine für den Normalzustand notwendige Systembedingung, und P (a) bewirkt F (S); daher ist P (a) in S erfüllt. (1) (2) (3) ∴ (4) N (S) N (S) ⊃ F (S) P (a) ⊃ F (S) P (a) Das System ist im Normalzustand F(S) ist notwendige Bedingung für N(S). P(a) ist hinreichende Bedingung für F(S). Also ist P(a) im System gegeben. Ein berühmtes und anspruchsvolleres Beispiel, als das der hohlen Knochen, stammt von Robert K. Merton17 : »Warum führen die Hopiindianer Regentänze auf?« Die intentionale Erklärung besagt, dass sie Regen machen wollen. Doch sie befriedigt Merton nicht, da Regentänze offensichtlich kein wirksames Mittel sind, um Regen zu machen. Er bietet daher folgende funktionale Erklärung an: 16 Bereits dies ist ein Indiz, dass Intentionalität und Intensionalität etwas miteinander zu tun haben. 17 Robert K. Merton, »Manifeste und latente Funktionen« (Orig. 1949), in: ders., Soziologische Theorie und soziale Struktur, Berlin/New York, de Gruyter 1995, 17-81. 16 Ralph Schrader (1) N (S) (2) N (S) ⊃ F (S) (3) P (a) ⊃ F (S) ∴ (4) P (a) Wissenschaftliche Argumentation Der Indianerstamm ist in einem sozialen Gleichgewicht. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl ist eine notwendige Bedingung für den Normalzustand. Der kollektive Regentanz ist eine hinreichende Bedingung für das Zusammengehörigkeitsgefühl. Also werden Regentänze ausgeführt. Der Regentanz ist demnach funktional für das Überleben des Stammes. Doch vorsicht: (4) in F 1 folgt nicht logisch notwendig aus (1)-(3)! Es ist nämlich möglich, dass einige Vögel Fliegen können, obwohl sie keine hohlen Knochen haben. Sie könnten dieses Manko z. B. durch eine besonders gute Aerodynamik wettmachen. Ebenso könnten die Indianer das notwendige Zusammengehörigkeitsgefühl durch rituelle Sportveranstaltungen stärken. Damit das Schema funktionaler Erklärungen gültig ist, müssen wir also behaupten, dass nur P (a) die Systembedingung F (S) erfüllen kann und gelangen so zu F 2. F 2: Verstärkung von F 1 durch Ersetzung von P (a) ⊃ F (S) durch P (a) ≡ F (S): (1) (2) (3) ∴ (4) N (S) N (S) ⊃ F (S) P (a) ≡ F (S) P (a) Wie in F 1. Wie in F 1. P(a) ist eine hinreichende und notwendige Bedingung für F(S). Wie in F 1. Die Annahme, es gäbe nur eine Möglichkeit, F (S) zu gewährleisten, wird jedoch häufig empirisch unzutreffend sein. Bestünde man auf F 2, so würde der Anwendungsbereich funktionaler Erklärung extrem eingeschränkt. Das Beispiel der hohlen Knochen und der guten Aerodynamik zeigt einen Ausweg aus dem Dilemma entweder eine logisch ungültige oder eine selten anwendbare Form funktionaler Erklärungen verwenden zu müssen. Prinzipiell könnte es nämlich möglich sein, eine Menge von Merkmalen auszuzeichnen, von denen jedes hinreichend ist, die notwendige Systembedingung F (S) zu erhalten. Dies ist die Menge der funktionalen Äquivalente. F 3: Abschwächung von F1 durch die Ersetzung von P (a) ≡ F (S) durch die Menge aller möglichen systemerhaltenden Merkmale M = {M1 (S), . . . , Mn (S)}: 17 Ralph Schrader (1) (2) (3) ∴ (4) N (S) N (S) ⊃ F (S) Mi (S) ≡ F (S) Mi (S) Wissenschaftliche Argumentation Wie in F 1. Wie in F 1. Es ist eine notwendige und hinreichende Bedingung für F(S), dass eines der Elemente aus der Menge der funktionalen Äquivalente gegeben ist. Ein Element aus der Menge der funktionalen Äquivalente ist gegeben. Auf diese Weise sind wir zu einer logisch gültigen Fassung funktionaler Erklärungen gelangt. Doch weisen funktionale Erklärungen einige Probleme auf. Zunächst ist es eine schwierige Aufgabe, die funktionalen Äquivalente zu bestimmen, denn wann kann man davon ausgehen, alle Zustände in einem System zu kennen, die die Systembedingung F (S) sicherstellen? Sodann muss der Normalzustand N (S) eines Systems bestimmt werden. Dies ist schon in biologischen Beispielen schwierig, und die Schwierigkeit potenziert sich noch, wenn man von sozialen Systemen spricht. Vor einer ähnlichen Schwierigkeit steht man, wenn man die Grenzen eines Systems bestimmen soll. Ein Biotop abzugrenzen mag leicht erscheinen, doch wo endet die Gesellschaft? Der Normalzustand und die Grenzen eines Systems verweisen auf eine Eigenschaft funktionaler Erklärungen, die bereits im Zusammenhang mit funktionalen Definitionen erwähnt wurde – sie sind beobachterrelativ. Denn betrachtet man einen Teich als Biotop, so wird man vielleicht zu anderen Ergebnissen kommen, als wenn man eine ganze Landschaft betrachtet. Betrachtet man Dauerarbeitslosigkeit in einem Wirtschaftssystem als normal, wird man zu anderen Ergebnissen kommen, als wenn man Dauerarbeitslosigkeit als Defekt in einem Wirtschaftssystem betrachtet.18 Es ist auch fraglich, ob funktionale Erklärungen wirklich etwas erklären. »Vögel haben hohle Knochen, weil sie sonst nicht fliegen könnten« überzeugt als Erklärung offensichtlich nicht. Vielmehr haben sie hohle Knochen, weil einmal eine genetische Mutation aufgetreten ist, die sich evolutionär durchgesetzt hat. Man ist also auf eine kausale Erklärung verwiesen. Ebenso tanzen die Hopi nur, weil sie glauben, der Regentanz bringe Regen. In diesem Fall benötigt man also eine intentionale Erklärung um das Verhallten der Hopi zu erklären. Der fälschliche Schluss von Funktionalität auf Kausalität wird als funktionalistischer Fehlschluss bezeichnet. Die vorgestellten Erklärungstypen treten in Texten nicht immer in ihrer reinen Form auf. Gerade in sozialwissenschaftlichen Texten trifft man häufig auf Mischformen. So basieren funktionale Erklärungen häufig auf intentionalen Erklärungen, da erklärt werden muss, wie Akteure dazu kommen, die funktionalen Erfordernisse zu erfüllen. 18 Wie man an dem Beispiel sieht, ist die Perspektive, die ein Wissenschaftler wählt, nicht ausschließlich von empirischen, sondern auch von normativen Gesichtspunkten abhängig. 18 Ralph Schrader 5 Wissenschaftliche Argumentation Theorien und Modelle Allgemein zu sagen, was eine Theorie ist, ist nicht einfach. Sicher ist allerdings, dass Theorien Zusammenhangsaussagen machen. Bloße Beschreibungen sind daher keine Theorien, selbst wenn Theorien Beschreibungen enthalten. Größere Klarheit kann man gewinnen, wenn man sich zwei wichtige Theorieverständnisse vergegenwärtigt, das axiomatische und das hypothetisch-deduktive. Nach dem klassischen Verständnis, dass man auch als axiomatisch-fundamentalistisch bezeichnen kann, basieren Theorien auf Axiomen, die notwendig wahr sind und deren Wahrheit dadurch gesichert ist, dass sie selbstevident sind. Aus den Axiomen werden sodann mittels logischer Schlüsse (oder mathematischer Operationen) Theoreme gefolgert, deren Wahrheit ebenso sicher ist. Das Modell wissenschaftlichen Vorgehens ist der Modus ponens, das Ziel sicheres Wissen.19 Nach der hypothetisch-deduktiven Methode gehen die Wissenschaften dagegen nicht von absolut sicherem Wissen aus. Vielmehr seien die (Natur-)Gesetze, von denen die Deduktionen ausgehen, als Hypothesen anzusehen, die nur so lange akzeptiert werden, wie sie sich in einer Theorie bewähren, d. h. so lange sich aus ihnen Theoreme ableiten lassen, die empirisch bestätigt werden. Betrachten wir das HO-Schema in einer quantorenlogischen Formulierung: (1) (2) (3) ∴ (4) ∀x (F (x) ⊃ G(x)) ∃x F (x) F (a) G(a) In (1) liegt eine gesetzesartige Aussage vor, die besagt, dass alle x mit der Eigenschaft F auch die Eigenschft G besitzen. In (2) wird zudem gesagt, dass es mindestes ein x mit der Eigenschaft F gibt. Sucht man nach einem Beispiel so könnte es lauten: Alle Gegenstände, die die Eigenschaft haben, Kamele zu sein, haben auch die Eigenschaft Paarhufer zu sein. Nun finden wir Tiere, die Kamele sind, greifen, wie es (3) verlangt, eines heraus, schließen nach (4), dass es ein Paarhufer sein muss und stellen empirisch fest, dass es tatsächlich so ist. Nun können wir davon ausgehen, dass unser hypothetisches Gesetz bestätigt ist, und mit jeder weiteren Beobachtung eines paarhufigen Kamels wird es besser bestätigt sein.20 An dieser Stelle lohnt es sich, einen kurzen Exkurs zu Popper einzuschieben, und das nicht nur, weil er ein wichtiger Wissenschaftstheoretiker war, sondern auch, weil sein Falsifikationsprinzip inzwischen fast sprichwörtlich ist. Häufig wird es so wiedergegeben, als habe Popper behauptet, man könne nie wissen, ob etwas wahr ist, sondern nur ob etwas falsch ist. Aber wieso sollte für eine Beobachtungsaussage wie »Dieses Kamel ist ein Paarhufer« ein Unterschied zwischen Verifikation und Falsifikation bestehen? Aber das hat Popper auch nicht 19 Die axiomatisch-fundamentalistische Position wird häufig Aritoteles zugeschrieben. Ob sie tatsächlich von ihm vertreten wurde oder erst in der Renaissance aufkam, ist allerdings umstritten. 20 Natürlich darf es für eine empirische Untersuchung nicht zu den definitorischen Merkmalen von Kamelen gehören, dass sie Paarhufer sind. 19 Ralph Schrader Wissenschaftliche Argumentation behauptet. Vielmehr war er mit der Vorstellung, man könne Theorien schrittweise besser bestätigen, unzufrieden. Erstens, weil bei einer potentiell unendlichen Zahl von Gegenständen mit einer bestimmten Eigenschaft, die Bestätigung zu einem unendlichen Prozess würde – man denke nur an die vielen noch ungeborenen Kamele – und zweitens, weil mit den Kriterien für die Bestätigung einer Theorie notorisch Probleme verbunden sind. Eines, das sogenannte Rabenparadox, möchte ich hier kurz vorstellen. Für die Aussage »Alle Raben sind schwarz« sollte wohl jeder neue schwarze Rabe eine Bestätigungsinstanz sein. So weit, so gut. Doch ist »Alle Raben sind schwarz« logisch äquivalent mit der Aussage »Alle nicht-schwarzen Dinge sind keine Raben«.21 Dann könnten aber auch weiße Taschentücher und rote Tischdecken Bestätigungsinstanzen für die fragliche Gesetzeshypothese sein, und die Ornithologie würde zu einer sehr einfachen Wissenschaft. Daher schlug Popper vor, Gesetzeshypothesen einem Falsifikationstest zu unterziehen. Ein Beispiel ist die Gesetzeshypothese »Alle Pferde sind Paarhufer«. Nun nehmen wir uns Fury. Nach der Deduktion müsste er Paarhufer sein, doch schauen wir seine Hufe an, so sehen wir, dass das nicht der Fall ist. Allein durch einen Test konnten wir die Gesetzeshypothese also widerlegen. Doch heißt das, dass Verifikationen in der Wissenschaft kein Platz gebührt? Keineswegs. Betrachtet man als drittes Beispiel »Alle Einhörner sind Paarhufer«, so wird man große Schwierigkeiten haben, diese Hypothese zu widerlegen. Ich bin mir sogar sicher, dass man keinen einzigen Falsifikator finden wird, da man kein Einhorn finden wird. Damit eine Gesetzeshypothese überprüfbar wird, müssen nämlich auch Existenzannahmen gemacht werden, wie sie im obigen Schema unter (2) angegeben sind. Gegen die Vorstellung, Existenzaussagen ließen sich falsifizieren, kann man analoge Argumente vortragen, wie gegen die Vorstellung, Allaussagen ließen sich verifizieren. Denn grundsätzlich könnte man in einem unabgeschlossenen Universum immer noch Gegenstände finden, die man darauf untersuchen müsste, ob sie die gesuchten Entitäten sind. Aber selbst in einem endlichen Universum ist die Falsifikation faktisch unmöglich. Für Verifikationen bleibt daher in den Wissenschaften ein weites Feld, da lediglich Gesetzeshypothesen falsifiziert, Existenzhypothesen jedoch verifiziert werden müssen. Und dass die Überprüfung von Existenzaussagen keine periphere Tätigkeit in den Wissenschaften ist, kann man erkennen, wenn man an die unzähligen Physiker denkt, die nach neuen Elementarteilchen suchen. Man kann sich nun fragen, ob die deduktiv-hypothethische Methode auf die Naturwissenschaften eingeschränkt ist oder auch in den Sozialwissenschaften angewandt werden kann. Selbst wenn man nicht davon ausgeht, dass es in ihnen DN-Erklärungen gibt, so haben doch auch intentionale Erklärungen einen deduktiven Charakter. Wenn man annimmt, dass ein oder mehrere Akteure bestimmte Wünsche und Überzeugungen haben, so kann man daraus auf ihr zukünftiges Verhalten schließen und das Verhalten ist ein empirischer Test für die hypothetischen Intentionalitätszuschreibungen. Wissenschaftliche Theorien beinhalten häufig Modelle. Einige Wissenschaftstheoretiker behaupten sogar, Theorien seien nichts anderes als eine Menge von 21 Schauen Sie sich nochmals die Erläuterung der Quantoren an. 20 Ralph Schrader Wissenschaftliche Argumentation Modellen. Was ist nun ein Modell? In der Alltagssprache wird der Begriff im Sinne einer verkleinerten Darstellung eines Vorbildes benutzt, wobei das Modell mit dem Vorbild einige Eigenschaften teilt und andere nicht. Man denke an die Modelle von Matchbox, Märklin oder Fischer-Technik. Der Vergleich von Märklin und Fischer-Technik zeigt, dass Modelle sehr unterschiedlich sein können. Märklin-Lokomotiven sollen ihren Vorbildern sehr ähnlich sehen, ihr Innenleben hat jedoch nichts mit dem echter Dampflokomotiven zu tun. Fischer-Technik versucht dagegen, die technische Funktionsweise der Vorbilder nachvollziehbar zu machen, auch wenn die Modelle auf den ersten Blick ganz anders aussehen als die Vorbilder. Entsprechend gibt es auch in der Wissenschaft unterschiedliche Typen von Modellen. Zunächst kann man ein Modell als System von Symbolen verstehen, über die Relationen definiert sind. Ein Modell ist dann eine rein syntaktische Struktur von der Art p ⊃ q. Syntaktische Modelle geben aber nicht an, auf welche Gegenstände oder Sachverhalte sich die Symbole beziehen. Diesen Bezug festzulegen heißt dem Modell eine semantische Interpretation zu geben. Grundsätzlich ist es denkbar, für ein syntaktisches Modell sehr viele verschiedene semantische Interpretationen zu entwickeln. Natur- und sozialwissenschaftliche Modelle dienen dazu, Aussagen über die Wirklichkeit zu erlauben. Daher ist es auch wichtig zu fragen, ob sie sich für empirische Forschungen operationalisieren lassen. Eine Theorie, die sich prinzipiell nicht operationalisieren lässt, könnte leer sein.22 Außerdem gibt es Modelle und Theorien, die auf eine bestimmte praktische Anwendungen angelegt sind. Hier ist zu fragen, welche Anwendungen dies sind. Beide Fragen gehören zur Pragmatik des Modells. Eine Möglichkeit zur Entwicklung neuer Modelle besteht darin, Analogien zu suchen. Es findet dann eine Übertragung von Modellen aus einem Untersuchungsbereich in einen anderen statt, um Phänomene in letzterem erklären zu können. Einem bewährten syntaktischen Modell wird also eine neue semantische Interpretation gegeben. Das berühmteste Beispiel bietet die Übertragung der Hydromechanik auf die Elektrizitätslehre. Heute denkt kaum noch jemand daran, dass elektrische Ströme ursprünglich dem Vorbild von Wasserläufen nachgebildet wurden. In den Sozialwissenschaften finden zur Zeit Debatten statt, ob es sinnvoll ist, ökonomische Modelle des Marktes auf andere Bereiche des Sozialen zu übertragen: Ist es angemessen, von Heiratsmärkten zu sprechen? Gibt es Tauschvorgänge in Paarbeziehungen?23 Ob dieser analogisierenden Modellbildung der gleiche wissenschaftliche Erfolg beschieden sein wird, wie der Elektrizitätslehre, muss hier offen bleiben. Modelle lasssen sich, wie auch Aussagensysteme, auf der Ebene der Syntax, Semantik und Pragmatik kritisieren. Greift man die Syntax eines Modells an, so weist man nach, dass es formale Anforderungen nicht erfüllt. Es enthält vielleicht einen Widerspruch, ist tautologisch oder führt in einen Regress. Die Semantik eines Modells zu kritisieren, heißt zu behaupten, dass es (auf den intendierten 22 23 Zum Konzept der »leeren Behauptung« s. u. Diese Überlegungen finden sich in Gary S. Becker, Familie, Gesellschaft und Politik, Tübingen, Mohr 1997. 21 Ralph Schrader Wissenschaftliche Argumentation Gegenstandsbereich) nicht zutrifft, dass es also falsch ist. Die Modellpragmatik anzugreifen, bedeutet auf Schwächen der Operationalisierung oder unerwünschte Folgen der technischen Anwendung zu verweisen. 6 Worauf man achten kann Ihre Aufgabe ist es, Stärken und Schwächen in Texten von Bezugsautoren aufzufinden und natürlich Schwächen in eigenen Texten zu vermeiden. Deshalb hier einige Hinweise, welche Probleme häufig in Texten auftauchen und wie man sie vermeiden kann. Widersprüche. Gemeinhin gilt es als das Schlimmste, was jemandem in einem wissenschaftlichen Text passieren kann, einen Widerspruch zu fabrizieren. Ein Widerspruch besteht, wenn man zugleich eine Aussage und ihre Negation behauptet: »Es regnet, und es regnet nicht«. Ein solcher Satz ist offensichtlich immer falsch, und er ist es nicht aus empirischen Gründen, sondern schon aufgrund der Bedeutung der Ausdrücke. Ein geübter Autor wird Widersprüche natürlich zu vermeiden suchen, und so sind sie selten offensichtlich. Jedoch ist es gelegentlich so, dass einige Prämissen der Argumentation eines Autor zu Widersprüchen führen, wenn man ihre logischen Folgerungen herausarbeitet. Und dies zu zeigen, ist wiederum Aufgabe der Rekonstruktion eines Textes. Man kann sich fragen, ob ein Widerspruch wirklich so schlimm ist. Ist er für eine Theorie nicht vielleicht so etwas wie eine Warze, hässlich aber nicht weiter gesundheitsschädlich? Doch es gibt ein Argument, das zeigt, dass Widersprüche eher wie Krebsgeschwüre sind und Metastasen bilden. Es lässt sich nämlich zeigen, dass aus einem Widerspruch (p ∧ ¬p) beliebige andere Aussagen (q und auch ¬q) folgen: (1) p ∧ ¬p (2) (3) p p∨q aus (1) ∨-Einführung, aus (2) ¬p q aus (1) aus (3) und (4) (4) ∴ (5) Peter ist groß und Peter ist nicht groß. Peter ist groß. Peter ist groß oder London ist die Hauptstadt von Frankreich. Peter ist nicht groß. Also ist London die Hauptstadt von Frankreich. Aus der Einführung der Konjunktion wissen Sie, dass man von p ∧ q wahrheitswerterhaltend auf p und auf q schließen kann. Hier steht lediglich die Aussage ¬p für die ursprüngliche Variable q. Also schließen wir auf p. Wenn man weiß, dass p wahr ist, kann man wahrheitswerterhaltend auf p ∨ q schließen. Wofür q auch immer stehen mag, mag es war oder falsch sein, so ist die Adjunktion doch schon wahr, wenn eines ihrer Glieder wahr ist. Aus (1) kann man aber auch auf ¬p schließen. Da (3) wahr ist, kann man nun also auf q schließen. Dieser kleine Schluss zeigt, dass aus einem Widerspruch beliebige Aussagen q folgen. Und das kann man in einer wissenschaftlichen Theorie doch nicht wollen? 22 Ralph Schrader Wissenschaftliche Argumentation Tautologien. Mit einer Tautologie haben wir es zu tun, wenn eine Aussage aufgrund ihrer Form oder der Bedeutung der gebrauchten Begriffe immer wahr ist: p ∨ ¬p. Es handelt sich also um das Gegenteil eines Widerspruchs.24 Während aus einem Widerspruch beliebiges folgt, folgt aus einer Tautologie gar nichts. »Peter ist in Jena, oder Peter ist nicht in Jena« besitzt keinerlei Informationswert. Daher ist eine Tautologie auch eher ärgerlich als gefährlich. Gefährlich wird sie erst dann, wenn sie sich als eine Erklärung tarnt: »Warum ist Peter unverheiratet?« »Weil er ein Junggeselle ist.« Diese Pseudoerklärung ist allein aufgrund der Wortbedeutung von »unverheiratet« und »Junggeselle« wahr und enthält daher keine weiteren Informationen. Anders wäre es, wenn wir z. B. erführen, dass Peter ein religiöses Gelübde abgelegt hat. Infiniter Regress. Der infinite Regress ist eine unabschließbare Folge von Begründungen, in der immer schon das vorausgesetzt wird, was eigentlich erklärt werden soll. Als Beispiel müssen hier immer die Inder herhalten. Ein Inder soll einem englischen Kolonialbeamten erklärt haben, die Erde ruhe auf einem Elefanten. Auf die Nachfrage, worauf der Elefant ruhe, erhielt der Engländer die Antwort, der Elefant stehe auf einer Schildkröte. Und auf die Frage, worauf die Schildkröte stehe, erfuhr er, es gäbe Schildkröten »all the way down«. Hier haben wir es mit einem klassischen infiniten Regress zu tun. Um zu erklären, worauf die Erde ruht, muss immer schon ein anderer ruhender Gegenstand angenommen werden. Wie gelangt man aus einem infiniten Regress heraus? Es gibt noch eine weitere Fassung der Anekdote. Dort bekommt der Engländer auf die Frage nach dem Fundament der Schildkröte mitgeteilt: »Don’t ask anymore!« Es dürfte aber klar sein, dass dies eine Form der Dogmatik ist und deshalb wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügt. Nun zu einem sozialwissenschaftlichen Beispiel für einen infiniten Regress. Stellen wir uns einen Soziologen vor, der behauptet, Regeln und Normen seien letztlich die Grundlage menschlichen Zusammenlebens. Zunächst kann man ihn fragen, woran man eine Regel erkennt. Die Antwort wird lauten: Daran, dass es Akteure gibt, die den Bruch einer einer Verhaltenserwartung sanktionieren, z. B. Polizisten, die das Überschreiten der Verkehrsregeln ahnden oder Lehrer, die das Überschreiten der Rechenregeln bestrafen. Doch man kann nicht davon ausgehen, dass diese Regelüberprüfer willkürlich handeln. Denn wie sollten Rechenregeln gelernt werden, d. h. wie sollte eine Verhaltensregelmäßigkeit entstehen, wenn der Lehrer nach Lust und Laune Aufgaben als richtig oder falsch gelöst bezeichnet? Offensichtlich muss er selbst Regeln folgen, nämlich solchen, die er im Lehramtsstudium der Mathematik beigebracht bekam. Nun wiederholt sich das Argument. Man fragt, woher denn diese Regeln kommen? Sie müssen wohl wiederum in einem regelgeleiteten Prozess erworben worden sein. Da man immer wieder auf Regeln stößt, scheint die These unseres Soziologen, Regeln seien das Fundament jeglichen Handelns richtig zu sein. Doch droht, wie wir gesehen haben, der infinite Regress. Daher muss man davon ausgehen, dass es einmal eine Person gab (Euklid), die Regeln einführte ohne selbst Regeln zu fol24 Dies ist auch die Definition einer Tautologie. Eine Tautologie ist eine Aussage, deren Negation zu einem Widerspruch führt. 23 Ralph Schrader Wissenschaftliche Argumentation gen. Der infinite Regress lässt sich nur vermeiden, wenn man von der Hypothese, alles Handeln verweise auf Regeln, abgeht.25 Ein infiniter Regress ist nicht damit zu verwechseln, dass man Erklärungen vertiefen kann. »Warum ist das Radio kaputt?« »Weil die Sicherung durchgebrannt ist.« »Warum ist die Sicherung durchgebrannt?« »Weil die Spannung zu hoch war.« »Warum war die Spannung zu hoch?« »Weil ein Fehler im Umspannwerk aufgetreten ist.« »Etc, etc.« Hier liegt kein infiniter Regress vor, weil jeweils neue Faktoren für die vertiefte Erklärung in Anschlag gebracht werden. In dem Schildkröten- und dem Regelbeispiel wird dagegen immer wieder ein Faktor gleichen Typs zur Erklärung herangezogen. Zirkel. Erinnern wir uns an das Beispiel für intentionale Erklärungen: »Susanne liest Max Weber.« »Warum liest Susanne Weber?« »Weil sie ein Soziologieexamen machen will und glaubt, die Weberlektüre sei eine gute Vorbereitung hierfür.« »Und woher wissen wir, dass sie dies wünscht und glaubt?« »Na, schau doch hin – Susanne liest Max Weber!« Das Explanandum taucht selbst wieder im Explanans auf. Zirkuläre Argumentationen sind deshalb unerwünscht, weil sie kritikimmun sind.26 Äquivokationen. Jeder kennt von Kindergeburtstagen das Teekässelchenspiel: »Auf mein Teekässelchen kann man sich setzen.« »Bei meinem Teekässelchen bekommt man Geld.« Niemand wird es schwerfallen, festzustellen, dass hier von einer Bank gesprochen wird. Ein weniger triviales Beispiel. Von Bacon stammt der Ausspruch »Wissen ist Macht«, von Lord Acton dagegen »Macht korrumpiert«. Also korrumpiert Wissen? Der Schluss folgt, obwohl formal korrekt, nicht, denn mit »Macht« ist einmal Macht über Dinge gemeint und das andere mal Macht über Menschen. Bei einer Äquivokation hat man es also damit zu tun, dass unterschiedliche Dinge oder Begriffe durch ein und dasselbe Wort ausgedrückt werden. Dieses Wort hat jedoch verschiedene Bedeutungen (verschiedene Intensionen und Extensionen), die auseinander gehalten werden müssen. Falsche Disjunktion. Gelegentlich werden Disjunktionen aufgestellt, obwohl es noch weitere Möglichkeiten gibt. Es wird einem dann nahegelegt, man müsse, wenn man die eine Alternative ablehne, die andere akzeptieren: »Entweder die Soziologie hat einen Gegenstandsbereich, der sie von anderen Wissenschaften unterscheidet, oder sie ist überflüssig. Also muss man, wenn man die Soziologie rechtfertigen will, einen eigenen Gegenstandsbereich für sie finden.« Doch warum sollte dies so sein? Hat denn die Biochemie einen Gegenstandsbereich, 25 Selbstverständlich ist dies ein vereinfachtes Beispiel und keine adäquate Auseinandersetzung mit dem Regelbegriff. 26 Handlungserklärungen sind jedoch nicht immer tautologisch, da sich von der Weberlektüre unabhängige Evidenzen für Susannes Wunsch und Überzeugung finden lassen: Sie hat sich zur Prüfung angemeldet, die Prüfungsordnung schreibt Weberkenntnisse vor, auch Oliver, der sich ebenfalls auf eine Prüfung vorbereitet, liest Weber etc. Also sind Handlungsrationalisierungen nicht tautologisch, da sie sich durch die Einbeziehung weiterer Handlungen, Wünsche und Überzeugungen (auch anderer Akteure) vertiefen lassen. 24 Ralph Schrader Wissenschaftliche Argumentation der sie von der Biologie und Chemie unterscheidet? Falls dem nicht so ist, ist sie deshalb überflüssig? Die Soziologie hat vielleicht andere Methoden als andere Sozialwissenschaften, oder vielleicht behandelt sie Fragen, die auch andere Sozialwissenschaften behandeln könnten, doch aus kontingenten Gründen unberücksichtigt lassen. Eine Rechtfertigung des Bestehens der Soziologie könnte z. B. darin bestehen, dass die Ökonomie um das Jahr 1900 so begeistert von der Mathematik war, dass sie klassische Themen der Sozialökonomik vernachlässigte. Eine falsche Disjunktion versucht einen zu einer Entscheidung zu nötigen, die so nicht gefällt werden muss. Ob eine Alternative vollständig ist oder eine falsche Disjunktion vorliegt, lässt sich überprüfen, indem man (gedankenexperimentell) weitere Faktoren zu entdecken versucht. Leere Behauptung. Ein schönes Beispiel für eine leere Behauptung findet man bei Rosenberg (1993, 111f.). Angenommen, ein Freund von uns behauptet, in seiner Armbanduhr befinde sich ein Dämon. Nach dieser überraschenden Mitteilung wird man ihn vielleicht bitten, die Uhr aufzuschrauben. Dem stimmt er zu, weist uns jedoch gleich darauf hin, dass dies nicht weiterhelfe, schließlich sei der Dämon unsichtbar. Wir schlagen unserem Freund weitere Messmethoden vor – Hören, Riechen, Tasten, Messung von Radioaktivität etc. –, doch jedesmal teilt er uns mit, das würde nicht funktionieren. Irgendwann wird man ihn dann fragen, was einen solchen Dämon denn noch von einem nicht existierenden Dämon unterscheide. Eine Behauptung ist demnach leer, wenn weder aus ihrer Wahrheit noch aus ihrer Falschheit etwas folgt. Um einen Anglizismus zu gebrauchen: Eine leere Behauptung macht keinen Unterschied. Behauptungen, die so offensichtlich leer sind, wie die des unauffindbaren Dämons, wird man in wissenschaftlichen Texten nur selten finden. Doch kann es durchaus sein, dass man in längeren theoretischen Abhandlungen Konzepte findet, die keinerlei Folgen für die Erklärung eines fraglichen Sachverhaltes haben oder so tun, als könnten sie einen Sachverhalt erklären, tatsächlich aber leer sind. Substantivierung. In den Sozialwissenschaften hat man es oft mit Handlungen zu tun, die durch Verben ausgedrückt werden. »Peter schlägt Paul.« »Warum tut Peter das?« »Weil er ein Schläger ist.« Ein Verb wird durch ein Substabtiv ersetzt, und das durch das Substantiv beschriebene als Erklärung für eine Handlung ausgegeben. Da aber ein Schläger zu sein, nichts anderes heißt als jemand zu sein, der schlägt, kaschiert die Substantivierung eine Tautologie. 7 Schlussbemerkung Vielleicht ist Ihnen vieles in diesem Paper trivial vorgekommen. Wenn dem so sein sollte, ist es umso besser. Denn ich gehe davon aus, dass die vorhergehenden Ausführungen hauptsächlich Intuitionen ausbuchstabiert haben, die wir alle teilen. Anderes wird Ihnen vielleicht überflüssig kompliziert erschienen sein. Diesen Eindruck kann ich nicht sogleich ausräumen. Doch hoffe ich, dass Sie in Ihrer 25 Ralph Schrader Wissenschaftliche Argumentation zukünftigen Arbeit den Eindruck gewinnen werden, dass die hier vorgestellten Konzepte hilfreich sind. Anhang: Logische Symbole p, q, r etc. F, G, H etc. x, y, z etc. a, b, c etc. ¬ ∨ ∧ →, ⊃ ≡, ↔ = W V, ∃ ,∀ ∴ Aussagevariablen Prädikatorvariablen Individuenvariablen Individuenkonstanten nicht; Negation einschließendes oder; Adjunktion und; Konjunktion wenn . . . dann; Konditional (auch Implikation oder Subjunktion) genau dann, wenn; Bikonditional Identität es gibt; mindestens ein; Existenzquantifikation für alle; Allquantifikation also Literatur [1] Dagfinn Føllesdal, Jon Elster und Lars Walløe, Rationale Argumentation. Ein Grundkurs in Argumentations- und Wissenschaftstheorie, Berlin/New York, de Gruyter 1988 [2] Jay F. Rosenberg, Philosophieren. Ein Handbuch für Anfänger, Frankfurt am Main, Vittorio Klostermann 4 1993 26