EinBlick ins Gehirn - Braus, ReadingSample - beck

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EinBlick ins Gehirn
Moderne Bildgebung in der Psychiatrie
von
Dieter F Braus
1. Auflage
EinBlick ins Gehirn – Braus
schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG
Thematische Gliederung:
Psychiatrie, Sozialpsychiatrie, Suchttherapie – Psychiatrie, Sozialpsychiatrie, Suchttherapie
Thieme 2004
Verlag C.H. Beck im Internet:
www.beck.de
ISBN 978 3 13 133351 3
Inhaltsverzeichnis: EinBlick ins Gehirn – Braus
2
Neuroanatomie: ¹Für die Psychiatrie wichtige
Solisten im Konzert der Hirnfunktionª
¹Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit.ª
Friedrich Schiller
2.1
Entwicklungspsychobiologie
2.1.1 Hirnentwicklung intrauterin
Sowohl die intrauterine Hirnentwicklung als
auch die frühkindlichen Erfahrungen sind hochrelevant für die Reifung und Differenzierung der
einzelnen Hirnareale und Funktionsnetze. Sehr
wahrscheinlich haben diese Einflüsse eine groûe
Bedeutung für die Entstehung psychischer Erkrankungen. Die neuronale Entwicklungstheorie
der Schizophrenie etwa geht davon aus, dass zumindest bei einem Teil der Betroffenen die Störung schon im vulnerablen zweiten Drittel der
Schwangerschaft ihren Ursprung nimmt.
Die Hirnentwicklung beginnt spätestens mit
der Entstehung der Neuralplatte ungefähr drei
Wochen nach der Vereinigung der Eizelle mit
dem Spermium. Nach etwa 40 Tagen kann man
am Neuralrohr drei Auftreibungen erkennen, aus
denen sich dann die Hirnteile entwickeln. Es folgt
die Phase der Migration und Aggregation. Bei der
Migration orientieren sich die Neuroblasten an
den radialen Gliazellen (¹Gliastraûenª) auf ihrem
Weg zum endgültigen Bestimmungsort. Bei der
Aggregation am Ende der Migration passen sie
sich in den Verband anderer Zellen ein (hier spielen Zelladhäsionsmoleküle eine wichtige Rolle),
differenzieren zu reifen Neuronen und beginnen
mit der synaptischen Vernetzung.
Intrauterin findet schon ein selektiver Zelltod
statt. Von den ca. 200 Mrd. Neuroblasten werden
noch im Verlauf der Schwangerschaft etwa 80 ±
90 Mrd. eliminiert. Dieser Vorgang trägt wahrscheinlich zur hohen Funktionsfähigkeit des Nervensystems wesentlich bei. Wenn der selektive
Zelltod nicht richtig funktioniert bzw. embryonale Zellen nicht differenzieren und reifen, können
sie einen Beitrag zur Entstehung von hirneigenen
Tumoren (z. B. Glioblastom, Medulloblastom)
leisten. Migrationsstörungen können zu Hetero-
10
topien mit der Konsequenz von epileptischen Anfällen führen.
Vergleicht man ein menschliches Gehirn in
der 19. Schwangerschaftswoche und kurz vor der
Geburt in der 39. Schwangerschaftswoche, wird
die gewaltige Entwicklung des Organs in nur 20
Wochen deutlich (Abb. 2.1). Zum Zeitpunkt der
Geburt ist das Cerebellum, das immerhin 50 % aller Nervenzellen enthält, noch relativ klein dimensioniert. Dies entspricht dem Status des Neugeborenen als ¹sensorischem Riesenª und ¹motorischem Zwergª.
Das Gehirn des Neugeborenen umfasst ca. 10 %
des Körpergewichts, beansprucht aber ca. 60 %
des gesamten Energieverbrauchs. Das Gehirn Erwachsener entspricht ± je nach Adipositas ± gerade noch 2% des Körpergewichts und verbraucht
20 ± 25% der Körperenergie.
Zum Zeitpunkt der Geburt ist der Geruchssinn
(über Bulbus olfactorius, entorhinalen Kortex)
am weitesten entwickelt, alle anderen Sinne sind
weniger reif. Allerdings ist auch das Hörsystem
bereits intrauterin etwa im 8. Monat funktionstüchtig. Das ungeborene Kind registriert u. a. die
Darmgeräusche und den Herzschlag seiner Mutter sowie über Schallleitung das gesprochene
Wort der Mutter, was im pränatalen Gehirn schon
zu synaptischen Verankerungen (und damit Plastizität und Lernen!) führt. Denkt man in diesem
Zusammenhang an die Musiktherapie in der
Psychiatrie, so sei bemerkt, dass archaische indische, afrikanische, australische und auch europäische Instrumente, wie z. B. Didgeridoo oder Alphorn, Geräusche bzw. Klänge erzeugen, die der
frühen Erfahrung des Gehirns intrauterin sehr
nahe sind. Über solche Klänge wird möglicherweise das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit angeregt.
Braus, EinBlick ins Gehirn (ISBN 3131333510), 2004 Georg Thieme Verlag KG
2.1 Entwicklungspsychobiologie
Abb. 2.1 Gehirn
in der 19. Schwangerschaftswoche
und kurz vor der
Geburt in der
39. Schwangerschaftswoche.
Prinzipien der Arbeit des Nervensystems
Die Arbeitsprinzipien des menschlichen Gehirns
aus etwa 100 Mrd. Nervenzellen sind mit nichts
aus der menschlichen Erfahrungswelt zu vergleichen. Die Utopisten aller Zeiten haben sich nichts
annähernd Ebenbürtiges ausgedacht, von den
tatsächlichen Regierungen ganz zu schweigen.
Es klingt zu schön, um wahr zu sein:
n Jede einzelne Nervenzelle ist ¹persönlich bescheiden und diszipliniertª.
n Jede einzelne ist ¹hoch leistungsmotiviert und
bereit zur Kompensationª.
n Jede einzelne hat eine auf Erfahrung beruhende ¹Meinungª und bringt diese ± gewichtet
nach der Relevanz des Neurons für das zu lösende Problem ± auch ein.
n Die Richtigen sind an der richtigen Stelle.
n Entwicklungsgestörte Zellen werden frühzeitig intrauterin aussortiert.
n Ganz entscheidend: Die Auseinandersetzung
mit der Umwelt sagt, ¹wohin die Reise gehtª.
Die Kommunikation zwischen den Nervenzellen ist eindeutig und kontinuierlich.
n Jede Nervenzelle erreicht jede andere nach
wenigen Umschaltstationen.
n Schwellenwerte führen permanent zu Priorisierungen, d. h. immer werden Entscheidungen getroffen und aus Voraussagefehlern wird
sofort gelernt.
n
Diese einfachen Prinzipien erlauben eine erstaunlich effiziente Leistungsfähigkeit. Diese imponiert durch hohe Voraussagefähigkeit dessen,
was in den nächsten Millisekunden eintreten
wird, und welche Handlungsschemata am günstigsten für das ¹Überlebenª in diesem Falle sind.
Nervenzellen ¹votierenª in jedem Moment, integrieren das Ergebnis in einen Populationsvektor,
der auf Mehrheitsentscheidung beruht sowie
nach Spezialisierung, Relevanz und gesammelter
Erfahrung gewichtet wird.
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2 Neuroanatomie: ¹Für die Psychiatrie wichtige Solisten im Konzert der Hirnfunktionª
2.1.2 Hirnentwicklung nach der Geburt
Die Phase mit der höchsten Gehirnwachstumsgeschwindigkeit beginnt beim Menschen im letzten Drittel der Schwangerschaft und reicht etwa
bis zum 4. Lebensjahr. Die Dichte der für Plastizität und Lernen wichtigen Synapsen nimmt ab der
Geburt exponentiell zu und fällt dann in der Pubertät wieder ab. Der höchste Grad an Vernetzung ist beim 2 ± 6-Jährigen erreicht. Er hat dreimal mehr Synapsen als ein Erwachsener, bei dem
die Synapsenzahl ganz langsam ± pro Dekade
etwa um 2% ± abnimmt. Sigmund Freud (1856 ±
1939) hatte wohl recht: In den ersten Lebensjahren passiert im Gehirn etwas Auûergewöhnliches. Die metabolische Rate des Gehirns steigt in
den ersten Lebensjahren enorm an und fällt erst
mit der Pubertät allmählich wieder ab. Das Gehirn des Kindes unterscheidet sich damit aus
neurobiologischer Sicht fundamental vom Gehirn des Erwachsenen. Der Input, der auf ein
Kind niederprasselt, trifft auf ein vollkommen
unterschiedliches biologisches System.
Man kann ± grob vereinfacht ± unterschiedliche Phasen der Gehirnentwicklung unterscheiden: bis zum 4. Lebensjahr, vom 4. ± 6. Lebensjahr, vom 6. ± 10. Lebensjahr bzw. bis zum Beginn
der Pubertät und schlieûlich die faszinierende
Phase der Pubertät mit dem gröûten Reorganisationsprozess überhaupt am postnatalen Gehirn.
Etwa ab dem 21. Lebensjahr bei Frauen und dem
23. bei Männern ist von einem relativ stabilen
adulten Gehirn auszugehen. So lange benötigt
vor allem der Frontallappen, bis er seine vollständige Reifung erreicht hat. Macht es in diesem Zusammenhang Sinn, das Führerscheinalter nach
unten hin zu verändern?
In der Phase seiner höchsten Wachstumsgeschwindigkeit intrauterin bis zum 4. Lebensjahr
reagiert das Gehirn besonders empfindlich auf
neurotoxische oder psychopharmakologische
Einflüsse, wie z. B. Alkohol, Antiepileptika oder
Antipsychotika. In dieser Phase können solche
Einflüsse leicht zum programmierten Zelltod
(Apoptose) führen. Das Gehirn des Kleinkindes
ist also einerseits besonders plastisch, andererseits aber auch sehr vulnerabel gegenüber neurotoxischen Einflüssen.
Nicht nur die Lernfähigkeit, sondern auch die
Kompensationskraft des Gehirns ist in dieser
hochplastischen Phase beeindruckend. Borgstein
und Grootendorst (2002) berichteten den Fall eines Kindes, das im 3. Lebensjahr wegen eines
12
Rasmussen-Syndroms (chronische fokale Enzephalitis) eine Hemispherektomie erfuhr. Dennoch war das Kind im Alter von 7 Jahren in der
Lage, zwei Sprachen zu beherrschen und komplexe Muster, wie z. B. eine Blume oder ein Haus,
nachzuzeichnen. Ein weiteres Beispiel für die
ausgeprägte plastische Reserve des kindlichen
Gehirns selbst unter ungünstigen Bedingungen
liefert die Arbeit von Ment et al. (2003), in der
die kognitive Entwicklung von Frühgeborenen
ab der 21. Schwangerschaftswoche mit geringem
Geburtsgewicht (Very low birth-weight infants)
vom 3. bis zum 8. Lebensjahr untersucht wurde.
Nur die Kinder mit intraventrikulärer Blutung in
der Perinatalphase konnten ihre kognitive Leistungsfähigkeit im Untersuchungszeitraum nicht
steigern, alle anderen wiesen ein Entwicklungspotenzial auf.
2.1.3 Frühe Erfahrungen
Zunächst hatte es Suomi (1991) bei Affen gezeigt:
Wenn die Tiere frühe Traumatisierungen erfuhren, aus der Mutter-Kind-Beziehung herausgerissen und in eine gefährliche Welt geworfen
wurden, so hatte dies nachhaltige Auswirkungen
auf ihre Stressachse, motorische Entwicklung
und Gedächtnisfunktion. Francis et al. (1999) sowie Liu et al. (2000) belegten am Rattenmodell
über das so genannte Grooming-Verhalten, dass
± auf den Menschen übertragen ± frühe Erfahrungen, also entweder Objektkonstanz mit verlässlicher Zuwendung, emotionale Wärme, kongruente Kommunikation, elterliche Fürsorge
oder aber das Gegenteil davon, also Vernachlässigung, Missbrauch und fehlende ¹Nestwärmeª,
Auswirkungen haben auf die synaptische Plastizität in Neuronen von Schlüsselregionen der
Stressreaktion wie dem Hypothalamus und der
Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse.
Mit
dem Ergebnis, dass diese frühe Erfahrung allein
± ohne Einfluss genetischer Faktoren ± die Stressreaktivität mehr oder weniger ein für alle Mal determiniert. Wie rasch die Stressachse in Abhängigkeit von den äuûeren Faktoren anspringt,
wird wohl bereits in den ersten 6 ± 9 Lebensmonaten entschieden (Abb. 2.2). Dieses Ergebnis
kann als ein Korrelat der Intentionalphase gelten,
die Freud vor über 100 Jahren beschrieben hat
(Details in Kandel, 1999).
Es ist davon auszugehen, dass bei Menschen
mit geringer Stressreaktivität das HippocampusSystem (S. 26, 30) und mit ihm das episodische
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2.1 Entwicklungspsychobiologie
Abb. 2.2 Grundbotschaften an
unsere Kinder.
Abb. 2.3 Hippocampus-Amygdala-Formation in
sagittaler (links)
und koronarer
Schnittführung
(rechts): wichtige
Hirnregion für
deklaratives und
emotionales
Gedächtnis.
Gedächtnis optimiert wird und Optimismus wie
auch motorisches Explorationsverhalten leicht
zu wecken sind. Bei raschem Anspringen der
Stressreaktivität infolge der frühen Erfahrung
wird dagegen eher die Amygdala-Funktion
(S. 26 f.) optimiert und mit ihr das emotionale Gedächtnis und die Bereitschaft zur Angstreaktion
(Abb. 2.3). Die frühe Erfahrung hat über die
Stressreaktivität hinaus auch enorme Implikationen für die Vulnerabilität in Bezug auf das spätere Auftreten z. B. depressiver Störungen und
Zwangserkrankungen.
2.1.4 ¹Frühjahrsputzª in der Pubertät
Klinische Beobachtungen der Kinderärzte, dass
sich z. B. Hypervigilanz oder oppositionelles Verhalten eines Kindes wieder ¹verwächstª, weisen
klinisch schon lange darauf hin, dass sich während der Pubertät etwas nachhaltig im Gehirn
verändert. Solche Beobachtungen werden vor allem auf das so genannte Pruning (¹Ausschneidenª) zurückgeführt, bei dem ein groûer Teil der
bis dahin vorhandenen neuronalen Verbindungen wieder aus dem Gehirn entfernt wird. Das
Nervensystem wird durch diesen Prozess, der genetischer und auch hormoneller Kontrolle unterliegen dürfte, im Normalfall optimiert.
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2 Neuroanatomie: ¹Für die Psychiatrie wichtige Solisten im Konzert der Hirnfunktionª
Dieser ¹Frühjahrsputzª in der Pubertät fördert
die funktionelle und anatomische Konnektivität
im neuronalen ¹Spinnennetzª und damit die optimale Verbindung der unterschiedlichen Hirnareale. Bei Hochbegabten scheint das Pruning besonders eingreifend zu sein. Je mehr ¹ausgeschnittenª wird, desto optimierter arbeitet
scheinbar das System. Geistig behinderte Menschen zeigen das geringste Pruning (Abb. 2.4).
Synapsendichte
b
a
c
0,5 1
5
10 15 20 30 40
2.1.5 Einfluss des Genotyps auf die
Folgen früher Erfahrungen ±
Vulnerabilitätsgen (1. Beispiel)
50 60
Lebensalter in Jahren
1,2
1,2
Symptome der antisozialen
Persönlichkeitsstörung (Z-Score)
Disposition zum gewalttätigen Verhalten
(Z-Score)
Abb. 2.4 Frühjahrsputz in der Pubertät: Geistig Behinderte (b), durchschnittlich Intelligente (a) und
Hochbegabte (c) haben unterschiedliche Zeitverläufe
und Intensitäten beim neuronalen Pruningprozess,
dem ¹Jätenª von synaptischen Verbindungen in der
Pubertät. Intelligentere Menschen putzen ihr Gehirn
besonders intensiv aus, was mit einer Effizienzsteigerung neuronaler Prozesse assoziiert ist.
Die Folgen früher Erfahrungen ± in der
Untersuchung von Caspi et al. (2002)
geht es um frühe Misshandlung ± werden auch
durch die Genausstattung beeinflusst. Das für
die Monoaminoxidase-A-Aktivität maûgebliche
Gen zeigt einen Polymorphismus, der zu höherer
oder niedrigerer Aktivität führt. Caspi et al. fanden nun, dass Kinder, die frühe Misshandlungen
erfahren und eine geringe Monoaminoxidase-AAktivität haben, später eher zu gewalttätigem
Verhalten tendieren als Kinder mit höherer Monoaminoxidase-A-Aktivität (und damit geringerer Konzentration von Monoaminen im synaptischen Spalt). Dieser Genlokus ist demnach maûgeblich an der Entwicklung einer antisozialen
0,9
0,6
0,3
0
–0,3
n = 108 42
13
niedrige
MAO-A-Aktivität
180 79
20
hohe
MAO-A-Aktivität
keine Misshandlung
mögliche Misshandlung
schwere Misshandlung
0,9
0,6
0,3
0
–0,3
n = 107 39 12
niedrige
MAO-A-Aktivität
171 794 18
hohe
MAO-A-Aktivität
Abb. 2.5 Rolle des Genotyps im Zusammenhang mit gewalttätigem bzw. antisozialem Verhalten bei früh misshandelten Kindern: Misshandelte Kinder mit höherer Monoaminoxidase-A-Aktivität (MAO-A-Aktivität) neigen
später weniger zu gewalttätigem Verhalten bzw. zur Entwicklung einer antisozialen Persönlichkeitsstörung als
Kinder mit niedriger Monoaminoxidase-A-Aktivität (nach Caspi et al., 2002).
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2.2 Funktionelle Neuroanatomie in Kurzversion
Fernsehkonsum und Aggressivität
An 707 Jugendlichen und Erwachsenen, die
durchschnittlich 17 Jahre lang beobachtet wurden, zeigten Johnson et al. (2002) prospektiv einen von anderen Faktoren unabhängigen Einfluss
der Dauer des täglichen Fernsehkonsums auf aggressives Verhalten. Wenn durchschnittlich 14
Jahre alte Kinder weniger als 1 Stunde Fernsehen
am Tag schauen, zeigen etwa 10% der Jungen und
5% der Mädchen ein aggressives Verhalten. Bei
1 ± 3 Stunden TV pro Tag verhalten sich bereits
50% der Jungen und etwa 25% der Mädchen mit
früherem aggressiven Verhalten gewalttätig. Immerhin werden aber auch 25 % der Jungen ohne
frühere Aggressionsbereitschaft nun aggressiv.
Ein Fernsehkonsum von mehr als 3 Stunden pro
Tag scheint vor allem Jungen in noch stärkerem
Maû zur Aggressivität zu bewegen, und zwar un-
Persönlichkeitsstörung beteiligt, allerdings in
Abhängigkeit von der frühen Erfahrung. Der gleiche Genotyp in Kombination mit einer normalen
Kindheit führt nicht zu dieser Persönlichkeitsakzentuierung. Es handelt sich hier offenbar um einen Vulnerabilitätsfaktor, der einer Gen-UmweltInteraktion unterliegt (Abb. 2.5).
2.2
Funktionelle Neuroanatomie
in Kurzversion
Im nun folgenden Durchgang durch die für die
Neuropsychiatrie wichtigsten Hirnareale werden
neue Erkenntnisse der Bildgebung zur funktionellen Neuroanatomie präsentiert. Dabei geht es
um aktuelle Fragen der klinischen Neurowissenschaften zur Hirnfunktion. Wer die Grundlagen
der Neuroanatomie wiederholen möchte, sei auf
die vielen neuroanatomischen Lehrbücher verwiesen (Abb. 2.6).
2.2.1 Frontalhirn
Das Frontalhirn spielt eine herausragende Rolle,
insbesondere auch für die Psychiatrie, da es ca.
40 % des menschlichen Kortexes umfasst. Viele
pathogenetische Modelle seelischer Störungen
zeigen Beziehungen zum Frontalhirn. Schlagwortartig hat es mit Bewegung und Sprache zu
tun, den beiden Tätigkeiten, für die der Mensch
besonders begabt ist. Kein anderes Lebewesen
abhängig von zahlreichen anderen untersuchten
Variablen, wie z. B. Vernachlässigung, Familieneinkommen, Gewalt im Wohnviertel, Bildungsstand der Eltern. Diese Untersuchung weist wieder darauf hin, dass Umweltvariablen, und hierzu
gehören natürlich auch der Fernsehkonsum und
Videospiele, die Hirnfunktion und das Verhalten
von Kindern und Jugendlichen enorm beeinflussen. Nach Anderson und Bushman (2002) sind
die beiden wesentlichen Mechanismen, dem Einfluss von Fernsehen entgegenzuwirken, 1. die
Verringerung der Exposition mit Gewalt abbildenden Medien und 2. das Reflektieren mit den
Kindern über die gesehenen (Gewalt-)Inhalte,
um ihre Einstellung dazu zu verändern bzw. ihnen überhaupt einen Standpunkt dazu zu vermitteln.
beherrscht so viele verschiedene Sportarten oder
hat eine so vielfältige Sprache und einen proportional zum übrigen Gehirn so riesigen Frontallappen wie der Mensch und bei keinem anderen Lebewesen dauert die vollständige Reifung und Differenzierung des Frontallappens über 20 Jahre.
Die Funktionen des Frontalhirns beschränken
sich aber nicht auf das Bewegen und Reden. Zahlreiche kognitive und exekutive Funktionen, Aufmerksamkeitsprozesse und Arbeitsgedächtnis,
Urteilsvermögen und Antrieb, sind mit dem Frontalhirn verbunden ± und natürlich auch die entsprechenden Störungen dieser Funktionen bei
psychischen Erkrankungen.
Motorik: überlappende und
getrennte Repräsentationen
Was die primäre motorische Rinde im Gyrus
praecentralis betrifft, ist mit einer alten, immer
noch verbreiteten Vorstellung aufzuräumen: Die
strikte somatotopische Gliederung der primären
motorischen Rinde (Stichwort: Homunculus) ist
Medizingeschichte. Nach dieser Vorstellung
wäre beispielsweise der Daumen somatotopisch
vom Handgelenk streng getrennt, wobei die zerebrale Repräsentation der übrigen Finger dazwischen läge. Das kann in Wirklichkeit aber so nicht
funktionieren. Allerdings enthält die alte Vorstellung des Homunculus ein Stück der Wahrheit:
Bei der motorischen Aktivierung des Daumens,
des Indexfingers, des Ringfingers und des Hand-
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