Rätsel der Hirnforschung - Max-Planck

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Rätsel der Hirnforschung
Wahrnehmung, Lernen, gedächtnis
Ä
ußerlich unscheinbar, aber ein
hochkomplexes Netzwerk, ge­
knüpft in Jahrmillionen wäh­
render Evolution – das ist un­
ser Gehirn. Seine verblüffende
Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten,
ist vor allem darauf ausgelegt, Muster und
Zusammenhänge zu erkennen, sie zu ler­
nen und zu speichern. Indem es einmal er­
worbenes Wissen bei Bedarf wieder abruft,
kann es angemessen auf die Umwelt re­
agieren. Dabei verändert es sich bei jeder
neuen Erfahrung. Wie aber kommen Wahr­
nehmung, Lernen und Gedächtnis über­
haupt zu Stande?
Unser Gehirn enthält rund 100 Milliarden
Nervenzellen, auch Neurone genannt, die
in komplizierten Schaltkreisen miteinander
verknüpft sind. Informationen aufnehmen,
verarbeiten und weiterleiten – das ist ihre
wesentliche Aufgabe. Jedes Neuron besitzt
in der Regel zwei Arten von Fortsätzen:
Über verästelte Dendriten (Bild 1) emp­
fängt es Signale, über ein langes Axon lei­
tet es sie anderen Zellen zu. Verbunden sind
Neurone über winzige Kontaktstellen, die
Synapsen, an denen Signale von einer Zel­
le zur nächsten gelangen können (Bild 2).
Input erhält das Gehirn über sensori­
sche Neurone: Sie wandeln äußere Reize
wie Licht, Geräusche oder Druck in elek­
trische Signale um. Der Output führt über
motorische Neurone, welche unsere Mus­
keln und damit unsere Bewegungen steu­
ern. Diese Ein­ und Ausgangspforten sind
für die Wechselwirkung zwischen dem
Gehirn und seiner Umwelt sehr wichtig.
Doch die meisten Nervenzellen sind mit
den weit gehend rätselhaften Prozessen
»dazwischen« befasst.
Zwar enthält das Gehirn noch andere
Zelltypen, doch im Fokus der Lern­ und
Gedächtnisforschung stehen in erster Li­
nie die Neurone und ihre Synapsen. Denn
wenn sich beispielsweise ein Tier den
Fundort eines Leckerbissens merkt, feuern
nicht nur bestimmte Nervenzellen stärker,
sondern es festigen sich auch die Verbin­
dungen zwischen ihnen. Bei Hirnerkran­
kungen wie der Alzheimerdemenz, die
Lernen und Gedächtnis beeinträchtigen,
sterben hingegen Nervenzellen in großem
Umfang ab oder die Synapsen funktionie­
ren nicht mehr richtig.
Noch immer klaffen in der Hirnfor­
schung erhebliche Wissenslücken. Das
fängt bei der Wahrnehmung an: Welche
neuronalen Mechanismen liegen ihr ge­
nau zu Grunde? Millionen von Neuronen
in unterschiedlichen Netzwerken müssen
elektrische Signale weiterleiten, damit wir
einen simplen Stuhl erkennen. Die dafür
verantwortlichen Schaltkreise ausfindig zu
machen, ist methodisch schwierig.
Kartierung des gehirns
Etwas einfach nur wahrzunehmen, wäre
allerdings nutzlos, wenn wir es nicht
mit passenden Erinnerungen verknüpfen
könnten. Sprich: Wir bremsen an der ro­
ten Ampel nur, weil wir den Lichtreiz als
Verkehrssignal erkennen und das dazu
passende Verhalten aus dem Gedächtnis
abrufen. Wahrnehmung, Lernen und Erin­
nern dürften also auf eng miteinander ver­
knüpften Hirnregionen und Mechanismen
beruhen. Hier gibt es noch viel zu ergrün­
den – ebenso hinsichtlich der Frage, wie
Schlaf und Aufmerksamkeit Lernen und
Gedächtnis beeinflussen.
Ungeklärt ist auch, wie Informationen
dauerhaft gespeichert bleiben, obwohl sich
viele am Gedächtnis beteiligte Hirnkompo­
nenten ständig verändern. Während sich
Erinnerungen formen und festigen, werden
sie zwischen verschiedenen Hirnregionen
hin und her geschoben. Das kann sich über
D
as Verhalten von nervenzellen lässt sich anhand der elek­
trischen schwingungen verschiedenster Frequenzen im gehirn
untersuchen. Laut einer aktuellen studie von Forschern des
Max­Planck­instituts für hirnforschung läuft etwa Lernen effektiver
20
Forschungsperspektiven der Max-Planck-Gesellschaft | 2010+
mehrere Wochen hinziehen und scheint
von der neuronalen Aktivität während
bestimmter Schlafphasen abzuhängen1.
Zudem sterben im Zuge der normalen
Alterung Neurone ab. Auch Proteine (Ei­
weißstoffe), die am Gedächtnis mitwirken,
werden einerseits kontinuierlich abgebaut
und ersetzt, andererseits immer dann neu
hergestellt, wenn wir etwas lernen2.
Ein großes Ziel der Neurowissenschaft
ist es, zu verstehen, wie Wahrnehmung und
Verhalten durch die Tätigkeit des Gehirns
zu Stande kommen. Die klassischen Metho­
den der Forscher erweisen sich hier nur von
begrenztem Nutzen. Das Denkorgan ist da­
für zu komplex, die neuronale Aktivität
darin zu weiträumig verteilt3. So erlaubt die
so genannte Patch-Clamp­Technik, die Ak­
tivität einzelner Neurone exakt zu messen.
Doch sagt sie nichts darüber aus, inwiefern
diese Zellen als Bausteine größerer neuro­
naler Schaltkreise fungieren. Bildgebende
Verfahren wie die funktionelle Kernspin­
tomographie hingegen liefern zwar einen
groben Überblick über die Verteilung der
Hirnaktivität bei bestimmten Aufgaben,
sind aber zu ungenau, um die Signale ein­
zelner Neurone zu registrieren (Bild 3).
Neu entwickelte Methoden wie die
hochauflösende Lichtmikroskopie4,5 bezie­
hungsweise die automatisierte elektronen­
mikroskopische 3­D­Analyse und gen­
technische Werkzeuge zur vielfarbigen
Fluoreszenzmarkierung von Proteinen ste­
hen uns bereits zur Verfügung6. Sie erlau­
ben es, einzelne Komponenten und neu­
ronale Schaltkreise im Gehirn dingfest zu
machen – ein entscheidender Schritt zu ih­
rem Verständnis. Zudem wird die immen­
se Computerleistung immer erschwing­
licher, die zur Verarbeitung der dabei
anfallenden Datenmengen nötig ist.
Dieses Rüstzeug dürfte es uns in abseh­
barer Zeit ermöglichen, die unzähligen
ab, wenn die am gedächtnis beteiligten neurone im takt der so
genannten theta­Frequenzen (2 bis 8 hertz) feuern. die gelernten
inhalte sind dann nachhaltiger gespeichert als ohne diese synchro­
nisierung (Rutishauser, U. et al., Nature 464, 903 – 907, 2010).
Biologie und Medizin
Wahrnehmung, Lernen und gedächtnis beruhen auf dem Zusammenspiel
verschiedener Bausteine des gehirns: von Molekülen über nervenzellen bis
hin zu komplexen neuronalen netzen.
Forscher wissen viel über einzelne neurone und synapsen, aber nur wenig
darüber, wie diese in komplexen netzwerken interagieren.
deshalb müssen neurowissenschaftler ihre Forschungsmethoden verfeinern
und die multidisziplinäre Zusammenarbeit ausbauen.
Bild 1 | Neuronale
Kommunikation
Bild 2 | Neuronale Struktur
Die stark verzweigten Dendriten
eines Neurons in Zellkultur
wurden hier durch Anheften eines
fluoreszierenden Markerproteins
(MAP2) sichtbar gemacht.
Neurone (mit einem rosa fluoreszierenden Molekül markiert)
kommunizieren über Synapsen
(hier grün) miteinander.
neuronalen Verknüpfungen eines Gehirns
vollständig und präzise zu erfassen – zu­
mindest eines kleineren, wie etwa das ei­
ner Fliege oder einer Maus. Zu diesem
Zweck müssen verschiedenste Fachrich­
tungen enger als gewohnt zusammen­
arbeiten, von der Molekularbiologie und
Genetik über die Elektronik und Nano­
technologie bis hin zur Informatik und
Mathematik.
Bild 1 und 2: mit frdl. Gen. des Erin M. Schuman Lab, aus: D. C. Dieterich et al., »In situ visualization and dynamics of newly synthesized proteins in rat hippocampal neurons«,
in: Nature Neuroscience 13, 897— 905 (2010), genehmigt von Macmillan Publishers Ltd.; Bild 3: Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik
hoFFen auF neue techniKen
Über die Funktionsweise von individuel­
len Neuronen und Synapsen ist heute
schon recht viel bekannt – über ihre ko­
ordinierte Aktivität innerhalb von Ver­
bänden von Millionen Zellen jedoch deut­
lich weniger. Doch gerade auf diesen
beiden Pfeilern beruht die Funktion des
Gehirns: koordinierte Aktivität auf der Ma­
kroebene und ein hohes Maß an Speziali­
sierung auf der Mikroebene7. Es gilt also,
die jeweils beteiligten Moleküle, Nerven­
zellen und neuronalen Netzwerke in Kom­
bination statt getrennt voneinander zu
untersuchen.
In diese Richtung müssen sich die ex­
perimentellen Techniken weiterentwickeln,
mit denen Forscher bislang lediglich einzel­
ne Bauteile des Gehirns in den Blick nah­
men. Ein viel versprechender Forschungs­
ansatz ist die Optogenetik. Sie nutzt durch
Licht aktivierbare genetische Schalter, um
die Aktivität bestimmter Neuronenverbän­
de zu kontrollieren8,9. Damit könnten die
Funktionen einzelner Zellen innerhalb neu­
ronaler Schaltkreise ermittelt werden.
Voraussetzung dafür sind wesentliche
Innovationen auf den Gebieten der Optik,
Mikro­ und Nanoelektronik sowie der
Informatik. Doch der Aufwand wird sich
lohnen, denn nur damit können wir die
neurobiologischen Grundlagen von Wahr­
nehmung, Lernen und Gedächtnis ent­
schlüsseln. Derartige Erkenntnisse werden
uns nicht nur die Leistungen unseres Ge­
hirns immer besser verstehen lassen, son­
dern könnten auch helfen, sie eines Tages
gezielt zu beeinflussen und zu verbessern.
➟ Bibliographie siehe Seiten 38 und 39
»
Über die Funktion von Neuronen und Synapsen
ist viel bekannt – über ihre koordinierte Aktivität in
Verbänden von Millionen Zellen viel weniger
Bild 3 | Kernspinaufnahmen zeigen die Struktur des menschlichen
Gehirns, während implantierte Elektroden (Pfeile) die elektrische
Aktivität einzelner Neurone sichtbar machen10.
2010+ | Forschungsperspektiven der Max-Planck-Gesellschaft
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