2. Jahrgang November 2011 dgssa Deutsche Gesellschaft für Systemische Soziale Arbeit Netzwerke, Systemtheorie und Soziale Arbeit Journal der dgssa www.dgssa.de ~+ .~.. Systemische Soziale Arbeit - Journal der dgssa Netzwerke, Systemtheorie und Soziale Arbeit Heft 2+3 2. Jahrgang ISSN 2192-5429 Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Systemische Soziale Arbeit e.V. Redaktion: • Wilfried Hosemann, Universität Bamberg/Hochschule • Tobias Kosellek, Universität Jena • Tilly Miller, Katholische Stiftungs fachhochschule Coburg München Beiräte: • Dirk Baecker, Zeppelin-Universität Friedrichshafen • Renate Fischer, Österreich • Andreas Hampe-Großer, • Johannes Herwig-Lempp, • Julia Hille, Hochschule • Heino Hollstein-Brinkmann, • Heiko Kleve, Fachhochschule • Björn Kraus, Evangelische FH Freiburg i. Br. • Ludger Kühling , Hochschule • Roland Merten, Universität Jena • Walter Milowiz, Fachhochschule • Michael Pifke, FAB - Familienarbeit • Albert Scherr, Pädagogische • Thorsten Wege, Fachhochschule Jugendamt Berlin-Mitte Hochschule Merseburg (FH) Merseburg (FH) Evangelische FH Darmstadt Potsdam Merseburg (FH) Campus Wien, Österreich und Beratung e.V. Berlin Hochschule Freiburg im Breisgau Dortmund Bezugsbedingungen Die Zeitschrift Systemische Soifa/e Arbeit - Journal der dgssa erscheint in der Regel zweimal jährlich. Mitglieder erhalten kostenlosen Zugang zur Zeitschrift. Studierende, Rentner und Erwerbslose Gestaltung I graftkdesign. www.andreas-n-schubert.de kostet 20,00 €, für ermäßigt 14,00 €. Das Einzelheft kostet 12,00 €. und Layout: andreas n. schubert Das Jahresabonnement webprogrammierung. Inhalt Journal der dgssa Inhalt Editorial 4 Beiträge Veronika Tacke Systeme und Netzwerke - oder: Was man an sozialen Netzwerken sehen bekommt, wenn man sie systemtheoretisch beschreibt zu 6 Jan Fuhse Kommunikation und Handeln in Netzwerken 25 Horst Uecker Soziale Arbeit zwischen Netzwerken ein kommunikationstheoretischer und Organisationen - Vergleich 40 ArturNeif Soziale Arbeit im ASD Kritische Beobachtungen zur programmatischen Ausgestaltung 52 Martin Hafen Inklusion und soziale Ungleichheit 75 Helmut Lambers Wie erreicht Soziale Arbeit Gesellschaft? Einige Thesen aus systemtheoretischer Sicht 93 Tagungsbericht Brigitta Michel-S chwartze Der Fachtag der dgssa am 16. Juli 2011 in Jena: beobachtet.. 119 3 Beitrag: Systeme und Netzwerke Journal der dgssa Systeme und Netzwerke - oder: Was man an sozialen N etzwerken zu sehen bekommt, wenn man sie systemtheoretisch beschreibt Veronika Tacke Zusammerifassung Ausgehend von verbreiteten Vorurteilen, dass die Systemtheorie - im offenkundig erscheinenden Unterschied zu Netzwerkansätzen - sich nicht dazu eignet, um soziale Netzwerkphänomene zu er- fassen, geht der Beitrag den komparativen Vorteilen der Systemtheorie in der Beschreibung von sozialen Netzwerken nach. Argumentiert wird, dass die Systemtheorie als Theorie der Kommunikation nicht zuletzt zwischen der operativen Herstellung und der bloßen Darstellung von Netzwerken unterscheiden kann. Es ist nicht zuletzt diese Differenz, die eine Reihe von weiteren Fragen zugänglich macht, die gängige Netzwerkansätze typischerweise nicht im Blick haben, darunter die Frage der Legitimität von Netzwerken. Abstract Departing from common prejudices that social systems theory is not well prepared to cope with social networks, while network approaches, at first glance, seem to be more appropriate to describe network phenomena, the article highlights comparative advantages of systems theory over network approaches. It is argued that systems theory as a theory of communication is in particular able to distinguish between the operative (re)production (Herstellung) and the pure demonstration (Darstellung) of networks. It is, amongst other things, this distinction which seems to open up a lot of further questions that main stream network approaches typically are not well prepared to ask, e.g. the question of network legitimacy. 1. Einleitung Im Folgenden werden soziale Netzwerkphänomene zum Thema: der soziologischen Systemtheorie. 1 in der Perspektive einer bestimmten Theorie Gerade mit Blick auf den Gegenstand - soziale Netzwerke - scheint die Wahl dieser theoretischen Zugriffsweise jedoch nicht nahezuliegen. Denn zum einen gibt es das immer wieder zu hörende Vorurteil, gerade die Theorie sozialer Systeme sei von Hause aus ganz ungeeignet, soziale Netzwerkphänomene zu erfassen. Sofern Netzwerke doch offen, unbegrenzt und ohne Grenzen seien, müsse an ihnen die Theorie sozialer Systeme versagen (Weyer 2000, Hessinger et al. 2000). Und zum anderen gibt es bereits eine lange und verzweigte Tradition der Netzwerkforschung (vgl. Holzer 2006), die bisher ohne Systemtheorie ausgekommen 1 Der vorliegende Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Vortrages, teme - Sozialer Raum' am 16. Juli 2011 in Jena gehalten habe. den ich auf dem dgssa-Fachtag ,Netzwerke - Sys- 6 Beitrag: Systeme und Netzwerke Journal der dgssa ist. Was läge näher, als sich in der Beobachtung und Beschreibung von Netzwerken an diese Tradition zu halten und gegebenenfalls an deren Weiterentwicklung zu arbeiteni" Im Folgenden soll nicht nur demonstriert Netzwerkphänomene werden, dass die Systemtheorie geeignet ist, soziale zu erfassen und zu beschreiben, sondern darüber hinaus soll deutlich ge- macht werden, dass sie an diesem Phänomen Gesichtspunkte in den Blick zu rücken und zu erhelIen vermag, die in Zugriffsweisen der Netzwerkforschung selbst nicht gesehen werden und offenbar auch nicht gesehen werden können. Ausgehend von einer kurzen Sicht auf Stand und Herausforderungen, die mit Netzwerken gleichwohl in der Systemtheorie verbunden sind (2), wird zunächst ein wichtiger Unterschied zwischen netzwerktheoretischen und systemtheoretischen Zu- griffsweisen auf Netzwerke markiert (3) und im Rekurs auf die Systemtheorie zwischen der kommunikativen Herstellung und Darstellung von Netzwerken unterschieden (4). Im Anschluss an eine knappe Beschreibung der Herstellung von sozialen Netzwerken und den besonderen Formen ihrer Grenzziehung im Kontext gesellschaftlicher Strukturen (5) wird unter dem Stichwort der Legitimität (oder: kommunikativen den Netzwerktheorien Akzeptanz) nicht nur auf einen Gesichtspunkt aufmerksam gemacht, von Hause aus nicht erfassen, sondern zugleich angedeutet, in welcher Wei- se Darstellungen (der Funktionalität und Legitimität) von Netzwerken mit Herstellungsfragen von (partikularen) Netzwerken im empirischen Gegenstandsbereich verbunden sind. 2. Net=?JVerkeals Herauiforderung der Systemtheorie Zunächst einmal soll und muss hier nicht bestritten werden, dass Netzwerkphänomene temtheorie eine besondere Herausforderung heit der Verwendungsweisen für die Sys- darstellen. Darauf weist allein schon die Verschieden- des Netzwerkkonzepts sowie auch der Diagnosen hin, die innerhalb der Systemtheorie mit Bezug auf soziale Netzwerke bis heute vorliegen. Mindestens fünf Varianten lassen sich unterscheiden: • Erstens finden sich - speziell auf den Kontext von Organisationen bezogen - eingeschränkte Netzwerkkonzepte, wobei diese in der Systemtypologie ,Interaktion, Organisation, Ge- sellschaft' (vgl. Luhmann 1975) ihrerseits verschieden verortet wurden. Während Teubner (1992) mit Blick auf Unternehmen eine Emergenz von Netzwerken ,oberhalb' von Organisationen konstatiert hatte, betonten Kämper und Schmidt (2000) am Fall sogenannter Policy-Networks dagegen den starken Interaktionsbezug von Netzwerken und verorteten sie ,unterhalb' von Organisationen, zu deren "struktureller Kopplung" durch Interaktion sie den Autoren zufolge beitragen. • Zweitens beschreibt Stichweh (2000, 2006) Netzwerke im Rückgriff auf Konzepte der formalen Netzwerkanalyse (small worlds, scale free networks) als globale Kontaktstrukturen. 2 Im Zuge jüngerer kulturalistischer und interpretativer (meaning) Formen der Weiterentwicklung des einst formalen Netzwerkansatzes lassen sich - insbesondere im Umfeld von Harrison C. White - auch Versuche notieren, systemtheoretische Begriffe wie Sinn und Kommunikation für die Ausarbeitung klassischer Netzwerkansätze zu nutzen. Siehe etwa Fuhse 2009. 7 Beitrag: Systeme und Netzwerke Journal der dgssa Netzwerke erscheinen dabei als je funktions spezifisch eingeschränkte "Eigenstrukturen der Weltgesellschaft" . • Drittens, und im einigermaßen krassen Gegensatz dazu, finden sich Beschreibungen von "Vertrauensnetzwerken" im Zusammenhang des regionalen Versagens, Ausfallens oder Blockierens von Strukturen funktionaler Differenzierung, so bei Luhmann (1995) am Fall süditalienischer Korruptionsnetzwerke oder bei J app (2011) am Beispiel von failing states in Afrika wie Afghanistan. • Viertens diagnostiziert Baecker (2007) im Zusammenhang mit einer Medienrevolution durch Computer und Internet nicht nur eine Bedeutungszunahme heterogener Netzwerk- phänomene, sondern eine "nächste Gesellschaft", deren Differenzierungsstruktur sich zwar noch nicht erkennen lasse, die sich aber von Strukturen funktionaler Differenzierung bereits verabschiede. • Und fünftens gibt es den Vorschlag, soziale Netzwerke allgemein auf der Grundlage der Theorie gesellschaftlicher Differenzierung als eine besondere, partikularistische und parasitäre Sozialform zu konzeptualisieren, die Sinnkontexte und Systemgrenzen zu übergreifen vermag und heterogene Leistungen selektiv auf der Basis von selbst erzeugten Reziprozitäten verknüpft (Tacke 2000, Bommes/Tacke 2006, Bommes 2011, Tacke 2009, 2011). Die Verschiedenheit dieser Vorschläge und ihrer Implikationen macht darauf aufmerksam, dass es in der Systemtheorie offenbar nicht einfach ist, für soziale Netzwerkphänomene einen Begriff zu bilden. Das aber ist nicht zwangsläufig schon als ein Defizit der Theorie zu verstehen, sondern zunächst einmal das Resultat unkoordinierter kussionen. Beiträge zur Theorieentwicklung Zu den Fragen in diesem Zusammenhang und ausstehender Dis- gehört, ob man für alle der genannten Phänomene notwendigerweise den Netzwerkbegriff benötigt oder in der Systemtheorie verwenden sollte. Sollte oder muss man z. B. den Netzwerkbegriff dort einsetzen, wo und weil man, wie Stichweh (2000, 2006), Einsichten aufgreift, die mit den Mitteln von Netzwerkansätzen ganz anderen theoretischen und methodologischen - also unter Vorzeichen - erzeugt wurden? Genügte es nicht, sich auf die Rede von "globalen Kontaktstrukturen" zu beschränken, gerade wenn im Sinne der Systemtheorie angenommen wird, dass diese Kontakte durch Funktionssysteme wie Wirtschaft oder Wissenschaft eingeschränkt werden? Ähnliche Fragen ergeben sich für die systemtheoretische Konzeptualisierung unternehmerischer Organisationsnetzwerke. Sie werfen für den Juristen und im Recht ersichtlich das Problem auf, wie angesichts neuer ,hybrider' Arrangements eindeutig zugeschrieben und vorhandenen Rechtsfiguren (Marktverträge, Verantwortung Organisationsverträge) zuverlässig zugeordnet werden kann (Teubner 1992, Ladeur 2011). Aber braucht auch die Soziologie hier - über den Organisationsbegriff soweit Organisationen hinaus - ein neues (Netzwerk-)Konzept? Dies ist fraglich, als Sozialsysteme verstanden werden können, die 1. nach außen kommuni- zieren können, die 2. nicht nur Mitglieder, sondern auch weitere Teilnehmer (einschließlich anderer Organisationen) in Kommunikation Entscheidungen einbeziehen können, die 3. ihre Grenzen zum Gegenstand von machen können, die 4. Interaktionen veranlassen können und die 5. immer auch informale Formen der Kommunikation mitproduzieren, die sie in gewissem Rahmen auch für ihre Zwecke einspannen und konditionieren, wenn auch nicht durchgreifend steuern können. All das 8 Beitrag: Systeme und Netzwerke Journal der dgssa legt nahe, den Netzwerkbegriff nicht - jedenfalls nicht voreilig - für diese neuartigen organisatorischen ("N etzwerk" -)Arrangements einzusetzen. 3 Die Vielfalt und Verschiedenheit der Vorschläge und Verwendungsweisen des Netzwerkkonzepts weist aber nicht nur auf Desiderate der Systemtheorie im Umgang mit "dem" Netzwerkproblem und auf entsprechende Diskussionsbedarfe hin, sondern sie belegt auch bereits ein besonderes Po- tenzial dieser Theorie. Kurz gesagt: Von welcher anderen soziologischen Theorie, und mehr noch, von welcher Gesellschaftstheorie, ließe sich eigentlich erwarten, dass sie die begrifflichen Mittel und das theoretische Phänomenkomplex Potential bereitstellen würde, ,Netzwerk' in so unterschiedlichen chen Strukturkontexten um den offenbar sehr vielseitigen empirischen Hinsichten und gesellschaftli- rekonstruieren zu können? Zweifellos sind es aber nicht die empirischen Phänomene selbst, die über die Brauchbarkeit des Begriffs entscheiden können. Sie können allenfalls als Irritationen zur Herausforderung werden. Die Leistungsfähigkeit von Begriffen entscheidet sich mit Bezug auf die Folgen, die man sich mit der WaW von Begriffen für Beobachtungs- und Beschreibungsmöglichkeiten einhandelt. In diesem Sinne fragen wir im Folgenden, welche Möglichkeiten der Beobachtung von Netzwerkphänomenen - zunächst grundlegend - eröffnet bzw. verschlossen werden, wenn man den Netzwerkbegriff system- oder netzwerktheoretisch 3. Net~erk einführt. als Grundbegriff oder kontingentes Phänomen Mit Blick auf die Frage, was man über Netzwerke erfahren und lernen kann und was man erfassen oder nicht erfassen kann, scheint ein Gesichtspunkt grundlegend für alles Weitere zu sein. Es ist die Frage, wie man anfängt. Konkret geht es hier um die Alternative, ob der Netzwerkbegriff als sozialtheoretischer Grundbegriff eingeführt wird, auf dem alles Weitere dann beruht, oder ob man mit einem anderen Grundbegriff anfängt, um auf seiner Grundlage Netzwerke als eine Sozialform zu verstehen, die neben anderen vorkommt, also kontingent ist, und im Vergleich dann Besonderheiten aufweist. Wo das Netzwerk Grundbegriff ist, wird die soziale Welt in Begriffen von Netzwerken beschrieben. Soweit dabei angenommen (Granovetter wird, dass soziale Beziehungen Grundlage des Sozialen sind 1985), bedeutet dies, dass zwangsläufig alle sozialen Formen als Netzwerke sozialer Beziehungen darstellbar sind. Egal, ob im empirischen Sinne Märkte, Organisationen, Gruppen, Cliquen, Professionen, Familien oder Staaten im Fokus stehen; sie sind in dieser Perspektive in ihrem Substrat immer schon soziale Netzwerke. Im Zentrum steht dann die Analyse von Netzwerkstrukturen, formal beschrieben durch "Kanten" (soziale Beziehungen) und "Knoten" (Akteure). Vorausgesetzt nur, dass nicht jeder immer schon in Beziehungen zu jedem anderen steht, sondern Kontakte mehr oder weniger stark selektiv sind, lassen sich dann variierende Strukturmuster von höherer oder geringerer "Dichte" nachzeichnen und überdies vor allem bestimmte Beziehungen 3 Wir kommen im Abschnitt Netzwerke verbergen. 6 auf die Frage zurück, inwieweit sich hinter solchen organisatorischen Arrangements soziale 9 Beitrag: Systeme und Netzwerke Journal der dgssa ("weak ties'') und Positionen ("broker'') in ihrer strategischen Bedeutung für die Beschaffung von Informationen oder die Vermittlung von Kontakten identifizieren. Bei allen Vorzügen solcher Analysen sind zwei Nachteile dieser Zugriffsweise evident: Wenn man annimmt, dass die Sozialwelt grundlegend und immer schon aus Netzwerken besteht, verliert man zum einen die Möglichkeit, in Netzwerken eine besondere Sozialform zu sehen, die neben andere Sozialformen tritt, z. B. neben Organisationen oder Funktionssysteme. Und man verliert in dieser sozialtheoretisch grundlegenden Perspektive zugleich und zum anderen aus dem Blick, dass soziale Netzwerke in vielen Situationen und Kontexten nicht nur sozial verzichtbar sind, sondern mitunter auch sozial unerwünscht - wenn nicht sogar illegal- sind. Aus der Struktur von Netzwerken ergeben sich solche sinnhaften Unterschiede jedenfalls nicht. Die Tatsache, dass es im modernen Alltag vielfach und wohl überwiegend auch ohne Netzwerke geht, und das Wissen, dass Netzwerke einen mindestens latenten Schatten der Illegitimität hinter sich her ziehen, kann man erst und nur verstehen, wenn man sieht, dass die moderne Gesellschaft auf der Ausdifferenzierung von versachlichten Systemen und damit auf universalistischen Formen der Teilnahme beruht - also eben nicht auf der Existenz von partikularistischen sozialen Netzwerken (vgl. Tacke 2000). Ohne damit zu bestreiten, dass es hilfreiche und nützliche Kontakte sowie auch Strukturen der Unterstützung gibt, die das Leben unter hoch individualisierten Verhältnissen erleichtern, sind - etwa um zu einem wissenschaftlichen Vortrag eingeladen zu werden, um einen Kaufvertrag für ein Auto abzuschließen oder um Leistungen bei einem Arzt nachzufragen - im Allgemeinen keine Beziehungsnetzwerke vorausgesetzt oder erforderlich. Und in den Rollen des Richters, des Lehrers oder des Sozialarbeiters ist es nicht vorgesehen, dass Beklagte, Schüler oder Klienten zum persönlichen Netzwerk zählen. Auch mögen diese Fälle bereits verdeutlichen, dass Bekanntschaft im Sinne wiederholter und regelmäßiger Kontakte nicht auf Gefälligkeiten schließen lässt, welche in sozialen Netzwerken allerdings sehr wohl erwartet werden. Im Unterschied zur Netzwerktheorie Grundelementen geht die Systemtheorie nicht von "sozialen Beziehungen" als und als Letztbegriff des Sozialen aus; vielmehr hat Luhmann (1990: 197) diese so- zialtheoretische Möglichkeit und Tradition einmal polemisch als "verkorksten Theorieanfang" zeichnet (vgl. Schrnidt 2007). Zum Inventar der Grundbegriffe be- der Systemtheorie zählt hingegen der Begriff des sozialen Systems. Selbst wenn es dieser Begriff ist, der der Theorie ihren Namen gibt, ist der Systembegriff doch nicht der Letztbegriff der Theorie. Will man die Analysepotenziale vergleichen, die sich aus begrifflichen Grundentscheidungen ergeben, ist das (zumal angesichts des eingangs genannten Vorurteils gegenüber der Systemtheorie) wichtig zu notieren. Letztbegriff im grundbegrifflichen Inventar der Theorie sozialer Systeme ist der Begriff der Kommunikation. ders gesagt: Systeme erzeugen und reproduzieren sich elementar aus Kommunikationen nishaften sozialen Einheiten+ An- als ereig- Soweit gilt, dass eine weitere elementare Auflösung des Sozialen keinen Sinn macht, sind Kommunikationen als Letztelemente aufzufassen. Wenn gleichwohl Sys- teme der Theorie ihren Namen geben, ist damit darauf hingewiesen, dass Systembildung, die Ein- 4 Jede Kommunikation ist dabei Einheit aus Information, Mitteilung und Verstehen als dreistelliger Selektion, wobei der Einheit aber gerade "keine Einheit ihres Substrats (entspricht); sie wird im Verwendungssystem durch Anschlußfähigkeit erzeugt". Vgl. Luhmann 1984, Kap. 4. 10 Beitrag: Systeme und Netzwerke Journal der dgssa führung der Differenz von System und Umwelt und ihre selbstbezügliche Handhabung durch das System, die theoretisch zwingende Antwort auf die Frage ist, wie es denn angesichts laufender und laufend erneuerter Sinnüberschüsse von Kommunikation überhaupt zu deren Fortsetzung, also kommunikativen Anschlüssen, kommen kann. Durch Systembildung! Im selbstbezüglich-rekursiven Operieren von Kommunikationen werden die kommunikativen Elemente für Anschlüsse durch Anschlüsse erzeugt> und darüber mehr oder weniger komplexe Systemstrukturen sinnhaft selektive Anschlussmöglichkeiten Die kommunikationstheoretische konditionieren. aufgebaut, die 6 Fundierung ist für Fragen der Beschreibung von sozialen Netz- werken in mehreren Hinsichten wichtig. Zwei sollen hier hervorgehoben werden: Einerseits kann kommunikationstheoretisch genauer beschrieben werden, wie Netzwerkbildung kommunikativ anläuft und sich - gegebenenfalls - stabilisiert. Man kann also nicht nur feststellen, ob "Netzwerkbeziehungen" vorhanden oder nicht vorhanden sind, sondern ihre soziale Herstel- lung und die Kommunikationsprobleme beschreiben, die damit verbunden sind. Andererseits wird erst kommunikationstheoretisch der bedeutsame Unterschied zwischen dem operativen Vollzug von Netzwerkkommunikationen, d.h. ihrer tatsächlichen Selbsterzeugung, und der beobachtenden Thematisierung von Netzwerken zugänglich. Wir gehen auf diesen Gesichtspunkt im Folgenden zuerst ein, indem wir zwischen der Herstellung und der Darstellung von Netzwerken unterscheiden (vgl. Tacke 2005). Auf die kommunikative Herstellung von Netzwerken kommen wir im Anschluss zu sprechen, wobei auch die Frage der Systembildung zum Thema wird. 4. Netzwerkkommunikation: Die kommunikationstheoretische Herstellung und Darstellung Fundierung hat den erheblichen Vorteil, eine Doppelperspektive auf Netzwerke zu eröffnen. Denn soweit für jede Kommunikation gilt, dass sie einerseits rekursive Anschlüsse vollzieht (Operation) und andererseits dabei etwas zum Thema macht (Beobachtung), kann auf dieser Grundlage im Weiteren auch zwischen der (operativen) Erzeugung und der (beobachtenden) Thematisierung von sozialen Netzwerken unterschieden werden. Und man kann sich dann auch dafür interessieren, ob und wie Fragen der kommunikativen Herstellung von Netzwer- ken mit Fragen ihrer kommunikativen Darstellung verbunden - oder nicht verbunden - sind. In zwei Hinsichten kann man ausbleibende Verbindungen von Herstellung und Darstellung notieren: Erstens: Es gibt Netzwerkdarstellung ohne Neti}Verkherstellung. Längst nicht überall, wo etwas als soziales Netzwerk dargestellt und beschrieben wird (sei es in der Theorie oder in der übrigen Gesellschaft), stellen sich soziale Netzwerke auch sozial her. Die Semantik des Netzwerkes ist gesellschaftlich heute sehr weit verbreitet, und sie ist dabei vielfach auch positiv besetzt. Zumal das Netzwerkkonzept heute - auch in den Sozialwissenschaften - zu den "netten Begriffen" (Luhmann) gehört, trägt 5 Zu den sinnverwendenden Systemen gehören auch Bewusstseinssysteme. Nur soziale Systeme aber reproduzieren sich über sozialen, d. h. kommunikativen Sinn. Auch insofern ist der Kommunikationsbegriff, nicht etwa der Sinnbegriff, Letztbegriff der Theorie sozialer Systeme. 6 Das gilt für das umfassende soziale System, also die Gesellschaft, in deren Umwelt keine sinnhaften Kommunikationen vorkommen, wiederholt sich aber auch als Systembildung (Ausclifferenzierung) im System der Gesellschaft, d. h. im Zuge der selbstbezüglichen Handhabung spezifischer System-Umwelt-Unterscheidungen im Rahmen von Kommunikation. 11 Beitrag: Systeme und Netzwerke Journal der dgssa dies wohl seinerseits zur gesellschaftlichen Verbreitung der Netzwerksemantik bei, auch dort und dorthin, wo gar keine sozialen Netzwerke entstehen. So verbergen sich hinter modischen Selbstdarstellungen als Netzwerk nicht selten z. B. Vereinsgründungen und andere Organisationsaktivitäten, also, operativ gesehen, formale Organisationen. Die Nutzung der Bezeichnung "Netzwerk" für organisationsgestützte Zusammenhänge, auf die wir oben bereits hingewiesen hatten, ist ein heute häufig zu beobachtender Fall. Auch wo früher - sei es in der Politik, in der Religion oder in der Erziehung - von Runden Tischen oder Arbeitskreisen die Rede war, spricht man heute gern von Netzwerken. Zweitens gilt auch das Umgekehrte, wenn auch aus anderen Gründen: Es gibt Netzwerkherstellung Netzwerkdarstellung. ohne Wo sich soziale Netzwerke herstellen, kommt es also nicht zwangsläufig auch zu deren Darstellung. Ein erster Grund dürfte darin zu sehen sein, dass Netzwerke, die sich kommunikativ herzustellen und zu stabilisieren vermögen, mitunter allen Grund haben, auf ihre Darstellung in der Kommunikation zu verzichten. Dies gilt vor allem im Kontext versachlichter und formalisierter Funktions- und Sinnzusammenhänge, in denen sie aufgrund ihres Partikularismus leicht als illegitim gelten. Evident ist das bei sogenannten old boys networks und anderen Seilschaften, korruptiven und anderweitig kriminellen Netzwerken. Ein zweiter wichtiger Grund für das Ausbleiben von Darstellungen ist aber ebenfalls zu notieren. Denn Netzwerken fehlen wichtige Vo- raussetzungen für einheitliche kommunikative Selbstdarstellungen. Das fallt vor allem im Vergleich mit Organisationen auf, die im Allgemeinen einigen Aufwand in ihre Selbstbeschreibung und Außendarstellung investieren, und die im Übrigen auch zu einer einheitlichen Außendarstellung in besonderer Weise befähigt sind. Die Grundlage dafür ist, dass Organisationen sich auf erklärte und revidierbare Mitgliedschaften stützen. Sie können auf dieser Grundlage die Zustimmung der Mitglieder generalisieren und sie so auch auf eine bestimmte, einheitliche Darstellung verpflichten. Und soweit sie sich auf Hierarchien stützen, können sie auch in der Umwelt damit rechnen, dass ihnen ihre Selbstdarstellung als verbindliche Selbstbeschreibung abgenommen wird. Netzwerke kennen dagegen weder spezifische Mechanismen generalisierungsfahiger Zustimmung noch Hierarchien oder Verfahren demokratischer Willens bildung, die zu verbindlichen Selbstbeschreibungen Abnahmefähigkeit einheitlicher Außendarstellungen und zur beitragen könnten. "Arkanität" ist in diesem Sinne in soziale Netzwerke eingebaut (Werron 2011, vgl. Tacke 2008). Wo sich also kompakte Selbstdarstellungen von Netzwerken finden, kann man vermuten, dass anderes (mit) im Spiel ist, insbesondere Formen von Organisation. Allerdings und gleichwohl muss auch in Netzwerken, kommt, in der Kommunikation sofern es zu ihrer Selbstfortschreibung und für Teilnehmer erkennbar sein, dass es um Netzwerkkommu- nikation geht und nicht um irgendetwas anderes. Auch wenn also explizite Selbstbeschreibungen nicht zur Verfügung stehen und Implizitheit genügt (Tacke 2008) bzw. entsprechende Darstellungen in der Kommunikation vermieden werden, weil mit Illegitimität gerechnet wird, muss es in der Kommunikation doch gelingen, Anschlüsse im Vor- und Rückgriff der Kommunikation selektiv auf das Netzwerk hinzudirigieren (sofern ein solches operativ entsteht). Halten wir hier aber zunächst fest: Es gibt Netzwerkdarstellung gibt Netzwerkherstellung ohne Netzwerkdarstellung. ohne Netzwerkherstellung, und es Und wenn man das zuvor Gesagte zusam- mennimmt, spricht nicht nur einiges dafür, soziale Netzwerke nicht vorrangig dort zu suchen, wo 12 Beitrag: Systeme und Netzwerke Journal der dgssa explizite Selbstdarstellungen als Netzwerk vorliegen, sondern auch einiges dagegen, im Falle von Netzwerken überhaupt eine mindestens lose Verbindung zwischen Herstellung und Darstellung anzunehmen. Typisch scheint im Falle von Netzwerken vielmehr zu sein, dass es eine Kopplung von Herstellung und Darstellung - etwa in der Weise, dass die (Selbst-)Darstellung das operativ Hergestellte simplifiziere - nicht gibt. Selbst wenn das aber zuträfe, wäre damit nicht schon die Frage beantwortet, ob und inwieweit die, zumal "netten", gesellschaftlichen Thematisierungsweisen von Netzwerken, wie sie heute in Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Organisationen vorkommen, Wirkungen auch auf die Plausibilität und darüber dann auch auf den Erfolg der Herstellung von sozialen Netzwerken haben. Darauf kommen wir im Weiteren (Abschnitt 6) noch zurück. Zunächst werfen wir einen Blick auf die Netzwerkherstellung selbst. 5 Zur Herstellung von NetifVerken Sofern man nicht nur über Fragen der Semantik und der Darstellung sprechen will, sondern sich für Netzwerke als empirisch vorkommende Sozialgebilde interessiert, stellt sich in der Systemtheorie die Frage und Herausforderung, wie diese Sozialgebilde sich herstellen, also kommunikativ selbst ermöglichen. Zumal Vorschläge für eine Antwort bereits an anderen Stellen gemacht wurden (vgl. Tacke 2000, Bommes/Tacke 2006), sollen hier nur einige Besonderheiten und Voraussetzungen der Herstellung von Netzwerken zusammenfassend dargelegt werden. Wir hatten bereits angedeutet, dass die moderne Gesellschaft primär nicht Netzwerkkommunikation vorsieht, die partikular an Personen und ihren Möglichkeiten orientiert ist, sondern dass die Gesellschaft primär Strukturen für Kommunikation Rollen vorsieht fer/Verkäufer, (seien es Lehrer/Schüler funktionsspezifische, im Rahmen der Inklusion in systemspezifische wie Arzt/Patient, usw., oder organisationsspezifische Kläger/Beklagter, Käu- Mitglieds- bzw. Publikumsrol- len). Damit ist bereits gesagt, dass es sich bei Netzwerken um sekundäre Strukturbildungen handelt, eben im Verhältnis zu den primären Strukturen der Ausdifferenzierung, die die Gesellschaft ausmachen, d. h. zu den Funktionssystemen der Gesellschaft (wie Wirtschaft, Recht, Politik, Religion, Erziehung, Kunst, Sport), aber auch ihren Organisationen und Interaktionen. Den Umstand, dass soziale Netzwerke diesen Systemen nicht gleichgestellt sind (und systemtheoretisch nicht gleichgestellt werden), mag man sich an jenen Postulaten der Gleichheit und des universalistischen Zugangs vergegenwärtigen, die mit der modernen Gesellschaft im normativen Sinne verbunden sind, deren strukturelle Grundlagen aber eben in der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung versachlichter Systeme zu finden sind. Kurz: Während der Zugang zu den primären Systemen - jedenfalls im Prinzip - jedem offensteht, der die sachlichen Kriterien der Teilnahme am System erfüllt (und die Systeme haben eben gar keine anderen als ihre Sachkriterien!), bilden sich Netzwerke partikularistisch: im Rekurs auf bestimmte Personen, die als Adressen mobilisiert werden können, um Zugänge und Möglichkeiten zu eröffnen. Als sekundär sind soziale Netzwerke aber auch und nicht zuletzt in dem Sinne zu verstehen, dass sie sich in ihrer Herstellung und Fortschreibung auf Leistungen stützen, die sie (jedenfalls in den Zentren der modernen Gesellschaft) nicht selbst erzeugen, sondern die in und durch Funktionssysteme und Organisationen entstehen. Das mag man sich am Beispiel von Netzwerken unter Wissen- 13 Beitrag: Systeme und Netzwerke ] ournal der dgssa schaftlern verdeutlichen, aus denen Personen ohne Stelle eigentümlich schnell herausfallen, möglicherweise aber dann Netzwerke unter ,Herausgefallenen' entstehen. Netzwerke eröffnen in diesem Sinne Ersatz- bzw. Zusatzperspektiven (Tacke 2009). Sie machen Systemleistungen partikular zu- gänglich, die anderenfalls nicht oder nicht in gleicher Weise verfügbar bzw. ,recht und billig' (vgl. Mayhew 1968) wären. Grundlegend setzen Netzwerkbildungen an (kommunikativen) Beobachtungen von Profilen der Inklusion und der Exklusion von Individuen an, die aus ihren jeweiligen (Nicht-)Teilnahmen an Funktionssystemen und Organisationen resultieren. Man hat einen Bekannten, den man aus einem Zusammenhang kennt - z. B. dem Studium, dem Sportverein oder der Partei -, und entdeckt in der Kommunikation, dass er selbst oder ein Bekannter von ihm Möglichkeiten eröffnen kann: Zugänge zu Aufträgen, Baugenehmigungen, Doktortiteln, Forschungsgeldern, Mitgliedschaften usw. Und selbstredend gibt es zahllose ,harmlosere' Beispiele. Netzwerke nehmen also ihren Ausgang, wo Personen kommunikativ adressiert werden unter dem Gesichtspunkt der partikularen Mobilisierung von Möglichkeiten, die die Inklusions- und Exklusionsproftle anderer eröffnen können. Sie sind in diesem Sinne ein kommunikatives Nebenprodukt des modernen Umstandes, dass Individuen polykontexturale Proftle der Teilnahme an Gesellschaft aufweisen, mit denen je individualisierte und differenzierte Geschichten von Kontakten verbunden sind. Die damit verbundenen Möglichkeiten für grenzüberschreitende Zugänge liegen nicht immer auf der Hand, können sich vielmehr überraschend in der Kommunikation erweisen, wo miteinander und auch über Dritte und ihre Rollen kommuniziert wird ("Wusstest Du nicht, dass der dort tätig ist...?"). Die partikulare Mobilisierung solcher Zugänge ist mit Blick auf die Gesellschaft aber auch ein ganz unwahrscheinlicher Vorgang, wenn man in Rechnung stellt, dass kommunikative Kontakte vorrangig durch sachliche Rollen eingeschränkt und konditioniert sind und in diesen Rollen eben nicht vorgesehen ist, dass auch eigene andere Rollen zum Thema werden. Dem entspricht, dass man in wissenschaftlichen Diskussionen, beim Arztbesuch, beim Autokauf und auch Kollegen oder Vorgesetzten gegenüber nicht auskunftspflichtig ist über eigene andere Rollen in sei es politischen Organisationen, religiösen Fragen, Sportvereinen oder der Familie. Kennzeichnend für soziale Netzwerke ist, dass sie gleichsam Kapital aus dem Umstand individualisierter und multipler Inklusionen schlagen und dabei Möglichkeiten wechselseitig mobilisiert werden, die über die Rollen, die den Kontakt zunächst begründeten, hinausgehen. Gesagt ist damit zum einen schon, dass die Leistungen, die in Netzwerken wechselseitig zur Verfügung gestellt werden, mehr oder weniger heterogen sind. Häufig liegen die Gefälligkeiten und Leistungen zunächst noch sehr nahe bei jenen Rollen, die die Bekanntschaft begründen. Wo Grenzen des in der Rolle Erwartbaren aber einmal überschritten sind, können Erwartungen dann auch sachlich expandieren. Wer einen Nachbarn nicht nur bittet, die Post während des Urlaubs aus dem Briefkasten zu nehmen (was zur Rolle des Nachbarn gehört), sondern auch bei der Reparatur des Autos zu helfen (was erkennbar nicht mehr zu dieser Rolle gehört), muss sich nicht wundern, wenn er irgendwann gebeten wird, auf das Kind des Nachbarn aufzupassen. Und wer als Wissenschaftler den Kontakt zu einem ehemaligen Schulkollegen nutzt, der heute in einem Unternehmen tätig ist, um die Chance eines Kollegen zu erhöhen, dort eine Projektforschung durchführen zu können, muss nicht erstaunt 14 Beitrag: Systeme und Netzwerke Journal der dgssa sein, wenn von dort irgendwann Erwartungen an ihn adressiert werden, die sachlich nichts mit dem Projekt des Kollegen zu tun haben. Gerade weil soziale Netzwerkbildungen zunächst Schranken der beliebigen Adressierbarkeit und Mobilisierbarkeit von Leistungen überwinden müssen, die mit funktionalen und organisationalen Rollen in der gesellschaftlichen Kommunikation regelmäßig verbunden sind, ist Netzwerkbildung ein hoch prekärer sozialer Vorgang. Und vermutlich zerfallen die meisten Netzwerke schnell wieder, noch bevor sie sich stabilisieren konnten. Die Anfrage des ehemaligen Schulkollegen zur Gegenleistung mag positiv oder negativ beschieden worden sein, aber selbst im positiven Falle ergeben sich daraus nicht zwingend Anlässe zur Fortsetzung eines Netzwerkes in der Zeit. Die Stabilisierung und Erhaltung von Netzwerken wird aber, so sie gelingt, durch den Umstand gestützt, dass es heterogene Leistungen sind, die ausgetauscht werden. Denn diese sind gerade nicht gegeneinander verrechenbar und können auch nicht umgehend ausgeglichen werden (Gouldner 1960), so dass eine Art "übrig bleibender Verpflichtung" (Luhmann 1997, 635) miterzeugt wird, die das Netzwerk dann gleichsam als Gewährung eines Kredits über die Zeit bringt, und die zugleich Selektivität für zukünftige Anschlüsse bereitstellt, sei es qua kommunikativem Rückgriff (Aktualisierung) oder qua Vorgriff (Antizipation). Diese zeitliche Überbrückung durch "Kredit" ist gemeint, wo Netzwerke - nicht selten - mit Reziprozität und Vertrauen in Verbindung gebracht werden. Kommunikation in Netzwerken kann in dem Maße stabilisiert werden, wie sie sich auf Reziprozitäten der Leistungskommunikation stützt und mit Blick auf offene Zukünfte und ,Gegengaben' hinrei- chendes Vertrauen zu erzeugen vermag. Wichtig zu sehen ist aber, dass diese Reziprozität in der und durch die Netzwerkkommunikation selbst und - damit selbstreferenziell- erzeugt werden muss, zumal es für sie in der Umwelt - jedenfalls unter modernen Verhältnissen der Ausdifferenzierung keine gesellschaftliche Grundlage mehr gibt. Gesellschaftlich gilt der Reziprozitätsmechanismus "ruiniert", gerade weil sich das gesamte öffentliche Leben in den funktionsspezifischen als Komple- mentärrollen vollzieht (Holzer 2006, 12). Damit ist nicht ausgeschlossen, dass soziale Netzwerke in ihrer Umwelt Strukturen oder Strukturkonstellationen vorfinden, auf denen sie sich in ihrem Anlau- fen abstützen und die ihnen auch in ihrer Selbstfortsetzung Halt bieten, indem sie Beliebigkeit einschränken. Vorausgesetzt, die besagten prekären Schranken wurden in der Kommunikation überwunden, einmal erfolgreich bringen Netzwerke im Modus einer reziproken Leistungskommunikation ein mehr oder weniger spezifisches Leistungsspektrum hervor. Es kann sachlich eng umgrenzt ausfallen, wie z. B. im Falle von Wissenschaftlernetzwerken (Besio 2011, Tacke 2011). In diesem Fall wird es dann z. B. möglich, sich wechselseitig wissenschaftsrelevante ladungen, Personalentscheidungen, Forschungsgelder Zugänge (etwa in Bezug auf attraktive Einoder die Selektion von Gutachtern) zu ver- schaffen, über die ,woanders', vor allem in einschlägigen Organisationen, entschieden wird. Soweit diese Netzwerke an Strukturbedingungen von Wissenschaft, einschließlich Organisationen, anset- zen, ist es dann aber nicht schon ebenso selbstverständlich, dass Netzwerkteilnehmer füreinander auch in z. B. Fragen der persönlichen Lebensführung adressierbar sind. Umgekehrt kann das Leistungsspektrum auch auffällig unspezifisch und in der Auslegung möglicher Netzwerkleistungen sachlich expansiv angelegt sein, wie im Falle von Migrationsnetzwerken, die nicht an Inklusionen, sondern der Faktizität von beschränkten Zugängen (Exklusionen) ansetzen und Inklusionsproble- 15 Beitrag: Systeme und Netzwerke Journal der dgssa me ihrer Teilnehmer kompensieren, die in vielen Hinsichten gleichzeitig anfallen, zurnal wenn Bedingungen von Illegalität vorliegen: Sie vermitteln z. B. Erwerbsarbeit, Transport-, Kommunikations- und Wohnmöglichkeiten, Erziehungs-, Gesundheits- und Rechtsleistungen (Bommes 2011, Tacke 2000). In ihren sachlichen (Leistungen), sozialen (Teilnehmer) und zeitlichen (Kreditierung) Dimensionen können Netzwerkbildungen also sehr verschieden ausfallen. Sie können aber nicht in allen drei Di- mensionen zugleich unspezifisch und expansiv ausfallen, also gleichermaßen ,offen für jeden und alles zu beliebigen Zeitpunkten' sein. Zu ihrer Selbstfortsetzung braucht es immer auch Einschrän- kungen. Lockerungen und Flexibilitäten in einzelnen Dimensionen sind möglich (etwa als unspezifisches sachliches Leistungsspektrum), Dimensionen sie müssen aber durch stärkere Einschränkungen in anderen (etwa dann als Beschränkung der Teilnehmer) kompensiert werden, wenn das Netz- werk, und damit die reziproke Leistungskommunikation, men der Einschränkung, d.h. Grenzifehung, nicht zerfallen soll. Selbstbezügliche For- sind für die Herstellung von sozialen Netzwerken daher notwendig. Die Grenzziehung beruht im Falle von Netzwerken aber offenbar nicht auf einem einzelnen Mechanismus (wie der Mitgliedschaft im Falle von Organisationen), sondern auf einer ,Verschleifung' von sozialen (wer?), sachlichen (was?) und zeitlichen (wann?) Einschränkungen der Netzwerkkommunikation. Netzwerke finden ausschließlich Halt in sich selbst, eben in der Partikularität der Verknüpfung und in der Ineinanderverschachtelung der je nur für sie geltenden sozialen, sachlichen und zeitlichen Strukturen. Das macht sie gewissermaßen beliebig und zugleich universell: Sie können überall in der Gesellschaft vorkommen und sie sind zugleich ephemer: Sie tauchen auf, verschwinden und reaktivieren sich überraschend wieder. Das macht es so schwierig, diese universell verwendbare Möglichkeit der Netzwerkentstehung in der funktional differenzierten Gesellschaft zu fassen sowie auch zu begreifen, dass das schnelle Auftauchen und Verschwinden (ähnlich wie im Falle von Konfliktsystemen) und ihre Flexibilität und Fluidität keine Argumente dagegen sind, dass es sich um soifa/e Systeme handelt (Bommes/Tacke 2006). Nur wenn man, wie mancher Kritiker, den Systembegriff "reiflziert" und damit gründlich missversteht (vgl. Luhmann 1984, 244), kommt man auf die Idee, die Systemtheorie für die Analyse von Netzwerken für ungeeignet zu halten. Sie weist vielmehr gerade in ihrer kommunikationstheoretischen Fundierung Vorzüge in der Analyse von Netzwerken auf, an denen es Netzwerkansätzen fehlt. Zu diesen gehört auch die Frage nach der Legitimität - oder kommunikationstheoretisch ge- sprochen: der Akzeptanz - von Netzwerken. 6 Zur Legitimität vonNetzwerken Anders als im Falle der Netzwerktheorie, die in ihrer Perspektive von der Alltäglichkeit, weil sozial grundlegenden Bedeutung von Netzwerken ausgeht, liegt im Rahmen der Systemtheorie, die den im oben genannten Sinne sekundären Charakter der Netzwerkbildung wo und unter welchen Voraussetzungen unterstreicht, die Frage nahe, es sozial akzeptiert oder nicht akzeptiert wird, dass sich Netzwerke partikular herstellen und parasitär entfalten können. Schon in Nachbarschaften, wo so- ziale Netzwerke mitunter an alltäglichen Engpässen in der privaten Lebensführung anlaufen und an 16 Beitrag: Systeme und Netzwerke Journal der dgssa harmlosen Formen von Gefälligkeiten kristallisieren, können Netzwerkansinnen aufwerfen, ablesbar an der mitunter demonstrativen Akzeptanzfragen Vermeidung von Kommunikationen Nachbarn. Vor allem aber in zentralen Funktions- und Organisationsbereichen mit der Gesellschaft sind Legitimitätsfragen zu erwarten, eben weil Netzwerke die eigentlich vorgesehenen Rollen- und Systemgrenzen sinnhaft übertreten und in der partikularen Verfügbarmachung von Leistungen auch universalistische Inklusionspostulate unterlaufen. Wenn wir hier abschließend mit gewissem Erstaunen fragen, wie es möglich ist, dass eine genuin partikularistische Sozialform gesellschaftlich - und zunächst semantisch - an erheblicher Bedeutung und Anerkennung gewonnen hat, ist bereits in der sozialwissenschaftlichen Netzwerkdiskussion eine erste Antwort zu finden. Denn nicht nur am grundbegrifflichen Ansatz der formalen Netzwerkanalyse, sondern auch mit Blick auf die umfangreichen Netzwerkdiskussionen, vergangenen zwanzig Jahren im Einzugsbereich der Organisationsforschung die sich in den entwickelt haben, fällt der bemerkenswerte Umstand auf, dass die Legitimität von Netzwerken ein in hohem Maße randständiges Thema geblieben ist.? Anders gesagt: Sehr viel mehr als zur Frage der Legitimität von Netzwerken ist über deren Funktionalität geschrieben und gesagt worden. Und gerade im Zusammenhang der Thesen zur Netzwerkfunktionalität ist der Netzwerkbegriff zu einem "netten Begriff' (Luhmann) avanciert. So begründen Ökonomen wie Oliver Williamson (vgl. Williamson 1996) die Effizienz netzwerkförmiger Transaktionen mit Bezug auf Bedingungen, unter denen Märkte und Organisationen "versagen" (es lebe das Netzwerk als effiziente Alternative!). Und in durchaus vergleichbarer Weise haben auch Soziologen hervorgehoben, dass Netzwerke - anstatt auf hierarchischer Anweisung (Organisation) oder Preisvergleichen (Markt) - auf einer Besonderheit, nämlich Vertrauen und Reziprozität, beruhen. In diesem "anstatt" steckt in beiden Fällen ein normativer Bias. Einmal wird Effizienz betont und geschätzt, das andere Mal wird den netter erscheinenden sozialen Vertrauensverhältnissen im Vergleich zu den kühlen Geld- und Machtverhältnissen, die alternativ in Frage kommen, der Vorzug eingeräumt. Netzwerke erscheinen als "more social" als andere soziale Beziehungen (powell 1990). Die unter dem Stichwort ,governance' geführte Netzwerkdebatte - und damit Darstellungen (!) von Netzwerken durch die Sozialwissenschaften - hat in der gesellschaftlichen Kommunikation mit dazu beigetragen, soziale Netzwerke von Legitimitätsanfragen, die im Blick auf ihren genuinen Partikularismus naheliegen, zu entlasten. Man muss zwar den Einfluss von Wissenschaft auf die übrige Gesellschaft nicht überschätzen, aber im Falle der Netzwerkdiskussion ist leicht zu sehen, dass die Argumente der Netzwerkfunktionalität nicht ohne Reaktionen geblieben sind, etwa in der Wirt- schafts-, der Wissenschafts- und der Wohlfahrts förderung. In zahllosen politischen Förderprogrammen werden heute Netzwerke präferiert, und mithin kann schon nicht mehr mit institutioneller Förderung gerechnet werden, wenn man nicht nachweisen kann, dass man ,gut vernetzt' ist. 7 Zu den seltenen gehaltvollen Ausnahmen gehärt ein empirischer Aufsatz von Human und Prowan (2000), der am USamerikanischen Fall zweier mittelständischer Unternehmensnetzwerke deutlich macht, dass von Legitimität im Falle von Netzwerken nicht ausgegangen werden kann, sie vielmehr erst - mit Bezug auf die Netzwerkform, die Netzwerkeinheit und die Interaktionen - erzeugt werden muss, und zwar sowohl aufseiten der Teilnehmer wie auch aufseiten relevanter Beobachter in der Umwelt. Vgl. auch Kraft 2011. 17 Beitrag: Systeme und Netzwerke Journal der dgssa Unter politischen Prämissen ist ,Vernetzung' unproblematisch, sofern und solange Netzwerkfunktionalität unterstellt und entsprechende Fördergelder nicht ihrerseits partikularistisch durch Personen an Personen (also durch soziale Netzwerke) vergeben werden, sondern in organisatorischen Verfahren, an Organisationen bzw. an Personen in ihrer Eigenschaft als Mitglieder von Organisationen. Das kann dann übrigens durchaus auch unter dem Vorzeichen politisch-partikularer Programmkriterien geschehen - etwa in Form von "Regionalförderungen", die als solche aber dann wieder prinzipiell allen offenstehen. Abgesehen von individuellen ,Zusatzperspektiven' sind es offenbar Systeme - wie Wissenschaft, Politik und (deren) Organisationen -, die Netzwerkbildung begrüßen und auch fördern. Für diese Systeme gilt allerdings zugleich, dass ihnen personaler Partikularismus fremd ist. Denn sie kennen aus strukturspezifischen Gründen nur sachliche Kriterien für Teilnahmen und Entscheidungen. Und in gewisser Weise kennen sie daher auch nur solche Netzwerke, die für sie im oben genannten Sinne systemische Kontaktstrukturen oder interorganisatorische Strukturbildungen darstellen. Ihrer strukturellen Distanz zu parasitären sozialen Netzwerken entsprechen dann auch die Darstellungen der Funktionalität von Netzwerken und die Entlastung derjenigen Netzwerke von Legitimitätsnachfragen, die sie fördern. Nun kann man aber abschließend erneut nach der Differenz von Netzwerkdarstellung und Netzwerkherstellung fragen. Den politisch und organisatorisch proliferierten Netzwerksemantiken und darstellungen entsprechen zweifellos nicht auch schon Netzwerkherstellungen, sei es, weil es tat- sächlich organisationsförmige Arrangements sind, die faktisch erzeugt werden, oder sei es, weil man sich in der Reaktion auf politische oder organisatorische Erwartungen der Netzwerkbildung damit begnügt, Netzwerke darzustellen und zu demonstrieren, wo gar keine vorliegen. Es entbehrt dabei nicht der Ironie, wenn im Kontext von Organisationen partikulare Netzwerke, die sich operativ nicht herstellen lassen, organisatorisch trotzdem dargestellt und demonstriert werden, um Legitimität zu sichern. Am Beispiel universitärer Transfernetzwerke haben dies Meier und Krücken (2003) gezeigt - aber ohne Sicht auf die ironischen ,Verkehrungen' im Verhältnis von Partikularismus, Rationalität und Legitimität. Die gesellschaftliche Ausbreitung von Darstellungen der Funktionalität von Netzwerken und die faktischen Beiträge von Sozialsystemen zur Funktionalisierung von Netzwerken haben vermutlich aber auch ungesehene gesellschaftliche Wirkungen. Ungesehen sind sie schon deshalb, weil Funktionssysteme und Organisationen nur funktionale Netzwerke beobachten und weil die Netzwerke, deren Herstellung sie tatsächlich ermöglichen, wie oben gesagt, immer auch ,arkane' Züge tragen. Mit ungesehenen Wirkungen soll hier aber vor allem gemeint sein, dass die Proliferation von Darstellungen der Funktionalität und Legitimität von Netzwerken auch zu Entlastungen von Legitimitätsrückfragen beiträgt, auch dort, wo sie nicht explizit vorgesehen sind - im Bereich genuin partikularistischer Formen der Netzwerkkommunikation. Netzwerkdarstellungen können keine so- zialen Netzwerke herstellen, aber soweit sie als Darstellungen nur Funktionalität kennen und Legitimität in diesem Sinne mitkommuniziert wird, können sie zumindest bei der Erzeugung einer wichtigen Voraussetzung mitwirken, die partikularistische soziale Netzwerke benötigen, um die Hürden ihrer eigenen Herstellung zu überwinden. 18 Beitrag: Systeme und Netzwerke Journal der dgssa Damit soll hier keine einfache Diagnose gestellt werden nach dem Muster: Alle reden positiv und "nett" von Netzwerken, daher bilden sich auch überall soziale Netzwerke. Die Verhältnisse sind sehr viel verwickelter, wie man sich im Blick auf allerlei Kontexte, mit denen man es zu tun hat, klar machen mag. Bleiben wir bei Universitäten. Abgesehen von organisatorisch nur demonstrierten Netzwerken wie den erwähnten universitären Transfernetzwerken, etablieren sich in Universitäten heute (unter dem Druck von außen und u. a. unter dem Fördernamen "Exzellenz") neuartige Forschungszusammenhänge, die von Universitäten getragen werden, also organisiert sind. Sie zielen darauf ab, die ,Vernetzung' von Wissenschaftlern ,im Hause' zu fördern und diese unter Bedingungen von Wettbewerb stark zu machen - zum Nutzen der einzelnen Universitäten und zum Nutzen der Wissenschaft. Geht es dabei (Brunsson/Sahlin-Andersson einerseits um die ,Organisationswerdung' der Universität 2000, Huber 2011), die eine Funktionalisierung und Formalisierung von Netzwerken erwarten lässt, scheinen andererseits zugleich partikularistische Formen der Netzwerkbildung zuzunehmen. Zum einen ist Partikularismus dabei politisch gewollt und legitim, ganz im Sinne der oben genannten "Regionalförderung", Universitätsstandorte die in diesem Falle die Förderung einzelner auf der Grundlage von Wettbewerb betrifft. Zum anderen lässt sich erken- nen, dass auch je vor Ort, in den Universitäten, neuartige soziale Netzwerke unter partikularistischen Vorzeichen der Teilnahme entstehen. Offenbar hängt das mit den als ,Hochschulautonomie' bezeichneten neuen Organisationsbedingungen zusammen, unter denen es eben nicht mehr allein und vorrangig um genuin wissenschaftlich motivierte Kontaktstrukturen und Kooperationen unter Wissenschaftlern geht (zumal diese sich für lokale Organisationen und ihre Grenzen bisher nicht vorrangig interessierten, vgl. Stichweh 1999), sondern zugleich um Ressourcen, um die im Wettbewerb zwischen, aber auch innerhalb von Universitätsorganisationen den unter der Netzwerkerwartung konkurriert wird. Weder wer- nur neue organisatorische Formen gebildet (was allerdings auch geschieht) noch wird nur symbolisch (wie im Falle der Transfernetzwerke) auf Erwartungen der Netzwerkbildung reagiert. Vielmehr entstehen unter dem Vorzeichen wissenschaftlich und organisatorisch funktionaler Netzwerke im Wettbewerb um knappgehaltene Ressourcen auch attraktive "Einflugschneisen" für genuine soziale Netzwerkbildungen ihre Personenabhängigkeit und ihre Kooptationsverfahren, (vgl. Tacke 2011). Zum einen machen aber auch ihre Unabhängigkeit von etablierten universitären Gremien und Verfahren sie bereits als Netzwerke erkennbar.f Zumal sie zum anderen den Rahmen für den Einbezug von Adressen in den Grenzen der Universitätsorganisation finden, wobei auch (sub-)disziplinäre Grenzen überschritten werden, überdies aber auch die Universitätsleitungen im Zuge der Hochschulautonomie kontrollierenden Netzwerkadressen zu attraktiven, Ressourcen und Zugänge geworden sind, haben diese Netzwerke nur noch wenig mit ,klassischen' Wissenschaftlernetzwerken gemeinsam. Und gerade im Vergleich mit klassischen Wissenschaftlernetzwerken, Netzwerken immer auch ein gewisser antiorganisatorischer denen als professionellen Zug eigen war (Huber 2011), wenn- 8 Das gilt auch dann, wenn mit sachthematischen Festlegungen in solchen Zusammenhängen optationen einhergehen, zum al auch umgekehrt beobachtet werden kann, dass die Kooptation die sachthematischen Einschränkungen liefert. Einschränkungen für Kovon bestimmten Adressen 19 Beitrag: Systeme und Netzwerke Journal der dgssa gleich sehr genau gewusst wurde, wie die bürokratischen Verfahren funktionieren, kann man im Zeitalter der offiziell annoncierten und als funktional dargestellten Netzwerkstrukturen feststellen, dass nicht nur die Akzeptanz, sondern auch das Wissen um (die Bedeutung) formaler Kommunikationswege und universalistischer Verfahren in mitunter bemerkenswerter dürfte beitragen, dass sich der offizielle "Netzwerkdiskurs", Weise abnimmt. Dazu aber auch faktisch operierende soziale Netzwerke von Hause aus eher für ,Verbindungen' als für Differenzen interessieren, sie für Differenzen entsprechend auch in der Kommunikation nicht sensibilisieren: Das gilt für Differenzen wie Rolle/Person, unpersönlich/persönlich, schen Beobachtungsformen universalistisch/partikularistisch, die keine netzwerktypi- sind. 9 Man kann in diesem Zusammenhang von einer "Verwischung der Grenzen zwischen persönlichen und unpersönlichen Beziehungen" (Stichweh 2001, 3) sprechen. Vorstellungen, dass damit eine Auflösung von Systemen (durch Netzwerke) im Gange ist, wären aber eine maßlose Übertreibung. Das gilt schon deshalb, weil Funktionssysteme und auch Organisationen aus sich heraus gar keinen Anlass haben, Netzwerkkommunikation per se für eine bessere Lösung zu halten als den Rückgriff auf organisatorisch entscheidbare und formal kontrollierte Kommunikationswege. Wohl aber könnte man von einer zunehmenden Informalisierung sprechen, die, paradox formuliert, von Systemen geduldet wird, solange und soweit sie geduldet wird. Vorausgesetzt, sie werden zum expliziten Thema in der Organisation und zum Problem für die Organisation, können Entscheidungen getroffen werden, die Netzwerke auflösen bzw. anderes an ihre Stelle setzen. 7 S,·hluss Die Systemtheorie hat zweifellos längst noch nicht auf alle Fragen und Herausforderungen eine Antwort, die mit sozialen Netzwerkphänomenen aufgeworfen sind. Und einige Fragen - wie die quantitative Vermessung von Netzwerkstrukturen in formalen Hinsichten - liegen ihr vermutlich auch zukünftig eher fern. Wohl aber kann man einen der zentralen Vorteile einer systemtheoretischen Perspektive auf Netzwerke darin sehen, dass sie - zumal sie Theorie der Kommunikation ist - Probleme an diesem Phänomen aufzuschließen vermag, die herkömmlichen Netzwerkansätzen nicht zugänglich sind, weil ihnen in ihrem bereits grundbegrifflich auf Netzwerke abstellenden Zugang oder in ihrer auf Netzwerkfunktionalitäten eingeschränkten Perspektive soziologisch relevante und interessante Fragen entgehen müssen, die mit sozialen Netzwerken in der modernen Gesellschaft und ihren Organisationen verbunden sind. 9 Dies gilt aber auch für die Netzwerkforschung, die sich im Rahmen ihrer Begrifflichkeiten - von Hause aus - für diese Unterscheidungen eher wenig interessiert, im Übrigen auch nicht für Unterscheidungen wie Netzwerkdarstellung/Netzwerkherstellung oder Netzwerkfunktionalität/Netzwerklegitimität, die hier hervorgehoben wurden. 20 Beitrag: Systeme und Netzwerke Journal der dgssa Literatur Baecker, Dirk (2007): Studien zur nächsten Gesellschaft. 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