Surreale Zahlen 1 Konstruktion und elementare Sätze Definition 1 (Konstruktionsregel). x ist eine surreale Zahl genau dann, wenn: x = (XL | XR ) ist ein Tupel zweier Mengen XL und XR , alle Elemente von XL und XR sind surreale Zahlen, und für alle xR ∈ XR und xL ∈ XL gilt xR xL . Definition 2 (Vergleichsregel). Für zwei surreale Zahlen x = (XL | XR ) und y = (YL | YR ) gilt x ≤ y genau dann, wenn: y xL für alle xL ∈ XL , sowie yR x für alle yR ∈ YR . Wir sagen x = y falls sowohl x ≤ y als auch y ≤ x. Wir sagen x < y falls x ≤ y aber y x. Satz 3 (Leere Menge). Seien XR und YL beliebige Mengen surrealer Zahlen. Dann sind sowohl (∅ | XR ) als auch (YL | ∅) surreale Zahlen und es gilt (∅ | XR ) ≤ (YL | ∅). Satz 4 (Reflexivität). Für jede surreale Zahl x gilt x ≤ x und damit auch x = x. Satz 5 (Transitivität). Seien x,y und z beliebige surreale Zahlen. Falls x ≤ y und y ≤ z, dann auch x ≤ z. Falls außerdem x = z, dann gilt auch x = y und y = z. Die Transitivität stellt sicher, dass falls a = a0 und b = b0 auch a ≤ b ⇔ a0 ≤ b0 gilt. Satz 6 (Einkapselung). Sei x = (XL | XR ) eine surreale Zahl. Dann gilt XL < x < XR , das heißt xL < x für alle xL ∈ XL und x < xR für alle xR ∈ XR . Satz 7 (Totalität). Für surreale Zahlen x und y gilt x y ⇒ y ≤ x. Insbesondere gilt y < x ⇔ x y. Satz 8 (Reduzierbarkeit). Seien x = (XL | XR ) und z = (XL ∪ YL | XR ∪ YR ) surreale Zahlen mit YL < x < YR . Dann gilt x = z. Insbesondere, falls max (XL ) und min (XR ) existieren, so gilt x = (max (XL ) | min (XR )). Satz 9 (Geburtstagsregel). Sei x = (XL | XR ) eine surreale Zahl und z = (ZL | ZR ) eine simpelste“ surreale Zahl mit XL < z < XR (das heißt für alle z 0 ∈ ZL ∪ ZR gilt ” nicht XL < z 0 < XR ). Dann gilt x=z. 2 Beispiele surrealer Zahlen Beispiel 10 (Tag Null und Tag Eins). 0 := (∅ | ∅) ist eine surreale Zahl. Mit Hilfe von 0 lassen sich zwei weitere surreale Zahlen konstruieren (Mengenklammern lassen wir zur besseren Lesbarkeit weg): 1 := (0 | ∅) = ((∅ | ∅) | ∅) −1 := (∅ | 0) = (∅ | (∅ | ∅)) (0 | 0) ist keine surreale Zahl, denn es gilt 0 ≤ 0. Mit der Vergleichsregel lässt sich zeigen, dass −1 < 0 < 1. Beispiel 11 (Tage Zwei, Drei,...). Im nächsten Schritt (Tag Zwei) erhalten wir als neue surreale Zahlen: 1/2 := (0 | 1) −2 := (∅ | −1) −1/2 := (−1 | 0) 2 := (1 | ∅) Es gilt nach Einkapselung, dass −2 < −1 < −1/2 < 0 < 1/2 < 1 < 2. Alle weiteren in diesem Schritt erhaltenen surrealen Zahlen sind nach Geburtstagsregel äquivalent zu einer der bekannten Zahlen. Analog erhalten wir an Tag n + 1 genau eine neue Zahl zwischen je zwei an Tag n direkt benachbarten Zahlen sowie je eine Zahl die kleiner (bzw. größer) ist als alle an Tag n bekannten Zahlen. Für Tag 3 ergeben sich: −3 := (∅ | −2) −3/2 := (−2 | −1) −3/4 := (−1 | −1/2) −1/4 := (−1/2 | 0) 1/4 := (0 | 1/2) 3/4 := (1/2 | 1) −3/2 := (1 | 2) 3 := (2 | ∅) Fahren wir damit für alle Tage n ∈ N fort erhalten wir also die surrealen Versionen der rationalen Zahlen 2zk für z ∈ Z und k ∈ N. Beispiel 12 (Unendlichkeit...). Nun ist es uns möglich bei der Konstruktionsregel unendliche Mengen zu verwenden: 1/3 := (0, 1/4, 5/16, 21/64, · · · | 1, 1/2, 3/8, 11/32, . . . ) mittels Intervallschachtelung. 9 3 5 π := 3, 3 81 , 3 64 , · · · | 4, 3 21 , 3 14 , 3 16 , 3 32 . . . ebenso, sowie alle anderen reellen Zahlen. ω := (N | ∅) = (0, 1, 2, 3, 4, · · · | ∅) ist größer als alle reellen Zahlen. ε := (0 | 1, 1/2, 1/4, 1/8 . . . ) eine positive Zahl, die kleiner als jede reelle Zahl ist. Wir nennen den Tag an welchem all diese Zahlen konstruiert wurden ”Tag ω”. Beispiel 13 (...und darüber hinaus!). ω + 1 := (ω | ∅) ω + 2 := (ω + 1 | ∅) ω + 3 := (ω + 2 | ∅) ω − 1 := (N | ω) = (0, 1, 2, 3, · · · | ∅) ω − 2 := (N | ω − 1) ω − 3 := (N | ω − 2) 2ω := (ω + N | ∅) = (ω, ω + 1, ω + 2, ω + 3, · · · | ∅) 3ω := (2ω + N | ∅) ω 2 := (N · ω | ∅) = (0, ω, 2ω, 3ω, · · · | ∅) ω 3 := N · ω 2 | ∅ ω ω := ω N | ∅ = 1, ω, ω 2 , ω 3 , · · · | ∅ ω/2 := (N | ω − N) = (0, 1, 2, 3, · · · | ω, ω − 1, ω − 2, ω − 3 . . . ) ω/4 := (N | ω/2 − N) = (0, 1, 2, 3, · · · | ω/2, ω/2 − 1, ω/2 − 2, ω/2 − 3, . . . ) 3 ω ω ω ω ω 4 ω := ( /2 + N | ω − N) = ( /2, /2 + 1, /2 + 2, /2 + 3, · · · | ω, ω − 1, ω − 2, ω − 3, . . . ) √ ω ω := N | 2N = (0, 1, 2, 3, · · · | ω, ω/2, ω/4, . . . ) 3 ε/2 := (0 | ε) ε/4 := (0 | ε/2) ε 4 ε := ( /2 | ε) 1 2 ε := 0 | 2N = (0 | ε, ε/2, ε/4, . . . ) 2ε := ε | 21N = ε | 1, 21 , 14 , . . . 3ε := 2ε | 21N = 2ε | 1, 12 , 14 , . . . √ ε := N · ε | 21N = (0, ε, 2ε, 3ε, · · · | 1, 1/2, 1/4, . . . ) 3 Rechnen mit surrealen Zahlen Definition 14 (Addition). Für surreale Zahlen x = (XL | XR ) und y = (YL | YR ) definieren wir die Summe von x und y als x+y := ([XL + y] ∪ [YL + x] | [YR + x] ∪ [XR + y]) Idee: In den reellen Zahlen gilt x0 < x ⇔ x0 + y < x + y sowie y 0 < y ↔ x + y 0 < x + y Definition 15 (Subtraktion). Für eine surreale Zahl y = (YL | YR ) definieren wir ihre Negation als −y := (−YR | −YL ). Damit setzen wir x − y := x + (−y). Idee: In den reellen Zahlen gilt y 0 < y ⇔ −y 0 > −y sowie y 0 > y ⇔ −y 0 < −y Beispiel 16 (Wir lernen Rechnen). 1 + 1 = (0 + 1, 1 + 0 | ∅) = ((0 + 0 | ∅) | ∅) = (((∅ | ∅) | ∅) | ∅) = ((0 | ∅) | ∅) = (1 | ∅) = 2 1/2 + 1/2 = (0 + 1/2, 1/2 + 0 | 1 + 1/2, 1/2 + 1) = (1/2 | 3/2) = 1 ω + 1 = (ω + 0, 0 + 1, 1 + 1, 2 + 1, 3 + 1, · · · | ∅) = (ω, 1, 2, 3, 4, · · · | ∅) = (ω | ∅) ω − 1 = ω + (−1) = (0 − 1, 1 − 1, 2 − 1, 3 − 1, · · · | ω + 0) = (−1, 0, 1, 2, · · · | ω) = (N | ω) Definition 17 (Multiplikation). Für surreale Zahlen x = (XL | XR ) und y = (YL | YR ) definieren wir das Produkt von x und y als xy := ([XL y + xYL − XL YL ] ∪ [XR y + xYR − XR YR ] | [XL y + xYR − XL YR ] ∪ [XR y + xYL − XR YL ]) Gleiche Mengen innerhalb eines Ausdrucks beschreiben hierbei stets dasselbe Element. Wir schreiben auch x · y statt xy. Idee: x0 < x ∧ y 0 < y 0 ⇒ (x − x0 )(y − y 0 ) > 0 ⇒ xy > x0 y + xy 0 − x0 y 0 x0 < x ∧ y 0 > y 0 ⇒ (x − x0 )(y − y 0 ) < 0 ⇒ xy < x0 y + xy 0 − x0 y 0 Definition 18 (Division). Für zwei surreale Zahlen x und y = (YL | YR ) 6= 0 definieren wir den Quotienten von x und y als: x/y := x · 1/y wenn 0 < y x/y := −x · 1 wenn y < 0 (−y) ih i h i h i h + 1+(YL+ −y)SR 1+(YR −y)SL 1+(YL −y)SL 1+(YR −y)SR 1/y := (SL | SR ) := {0} ∪ ∪ ∪ + + YR YR Y Y L L für 0 < y mit YL+ := {yL ∈ YL | 0 < yL } ∪ {(0 | y)} Gleiche Mengen innerhalb eines Ausdrucks beschreiben hierbei stets dasselbe Element. Beachte, dass SL und SR nicht nur über YL und YR , sondern auch über ihre eigenen Elemente induktiv definiert sind. 0 ∈ SL ist dafür der Induktionsanfang. Idee: 0 ist für positive y ∈ R+ stets kleiner als 1/y. Außerdem gilt in den Reellen Zahlen: 0 0 0 < y 0 < y ∧ s0 < 1/y ⇒ (y − y 0 )(1/y − s0 ) > 0 ⇒ 1 − y0/y − ys0 + y 0 s0 > 0 ⇒ 1+(yy−y)s > 1/y 0 Beispiel 19 (Noch mehr Rechnen). 1·1 = (0 · 1 + 1 · 0 − 0 · 0 | ∅) = ((∅ | ∅) + (∅ | ∅) − (∅ | ∅) | ∅) = (0 + 0 − 0 | ∅) = (0 | ∅) = 1 1/2 · 2 = (0 · 2 + 1/2 · 1 − 0 · 1 | 1 · 2 + 1/2 · 1 − 1 · 1) = (1/2 | 3/2) = 1 ω · ε = N · ε + ω · 0 − N · 0 | N · ε + ω · 21N − N · 21N = N · ε | 2ωN = 1 1 ω·ε 1 ω·ε ω = ω =ε ε = ε =ω 1 2 2 3 4 ε, ε − ε2 + ε3 , . . . ω+1 = 0, ε − ε , ε − ε + ε − ε , · · · | 2N 2N+1 P P P = (−1)k+1 εk =: (−1)k+1 εk (−1)k+1 εk k=1 k=1 k∈N 4 Anmerkungen und Quellen Bemerkung 20 (Entwicklung). Surreale Zahlen wurden zuerst von John Conway vor” gestellt und 1974 im Detail beschrieben in Donald E. Knuths mathematischem Roman Surreal Numbers: How Two Ex-Students Turned on to Pure Mathematics and Found Total Happiness. [...] [Conway] beschrieb die surrealen Zahlen und nutzte sie zur Analyse von Spielen (unter anderem Go) in seinem Mathematikbuch On Numbers and Games (1976).“ (Quelle: Wikipedia) Bemerkung 21 (Fundierung und Induktion). Aus dem Fundierungsaxiom der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre folgt, dass es keine unendlich tief verschachtelten Mengen geben kann. Genauer, es gibt keine Folge M (k) k∈N von Mengen mit M (k+1) ∈ M (k) für alle k ∈ N. Mit der Mengendarstellung von Tupeln (XL | XR ) = {XL , {XL , XR }} überträgt sich diese Eigenschaft auf surreale Zahlen: Es gibt keine unendlich langen Folgen x(k) k∈N mit x(k+1) ∈ (X (k) )L ∪ (X (k) )R für alle k ∈ N. Dies ermöglicht Anwendung der Wohlfundierten Induktion“, um Aussagen über ” surreale Zahlen zu beweisen: Wenn aus Gültigkeit einer Aussage für alle x0 ∈ XL ∪ XR bereits die Gültigkeit für x = (XL | XR ) folgt, so gilt die Aussage induktiv für alle surrealen Zahlen. Bemerkung 22 (Geburtstag). Für eine surreale Zahl x existiert die surreale Zahl d(x) := min ({d(x0 ) | x0 ∈ XL ∪ XR } | ∅). Wir nennen d(x) den Geburtstag von x. x=(XL |XR ) Anschaulich gibt d(x) an, wie kompliziert die Konstruktion von x ist. Damit können wir als alternative Geburtstagsregel verwenden: Eine surreale Zahl x ist gleich der surrealen Zahl z mit minimalem Geburtstag d(z), für die XL < z < XR gilt. Bemerkung 23 (Fast ein Körper). Die mit reellen Zahlen benannten surrealen Zahlen verhalten sich so, wie wir es bei unserer Namensgebung erwarten würden. Tatsächlich erfüllt die Klasse der surrealen Zahlen mit der Addition und Multiplikation alle Axiome eines geordneten Körpers. Die surrealen Zahlen bilden allerdings keine Menge, und sind daher im Sinne der Definition kein Körper. Man kann zeigen, dass es ein Repräsentantensystem für die Äquivalenzklassen surrealer Zahlen gibt. Würde dieses eine Menge S bilden, dann wäre Ω := (S | ∅) eine surreale Zahl. Es kann aber kein Repräsentant von Ω in S enthalten sein, da Ω nach Einkapselung echt größer ist als jede Zahl in S. Somit ist die Annahme falsch und die surrealen Zahlen bilden keine Menge. Bemerkung 24 (Quellen und Literatur). Knuth, Donald Ervin. Surreal numbers: how two ex-students turned on to pure mathematics and found total happiness: a mathematical novelette. (1974). Conway, John H. On numbers and games. CRC Press, 2000. Wikipedia, insbesondere die Artikel Surreale Zahl“und Surreal number“: ” ” de.wikipedia.org/wiki/Surreale Zahl und en.wikipedia.org/wiki/Surreal number Ein Vortrag von Niklas Gräf an der TU Kaiserslautern im Rahmen von Student Talks“. ”