Nur nicht die Nerven verlieren

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EINSICHTEN 2008
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lebenswissenschaften
Susanne Wedlich
Nur nicht die Nerven verlieren
Nervenzellen können nicht regenerieren. So steht es zumindest in allen Lehrbüchern.
Dank der Arbeit von Professor Magdalena Götz weiß man nun aber, dass die Gliazellen
aus dem Gehirn hier möglicherweise abhelfen können. Diese Zellen tragen nämlich das
Potential, sich in Nervenzellen umzuwandeln. Für ihre bahnbrechende Arbeit erhielt
Magdalena Götz den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis, die höchst dotierte wissenschaftliche Auszeichnung Deutschlands.
Die Stars im Gehirn sind und bleiben wohl die Nervenzellen. Schließlich ermöglichen sie
unsere Denk- und Gedächtnisleistungen. Allerdings können die Nervenzellen das Scheinwerferlicht nicht mehr nur für sich alleine beanspruchen. Eine lange vernachlässigte und
unterschätzte Zellart tritt nämlich langsam aus dem Schatten der übermächtigen Nachbarn: die Gliazellen, die immerhin bis zu 90 Prozent der Gehirnmasse ausmachen. Rund
150 Jahre nach ihrer Entdeckung reklamiert die Wissenschaft sie nun endlich als lohnendes
Forschungsobjekt mit Potenzial und erstaunlichen Fähigkeiten.
Das war nicht immer so. Mitte des 19. Jahrhunderts wählte ihr Entdecker, der berühmte
Pathologe Rudolf Virchow, das griechische Wort für ‚Leim’ oder ‚Kitt’ als Namen für die
neu gefundenen Zellen: Glia. Denn er schrieb diesen Zellen nur untergeordnete Funktionen
zu – ein Leben im Dienste der Neuronen. Auch dazu gehört schon einiges. So umkleiden
die Glia die empfindlichen Nervenzellen, halten, stützen und schützen sie. Sie versorgen
die Nervenzellen aber auch mit Nährstoffen und entfernen deren Abfallprodukte. Gleichzeitig helfen sie bei der Weiterleitung elektrischer Signale und ermöglichen so in Zusammenarbeit mit den Neuronen überhaupt erst die verschiedenen komplexen Leistungen des
Gehirns. Wie gering selbst dieses beeindruckende Repertoire an Funktionen bislang geschätzt wurde, zeigt sich nicht zuletzt an der Definition des Nervenkitts. Frei nach dem
Ausschlussprinzip: Alles ist Glia, was nicht Neuron ist. Dabei lohnt ein genauer Blick. Zu
den Gliazellen gehören nämlich unter anderem so wichtige Zelltypen wie die sternförmigen
Astrozyten, die Stoffwechselvorgänge im Gehirn regulieren und bei der Weiterleitung von
neuronalen Signalen helfen. An diesem Prozess sind auch die Oligodendrozyten beteiligt,
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die mit den Astrozyten als Makroglia zusammengefasst werden. Dies erfolgt in Abgrenzung
zu den Mikrogliazellen, die im Gehirn als Immunabwehr Krankheitserreger aufspüren und
vernichten.
Doch die Gliazellen können noch eine weitere bedeutende Aufgabe übernehmen, wie man
jetzt weiß: Sie verfügen über das Potenzial, neue Nervenzellen zu bilden. Diese Einsicht
rüttelt an dem in jedem Lehrbuch vermittelten Dogma, dass Nervenzellen nicht regenerieren können. Demnach kommt der Mensch mit etwa 100 Milliarden Neuronen auf die Welt.
Und von da an geht es nur noch bergab. Denn während Nervenzellen auch schon in jungen
Jahren dem natürlichen Alterungsprozess zum Opfer fallen, wird kein Ersatz mehr gebildet.
Anders als etwa Haut- oder Blutzellen können Nervenzellen nicht regenerieren.
Ausfälle können kompensiert werden
In den meisten Fällen führt dies dennoch nicht zu einer eingeschränkten Leistung des Gehirns. Schließlich ist dieses Organ ausgesprochen plastisch, und manche Areale können die
Ausfälle anderer Bereiche kompensieren. Zudem bleiben von den ehemals 100 Milliarden
Neuronen noch stattliche 90 Milliarden am Ende eines langen Lebens übrig. Kritisch kann
es aber werden bei schweren Kopfverletzungen oder wenn neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson ihr Werk der Zerstörung beginnen. Derzeit gibt es
für die Betroffenen keinen Ansatz zur Prävention oder Therapie. Im günstigsten Fall kann
der Verlauf des Leidens abgemildert oder verzögert werden. Möglicherweise aber kommt
in Zukunft Hilfe aus dem Gehirn selbst, wie nicht zuletzt auch die Forschung von Professor
Magdalena Götz hoffen lässt. „Wir konnten nämlich zeigen, dass während der Entwicklung des Nervensystems die Neurone aus Gliazellen gebildet werden, die man bis dahin
nur als Stützzellen gesehen hat“, berichtet die Neurobiologin. „Sie haben dann eine langgestreckte äußere Gestalt und heißen radiale Gliazellen. Durch genetische Markierungen
konnten wir nachweisen, dass eine Subpopulation dieser Zellen während der Entwicklung
der Großhirnrinde die meisten Nervenzellen dieser Region bildet. Andere radiale Gliazellen
sind dagegen schon sehr früh auf die Bildung weiterer ausgereifter Gliazellen beschränkt.“
Für ihre Arbeit wurde Magdalena Götz 2007 mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der
Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ausgezeichnet. Schließlich habe ihre Arbeit an
den Gliazellen zu einem Paradigmenwechsel in der Neurobiologie geführt. Der Gottfried
Wilhelm Leibniz-Preis ist mit je 2,5 Millionen Euro die höchst dotierte wissenschaftliche
Auszeichnung Deutschlands.
Noch ist der Weg bis zu einer regenerativen Therapie mit einer Neubildung von Neuronen
aber weit. Denn gegen Ende der Ausreifung des Gehirns erschöpft sich die Population der
neurogenen radialen Gliazellen, also jener Gruppe, die zu Nervenzellen werden können: Sie
bilden dann je zwei Neuronen. Die anderen radialen Gliazellen dagegen wandeln sich in die
Form der Gliazellen des erwachsenen Gehirns um, die Astrozyten. Im ausgereiften Gehirn
werden diese Prozesse also nicht mehr genutzt. „Es gibt praktisch keine Neubildung von
Nervenzellen“, so Magdalena Götz. „Entscheidend ist aber nun unsere diesjährige neue
Entdeckung, dass es innerhalb einer Verletzungsregion des Gehirns prinzipiell Zellen gibt,
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die Regeneration betreiben können. Das ist der
Ausgangspunkt für die Suche nach Faktoren, diese
Zellen auch im Gehirn wieder zur Neurogenese anzuregen, also zur Neubildung von Nervenzellen.“
Das Potenzial der Gliazellen wurde wohl deshalb
relativ spät – etwa 150 Jahre nach ihrer Entdeckung
– nachgewiesen, weil es in der Tat sehr wenig Regeneration im erwachsenen Gehirn gibt. Möglich war
die Untersuchung des Verhaltens von Gliazellen
Die Abbildung zeigt Nervenzellen, die aus umprogrammierten Astroglia-Zellen entstanden sind. Die
Astroglia-Zellen wurden aus dem zerebralen Kortex
auch im erwachsenen Gehirn erst, als die Neurobiologin und ihr Team eine Mauslinie generierten,
einer neugeborenen Maus gewonnen und kultiviert.
mit der zum ersten Mal im adulten Gehirn die Nach-
Mittels eines Retrovirus wurden dann gleichzeitig
kommen von Gliazellen aufgespürt werden konn-
die Gene für den Transkriptionsfaktor Neurogenin-2 (Ngn2) und Green Fluroescent Protein (GFP)
eingeschleust. Nach einer Woche wiesen die umpro-
ten. Davor waren Studien dieser Art schlichtweg
grammierten (GFP positiven) Zellen eine neuronale
unmöglich. „Außerdem hat man tatsächlich nicht
Morphologie auf und exprimierten in ihrem Zellkern
erwartet, dass die reaktive Glia mehr als nur Glia
den Transkriptionsfaktor Tbr1, ein Marker für glutamaterge Neurone. Die Zellkerne erscheinen weiß auf
Grund der Überlagerung der Färbung für Tbr1 (rot),
GFP (grün) und DAPI (blau).
machen kann“, vermutet Magdalena Götz. „Man
hat also wohl auch nicht gezielt danach gesucht.“
Gliazellen können Nervenzellen bilden
Das hat sich mittlerweile geändert. Jetzt weiß man, dass in einigen wenigen Regionen des
Gehirns neurogene Gliazellen erhalten bleiben, solche also mit dem Potenzial zur Bildung
von Nervenzellen – und zumindest eingeschränkter Aktivität. „Gleichzeitig zu unseren Befunden zu den Vorgängen während der Entwicklung des Gehirns wurden Ergebnisse bekannt, wonach die im adulten Gehirn neu gebildeten Neurone von Gliazellen kommen“,
berichtet sie. „Zusammen mit unseren neuesten Befunden, dass auch Gliazellen, die auf
Gehirnverletzung reagieren, prinzipiell Nervenzellen bilden können, bedeutet dies insgesamt, dass die Gliazellen die adulten Stammzellen sind. Dies konnten wir auch direkt mit
modernen genetischen Mitteln bestätigen.“
Stammzellen sind undifferenzierte Zellen mit dem Potential, sich in andere Zelltypen umzuwandeln. So entstehen auch alle Zellen unseres Körpers aus Stammzellen. Nur in zwei
Regionen des erwachsenen Säugerhirns – auch das des Menschen – bleiben Astrozyten
erhalten, die neuronale Stammzelleigenschaften behalten. Magdalena Götz konzentriert
sich in ihrer Arbeit vor allem auf die am höchsten entwickelte Region des menschlichen
Gehirns, das Telencephalon. Dessen verschiedene Areale sind auch therapeutisch relevant,
weil sie unter anderem bei Schlaganfällen und bei der Alzheimer Erkrankung betroffen
sind. Erschwert wird eine mögliche regenerative Therapie im Gehirn dadurch, dass in jeder
Gehirnregion verschiedene Typen von Neuronen vorliegen: Bei einer Therapie müssten
dann die jeweils korrekten Nervenzelltypen geschaffen werden.
„Die Fähigkeit zur Differenzierung in Nervenzellen geht den neuralen Stammzellen in späteren Entwicklungsstadien verloren“, berichtet sie. „Sie können dann selbst nach VerletJuni
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zungen im erwachsenen Gehirn nicht mehr zu Neuronen werden. Wir zeigen ja in unserer
Arbeit, dass diese Zellen in vivo, also etwa im verletzten Gehirn, keine Nervenzellen mehr
bilden.“ Seit Jahren versuchen Magdalena Götz und ihre Mitarbeiter deshalb, die molekularen Schalter zu identifizieren, die während der Entwicklung des Gehirns wesentlich sind
für die Bildung von Neuronen aus Gliazellen – und wurden auch schon fündig. Den Wissenschaftlern gelang nämlich der Nachweis eines molekularen Mechanismus, der sowohl
radiale Gliazellen während der Entwicklung als auch adulten neuralen Stammzellen des
Gehirns die Fähigkeit zur Bildung von Nervenzellen erlaubt.
Hier spielt unter anderem der Transkriptionsfaktor Pax6 eine entscheidende Rolle: Dieses
Molekül ist in der Lage, zumindest einige Gliazellen, die normalerweise keine Neuronen
mehr bilden, nach einer Gehirnverletzung wieder zur Bildung unreifer Nervenzellen anzuregen. Dies entdeckten Magdalena Götz und ihre Mitarbeiter im Experiment. Die Regulatorproteine wurden dabei in Gliazellen eines älteren Gehirns, also nach der embryonalen
Entwicklung, eingebracht. Die Zellen haben daraufhin tatsächlich neuronale Proteine angeschaltet. So konnten die Wissenschaftler zeigen, dass einzelne dieser Regulatorproteine
ausreichen, um aus Gliazellen wieder funktionelle Nervenzellen zu erzeugen. Im Versuch
nahmen die Gliazellen nach einigen Tagen der Umprogrammierung die normale Gestalt
einer Nervenzelle an und zeigten sogar deren elektrische Eigenschaften, die für die Weiterleitung von Signalen im Gehirn nötig sind. Den über mehrere Tage verlaufenden Übergang von der Gliazelle zum Neuron konnten die Forscher sogar live in Zeitrafferaufnahmen
verfolgen und auch die Funktionsfähigkeit der Nervenzellen nachweisen. Damit war zum
ersten Mal bewiesen, dass Nervenzellen, die von reprogrammierten Gliazellen abstammen,
physiologisch weitgehend mit funktionierenden Nervenzellen übereinstimmen.
Welche Mechanismen fördern die Umwandlung in Neuronen?
Für die Wissenschaftler war dieses Ergebnis sehr ermutigend, weil die Erzeugung korrekt
funktionierender Nervenzellen aus Gliazellen ein wichtiger Schritt ist, um zerstörte Neuronen wieder zu ersetzen. „Somit ist der Beweis erbracht, dass im Prinzip auch die Gliazellen des ausgereiften Gehirns wieder die Fähigkeit zur Bildung von Nervenzellen erlangen
können“, sagt Magdalena Götz. „In unserer Arbeit geht es nun in erster Linie darum, die
Effektivität dieses Ansatzes zu verbessern und tatsächlich auch im Gehirn die Bildung funktioneller Nervenzellen nach Verletzung wieder zu ermöglichen. Deshalb arbeiten wir daran,
weitere molekulare Signalwege zu identifizieren, die Gliazellen im erwachsenen Gehirn
davon abhalten, auch in Anwesenheit von Pax6 neue Neuronen zu bilden.“ Gesucht sind
also molekulare Mechanismen, die die Umwandlung in Neuronen fördern – während der
Entwicklung und auch im erwachsenen Gehirn. In diesem Bereich steckt die Forschung
noch in den Kinderschuhen. Da Gliazellen bis vor kurzem nur untergeordnete Funktionen
zugeschrieben wurden, ist fast nichts über ihre molekularbiologischen und zellbiologischen
Reaktionen nach Gehirnverletzungen bekannt. Dieses Wissen ist aber die Voraussetzung,
um die Zellen sinnvoll und effektiv beeinflussen zu können.
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Magdalena Götz und ihrem Team ist bereits ein weiterer Schritt im Verständnis dieser
Prozesse gelungen. Die Wissenschaftler konnten zeigen, dass reaktive Gliazellen im Gehirn der Maus nach Verletzung ihre Zellteilung wieder aufnehmen. „Sie werden dann zu
Stammzellen, aus denen sich unter günstigen Bedingungen in Zellkultur sogar wieder Nervenzellen bilden können“, erklärt sie. Damit gelang der bahnbrechende Nachweis, dass
in einer Verletzungsregion des Gehirns adulte neurale Stammzellen vorhanden sind, die
dann als Quelle für neue Nervenzellen dienen könnten. „Einer wichtigen Frage ist aber
noch niemand nachgegangen“, so Magdalena Götz. „Man weiß nämlich noch nicht, ob
die Gliazellen auch in anderen Regionen, die normalerweise keine Neuronen bilden, dies
jemals wieder tun können. Und hier sind unsere ganz neuen Befunde einzuordnen: Diese
reaktiven Glia, die auf Gehirnverletzungen reagieren, entwickeln tatsächlich wieder eine
neurale Stammzellpopulation. Dank dieser Ergebnisse rückt nun das Fernziel ein wenig näher, die Prozesse therapeutisch nutzen zu können. Nach der Entdeckung, dass es in der Region der Gehirnverletzung wieder Stammzellen gibt, hoffen wir, dass wir diese plastischen
Zellen besonders effektiv zur Bildung von Nervenzellen anregen können.“
Prof. Dr. Magdalena Götz ist seit 2004 Lehrstuhlinhaberin am Physiologischen Institut der LMU und Direktorin
am HelmholtzZentrum München – Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt, Neuherberg. 2007
erhielt sie den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgesellschaft.
http://physinst.web.med.uni-muenchen.de/genomic.htm
[email protected]
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