310 311 Uwe Gonther und Jann E. Schlimme Dr. med. Uwe Gonther ist leitender Oberarzt in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Bremen-Ost; Veröffentlichungen und Vorträge über »Hölderlin und die Psychiatrie" seit 1998; Mitorganisator der Tagung in Bad Homburg v.d.H. zu diesem Thema. Privatdozent Dr. med. Jann E. Schlimme, geboren 1971, studierte Humanmedizin, Soziologie, Sozialpsychologie und Philosophie. Er ist Oberarzt an der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover. Mitorganisator der Tagung "Hölderlin und die Psychiatrie" in Bad Homburg v.d.H. Literatur Gaetano Benedetti: Psychiatrische Aspekte des Schöpferischen, Göttingen 1975 Michael Franz: Annäherung an Hölderlins Verrücktheit. In: Hölderlin-Jahrbuch 22, 1980-1981, 274-294 Jörg Frommer: Exzentrische Bahn und schizophrene Ichspaltung. Friedrich Hölderlins philosophische Fragmente in ihrer Beziehung zu Leben und Krankheit. In: Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie 63, 1995, 341-349 Uwe Gonther: Die Mißverständnisse in der Debatte Bertaux / Peters. In: Hölderlin und die Psychiatrie, hrsg. von Uwe Gonther und Jann E. Schlimme [im Druck] Karl Jaspers: AllgemeinePsychopathologie, Heidelberg 1913 Hans-Jürgen Möller und Arno Deister: Schizophrenie. In: Psychiatrie und Psychotherapie, hrsg. von Hans-Jürgen Möller, Gerd Laux et al., Berlin/Heidelberg/New York 2003, 1051-1122 Michael Musalek: Die unterschiedliche Herkunft von Schizophrenien und ihre philosophischen Grundlagen. Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie, Bd. 73, Sonderheft 1, 2005, hrsg. von Hans-Peter Kapfhammer, 16-24 Jann E. Schlimme und Uwe Gonther: Die Begründung der Subjektivität im Gegebenen. Göttlicher Wahnsinn und Psychose bei Friedrich Hölderlin. In: Subjektivität und Gehirn, hrsg. von Thomas Fuchs, Kai Vogeley, Martin Heinze, Lengerich/Berlin2007, 273-293 Jann E. Schlimme: Psychiatrie und das Führen eines guten Lebens. In: psycho-logik. Jahrbuch für Psychotherapie, Philosophie und Kultur 4, 2009, 132-143 Wolfram Schmitt: Gesang aus der Feme. Friedrich Hölderlins "späteste Gedichte". In: Fundamenta psychiatrica 16, 2002, 57-72 Giovanni Stanghellini:Disembodied spirits and deanimated bodies: the psychopathology of common sense, Oxford 2004 Diskussionsbeitrag zur fraglichen psychotischen Erkrankung Hölderlins unter besonderer Berücksichtigung des Autopsiebefundes Vorbemerkung Es gibt eine lange Kontroverse zur Geisteserkrankung Hölderlins. Von psychiatrischer Seite werden unterschiedliche Diagnosen genannt, vor allem wird eine psychoreaktive Erkrankung gegen eine Psychose als wahrscheinliche Diagnose abgewogen. Literaturwissenschaftlich interessiert einerseits der - fachlich allerdings nicht gut begründbare - Zusammenhang zwischen „Genie und Wahnsinn", es gibt allerdings auch Bestrebungen, eine psychiatrische Erkrankung gänzlich abzustreiten (Bertaux 1978, 1980). Die Motivation hierfür hat möglicherweise mit der üblichen Stigmatisierung seelisch Erkrankter zu tun, als sei es nicht zu ertragen, dass auch ein genialer Künstler psychisch schwer erkranken kann oder dass eine fragliche Erkrankung den Wert seines Werkes mindern könnte. Andererseits muss ein vergleichbarer Vorwurf auch denjenigen gemacht werden, die es bei einer „Psychiatrisierung" alleine belassen, denn die Legitimierung für eine Diagnose liegt allein in der erst daraufhin festzulegenden Therapie. Ärztliches, also auch psychiatrisches Urteilen dient vor allem der Hilfe Kranker. Insofern ist es immer problematisch, wenn eine psychiatrische Diagnose gestellt wird, ohne dass es je um Behandlung oder Hilfe geht. Ein solches Handeln wäre lediglich zur Hilfe für Hinterbliebene zu rechtfertigen, weil für sie eine Diagnose noch von Bedeutung sein kann für das Verstehen des Kranken; dies kann den Erklärungsversuch des Untersuchers in unserem Fall durchaus rechtfertigen. Im Folgenden geht es vornehmlich um die Bewertung des Autopsiebefundes. Damit ist die Beschreibung des Gehirnes nach Untersuchung mit dem bloßen Auge gemeint, da es zur damaligen Zeit noch keine Möglichkeit einer zuverlässigen mikroskopischen Untersuchung von Hirngewebe gab. Es wird folglich die grundsätzliche Auseinandersetzung über die mögliche Geisteserkrankung Hölderlins nicht im Detail wiedergegeben, vielmehr wird die heute fachlich-psychiatrisch dominierende und durchaus gut begründete Hypothese einer schizophrenen Erkrankung als wahrscheinlichste Diagnose als zutreffend vorausgesetzt (Schott und Tölle 2006). 312 1itus Jacob und Nikolaus Michael Litt Hölderlin an einer schizophrenen Psychose? Bis zum heutigen Tage stützt sich die Diagnose einer schizophrenen Psychose auf den klinischen Befund, das heißt die hochkomplexe psychische Symptomatik, die sich auch dem Fachkundigen oft erst nach gründlicher Untersuchung und meist längerer Beobachtung erschließt. Von einer schlüssigen Beschreibung der jeweiligen Hirnveränderungen, die sicherlich dieser Erkrankung auch zugrunde liegen, ist die Wissenschaft noch weit entfernt (Harrison 1999). Die meisten Fachleute gehen heute davon aus, dass es sich bei der Schizophrenie um eine heterogene Krankheitsgruppe handelt, die erst in den vergangenen 100 Jahren exakt beschrieben und definitorisch eingegrenzt wurde. Geht es um Hölderlins Erkrankung, ist der Diagnostiker heute auf Quellen angewiesen, in denen psychische Auffälligkeiten beschrieben sind. Diese Beschreibungen entsprechen jedoch nicht der heute üblichen, naturwissenschaftlich begründeten objektiven Beobachtung und Befunderfassung. Zudem ist zu berücksichtigen, dass das Krankheitskonzept der Schizophrenie die Beobachtungen und Beschreibungen eines diagnostizierenden Psychiaters durchaus beeinflusst und auch deshalb davon ausgegangen werden muss, dass wichtige, dem laienhaften Beobachter möglicherweise unwesentlich erscheinende Befunde nicht ' überliefert sind. Diese Voraussetzungen bedingen eine grundsätzlich unüberwindbare Unsicherheit. Dennoch bleibt festzuhalten, dass die wesentlichen Hinweise auf eine psychische Erkrankung durch typische Symptome bzw. Symptomkonstellationen (Syndrome) gegeben sind, wobei insbesondere das Denken, die Affekte, die Motorik wie auch das soziale Verhalten berücksichtigt werden. Insofern kommt von vornherein diesen Symptomen eine deutlich gewichtigere Bedeutung zu, verglichen mit dem makroskopischen Hirnbefund, sofern letzterer nicht grobe Auffälligkeiten zeigt wie ausgedehnte Entzündungen oder Zerstörungen des Hirngewebes durch Tumoren oder ähnliches (Buchanan und Carpenter 2005). Es gibt einige Beobachtungen, auf die sich die Diagnose einer Schizophrenie stützen kann. Zunächst sind der Verlauf mit Erstmanifestation im Jahr 1802 als vornehmlich depressive Symptomatik im Zuge einer psychischen Belastung (reaktive Auslösung) und die erst später War Hölderlin nicht psychisch,sondern organisch krank? 313 (ab 1804) hinzutretenden psychotischen Symptome durchaus typisch für eine schizophrene Psychose. Über die Behandlung durch Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth im Tübinger Klinikum Burse kann nicht viel Sicheres für die Diagnosestellung gewonnen werden, dagegen steuert Waiblinger, der in den Jahren 1822 und 1823 einen intensiven Kontakt mit Hölderlin pflegte, wesentliche Beobachtungen hinzu, die von einem fortgeschrittenen Stadium einer psychotischen Erkrankung zeugen. Insbesondere fanden sich Hinweise auf eine starke Störung des Denkens (sogenannte Zerfahrenheit), Erregungszustände, zum Teil auch absonderliches Verhalten (sogenannte Manierismen) und ein auffälliger Rückzug (krankhafte Selbstbezogenheit, sogenannter Autismus). Auch die Wechselhaftigkeit mit ruhigeren Phasen, in denen durchaus geordnetes Verhalten und Denken zu beobachten war, ist, mit dem vorher Genannten, sehr typisch für eine Schizophrenie und kaum durch eine andere Erkrankung zu erklären. Somit ist auch die Annahme einer Simulation durch Hölderlin als spekulativ und abwegig abzulehnen (Peters 1981; 1982). Der autoptische Hirnbefund Wesentlicher Befund ist nicht die einzige Auffälligkeit, nämlich eine zystische Deformation des cavum septi pellucidi, sondern im Gegenteil die weitgehende Unauffälligkeit des Gehirns in seiner Struktur und Form. Die einzige erfasste umschriebene Abweichung scheidet als Erklärung für die komplexe Symptomatik aus. Sie ist als unspezifischer Hinweis darauf aufzufassen, dass im Bereich der Mittellinie bei Gehirnen schizophren Erkrankter möglicherweise häufiger als bei Gesunden strukturelle Veränderungen zu beobachten sind (DeGreef 1992, Flashman und Mitarbeiter 2007). Solche Veränderungen können jedoch auch bei Gesunden vorkommen, wobei das Gehirn für einzelne Veränderungen, insbesondere wie hier mit raumforderndem Charakter, eine große kompensatorische Kapazität besitzt. Zudem verursachen umschriebene Hirnschädigungen in der Regel typische Krankheitsbilder, die als „hirnlokale Psychosyndrome" bezeichnet werden. Sie lassen meist auf die organische Entstehung, das heißt auf eine durch abgrenzbare Schädigung des Gehirns verursachte Funktionsstörung, anhand typischer Symptome 314 War Hölderlin nicht psychisch, sondern organisch krank? Titus Jacob und Nikolaus Michael schließen. Im Falle Hölderlins ist davon auszugehen, dass die beschriebene Auffälligkeit bereits vor dem Auftreten der Erkrankung und somit ohne Symptome bestand. Die Vorstellung, dass diese Veränderung beispielsweise mit modernen neurochirurgischen Verfahren hätte beseitigt werden können und damit die Erkrankung kuriert gewesen wäre, ist nach heutigem Wissen unzutreffend. Die Folgerung des Untersuchers, die einzige Auffälligkeit müsse Grund für die Erkrankung sein, ist somit als falsch anzusehen. Andere makroskopisch erst fassbare Veränderungen wie z.B. eine Erweiterung der Hirnkammern oder leichte Substanzminderung im Bereich des Schläfen- oder Stirnhirns mögen dem unbewaffneten Auge der Untersucher, sofern sie überhaupt vorhanden waren, leicht entgangen sem. In der Beurteilung ist der Befund mit dem so genannten dysontogenetischen Konzept der Schizophrenie, nämlich eine solche Veränderung sei als indirekter Hinweis für eine Entwicklungsstörung des Gehirns aufzufassen, gut vereinbar. Fazit Wesentlich für die diagnostische Frage einer möglichen Geisteserkrankung ist die Auswertung der Quellen mit entsprechenden Verhaltensbeschreibungen aus der Zeit der Erkrankung ab etwa 1802. Der Autopsiebefund der Hirnuntersuchung trägt nur wenig bei, wesentlich ist, dass sich keine groben Auffälligkeiten finden ließen, was die Diagnose einer Schizophrenie unterstützt. Der Befund einer Veränderung im Bereich der Mittellinie (zystische Veränderung des cavum septi pellucidi) ist aufzufassen, als indirekter Hinweis für eine Hirnentwicklungsstörung solche Hinweise sind bei Schizophrenen vermutlich häufiger als bei Gesunden nachzuweisen. Die hier beschriebene zystische Erweiterung des cavum septi pellucidi kann jedoch nicht die komplexe, in den Quellen überlieferte Symptomatik Hölderlins erklären, auch nicht die anderer schizophren Erkrankter mit einer solchen Auffälligkeit. Titus Jacob und Nikolaus Michael 315 Titus Jacob, Jahrgang 1986, studiert seit 2006 Medizin an der Charite mit Berufswunsch Psychiater. Praktika und Famulaturen in psychiatrischen Krankenhäusern in Lübeck, Berlin, Remscheid. PD Dr. Nikolaus Michael, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Facharzt für Neurologie, ist leitender Arzt in der Psychiatrie des Fachkrankenhauses für Psychiatrie der Evangelischen Stiftung Tannenhof in Remscheid. Er lehrt und forscht an der Universität Münster. Literatur Pierre Bertaux: Friedrich Hölderlin, Frankfurt a.M. 1978 Pierre Bertaux: Der Wandel in den Auffassungen über Hölderlins Krankheit. War Hölderlin geisteskrank? Diskussionsbemerkung Hans Schadewaldt. In: Die Medizinische Welt 31, 1980, 486-490 Robert W. Buchanan and William T. Carpenter: Schizophrenia and other psychotic disorders. In: Kaplan & Sadock's comprehensive textbook of psychiatry, ed. by Benjamin J. Sadock and Virginia A. Sadock, Philadephia 2005, Chapter 12, 1329-1558 G. DeGreef, G. Lantos, B. Bogerts, M. Ashtari, J. Lieberman: Abnormalities of the septum pellucidum on MR scans in first-episode schizophrenic patients. In: American Journal of Neuroradiology 13, 1992, 835-840 L.A. Flashman, R.M. Roth, H.S. Pixley, H.B. Cleavinger, T.W. McAllister; R. Vidaver, A.J. Saykin: Cavum septum pellucidum in schizophrenia: clinical and neuropsychological correlates. In: Psychiatry Research 154, 2007, 147-155 P.J. Harrison: The neuropathology of schizophrenia: A critical review of the data and their interpretation. In: Brain 122, 1999, 593-624 Uwe Henrik Peters: Hölderlin. Dichter, Kranker - Simulant? In: Nervenarzt 52, 1981,261-268 Uwe Henrik Peters: Hölderlin: wider die These vom edlen Simulanten, Reinbek 1982 Klaus Schonauer: Hölderlins Echo. Psychiatrie, Sprachkritik und die Gangarten der Subjektivität, Münster 1993 Heinz Schott und Rainer Tölle: Geschichte der Psychiatrie: Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen, München 2006