Verarbeitungsebenen beim Lesen in Fremdsprachen Madeline Lutjeharms (Vrije Universiteit Brussel) 1. Zur Einführung Wie bei jeder Sprachverwendung spielen auch beim Lesen mehrere Arten von Kenntnissen und Fähigkeiten eine Rolle. Die für die Verarbeitung jeweils erforderlichen Kenntnisse und deren Einsatz werden meist Verarbeitungsebenen genannt. Bei der Beschreibung dieser Ebenen beginnt man im Allgemeinen auf den unteren Ebenen und schreitet bis zu den höheren Ebenen fort, man geht also von den graphischen Zeichen bis zum Inhalt. Man stellt sich die Textverarbeitung geübter Lesender der Muttersprache in der Regel so vor, jedenfalls beim kursorischen Lesen, wenn die Lesenden dem Textaufbau folgend den für sie relevanten Inhalt verarbeiten. Im Folgenden werden zuerst Modelle der Verarbeitung und des Leseprozesses besprochen. Dann wird der Begriff “Verarbeitungsebenen” näher erläutert. Anschließend werden, ausgehend vom muttersprachlichen Leseprozess, für den mehr experimentelle Daten zur Verfügung stehen als für den Leseprozess in der Fremdsprache, die einzelnen Ebenen dargestellt. Dabei wird berücksichtigt, wie sich die Verarbeitung beim Lesen einer neuen Sprache, die mit vorher erworbenen Sprachen verwandt ist, ändern kann (im Folgenden wird hierfür die Bezeichnung “verwandte Sprache” verwendet). Auch die sieben Siebe (Klein/Stegmann 2000), die zu den unteren, formbasierten Verarbeitungsebenen gehören, werden dabei berücksichtigt. 2. Modelle der Verarbeitung und Verarbeitungsebenen beim Lesen In der Kognitionspsychologie, auf deren experimentelle Forschungsdaten sich die folgende Darstellung vorwiegend stützt, wird der Leseprozess als eine Form der Informationsverarbeitung beschrieben. Für den Leseprozess wichtige Faktoren wie die Leseabsicht und die Motivation werden in der Kognitionspsychologie allerdings kaum berücksichtigt. Die Leseabsicht bestimmt u.a. den Lesestil, also die Art der Informationsaufnahme (suchendes, orientierendes, kursorisches, totales und argumentatives Lesen). Die Motivation beeinflusst u.a. die Aufmerksamkeit für Form und/oder Inhalt, somit auch die Behaltensleistung. Solche Faktoren sind bei experimentellen Untersuchungen nicht so leicht kontrollierbar. Für eine Beschreibung der Verarbeitungsebenen beim Lesen sind die zwei Verarbeitungstypen im Arbeitsgedächtnis - die automatische und die bewusste Verarbeitung - wichtig. Die automatische Verarbeitung verläuft sehr schnell, parallel und ohne Kapazitätsbeschränkungen. Für die bewusste Verarbeitung ist Aufmerksamkeit erforderlich. Formbezogene Informationen werden bei guter Sprachbeherrschung und von geübten Lesenden automatisch verarbeitet, die Verarbeitung von Inhalten verläuft bewusst. In der Forschung spielen zur Zeit zwei Modelle der automatischen Verarbeitung eine Rolle: das ältere Modell der modularen Verarbeitung und das neuere interaktive Modell, vor allem das sogenannte konnektionistische Modell (siehe Lutjeharms 1994: 54f.; vgl. Wolff 2002: 43f.). Ein Modul ist ein autonomes System, das nur ganz spezifische Verarbeitungsprozesse erlaubt, beispielsweise den lexikalischen Zugriff, die Worterkennung oder die syntaktische Analyse. Die modulare Verarbeitung wird als eine schnelle, datengetriebene Verarbeitungweise dargestellt, die autonom verläuft, d.h. ohne Einfluss höherer Verarbeitungsebenen auf die unterer Module. Das modulare Modell könnte erklären, warum die Verarbeitung bei guter Sprachbeherrschung so wenig fehleranfällig ist. Beim konnektionistischen Modell wird von einer großen Anzahl miteinander verbundener Einheiten oder Knoten ausgegangen, die parallel funktionieren. Das bedeutet, dass mehrere Prozesse gleichzeitig ablaufen, wobei Aktivierungsverbreitung - die die Verarbeitung weiterer Teilprozesse beschleunigt - und Inhibierung stattfinden. Ein interaktives Modell kann den beobachteten Einfluss höherer Verarbeitungsebenen auf die unterer Ebenen besser erklären als ein modulares Modell. Ursprünglich wurde das konnektionistische Modell als Hypothese für die syntaktische Verarbeitung vorgeschlagen, doch heute wird auch bei der Forschung zur Worterkennung immer häufiger von interaktiven Modellen ausgegangen (z.B. Costa et al. 2000; Dijkstra et al. 2000). Für den Leseprozess wurden früher ebenfalls zwei Modelle vorgeschlagen, das datengetriebene oder bottom-up-Modell und das erwartungsgeleitete oder top-downModell. Heute wird allerdings nur noch von der Hypothese des interaktiven Modells ausgegangen, wobei eine Interaktion datengetriebener und erwartungsgeleiteter Prozesse angenommen wird. Letztere können fördernd oder hemmend wirken. Die Beschreibung der Verarbeitungsebenen von den unteren Ebenen aufsteigend zu den höheren entspricht einem datengetriebenen Prozess, der in solcher Form kaum vorkommt, denn bei jeder Wahrnehmung interagiert Wissen über das, was wir wahrnehmen, mit den wahrgenommenen Informationen. Die Beschreibung eines seriell verlaufenden Prozesses ist jedoch einfacher als die Beschreibung parallel verlaufender Teilprozesse. 3. Verarbeitungsebenen beim Lesen1 Im Folgenden wird nicht ein Modell des Leseprozesses vorgestellt. Die Einteilung in Verarbeitungsebenen soll nur zeigen, welche Arten von Kenntnistypen und Prozessen den Leseprozess steuern. Die Ebenen könnten auch anders eingeteilt werden. Zudem können mehrere Ebenen vermutlich parallel verarbeitet werden. 1 Für mehr Einzelheiten und Quellenangaben wird auf Lutjeharms 1994 verwiesen. Während die Verarbeitung auf den unteren Ebenen bei guter Sprachbeherrschung und bei geübten Lesenden automatisch verläuft, ändert sich die Lage bei mangelhafter oder fehlender Sprachkenntnis. In einem solchen Fall muss entweder der Formebene Aufmerksamkeit geschenkt werden oder es müssen eine Vermeidungs- oder eine Ratestrategie eingesetzt werden, was oft kombiniert geschieht. Letztere Strategien sind typisch für schwache Lesende (Lutjeharms 1997). Wenn der Formebene sehr viel Aufmerksamkeit gewidmet werden muss, steht nicht mehr genügend Verarbeitungskapazität für den Inhalt zur Verfügung. Dann können solche Strategien sinnvoll sein, um zu einer inhaltlichen Deutung zu gelangen. Allerdings führen Vermeidungs- und Ratestrategien auch leicht zu Fehldeutungen. Geübte Lesende der Muttersprache werden bei mangelhaften, fehlenden oder nicht ausreichend automatisierten Fremdsprachenkenntnissen zu schwachen Lesenden. Wenn es beim Lesen der Fremdsprache in erster Linie um Input für den Spracherwerb geht, ist Aufmerksamkeit für die Form, wie in der EuroCom-Methode, notwendig. Das Lesen als Fertigkeit stellt dann an sich nicht die eigentliche Leseabsicht dar, sondern der Spracherwerb. Natürlich ist Spracherwerb auch eine Vorbedingung für eine zweckmäßige und erfolgreiche inhaltliche Verarbeitung. 3.1. Die graphophonische Ebene: Augenbewegungen, visuelle Mustererkennung und phonologische Rekodiering Forschung zu den Augenbewegungen wird schon seit über einem Jahrhundert betrieben. Bei den Augenbewegungen handelt es sich um die einzige direkt beobachtbare Komponente des Leseprozesses. Beim Lesen bestehen die Augenbewegungen aus schnellen, ruckartigen Bewegungen zwischen Fixationspunkten. Geübte Lesende fixieren nur bestimmte Wörter oder Wortteile, die zusammen mit der peripheren Sicht die Wahl des nächsten Fixierungspunktes bestimmen. Beim Lesen einer verwandten Sprache mit einer ähnlichen Schrift kann vieles auf dieser Ebene übernommen werden, doch aufgrund fehlender Sprachkenntnisse werden mehr Fixationspunkte erforderlich sein, sind viele Regressionen zu erwarten und ist die Wahl des nächsten Fixierungspunktes vielleicht weniger zweckmäßig. Regressionen kommen auch bei inhaltlich schwierigen Textstellen gehäuft vor. Wörter werden viel schneller gelesen als die einzelnen Buchstaben. Wir erkennen eher Rechtschreibmuster und Morpheme als einzelne Buchstaben. Zudem wird Redundanz in der Rechtschreibung ausgenutzt. Frequenz ist ein wichtiger Faktor, weil häufig aktivierte Wörter oder Wortteile schneller gelesen werden. Der Wortanfang spielt bei der Worterkennung eine wichtige Rolle. Beim Lesen der Fremdsprache wird dadurch manchmal die Vorsilbe fixiert und für die Bedeutungssuche verwendet, ohne dass das Stammmorphem berücksichtigt wird (Lutjeharms 2001, Müller-Lancé 2002). Die Morphemebene dürfte eines von mehreren Organisationsprinzipien im mentalen Lexikon sein (vgl. zur Bedeutung von Morphemen beim lexikalischen Zugriff beispielsweise Longtin et al. 2003 oder Melinger 2003 und die Literaturangaben dort). Daher sind Übungen zum Erwerb von Affixen (Sieb 7) und Stammmorphemen sehr sinnvoll. Ob eine eventuell sehr abstrakte Umsetzung in Laute, die sogenannte phonologische Rekodierung, eine Vorbedingung für die Worterkennung darstellt, ist umstritten. Sie könnte auch ein Nebenprodukt des lexikalischen Zugriffs sein (vgl. Daneman/Reingold 1995: 31; Folk 1999). Die Forschungsergebnisse sind nicht einheitlich (Kim/ Davis 2002: 570), was auch mit sprachspezifischen Eigenschaften zusammenhängen könnte. Bei sprachlich oder inhaltlich schwierigen Textstellen ist oft eine Umsetzung in Laute feststellbar, doch diese Umsetzung ist ein postlexikalischer Prozess, der das Aufrechterhalten von Informationen im Arbeitsgedächtnis unterstützt. Daher sind Kenntnisse über die Aussprache nicht nur für das Lesen als Mittel zum Spracherwerb, sondern auch für das Lesen als Informationsverarbeitung wichtig. Im Allgemeinen wird für das Sprachwissen im Gedächtnis angenommen, dass neben dem mentalen Lexikon, das Wörter mit ihren Eigenschaften in vermutlich netzwerkähnlicher Form enthält, auch davon getrennte auditive und visuelle In- und Outputsysteme bei der Sprachverwendung eingesetzt werden. Die graphophonische Ebene würde dann dem visuellen Inputsystem entsprechen. 3.2. Die Worterkennung mit dem lexikalischen Zugriff und die Worterkennung im Kontext Über das visuelle Inputsystem - und vielleicht über eine phonologische Rekodierung kommt es zum lexikalischen Zugriff, wobei die einzelnen Zeichen oder das Morphemmuster als Wort einer (erworbenen) Sprache erkannt werden. Der lexikalische Zugriff impliziert nicht unbedingt gleichzeitig auch einen Zugriff auf die Bedeutung. Wir können nämlich wie beim Korrekturlesen oder beim Lesen ohne Aufmerksamkeit Wortformen ohne bewusste Verarbeitung der Bedeutung erkennen, wobei eine semantische Verarbeitung ausbleibt. Nicht geklärt ist die Frage, ob der lexikalische Zugriff das Ergebnis eines seriellen Suchprozesses ist oder ob eine gleichzeitige Aktivierung mehrerer potenzieller (Teile von) Worteinheiten stattfindet. Auch in Bezug auf die Frage, ob syntaktischer und/oder semantischer Einfluss die Worterkennung schon beim lexikalischen Zugriff beeinflusst oder ob es sich hier um einen postlexikalischen Prozess handelt, sind die Forschungsdaten spärlich und widersprüchlich (Lutjeharms 1994: 47f.). Allerdings ist anzunehmen, dass mit den Wörtern (oder lexikalischen Einheiten) im mentalen Lexikon auch deren Verwendungsmöglichkeiten direkt verbunden sind und diese Informationen zur Worterkennung gehören. Der lexikalische Zugriff kann natürlich nur zustande kommen, wenn im mentalen Lexikon für das betreffende Wort - oder für die Morpheme - eine Repräsentation besteht. Neue, schon verarbeitete, aber noch nicht erworbene Wörter dürften anfänglich nur im episodischen Gedächtnis repräsentiert sein. Das episodische Gedächtnis enthält eher zufällige orts- und zeitgebundene Informationen. Man weiß, dass man das Wort schon einmal gelesen hat, dass man es vielleicht einmal nachgeschlagen hat; es ist aber noch nicht einsetzbar, m.a.W. es gehört noch nicht zum mentalen Lexikon. Der Zugriff auf die Bedeutung einer neu erworbenen Form, d.h. die Verbindung mit dem semantischen Gedächtnis, kommt anfänglich oft noch über eine Übersetzung in einen stärker gefestigten Sprachkode zustande. Bei großer morphologischer Ähnlichkeit mit schon vorhandenem Wortschatzwissen dürfte es zu einem Zugriff auf die schon bekannte Wortrepräsentation kommen (vgl. Meißner 1998: 56). Dann ist das Wort rezeptiv einsetzbar. Für den Einsatz bei der Produktion muss auch die Form selbst abrufbar sein. Oft wurde beobachtet, dass Wörter im Kontext schneller verarbeitet werden als isolierte Wörter (z.B. Kutas 1993). Dies wird auf das “Priming”-Phänomen zurückgeführt: Beim Zugriff auf die Wortrepräsentation wird ein ganzes Netzwerk mitaktiviert, wodurch dazu passende Informationen schneller verarbeitet werden. Eine solche Aktivierungsverbreitung kann auf mehreren Ebenen stattfinden. Sie wurde mehrmals bei morphologischer Ähnlichkeit gefunden, noch verstärkt bei semantischer Transparenz (Zwitserlood 1994, Bertram et al. 2000), sie wurde aber auch auf der Satzebene festgestellt (Kutas 1993). Seit einigen Jahren wird etwas häufiger untersucht, wie die Worterkennung bei Mehrsprachigen verläuft, um so auch Erkenntnisse über die Organisation des mentalen Lexikons bei Mehrsprachigen zu erhalten. Dazu wird vorwiegend mit Priming-Experimenten gearbeitet, wobei die Verarbeitungszeit eines Zielreizes nach genau gewählten Vorreizen zeigt, wie ein bestimmtes Wort in einer Sprache die Verarbeitung eines Wortes in einer anderen Sprache beschleunigt oder verzögert. Inwiefern die Ergebnisse dieser experimentellen Untersuchungen verallgemeinert werden dürfen, ist nicht völlig klar. Bisher wurde fast nur mit einzelnen Inhaltswörtern gearbeitet, nicht mit Sätzen und Texten, zudem fast nur mit indoeuropäischen Sprachen. Wenn allerdings die Satzebene und der semantische Kontext die Worterkennung erst nach dem lexikalischen Zugriff beeinflussen, entsprechen diese Ergebnisse vielleicht doch auch der Verarbeitung in nichtexperimentellen Situationen. Die Forschungsergebnisse zeigen ein sehr komplexes Bild. Die Muttersprache hat im mentalen Lexikon entwicklungsbedingt eine besondere Stellung. Bei wenig fortgeschrittenen Lernenden einer Fremdsprache wird ein Wort der Zielsprache oft erst über eine Aktivierung des Übersetzungsäquivalentes mit dem Begriff verbunden (Chen et al. 1997), was eine subordinierte Form der Zweisprachigkeit bedeutet. Aber auch bei Zweisprachigkeit bleibt die Verbindung zwischen L1-Wort und Begriff stärker als die zwischen L2-Wort und Begriff (ibid.: 279ff.). Sogar bei sehr guter Zweitsprachenbeherrschung treten Übersetzungs-Priming-Effekte früher auf als phonologisches Priming (Grainger/Frenck-Mestre 1998). Dies bedeutet, dass die Aktivierung eines muttersprachlichen Übersetzungsäquivalentes den Zugriff auf ein Wort der Zielsprache früher beeinflusst als die Aktivierung phonologisch ähnlicher Morpheme. Sind mehrere Sprachen sprachspezifisch, also getrennt, oder gemeinsam repräsentiert? Und wenn ja, auf der Ebene des Lexikons, auf der der In- und Outputsysteme oder auf beiden Ebenen? Diese Fragen können nicht mit Sicherheit beantwortet werden. Vielleicht ist eine eindeutige Antwort gar nicht möglich, denn auch Worteigenschaften und die eingesetzte Fertigkeit könnten die Forschungsergebnisse beeinflussen. So fanden Thomas und Allport (2000) für das Hörverständnis sprachspezifische Worterkennungsverfahren, für das Leseverstehen jedoch trotz des Einflusses typischer Eigenschaften der Rechtschreibung keine sprachspezifischen Verfahren. Die für die Aufgabe irrelevante Sprache konnte beim Lesen nicht deaktiviert werden. Bei der visuellen Worterkennung fanden Dijkstra et al. (1999) einen kumulativen unterstützenden Effekt bei orthographischer und semantischer Überlappung, während phonologische Überlappung inhibierend wirkte. Beim Sprechen ist die Sprachwahl unter Kontrolle, beim Lesen ist dies nur in sehr beschränktem Maße der Fall (Dijkstra et al. 2000, 460 ff.). Vielleicht sind die auditiven In- und Outputsysteme sprachspezifisch getrennt, die visuellen jedoch weit weniger (nur über die phonologische Rekodierung?) separiert, während das Lexikon gemeinsam ist. Allerdings deuten die Daten von Roelofs (2003, Niederländisch L1 und Englisch L2) darauf hin, dass für die Produktion ein gemeinsames auditives Outputsystem anzunehmen ist. Für Kognaten wurden beim lexikalischen Zugriff starke Priming-Effekte gefunden, wahrscheinlich weil form- und bedeutungsbedingte Aktivierung sich gegenseitig verstärken (Grainger/ Frenck-Mestre 1998). De Groot (1993) nimmt für verwandte Übersetzungsäquivalente eine gemeinsame Wortrepräsentation an, für nicht verwandte eine sprachspezifische. Im DaF-Unterricht für Niederländischsprachige habe ich oft beobachtet, dass das (bewusste) Wissen der korrekten Bedeutung eines irreführenden Kognaten beim Leseverständnis erst nach viel Übung zum korrekten (automatischen) lexikalischen Zugriff führt. Die starke Verbindung zur L1-Form muss zuerst unterdrückt werden, besonders dann, wenn es sich beim Kognaten um ein häufig aktiviertes L1-Wort handelt. Die möglicherweise gemeinsame Wortrepräsentation bei Kognaten rechtfertigt die bewusste Verbindung verwandter Wörter bei der EuroCom-Methode als sinnvolles Verfahren. Für Internationalismen können ebenfalls sprachübergreifend gemeinsame Repräsentationen angenommen werden. 3.3. Syntaktische Analyse Lange wurde Syntax aufgrund der strukturellen Eigenschaften des Englischen mit Wortfolge gleichgesetzt. Vor allem durch die Forschung im Rahmen des Wettbewerbsmodells (Competition Model, MacWhinney/Bates 1989) wurde klar, dass syntaktische Indikatoren meist komplexer sind und je nach Sprache stark variieren können. Beim “Wettbewerb” verstärken oder inhibieren verschiedene Auslöser phonologischer, syntaktischer und semantischer Art sich gegenseitig. Das Wettbewerbsmodell ist ein konnektionistisches Modell mit paralleler Aktivierung zweier Verarbeitungsebenen, einer funktionalen, die der Bedeutungsebene entspricht, und einer formalen, die sich auf die Oberflächenform bezieht. Die Anwendbarkeit eines Auslösers der Oberflächenform wird durch die Frequenz bestimmt. Die Zuverlässigkeit des Auslösers bei der Funktionszuordnung garantiert dessen Gültigkeit. Während im Englischen die Wortfolge der wichtigste Indikator zur Subjektbestimmung ist, ist dies im Italienischen die Endung des Verbs. Auch bei widersprüchlichen Deutungen (etwa bei “Der Ball wirft das Kind”) wird im Englischen aufgrund der Wortfolge entschieden, im Italienischen dagegen aufgrund der (Un)belebtheit des Subjekts (Li et al. 1993: 169f.; Liu et al. 1992: 425f.; McDonald/MacWhinney 1989: 398). Lesende mit einer Muttersprache mit sehr flexibler Wortfolge (wie Deutsch) werden kaum Probleme haben mit der syntaktischen Analyse einer Sprache mit einer weniger flexiblen Wortfolge (wie Französisch), weil ihnen die Strukturen schon bekannt sind. Es ist anzunehmen, dass sie die Verarbeitung weiterer Auslöser aus der Muttersprache beibehalten, wenn diese die korrekte Deutung der Fremdsprache nicht stören (Kilborn/ Cooreman 1987). Die Verarbeitung von aus der Muttersprache nicht bekannten Auslösern muss erst erworben werden. Flexionsmorpheme gehören als syntaktische Elemente zu den Spracheinheiten, deren Verarbeitung am stärksten automatisiert worden ist. Wenn ihre Verarbeitung übernommen werden kann, stellt das eine wichtige Hilfe bei der Dekodierung dar. Wenn Flexionsmorpheme aber neu sind - und daher oft gar nicht wahrgenommen werden - oder irreführend wirken, ist verstärkte Aufmerksamkeit für sie eine erforderliche Vorbedingung für den Erwerb (Lutjeharms 1998: 142ff.). Im Allgemeinen wurde beobachtet, dass bei der Rezeption einer Fremdsprache zuerst muttersprachliche Strategien eingesetzt werden und beim weiteren Spracherwerb zunehmend für die Zielsprache geeignete Strategien vorkommen (McDonald/Heilenman 1991: 333f., Liu et al. 1992: 453ff., 477; Koda 1993; Klein 2002: 6). Frenck-Mestre/Pynte (1997: 121, 134) stellten fest, dass der Transfer syntaktischer Auslöser von der wahrgenommenen Strukturähnlichkeit der Sprachen abhängt. Gairns (1992, siehe Koda 1994: 14) fand heraus, dass expliziter Unterricht im Einsatz von auf der Zweitsprache basierten morphosyntaktischen Strategien keinen positiven Effekt auf die Lesefertigkeit hat, während sich Unterricht in zweitsprachlich einsetzbaren ausgangssprachlichen Strategien positiv auswirkte. Die syntaktische Verarbeitung ist so stark automatisiert, dass es schwerfällt, (scheinbar) anwendbare Strategien auszuschalten. Bei niederländischsprachigen Lesenden deutscher Fachsprache konnte ich beobachten, dass die Fehldeutung von aus der Ausgangssprache bekannten Flexionsmorphemen mit einer anderen Funktion im Deutschen bei der automatischen Verarbeitung nicht leicht vermeidbar ist, sogar dann, wenn die korrekte Deutung bekannt und bei einer bewussten Verarbeitung einsetzbar ist (Lutjeharms 1998, 142f.). Viele der syntaktischen Indikatoren dürften zu den Lexikoneinträgen im mentalen Lexikon gehören, d.h. wortgebunden sein. Das gilt für Informationen über die Wortartzugehörigkeit, die morphologische Struktur und die Subkategorisierung oder die Valenz der Verben (ibid.: 127). 3.4. Form, Inhalt und die Rolle des Vorwissens Bis jetzt wurde vor allem die Verarbeitung der Form oder die Dekodierung der Textvorlage besprochen. Bei sehr guter Sprachbeherrschung verläuft die Verarbeitung der unteren Ebenen automatisch, d.h. ohne Aufmerksamkeit, schnell und parallel. Dann steht die Arbeitsgedächtniskapazität völlig für die semantische Verarbeitung zur Verfügung. Beim Lesen einer noch nicht so gut beherrschten Sprache ist die Dekodierung ein mindestens teilweise bewusster Prozess, für den oft auch Hilfsmittel, wie ein Wörterbuch oder die Auskunft einer zielsprachlich kompetenteren Person, notwendig sind. Zudem müssen Inferier- und Vermeidungsstrategien eingesetzt werden, um überhaupt zu einer - nicht unbedingt korrekten - Deutung zu gelangen, denn bei Überlastung des Arbeitsgedächtnisses bleibt die Verarbeitung auf der Formebene stecken. Vorwissen brauchen wir für alle Verarbeitungsebenen: Kenntnisse der Schrift, der Rechtschreibmuster, der Wörter mit ihren Verwendungsmöglichkeiten und Bedeutungen, syntaktischer Muster usw. Beim Lesen einer noch unbekannten Sprache werden wir versuchen, schon vorhandenes Sprachwissen zu transferieren, sobald wir den Eindruck haben, dass dies möglich ist. Es müssen deutbare Formen vorkommen, damit Vorwissen transferiert werden kann. Inhaltliches Vorwissen kann den Einsatz von Vorwissen auf der Dekodierungsebene unterstützen. Unpassendes Vorwissen, Rate- und Vermeidungsstrategien können sehr irreführend sein (vgl. Bernhardt 1993). Da Lesende versuchen werden, Kohärenz herzustellen, können solche Fehldeutungen auf allen Verarbeitungsebenen zu weiteren Fehldeutungen führen. Die wichtigste Strategie zur Vermeidung solcher Fehldeutungen ist verstärkter Fremdsprachenerwerb, d.h. der Erwerb neuer Formen und die stärkere Automatisierung bei der Verarbeitung dieser Formen. Bei besserer Sprachbeherrschung wird das Inferieren auf allen Verarbeitungsebenen erfolgreicher sein. 3.5. Semantische Analyse Textverständnis entsteht aus einer Interaktion der Ergebnisse der Dekodierprozesse mit inhaltlichem Vorwissen. Aufgrund des lexikalischen Zugriffs und der syntaktischen Analyse wird eine propositionale Repräsentation der Satzinhalte gebildet, die bei geübten Lesenden und bei für sie einfachem Textinhalt vielleicht noch automatisch zustande kommt. Das inhaltliche Vorwissen - oft Schemakenntnisse oder Weltwissen genannt - muss beim Sprachverstehen immer eingesetzt werden: es unterstützt das Antizipieren und ermöglicht das Einordnen von Informationen. Zur Aktivierung des passenden Vorwissens sind Überschriften, geeignete Bildmaterialien, vorangestellte Zusammenfassungen u.ä. sehr nützlich. Schemawissen zum Thema ist eine Vorbedingung für das inhaltlich bedingte Inferieren während des Lesens, das Texte erst zusammenhängend macht, denn in sprachlichen Äußerungen ist vieles implizit. Vorwissen über Textsorten, Textmuster und über die Funktion eines Textes wird bei der semantischen Analyse ebenfalls eingesetzt. Alle diese Arten von Vorwissen lösen eine Erwartungshaltung aus, die wohl auch die Dekodierung unterstützt. Dabei ist allerdings nicht klar, auf welcher Ebene bzw. welchen Ebenen das bei geübten Lesenden geschieht. Bei Kenntnislücken auf der Dekodierungsebene unterstützen alle diese Arten von Vorwissen die bewusste Bedeutungssuche. Bei inkohärenten Informationen werden überbrückende Inferenzen eingesetzt. Das Vorwissen der Lesenden bestimmt zusammen mit textinternen Faktoren die Textschwierigkeit. Das Ergebnis der semantischen Textverarbeitung wird heute nach Johnson-Laird (1983) meist als mentales Modell bezeichnet. Die Dekodierung ist natürlich eine Vorbedingung für Textverständnis, aber der Aufbau eines mentalen Modells wird auch von anderen Teilfertigkeiten, wie dem Einsatz von Vorwissen über Textstrukturen oder der Steuerung der Integration der Textinformationen bedingt (Oakhill et al. 2003). Im mentalen Modell, das inkrementell, d.h. schrittweise mit Hilfe der eingehenden Daten, aufgebaut wird, ist die Sprachstruktur des Textes nicht mehr enthalten. Die Gedächtnisrepräsentation des Textes besteht aus verdichteten Informationen, die dem Text entnommen, miteinander kombiniert und in das Vorwissen integriert wurden. Darum kann eine solche Gedächtnisrepräsentation individuell variieren. Sie wird zudem von der Motivation beeinflusst, die zu aufmerksamerem Lesen und dadurch zu intensiverer Verarbeitung führt, sowie von der Leseabsicht, die bestimmt, welchen Inhalten besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Die Oberflächenform ist nach der Lektüre normalerweise nicht abrufbar. Sie wird jedoch in irgendeiner Form gespeichert, denn die erneute Lektüre desselben Textes verläuft schneller, auch wenn Lesende sich nicht mehr an die frühere Lektüre erinnern können (Levy 1993: 54ff.; Moscovitch/Bentin 1993). Diese Beobachtung erklärt, warum auch eine Lektüre ohne Aufmerksamkeit für die inhaltliche Verarbeitung zum Spracherwerb führt. 4. Verarbeitungsebenen und die EuroCom-Methode In der EuroCom-Methode wird eine verwandte Fremdsprache mit Hilfe schon erworbener Sprachen gelernt. Dies ist aus mehreren Gründen sinnvoll. Erstens brauchen wir für die Aufnahme und Einordnung neuer Informationen im Langzeitgedächtnis aktivierte Kenntnisse, an die wir die neuen Informationen anknüpfen können. Dies gilt für inhaltliches und für sprachliches Wissen. Aktivierte Formen aus vorher erworbenen verwandten Sprachen können als solche Anknüpfungspunkte oder Transferbasen (Meißner 2002) fungieren. Da verwandte Wörter vermutlich gemeinsam im Gedächtnis repräsentiert sind, sind Verbindungen zwischen verwandten Wörtern und Internationalismen (Siebe 2 und 1) lernpsychologisch sinnvoll und sie könnten durch die Aktivierung eines Netzwerkes auch die schon vorhandenen Fremdsprachenkenntnisse festigen. Das SichtbarMachen der Wortverwandtschaft durch das Hervorheben der interlingualen Lautentsprechungen (Sieb 3) erleichtert die Behaltensleistung und ist für viele Lernende erforderlich, weil nicht alle diese Verwandtschaft selbstständig finden können und manche den Transfer erst üben müssen, wie ich bei meinen Lernenden mit Niederländisch als L1, die Deutsch als L4 lernen, beobachten kann. Mir fällt immer wieder auf, dass die Erkennung solcher Wortverwandtschaft schwerer fällt, wenn die Sprache, aus der die Transferbasen kommen, nicht die eigentliche Muttersprache ist. Neue Zeichen und deren Aussprache (Sieb 4) sind für die graphophonische Verarbeitungsebene erforderlich, die Aussprache zudem auch noch als Stütze bei der Memorisierung und für den (eventuellen späteren) Erwerb von Hörverständnis und Sprechfertigkeit. Aufgrund der Bedeutung der Morphemebene im mentalen Lexikon ist die Hervorhebung von Affixen (Sieb 7) nützlich. Durch Einsicht in die Struktur von Ableitungen und Zusammensetzungen sind die Sprachkenntnisse flexibler einsetzbar. Bei der Syntax (Sieb 6, Kernsatztypen) muss Aufmerksamkeit für die Form nur dann eingesetzt werden, wenn schon erworbene Routinen für die Verarbeitung der syntaktischen Ebene nicht erfolgreich übertragbar sind. In diesem Fall müssen zusätzliche Übungen eingesetzt werden. Eine neue Sprache zu lernen bedeutet vor allem, (teilweise) neue Formen zu lernen. Im semantischen Gedächtnis müssen Begriffe und deren Netzwerke vielleicht etwas erweitert werden, aber die große Lernbelastung liegt bei den Formen. Die 7 Siebe betonen mit ihrem “focus on form” Aspekte aller formbedingten Verarbeitungsebenen. Sie unterstützen daher den Erwerb der Dekodierungsebene beim Lesen, allerdings oft unter Einsatz von Inferierleistungen für das Erkennen der Transfermöglichkeiten (Meißner 2003: 36). Man könnte die EuroCom-Methode daher als einen interaktiven Erwerbsprozess, mit datengetriebenen und erwartungsgeleiteten Prozessen, betrachten. Bibliographie Bernhardt, Elisabeth B. (1993): Reading development in a second language: Theoretical, empirical and classroom perpectives. Norwood, New Jersey: Ablex. Bertram, Raymond/Baayen, R. Harald/Schreuder, Robert (2000): “Effects of family size for complex words”. Journal of Memory and Language 42, 390-405. Chen, Hsuan-Chih/Cheung, Him/Lan, Shin (1997): “Examining and reexamining the structure of Chinese-English bilingual memory.” Psychological Research 60, 270-283. Costa, A./Caramazza, A./Sebastian-Galles, N. (2000):”The cognate facilitation effect: Implications for models of lexical access.” In: Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, and Cognition 26, 1283-1296. 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