Rätsel der Hirnforschung Wahrnehmung, Lernen, gedächtnis Ä ußerlich unscheinbar, aber ein hochkomplexes Netzwerk, ge­ knüpft in Jahrmillionen wäh­ render Evolution – das ist un­ ser Gehirn. Seine verblüffende Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten, ist vor allem darauf ausgelegt, Muster und Zusammenhänge zu erkennen, sie zu ler­ nen und zu speichern. Indem es einmal er­ worbenes Wissen bei Bedarf wieder abruft, kann es angemessen auf die Umwelt re­ agieren. Dabei verändert es sich bei jeder neuen Erfahrung. Wie aber kommen Wahr­ nehmung, Lernen und Gedächtnis über­ haupt zu Stande? Unser Gehirn enthält rund 100 Milliarden Nervenzellen, auch Neurone genannt, die in komplizierten Schaltkreisen miteinander verknüpft sind. Informationen aufnehmen, verarbeiten und weiterleiten – das ist ihre wesentliche Aufgabe. Jedes Neuron besitzt in der Regel zwei Arten von Fortsätzen: Über verästelte Dendriten (Bild 1) emp­ fängt es Signale, über ein langes Axon lei­ tet es sie anderen Zellen zu. Verbunden sind Neurone über winzige Kontaktstellen, die Synapsen, an denen Signale von einer Zel­ le zur nächsten gelangen können (Bild 2). Input erhält das Gehirn über sensori­ sche Neurone: Sie wandeln äußere Reize wie Licht, Geräusche oder Druck in elek­ trische Signale um. Der Output führt über motorische Neurone, welche unsere Mus­ keln und damit unsere Bewegungen steu­ ern. Diese Ein­ und Ausgangspforten sind für die Wechselwirkung zwischen dem Gehirn und seiner Umwelt sehr wichtig. Doch die meisten Nervenzellen sind mit den weit gehend rätselhaften Prozessen »dazwischen« befasst. Zwar enthält das Gehirn noch andere Zelltypen, doch im Fokus der Lern­ und Gedächtnisforschung stehen in erster Li­ nie die Neurone und ihre Synapsen. Denn wenn sich beispielsweise ein Tier den Fundort eines Leckerbissens merkt, feuern nicht nur bestimmte Nervenzellen stärker, sondern es festigen sich auch die Verbin­ dungen zwischen ihnen. Bei Hirnerkran­ kungen wie der Alzheimerdemenz, die Lernen und Gedächtnis beeinträchtigen, sterben hingegen Nervenzellen in großem Umfang ab oder die Synapsen funktionie­ ren nicht mehr richtig. Noch immer klaffen in der Hirnfor­ schung erhebliche Wissenslücken. Das fängt bei der Wahrnehmung an: Welche neuronalen Mechanismen liegen ihr ge­ nau zu Grunde? Millionen von Neuronen in unterschiedlichen Netzwerken müssen elektrische Signale weiterleiten, damit wir einen simplen Stuhl erkennen. Die dafür verantwortlichen Schaltkreise ausfindig zu machen, ist methodisch schwierig. Kartierung des gehirns Etwas einfach nur wahrzunehmen, wäre allerdings nutzlos, wenn wir es nicht mit passenden Erinnerungen verknüpfen könnten. Sprich: Wir bremsen an der ro­ ten Ampel nur, weil wir den Lichtreiz als Verkehrssignal erkennen und das dazu passende Verhalten aus dem Gedächtnis abrufen. Wahrnehmung, Lernen und Erin­ nern dürften also auf eng miteinander ver­ knüpften Hirnregionen und Mechanismen beruhen. Hier gibt es noch viel zu ergrün­ den – ebenso hinsichtlich der Frage, wie Schlaf und Aufmerksamkeit Lernen und Gedächtnis beeinflussen. Ungeklärt ist auch, wie Informationen dauerhaft gespeichert bleiben, obwohl sich viele am Gedächtnis beteiligte Hirnkompo­ nenten ständig verändern. Während sich Erinnerungen formen und festigen, werden sie zwischen verschiedenen Hirnregionen hin und her geschoben. Das kann sich über D as Verhalten von nervenzellen lässt sich anhand der elek­ trischen schwingungen verschiedenster Frequenzen im gehirn untersuchen. Laut einer aktuellen studie von Forschern des Max­Planck­instituts für hirnforschung läuft etwa Lernen effektiver 20 Forschungsperspektiven der Max-Planck-Gesellschaft | 2010+ mehrere Wochen hinziehen und scheint von der neuronalen Aktivität während bestimmter Schlafphasen abzuhängen1. Zudem sterben im Zuge der normalen Alterung Neurone ab. Auch Proteine (Ei­ weißstoffe), die am Gedächtnis mitwirken, werden einerseits kontinuierlich abgebaut und ersetzt, andererseits immer dann neu hergestellt, wenn wir etwas lernen2. Ein großes Ziel der Neurowissenschaft ist es, zu verstehen, wie Wahrnehmung und Verhalten durch die Tätigkeit des Gehirns zu Stande kommen. Die klassischen Metho­ den der Forscher erweisen sich hier nur von begrenztem Nutzen. Das Denkorgan ist da­ für zu komplex, die neuronale Aktivität darin zu weiträumig verteilt3. So erlaubt die so genannte Patch-Clamp­Technik, die Ak­ tivität einzelner Neurone exakt zu messen. Doch sagt sie nichts darüber aus, inwiefern diese Zellen als Bausteine größerer neuro­ naler Schaltkreise fungieren. Bildgebende Verfahren wie die funktionelle Kernspin­ tomographie hingegen liefern zwar einen groben Überblick über die Verteilung der Hirnaktivität bei bestimmten Aufgaben, sind aber zu ungenau, um die Signale ein­ zelner Neurone zu registrieren (Bild 3). Neu entwickelte Methoden wie die hochauflösende Lichtmikroskopie4,5 bezie­ hungsweise die automatisierte elektronen­ mikroskopische 3­D­Analyse und gen­ technische Werkzeuge zur vielfarbigen Fluoreszenzmarkierung von Proteinen ste­ hen uns bereits zur Verfügung6. Sie erlau­ ben es, einzelne Komponenten und neu­ ronale Schaltkreise im Gehirn dingfest zu machen – ein entscheidender Schritt zu ih­ rem Verständnis. Zudem wird die immen­ se Computerleistung immer erschwing­ licher, die zur Verarbeitung der dabei anfallenden Datenmengen nötig ist. Dieses Rüstzeug dürfte es uns in abseh­ barer Zeit ermöglichen, die unzähligen ab, wenn die am gedächtnis beteiligten neurone im takt der so genannten theta­Frequenzen (2 bis 8 hertz) feuern. die gelernten inhalte sind dann nachhaltiger gespeichert als ohne diese synchro­ nisierung (Rutishauser, U. et al., Nature 464, 903 – 907, 2010). Biologie und Medizin Wahrnehmung, Lernen und gedächtnis beruhen auf dem Zusammenspiel verschiedener Bausteine des gehirns: von Molekülen über nervenzellen bis hin zu komplexen neuronalen netzen. Forscher wissen viel über einzelne neurone und synapsen, aber nur wenig darüber, wie diese in komplexen netzwerken interagieren. deshalb müssen neurowissenschaftler ihre Forschungsmethoden verfeinern und die multidisziplinäre Zusammenarbeit ausbauen. Bild 1 | Neuronale Kommunikation Bild 2 | Neuronale Struktur Die stark verzweigten Dendriten eines Neurons in Zellkultur wurden hier durch Anheften eines fluoreszierenden Markerproteins (MAP2) sichtbar gemacht. Neurone (mit einem rosa fluoreszierenden Molekül markiert) kommunizieren über Synapsen (hier grün) miteinander. neuronalen Verknüpfungen eines Gehirns vollständig und präzise zu erfassen – zu­ mindest eines kleineren, wie etwa das ei­ ner Fliege oder einer Maus. Zu diesem Zweck müssen verschiedenste Fachrich­ tungen enger als gewohnt zusammen­ arbeiten, von der Molekularbiologie und Genetik über die Elektronik und Nano­ technologie bis hin zur Informatik und Mathematik. Bild 1 und 2: mit frdl. Gen. des Erin M. Schuman Lab, aus: D. C. Dieterich et al., »In situ visualization and dynamics of newly synthesized proteins in rat hippocampal neurons«, in: Nature Neuroscience 13, 897— 905 (2010), genehmigt von Macmillan Publishers Ltd.; Bild 3: Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik hoFFen auF neue techniKen Über die Funktionsweise von individuel­ len Neuronen und Synapsen ist heute schon recht viel bekannt – über ihre ko­ ordinierte Aktivität innerhalb von Ver­ bänden von Millionen Zellen jedoch deut­ lich weniger. Doch gerade auf diesen beiden Pfeilern beruht die Funktion des Gehirns: koordinierte Aktivität auf der Ma­ kroebene und ein hohes Maß an Speziali­ sierung auf der Mikroebene7. Es gilt also, die jeweils beteiligten Moleküle, Nerven­ zellen und neuronalen Netzwerke in Kom­ bination statt getrennt voneinander zu untersuchen. In diese Richtung müssen sich die ex­ perimentellen Techniken weiterentwickeln, mit denen Forscher bislang lediglich einzel­ ne Bauteile des Gehirns in den Blick nah­ men. Ein viel versprechender Forschungs­ ansatz ist die Optogenetik. Sie nutzt durch Licht aktivierbare genetische Schalter, um die Aktivität bestimmter Neuronenverbän­ de zu kontrollieren8,9. Damit könnten die Funktionen einzelner Zellen innerhalb neu­ ronaler Schaltkreise ermittelt werden. Voraussetzung dafür sind wesentliche Innovationen auf den Gebieten der Optik, Mikro­ und Nanoelektronik sowie der Informatik. Doch der Aufwand wird sich lohnen, denn nur damit können wir die neurobiologischen Grundlagen von Wahr­ nehmung, Lernen und Gedächtnis ent­ schlüsseln. Derartige Erkenntnisse werden uns nicht nur die Leistungen unseres Ge­ hirns immer besser verstehen lassen, son­ dern könnten auch helfen, sie eines Tages gezielt zu beeinflussen und zu verbessern. ➟ Bibliographie siehe Seiten 38 und 39 » Über die Funktion von Neuronen und Synapsen ist viel bekannt – über ihre koordinierte Aktivität in Verbänden von Millionen Zellen viel weniger Bild 3 | Kernspinaufnahmen zeigen die Struktur des menschlichen Gehirns, während implantierte Elektroden (Pfeile) die elektrische Aktivität einzelner Neurone sichtbar machen10. 2010+ | Forschungsperspektiven der Max-Planck-Gesellschaft 21