Systeme und Netzwerke - Universität Bielefeld

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2. Jahrgang
November 2011
dgssa
Deutsche Gesellschaft für Systemische Soziale Arbeit
Netzwerke, Systemtheorie
und Soziale Arbeit
Journal der dgssa
www.dgssa.de
~+
.~..
Systemische Soziale Arbeit - Journal der dgssa
Netzwerke, Systemtheorie und Soziale Arbeit
Heft 2+3
2. Jahrgang
ISSN 2192-5429
Herausgeber:
Deutsche Gesellschaft
für Systemische Soziale Arbeit e.V.
Redaktion:
•
Wilfried Hosemann,
Universität Bamberg/Hochschule
•
Tobias Kosellek, Universität Jena
•
Tilly Miller, Katholische
Stiftungs fachhochschule
Coburg
München
Beiräte:
•
Dirk Baecker, Zeppelin-Universität
Friedrichshafen
•
Renate Fischer, Österreich
•
Andreas Hampe-Großer,
•
Johannes Herwig-Lempp,
•
Julia Hille, Hochschule
•
Heino Hollstein-Brinkmann,
•
Heiko Kleve, Fachhochschule
•
Björn Kraus, Evangelische FH Freiburg i. Br.
•
Ludger Kühling , Hochschule
•
Roland Merten, Universität Jena
•
Walter Milowiz, Fachhochschule
•
Michael Pifke, FAB - Familienarbeit
•
Albert Scherr, Pädagogische
•
Thorsten Wege, Fachhochschule
Jugendamt
Berlin-Mitte
Hochschule
Merseburg (FH)
Merseburg (FH)
Evangelische FH Darmstadt
Potsdam
Merseburg (FH)
Campus Wien, Österreich
und Beratung e.V. Berlin
Hochschule
Freiburg im Breisgau
Dortmund
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Die Zeitschrift
Systemische Soifa/e Arbeit - Journal der dgssa erscheint in der Regel zweimal jährlich.
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und Layout:
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Inhalt
Journal der dgssa
Inhalt
Editorial
4
Beiträge
Veronika Tacke
Systeme und Netzwerke - oder: Was man an sozialen Netzwerken
sehen bekommt, wenn man sie systemtheoretisch
beschreibt
zu
6
Jan Fuhse
Kommunikation
und Handeln in Netzwerken
25
Horst Uecker
Soziale Arbeit zwischen Netzwerken
ein kommunikationstheoretischer
und Organisationen
-
Vergleich
40
ArturNeif
Soziale Arbeit im ASD Kritische Beobachtungen
zur programmatischen
Ausgestaltung
52
Martin Hafen
Inklusion und soziale Ungleichheit
75
Helmut Lambers
Wie erreicht Soziale Arbeit Gesellschaft?
Einige Thesen aus systemtheoretischer
Sicht
93
Tagungsbericht
Brigitta Michel-S chwartze
Der Fachtag der dgssa am 16. Juli 2011 in Jena: beobachtet..
119
3
Beitrag: Systeme und Netzwerke
Journal der dgssa
Systeme und Netzwerke - oder: Was man an sozialen N etzwerken zu sehen bekommt, wenn man sie systemtheoretisch
beschreibt
Veronika Tacke
Zusammerifassung
Ausgehend von verbreiteten Vorurteilen, dass die Systemtheorie - im offenkundig erscheinenden
Unterschied zu Netzwerkansätzen - sich nicht dazu eignet, um soziale Netzwerkphänomene
zu er-
fassen, geht der Beitrag den komparativen Vorteilen der Systemtheorie in der Beschreibung von sozialen
Netzwerken
nach.
Argumentiert
wird,
dass
die
Systemtheorie
als
Theorie
der
Kommunikation nicht zuletzt zwischen der operativen Herstellung und der bloßen Darstellung von
Netzwerken unterscheiden kann. Es ist nicht zuletzt diese Differenz, die eine Reihe von weiteren
Fragen zugänglich macht, die gängige Netzwerkansätze typischerweise nicht im Blick haben, darunter die Frage der Legitimität von Netzwerken.
Abstract
Departing from common prejudices that social systems theory is not well prepared to cope with
social networks, while network approaches, at first glance, seem to be more appropriate to describe
network phenomena, the article highlights comparative advantages of systems theory over network
approaches. It is argued that systems theory as a theory of communication is in particular able to
distinguish between the operative (re)production (Herstellung) and the pure demonstration (Darstellung) of networks. It is, amongst other things, this distinction which seems to open up a lot of
further questions that main stream network approaches typically are not well prepared to ask, e.g.
the question of network legitimacy.
1. Einleitung
Im Folgenden werden soziale Netzwerkphänomene
zum Thema: der soziologischen Systemtheorie.
1
in der Perspektive einer bestimmten Theorie
Gerade mit Blick auf den Gegenstand - soziale
Netzwerke - scheint die Wahl dieser theoretischen Zugriffsweise jedoch nicht nahezuliegen. Denn
zum einen gibt es das immer wieder zu hörende Vorurteil, gerade die Theorie sozialer Systeme sei
von Hause aus ganz ungeeignet, soziale Netzwerkphänomene
zu erfassen. Sofern Netzwerke doch
offen, unbegrenzt und ohne Grenzen seien, müsse an ihnen die Theorie sozialer Systeme versagen
(Weyer 2000, Hessinger et al. 2000). Und zum anderen gibt es bereits eine lange und verzweigte
Tradition der Netzwerkforschung
(vgl. Holzer 2006), die bisher ohne Systemtheorie ausgekommen
1 Der vorliegende Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Vortrages,
teme - Sozialer Raum' am 16. Juli 2011 in Jena gehalten habe.
den ich auf dem dgssa-Fachtag
,Netzwerke
- Sys-
6
Beitrag: Systeme und Netzwerke
Journal der dgssa
ist. Was läge näher, als sich in der Beobachtung und Beschreibung von Netzwerken an diese Tradition zu halten und gegebenenfalls an deren Weiterentwicklung zu arbeiteni"
Im Folgenden soll nicht nur demonstriert
Netzwerkphänomene
werden, dass die Systemtheorie geeignet ist, soziale
zu erfassen und zu beschreiben, sondern darüber hinaus soll deutlich ge-
macht werden, dass sie an diesem Phänomen Gesichtspunkte in den Blick zu rücken und zu erhelIen vermag, die in Zugriffsweisen
der Netzwerkforschung
selbst nicht gesehen werden und
offenbar auch nicht gesehen werden können. Ausgehend von einer kurzen Sicht auf Stand und
Herausforderungen,
die mit Netzwerken gleichwohl in der Systemtheorie verbunden sind (2), wird
zunächst ein wichtiger Unterschied zwischen netzwerktheoretischen
und systemtheoretischen
Zu-
griffsweisen auf Netzwerke markiert (3) und im Rekurs auf die Systemtheorie zwischen der kommunikativen Herstellung und Darstellung von Netzwerken unterschieden (4). Im Anschluss an eine
knappe Beschreibung der Herstellung von sozialen Netzwerken und den besonderen Formen ihrer
Grenzziehung im Kontext gesellschaftlicher Strukturen (5) wird unter dem Stichwort der Legitimität (oder: kommunikativen
den Netzwerktheorien
Akzeptanz) nicht nur auf einen Gesichtspunkt
aufmerksam gemacht,
von Hause aus nicht erfassen, sondern zugleich angedeutet, in welcher Wei-
se Darstellungen (der Funktionalität und Legitimität) von Netzwerken mit Herstellungsfragen von
(partikularen) Netzwerken im empirischen Gegenstandsbereich verbunden sind.
2.
Net=?JVerkeals Herauiforderung der Systemtheorie
Zunächst einmal soll und muss hier nicht bestritten werden, dass Netzwerkphänomene
temtheorie eine besondere Herausforderung
heit der Verwendungsweisen
für die Sys-
darstellen. Darauf weist allein schon die Verschieden-
des Netzwerkkonzepts
sowie auch der Diagnosen hin, die innerhalb
der Systemtheorie mit Bezug auf soziale Netzwerke bis heute vorliegen. Mindestens fünf Varianten
lassen sich unterscheiden:
•
Erstens finden sich - speziell auf den Kontext von Organisationen bezogen - eingeschränkte Netzwerkkonzepte,
wobei diese in der Systemtypologie ,Interaktion, Organisation, Ge-
sellschaft' (vgl. Luhmann 1975) ihrerseits verschieden verortet wurden. Während Teubner
(1992) mit Blick auf Unternehmen eine Emergenz von Netzwerken ,oberhalb' von Organisationen konstatiert hatte, betonten Kämper und Schmidt (2000) am Fall sogenannter
Policy-Networks dagegen den starken Interaktionsbezug von Netzwerken und verorteten
sie ,unterhalb' von Organisationen, zu deren "struktureller Kopplung" durch Interaktion sie
den Autoren zufolge beitragen.
•
Zweitens beschreibt Stichweh (2000, 2006) Netzwerke im Rückgriff auf Konzepte der formalen Netzwerkanalyse (small worlds, scale free networks) als globale Kontaktstrukturen.
2 Im Zuge jüngerer kulturalistischer und interpretativer (meaning) Formen der Weiterentwicklung des einst formalen
Netzwerkansatzes lassen sich - insbesondere im Umfeld von Harrison C. White - auch Versuche notieren, systemtheoretische Begriffe wie Sinn und Kommunikation für die Ausarbeitung klassischer Netzwerkansätze zu nutzen. Siehe etwa
Fuhse 2009.
7
Beitrag: Systeme und Netzwerke
Journal der dgssa
Netzwerke erscheinen dabei als je funktions spezifisch eingeschränkte "Eigenstrukturen
der
Weltgesellschaft" .
•
Drittens, und im einigermaßen krassen Gegensatz dazu, finden sich Beschreibungen von
"Vertrauensnetzwerken"
im Zusammenhang des regionalen Versagens, Ausfallens oder
Blockierens von Strukturen funktionaler Differenzierung, so bei Luhmann (1995) am Fall
süditalienischer Korruptionsnetzwerke
oder bei J app (2011) am Beispiel von failing states in
Afrika wie Afghanistan.
•
Viertens diagnostiziert Baecker (2007) im Zusammenhang mit einer Medienrevolution
durch Computer und Internet nicht nur eine Bedeutungszunahme
heterogener Netzwerk-
phänomene, sondern eine "nächste Gesellschaft", deren Differenzierungsstruktur
sich zwar
noch nicht erkennen lasse, die sich aber von Strukturen funktionaler Differenzierung bereits
verabschiede.
•
Und fünftens gibt es den Vorschlag, soziale Netzwerke allgemein auf der Grundlage der
Theorie gesellschaftlicher Differenzierung als eine besondere, partikularistische und parasitäre Sozialform zu konzeptualisieren, die Sinnkontexte und Systemgrenzen zu übergreifen
vermag und heterogene Leistungen selektiv auf der Basis von selbst erzeugten Reziprozitäten verknüpft (Tacke 2000, Bommes/Tacke
2006, Bommes 2011, Tacke 2009, 2011).
Die Verschiedenheit dieser Vorschläge und ihrer Implikationen macht darauf aufmerksam, dass es
in der Systemtheorie offenbar nicht einfach ist, für soziale Netzwerkphänomene
einen Begriff zu
bilden. Das aber ist nicht zwangsläufig schon als ein Defizit der Theorie zu verstehen, sondern zunächst einmal das Resultat unkoordinierter
kussionen.
Beiträge zur Theorieentwicklung
Zu den Fragen in diesem Zusammenhang
und ausstehender Dis-
gehört, ob man für alle der genannten
Phänomene notwendigerweise den Netzwerkbegriff benötigt oder in der Systemtheorie verwenden
sollte. Sollte oder muss man z. B. den Netzwerkbegriff
dort einsetzen, wo und weil man, wie
Stichweh (2000, 2006), Einsichten aufgreift, die mit den Mitteln von Netzwerkansätzen
ganz anderen theoretischen
und methodologischen
- also unter
Vorzeichen - erzeugt wurden? Genügte es
nicht, sich auf die Rede von "globalen Kontaktstrukturen"
zu beschränken, gerade wenn im Sinne
der Systemtheorie angenommen wird, dass diese Kontakte durch Funktionssysteme
wie Wirtschaft
oder Wissenschaft eingeschränkt werden? Ähnliche Fragen ergeben sich für die systemtheoretische
Konzeptualisierung
unternehmerischer
Organisationsnetzwerke.
Sie werfen für den Juristen und im
Recht ersichtlich das Problem auf, wie angesichts neuer ,hybrider' Arrangements
eindeutig zugeschrieben
und vorhandenen
Rechtsfiguren
(Marktverträge,
Verantwortung
Organisationsverträge)
zuverlässig zugeordnet werden kann (Teubner 1992, Ladeur 2011). Aber braucht auch die Soziologie hier - über den Organisationsbegriff
soweit Organisationen
hinaus - ein neues (Netzwerk-)Konzept?
Dies ist fraglich,
als Sozialsysteme verstanden werden können, die 1. nach außen kommuni-
zieren können, die 2. nicht nur Mitglieder, sondern auch weitere Teilnehmer (einschließlich anderer
Organisationen) in Kommunikation
Entscheidungen
einbeziehen können, die 3. ihre Grenzen zum Gegenstand von
machen können, die 4. Interaktionen veranlassen können und die 5. immer auch
informale Formen der Kommunikation
mitproduzieren,
die sie in gewissem Rahmen auch für ihre
Zwecke einspannen und konditionieren, wenn auch nicht durchgreifend
steuern können. All das
8
Beitrag: Systeme und Netzwerke
Journal der dgssa
legt nahe, den Netzwerkbegriff nicht - jedenfalls nicht voreilig - für diese neuartigen organisatorischen ("N etzwerk" -)Arrangements einzusetzen.
3
Die Vielfalt und Verschiedenheit der Vorschläge und Verwendungsweisen
des Netzwerkkonzepts
weist aber nicht nur auf Desiderate der Systemtheorie im Umgang mit "dem" Netzwerkproblem
und auf entsprechende Diskussionsbedarfe
hin, sondern sie belegt auch bereits ein besonderes Po-
tenzial dieser Theorie. Kurz gesagt: Von welcher anderen soziologischen Theorie, und mehr noch,
von welcher Gesellschaftstheorie, ließe sich eigentlich erwarten, dass sie die begrifflichen Mittel und
das
theoretische
Phänomenkomplex
Potential
bereitstellen
würde,
,Netzwerk' in so unterschiedlichen
chen Strukturkontexten
um
den
offenbar
sehr
vielseitigen
empirischen Hinsichten und gesellschaftli-
rekonstruieren zu können?
Zweifellos sind es aber nicht die empirischen Phänomene selbst, die über die Brauchbarkeit des Begriffs entscheiden können. Sie können allenfalls als Irritationen zur Herausforderung
werden. Die
Leistungsfähigkeit von Begriffen entscheidet sich mit Bezug auf die Folgen, die man sich mit der
WaW von Begriffen für Beobachtungs-
und Beschreibungsmöglichkeiten
einhandelt. In diesem
Sinne fragen wir im Folgenden, welche Möglichkeiten der Beobachtung von Netzwerkphänomenen
- zunächst grundlegend - eröffnet bzw. verschlossen werden, wenn man den Netzwerkbegriff system- oder netzwerktheoretisch
3.
Net~erk
einführt.
als Grundbegriff oder kontingentes Phänomen
Mit Blick auf die Frage, was man über Netzwerke erfahren und lernen kann und was man erfassen
oder nicht erfassen kann, scheint ein Gesichtspunkt grundlegend für alles Weitere zu sein. Es ist die
Frage, wie man anfängt. Konkret geht es hier um die Alternative, ob der Netzwerkbegriff als sozialtheoretischer Grundbegriff eingeführt wird, auf dem alles Weitere dann beruht, oder ob man mit
einem anderen Grundbegriff anfängt, um auf seiner Grundlage Netzwerke als eine Sozialform zu
verstehen, die neben anderen vorkommt, also kontingent ist, und im Vergleich dann Besonderheiten aufweist.
Wo das Netzwerk Grundbegriff ist, wird die soziale Welt in Begriffen von Netzwerken beschrieben. Soweit dabei angenommen
(Granovetter
wird, dass soziale Beziehungen
Grundlage des Sozialen sind
1985), bedeutet dies, dass zwangsläufig alle sozialen Formen als Netzwerke sozialer
Beziehungen darstellbar sind. Egal, ob im empirischen Sinne Märkte, Organisationen,
Gruppen,
Cliquen, Professionen, Familien oder Staaten im Fokus stehen; sie sind in dieser Perspektive in ihrem Substrat immer schon soziale Netzwerke. Im Zentrum steht dann die Analyse von Netzwerkstrukturen, formal beschrieben durch "Kanten"
(soziale Beziehungen) und "Knoten"
(Akteure).
Vorausgesetzt nur, dass nicht jeder immer schon in Beziehungen zu jedem anderen steht, sondern
Kontakte mehr oder weniger stark selektiv sind, lassen sich dann variierende Strukturmuster von
höherer oder geringerer "Dichte" nachzeichnen und überdies vor allem bestimmte Beziehungen
3 Wir kommen im Abschnitt
Netzwerke verbergen.
6 auf die Frage zurück, inwieweit sich hinter solchen organisatorischen
Arrangements
soziale
9
Beitrag: Systeme und Netzwerke
Journal der dgssa
("weak ties'') und Positionen ("broker'') in ihrer strategischen Bedeutung für die Beschaffung von
Informationen oder die Vermittlung von Kontakten identifizieren.
Bei allen Vorzügen solcher Analysen sind zwei Nachteile dieser Zugriffsweise evident: Wenn man
annimmt, dass die Sozialwelt grundlegend und immer schon aus Netzwerken besteht, verliert man
zum einen die Möglichkeit, in Netzwerken eine besondere Sozialform zu sehen, die neben andere
Sozialformen tritt, z. B. neben Organisationen oder Funktionssysteme.
Und man verliert in dieser
sozialtheoretisch grundlegenden Perspektive zugleich und zum anderen aus dem Blick, dass soziale
Netzwerke in vielen Situationen und Kontexten nicht nur sozial verzichtbar sind, sondern mitunter
auch sozial unerwünscht - wenn nicht sogar illegal- sind. Aus der Struktur von Netzwerken ergeben sich solche sinnhaften Unterschiede jedenfalls nicht.
Die Tatsache, dass es im modernen Alltag vielfach und wohl überwiegend auch ohne Netzwerke
geht, und das Wissen, dass Netzwerke einen mindestens latenten Schatten der Illegitimität hinter
sich her ziehen, kann man erst und nur verstehen, wenn man sieht, dass die moderne Gesellschaft
auf der Ausdifferenzierung von versachlichten Systemen und damit auf universalistischen Formen
der Teilnahme beruht - also eben nicht auf der Existenz von partikularistischen sozialen Netzwerken (vgl. Tacke 2000). Ohne damit zu bestreiten, dass es hilfreiche und nützliche Kontakte sowie
auch Strukturen der Unterstützung gibt, die das Leben unter hoch individualisierten Verhältnissen
erleichtern, sind - etwa um zu einem wissenschaftlichen Vortrag eingeladen zu werden, um einen
Kaufvertrag für ein Auto abzuschließen oder um Leistungen bei einem Arzt nachzufragen - im Allgemeinen keine Beziehungsnetzwerke vorausgesetzt oder erforderlich. Und in den Rollen des Richters, des Lehrers oder des Sozialarbeiters ist es nicht vorgesehen,
dass Beklagte, Schüler oder
Klienten zum persönlichen Netzwerk zählen. Auch mögen diese Fälle bereits verdeutlichen, dass
Bekanntschaft im Sinne wiederholter und regelmäßiger Kontakte nicht auf Gefälligkeiten schließen
lässt, welche in sozialen Netzwerken allerdings sehr wohl erwartet werden.
Im Unterschied zur Netzwerktheorie
Grundelementen
geht die Systemtheorie nicht von "sozialen Beziehungen" als
und als Letztbegriff des Sozialen aus; vielmehr hat Luhmann (1990: 197) diese so-
zialtheoretische Möglichkeit und Tradition einmal polemisch als "verkorksten Theorieanfang"
zeichnet (vgl. Schrnidt 2007). Zum Inventar der Grundbegriffe
be-
der Systemtheorie zählt hingegen
der Begriff des sozialen Systems. Selbst wenn es dieser Begriff ist, der der Theorie ihren Namen
gibt, ist der Systembegriff doch nicht der Letztbegriff der Theorie. Will man die Analysepotenziale
vergleichen, die sich aus begrifflichen Grundentscheidungen
ergeben, ist das (zumal angesichts des
eingangs genannten Vorurteils gegenüber der Systemtheorie) wichtig zu notieren. Letztbegriff im
grundbegrifflichen
Inventar der Theorie sozialer Systeme ist der Begriff der Kommunikation.
ders gesagt: Systeme erzeugen und reproduzieren sich elementar aus Kommunikationen
nishaften sozialen Einheiten+
An-
als ereig-
Soweit gilt, dass eine weitere elementare Auflösung des Sozialen
keinen Sinn macht, sind Kommunikationen
als Letztelemente aufzufassen. Wenn gleichwohl Sys-
teme der Theorie ihren Namen geben, ist damit darauf hingewiesen, dass Systembildung, die Ein-
4 Jede Kommunikation
ist dabei Einheit aus Information,
Mitteilung und Verstehen als dreistelliger Selektion, wobei der
Einheit aber gerade "keine Einheit ihres Substrats (entspricht); sie wird im Verwendungssystem
durch Anschlußfähigkeit
erzeugt". Vgl. Luhmann 1984, Kap. 4.
10
Beitrag: Systeme und Netzwerke
Journal der dgssa
führung der Differenz von System und Umwelt und ihre selbstbezügliche Handhabung durch das
System, die theoretisch zwingende Antwort auf die Frage ist, wie es denn angesichts laufender und
laufend erneuerter Sinnüberschüsse
von Kommunikation
überhaupt
zu deren Fortsetzung,
also
kommunikativen Anschlüssen, kommen kann. Durch Systembildung! Im selbstbezüglich-rekursiven
Operieren von Kommunikationen
werden die kommunikativen
Elemente für Anschlüsse durch
Anschlüsse erzeugt> und darüber mehr oder weniger komplexe Systemstrukturen
sinnhaft selektive Anschlussmöglichkeiten
Die kommunikationstheoretische
konditionieren.
aufgebaut, die
6
Fundierung ist für Fragen der Beschreibung von sozialen Netz-
werken in mehreren Hinsichten wichtig. Zwei sollen hier hervorgehoben werden:
Einerseits kann kommunikationstheoretisch
genauer beschrieben
werden, wie Netzwerkbildung
kommunikativ anläuft und sich - gegebenenfalls - stabilisiert. Man kann also nicht nur feststellen,
ob "Netzwerkbeziehungen"
vorhanden oder nicht vorhanden sind, sondern ihre soziale Herstel-
lung und die Kommunikationsprobleme
beschreiben, die damit verbunden sind. Andererseits wird
erst kommunikationstheoretisch
der bedeutsame Unterschied zwischen dem operativen Vollzug
von Netzwerkkommunikationen,
d.h. ihrer tatsächlichen Selbsterzeugung, und der beobachtenden
Thematisierung von Netzwerken zugänglich. Wir gehen auf diesen Gesichtspunkt
im Folgenden
zuerst ein, indem wir zwischen der Herstellung und der Darstellung von Netzwerken unterscheiden
(vgl. Tacke 2005). Auf die kommunikative Herstellung von Netzwerken kommen wir im Anschluss
zu sprechen, wobei auch die Frage der Systembildung zum Thema wird.
4.
Netzwerkkommunikation:
Die kommunikationstheoretische
Herstellung und Darstellung
Fundierung hat den erheblichen Vorteil, eine Doppelperspektive
auf Netzwerke zu eröffnen. Denn soweit für jede Kommunikation
gilt, dass sie einerseits rekursive
Anschlüsse vollzieht (Operation) und andererseits dabei etwas zum Thema macht (Beobachtung),
kann auf dieser Grundlage im Weiteren auch zwischen der (operativen) Erzeugung und der (beobachtenden) Thematisierung von sozialen Netzwerken unterschieden werden. Und man kann sich
dann auch dafür interessieren, ob und wie Fragen der kommunikativen
Herstellung von Netzwer-
ken mit Fragen ihrer kommunikativen Darstellung verbunden - oder nicht verbunden -
sind. In
zwei Hinsichten kann man ausbleibende Verbindungen von Herstellung und Darstellung notieren:
Erstens: Es gibt Netzwerkdarstellung
ohne Neti}Verkherstellung. Längst nicht überall, wo etwas als soziales
Netzwerk dargestellt und beschrieben wird (sei es in der Theorie oder in der übrigen Gesellschaft),
stellen sich soziale Netzwerke auch sozial her. Die Semantik des Netzwerkes ist gesellschaftlich
heute sehr weit verbreitet, und sie ist dabei vielfach auch positiv besetzt. Zumal das Netzwerkkonzept heute - auch in den Sozialwissenschaften - zu den "netten Begriffen" (Luhmann) gehört, trägt
5 Zu den sinnverwendenden
Systemen gehören auch Bewusstseinssysteme. Nur soziale Systeme aber reproduzieren sich
über sozialen, d. h. kommunikativen Sinn. Auch insofern ist der Kommunikationsbegriff,
nicht etwa der Sinnbegriff,
Letztbegriff der Theorie sozialer Systeme.
6 Das gilt für das umfassende soziale System, also die Gesellschaft, in deren Umwelt keine sinnhaften Kommunikationen
vorkommen, wiederholt sich aber auch als Systembildung (Ausclifferenzierung) im System der Gesellschaft, d. h. im Zuge
der selbstbezüglichen Handhabung spezifischer System-Umwelt-Unterscheidungen
im Rahmen von Kommunikation.
11
Beitrag: Systeme und Netzwerke
Journal der dgssa
dies wohl seinerseits zur gesellschaftlichen Verbreitung der Netzwerksemantik
bei, auch dort und
dorthin, wo gar keine sozialen Netzwerke entstehen. So verbergen sich hinter modischen Selbstdarstellungen als Netzwerk nicht selten z. B. Vereinsgründungen
und andere Organisationsaktivitäten,
also, operativ gesehen, formale Organisationen. Die Nutzung der Bezeichnung "Netzwerk" für organisationsgestützte
Zusammenhänge,
auf die wir oben bereits hingewiesen hatten, ist ein heute
häufig zu beobachtender Fall. Auch wo früher - sei es in der Politik, in der Religion oder in der Erziehung - von Runden Tischen oder Arbeitskreisen die Rede war, spricht man heute gern von
Netzwerken.
Zweitens gilt auch das Umgekehrte, wenn auch aus anderen Gründen: Es gibt Netzwerkherstellung
Netzwerkdarstellung.
ohne
Wo sich soziale Netzwerke herstellen, kommt es also nicht zwangsläufig auch zu
deren Darstellung. Ein erster Grund dürfte darin zu sehen sein, dass Netzwerke, die sich kommunikativ herzustellen und zu stabilisieren vermögen, mitunter allen Grund haben, auf ihre Darstellung in der Kommunikation
zu verzichten. Dies gilt vor allem im Kontext versachlichter und
formalisierter Funktions- und Sinnzusammenhänge,
in denen sie aufgrund ihres Partikularismus
leicht als illegitim gelten. Evident ist das bei sogenannten old boys networks und anderen Seilschaften,
korruptiven und anderweitig kriminellen Netzwerken. Ein zweiter wichtiger Grund für das Ausbleiben von Darstellungen ist aber ebenfalls zu notieren. Denn Netzwerken
fehlen wichtige Vo-
raussetzungen für einheitliche kommunikative Selbstdarstellungen. Das fallt vor allem im Vergleich
mit Organisationen auf, die im Allgemeinen einigen Aufwand in ihre Selbstbeschreibung und Außendarstellung investieren, und die im Übrigen auch zu einer einheitlichen Außendarstellung in besonderer Weise befähigt sind. Die Grundlage dafür ist, dass Organisationen
sich auf erklärte und
revidierbare Mitgliedschaften stützen. Sie können auf dieser Grundlage die Zustimmung der Mitglieder generalisieren und sie so auch auf eine bestimmte, einheitliche Darstellung verpflichten. Und
soweit sie sich auf Hierarchien stützen, können sie auch in der Umwelt damit rechnen, dass ihnen
ihre Selbstdarstellung als verbindliche Selbstbeschreibung
abgenommen wird. Netzwerke kennen
dagegen weder spezifische Mechanismen generalisierungsfahiger
Zustimmung
noch Hierarchien
oder Verfahren demokratischer Willens bildung, die zu verbindlichen Selbstbeschreibungen
Abnahmefähigkeit
einheitlicher Außendarstellungen
und zur
beitragen könnten. "Arkanität" ist in diesem
Sinne in soziale Netzwerke eingebaut (Werron 2011, vgl. Tacke 2008). Wo sich also kompakte
Selbstdarstellungen von Netzwerken finden, kann man vermuten, dass anderes (mit) im Spiel ist,
insbesondere Formen von Organisation.
Allerdings und gleichwohl muss auch in Netzwerken,
kommt, in der Kommunikation
sofern es zu ihrer Selbstfortschreibung
und für Teilnehmer erkennbar sein, dass es um Netzwerkkommu-
nikation geht und nicht um irgendetwas anderes. Auch wenn also explizite Selbstbeschreibungen
nicht zur Verfügung stehen und Implizitheit genügt (Tacke 2008) bzw. entsprechende Darstellungen in der Kommunikation vermieden werden, weil mit Illegitimität gerechnet wird, muss es in der
Kommunikation
doch gelingen, Anschlüsse im Vor- und Rückgriff der Kommunikation
selektiv
auf das Netzwerk hinzudirigieren (sofern ein solches operativ entsteht).
Halten wir hier aber zunächst fest: Es gibt Netzwerkdarstellung
gibt Netzwerkherstellung
ohne Netzwerkdarstellung.
ohne Netzwerkherstellung,
und es
Und wenn man das zuvor Gesagte zusam-
mennimmt, spricht nicht nur einiges dafür, soziale Netzwerke nicht vorrangig dort zu suchen, wo
12
Beitrag: Systeme und Netzwerke
Journal der dgssa
explizite Selbstdarstellungen als Netzwerk vorliegen, sondern auch einiges dagegen, im Falle von
Netzwerken überhaupt eine mindestens lose Verbindung zwischen Herstellung und Darstellung anzunehmen. Typisch scheint im Falle von Netzwerken vielmehr zu sein, dass es eine Kopplung von
Herstellung und Darstellung - etwa in der Weise, dass die (Selbst-)Darstellung das operativ Hergestellte simplifiziere - nicht gibt. Selbst wenn das aber zuträfe, wäre damit nicht schon die Frage beantwortet, ob und inwieweit die, zumal "netten", gesellschaftlichen Thematisierungsweisen
von
Netzwerken, wie sie heute in Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Organisationen vorkommen,
Wirkungen auch auf die Plausibilität und darüber dann auch auf den Erfolg der Herstellung von sozialen Netzwerken haben. Darauf kommen wir im Weiteren (Abschnitt 6) noch zurück. Zunächst
werfen wir einen Blick auf die Netzwerkherstellung selbst.
5
Zur Herstellung von NetifVerken
Sofern man nicht nur über Fragen der Semantik und der Darstellung sprechen will, sondern sich für
Netzwerke als empirisch vorkommende
Sozialgebilde interessiert, stellt sich in der Systemtheorie
die Frage und Herausforderung, wie diese Sozialgebilde sich herstellen, also kommunikativ selbst
ermöglichen. Zumal Vorschläge für eine Antwort bereits an anderen Stellen gemacht wurden (vgl.
Tacke 2000, Bommes/Tacke
2006), sollen hier nur einige Besonderheiten und Voraussetzungen der
Herstellung von Netzwerken zusammenfassend dargelegt werden.
Wir hatten bereits angedeutet, dass die moderne Gesellschaft primär nicht Netzwerkkommunikation vorsieht, die partikular an Personen und ihren Möglichkeiten orientiert ist, sondern dass die Gesellschaft primär Strukturen für Kommunikation
Rollen
vorsieht
fer/Verkäufer,
(seien
es
Lehrer/Schüler
funktionsspezifische,
im Rahmen der Inklusion in systemspezifische
wie Arzt/Patient,
usw., oder organisationsspezifische
Kläger/Beklagter,
Käu-
Mitglieds- bzw. Publikumsrol-
len). Damit ist bereits gesagt, dass es sich bei Netzwerken um sekundäre Strukturbildungen
handelt,
eben im Verhältnis zu den primären Strukturen der Ausdifferenzierung, die die Gesellschaft ausmachen, d. h. zu den Funktionssystemen der Gesellschaft (wie Wirtschaft, Recht, Politik, Religion, Erziehung, Kunst, Sport), aber auch ihren Organisationen
und Interaktionen.
Den Umstand, dass
soziale Netzwerke diesen Systemen nicht gleichgestellt sind (und systemtheoretisch nicht gleichgestellt werden), mag man sich an jenen Postulaten der Gleichheit und des universalistischen Zugangs
vergegenwärtigen, die mit der modernen Gesellschaft im normativen Sinne verbunden sind, deren
strukturelle Grundlagen aber eben in der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung versachlichter Systeme zu finden sind. Kurz: Während der Zugang zu den primären Systemen - jedenfalls im Prinzip
- jedem offensteht, der die sachlichen Kriterien der Teilnahme am System erfüllt (und die Systeme
haben eben gar keine anderen als ihre Sachkriterien!), bilden sich Netzwerke partikularistisch: im
Rekurs auf bestimmte Personen, die als Adressen mobilisiert werden können, um Zugänge und
Möglichkeiten zu eröffnen.
Als sekundär sind soziale Netzwerke aber auch und nicht zuletzt in dem Sinne zu verstehen, dass
sie sich in ihrer Herstellung und Fortschreibung auf Leistungen stützen, die sie (jedenfalls in den
Zentren der modernen Gesellschaft) nicht selbst erzeugen, sondern die in und durch Funktionssysteme und Organisationen entstehen. Das mag man sich am Beispiel von Netzwerken unter Wissen-
13
Beitrag: Systeme und Netzwerke
] ournal der dgssa
schaftlern verdeutlichen, aus denen Personen ohne Stelle eigentümlich schnell herausfallen, möglicherweise aber dann Netzwerke unter ,Herausgefallenen' entstehen. Netzwerke eröffnen in diesem
Sinne Ersatz- bzw. Zusatzperspektiven
(Tacke 2009). Sie machen Systemleistungen partikular zu-
gänglich, die anderenfalls nicht oder nicht in gleicher Weise verfügbar bzw. ,recht und billig' (vgl.
Mayhew 1968) wären.
Grundlegend setzen Netzwerkbildungen
an (kommunikativen) Beobachtungen von Profilen der
Inklusion und der Exklusion von Individuen an, die aus ihren jeweiligen (Nicht-)Teilnahmen an
Funktionssystemen und Organisationen resultieren. Man hat einen Bekannten, den man aus einem
Zusammenhang kennt - z. B. dem Studium, dem Sportverein oder der Partei -, und entdeckt in der
Kommunikation, dass er selbst oder ein Bekannter von ihm Möglichkeiten eröffnen kann: Zugänge
zu Aufträgen, Baugenehmigungen, Doktortiteln,
Forschungsgeldern,
Mitgliedschaften usw. Und
selbstredend gibt es zahllose ,harmlosere' Beispiele. Netzwerke nehmen also ihren Ausgang, wo
Personen kommunikativ adressiert werden unter dem Gesichtspunkt der partikularen Mobilisierung
von Möglichkeiten, die die Inklusions- und Exklusionsproftle anderer eröffnen können. Sie sind in
diesem Sinne ein kommunikatives
Nebenprodukt
des modernen
Umstandes, dass Individuen
polykontexturale Proftle der Teilnahme an Gesellschaft aufweisen, mit denen je individualisierte
und differenzierte Geschichten von Kontakten verbunden sind. Die damit verbundenen Möglichkeiten für grenzüberschreitende
Zugänge liegen nicht immer auf der Hand, können sich vielmehr
überraschend in der Kommunikation erweisen, wo miteinander und auch über Dritte und ihre Rollen kommuniziert wird ("Wusstest Du nicht, dass der dort tätig ist...?"). Die partikulare Mobilisierung solcher Zugänge ist mit Blick auf die Gesellschaft aber auch ein ganz unwahrscheinlicher
Vorgang, wenn man in Rechnung stellt, dass kommunikative Kontakte vorrangig durch sachliche
Rollen eingeschränkt und konditioniert sind und in diesen Rollen eben nicht vorgesehen ist, dass
auch eigene andere Rollen zum Thema werden. Dem entspricht, dass man in wissenschaftlichen
Diskussionen, beim Arztbesuch, beim Autokauf und auch Kollegen oder Vorgesetzten gegenüber
nicht auskunftspflichtig ist über eigene andere Rollen in sei es politischen Organisationen, religiösen
Fragen, Sportvereinen oder der Familie.
Kennzeichnend für soziale Netzwerke ist, dass sie gleichsam Kapital aus dem Umstand individualisierter und multipler Inklusionen schlagen und dabei Möglichkeiten wechselseitig mobilisiert werden, die über die Rollen, die den Kontakt zunächst begründeten, hinausgehen. Gesagt ist damit
zum einen schon, dass die Leistungen, die in Netzwerken wechselseitig zur Verfügung gestellt werden, mehr oder weniger heterogen sind. Häufig liegen die Gefälligkeiten und Leistungen zunächst
noch sehr nahe bei jenen Rollen, die die Bekanntschaft begründen. Wo Grenzen des in der Rolle
Erwartbaren aber einmal überschritten sind, können Erwartungen dann auch sachlich expandieren.
Wer einen Nachbarn nicht nur bittet, die Post während des Urlaubs aus dem Briefkasten zu nehmen (was zur Rolle des Nachbarn gehört), sondern auch bei der Reparatur des Autos zu helfen
(was erkennbar nicht mehr zu dieser Rolle gehört), muss sich nicht wundern, wenn er irgendwann
gebeten wird, auf das Kind des Nachbarn aufzupassen. Und wer als Wissenschaftler den Kontakt
zu einem ehemaligen Schulkollegen nutzt, der heute in einem Unternehmen tätig ist, um die Chance
eines Kollegen zu erhöhen, dort eine Projektforschung durchführen zu können, muss nicht erstaunt
14
Beitrag: Systeme und Netzwerke
Journal der dgssa
sein, wenn von dort irgendwann Erwartungen an ihn adressiert werden, die sachlich nichts mit dem
Projekt des Kollegen zu tun haben.
Gerade weil soziale Netzwerkbildungen
zunächst Schranken der beliebigen Adressierbarkeit und
Mobilisierbarkeit von Leistungen überwinden müssen, die mit funktionalen und organisationalen
Rollen in der gesellschaftlichen Kommunikation
regelmäßig verbunden sind, ist Netzwerkbildung
ein hoch prekärer sozialer Vorgang. Und vermutlich zerfallen die meisten Netzwerke schnell wieder,
noch bevor sie sich stabilisieren konnten. Die Anfrage des ehemaligen Schulkollegen zur Gegenleistung mag positiv oder negativ beschieden worden sein, aber selbst im positiven Falle ergeben sich
daraus nicht zwingend Anlässe zur Fortsetzung eines Netzwerkes in der Zeit.
Die Stabilisierung und Erhaltung von Netzwerken wird aber, so sie gelingt, durch den Umstand gestützt, dass es heterogene Leistungen sind, die ausgetauscht werden. Denn diese sind gerade nicht
gegeneinander verrechenbar
und können auch nicht umgehend ausgeglichen werden (Gouldner
1960), so dass eine Art "übrig bleibender Verpflichtung" (Luhmann 1997, 635) miterzeugt wird, die
das Netzwerk dann gleichsam als Gewährung eines Kredits über die Zeit bringt, und die zugleich
Selektivität für zukünftige Anschlüsse bereitstellt, sei es qua kommunikativem Rückgriff (Aktualisierung) oder qua Vorgriff (Antizipation). Diese zeitliche Überbrückung durch "Kredit" ist gemeint,
wo Netzwerke - nicht selten - mit Reziprozität und Vertrauen in Verbindung gebracht werden.
Kommunikation in Netzwerken kann in dem Maße stabilisiert werden, wie sie sich auf Reziprozitäten
der Leistungskommunikation
stützt und mit Blick auf offene Zukünfte und ,Gegengaben' hinrei-
chendes Vertrauen zu erzeugen vermag. Wichtig zu sehen ist aber, dass diese Reziprozität in der
und durch die Netzwerkkommunikation
selbst und - damit selbstreferenziell-
erzeugt werden muss,
zumal es für sie in der Umwelt - jedenfalls unter modernen Verhältnissen der Ausdifferenzierung keine gesellschaftliche Grundlage mehr gibt. Gesellschaftlich gilt der Reziprozitätsmechanismus
"ruiniert", gerade weil sich das gesamte öffentliche Leben in den funktionsspezifischen
als
Komple-
mentärrollen vollzieht (Holzer 2006, 12). Damit ist nicht ausgeschlossen, dass soziale Netzwerke in
ihrer Umwelt Strukturen oder Strukturkonstellationen
vorfinden, auf denen sie sich in ihrem Anlau-
fen abstützen und die ihnen auch in ihrer Selbstfortsetzung Halt bieten, indem sie Beliebigkeit einschränken.
Vorausgesetzt, die besagten prekären Schranken wurden in der Kommunikation
überwunden,
einmal erfolgreich
bringen Netzwerke im Modus einer reziproken Leistungskommunikation
ein mehr
oder weniger spezifisches Leistungsspektrum
hervor. Es kann sachlich eng umgrenzt ausfallen, wie z.
B. im Falle von Wissenschaftlernetzwerken
(Besio 2011, Tacke 2011). In diesem Fall wird es dann
z. B. möglich, sich wechselseitig wissenschaftsrelevante
ladungen, Personalentscheidungen,
Forschungsgelder
Zugänge (etwa in Bezug auf attraktive Einoder die Selektion von Gutachtern) zu ver-
schaffen, über die ,woanders', vor allem in einschlägigen Organisationen, entschieden wird. Soweit
diese Netzwerke an Strukturbedingungen
von Wissenschaft, einschließlich Organisationen, anset-
zen, ist es dann aber nicht schon ebenso selbstverständlich, dass Netzwerkteilnehmer
füreinander
auch in z. B. Fragen der persönlichen Lebensführung adressierbar sind. Umgekehrt kann das Leistungsspektrum
auch auffällig unspezifisch und in der Auslegung möglicher Netzwerkleistungen
sachlich expansiv angelegt sein, wie im Falle von Migrationsnetzwerken,
die nicht an Inklusionen,
sondern der Faktizität von beschränkten Zugängen (Exklusionen) ansetzen und Inklusionsproble-
15
Beitrag: Systeme und Netzwerke
Journal der dgssa
me ihrer Teilnehmer kompensieren, die in vielen Hinsichten gleichzeitig anfallen, zurnal wenn Bedingungen von Illegalität vorliegen: Sie vermitteln z. B. Erwerbsarbeit, Transport-, Kommunikations- und Wohnmöglichkeiten,
Erziehungs-, Gesundheits-
und Rechtsleistungen
(Bommes 2011,
Tacke 2000).
In ihren sachlichen (Leistungen), sozialen (Teilnehmer) und zeitlichen (Kreditierung) Dimensionen
können Netzwerkbildungen
also sehr verschieden ausfallen. Sie können aber nicht in allen drei Di-
mensionen zugleich unspezifisch und expansiv ausfallen, also gleichermaßen ,offen für jeden und
alles zu beliebigen Zeitpunkten'
sein. Zu ihrer Selbstfortsetzung braucht es immer auch Einschrän-
kungen. Lockerungen und Flexibilitäten in einzelnen Dimensionen sind möglich (etwa als unspezifisches sachliches Leistungsspektrum),
Dimensionen
sie müssen aber durch stärkere Einschränkungen
in anderen
(etwa dann als Beschränkung der Teilnehmer) kompensiert werden, wenn das Netz-
werk, und damit die reziproke Leistungskommunikation,
men der Einschränkung, d.h. Grenzifehung,
nicht zerfallen soll. Selbstbezügliche For-
sind für die Herstellung von sozialen Netzwerken daher
notwendig. Die Grenzziehung beruht im Falle von Netzwerken aber offenbar nicht auf einem einzelnen Mechanismus (wie der Mitgliedschaft im Falle von Organisationen), sondern auf einer ,Verschleifung' von sozialen (wer?), sachlichen (was?) und zeitlichen (wann?) Einschränkungen
der
Netzwerkkommunikation.
Netzwerke finden ausschließlich Halt in sich selbst, eben in der Partikularität der Verknüpfung und
in der Ineinanderverschachtelung
der je nur für sie geltenden sozialen, sachlichen und zeitlichen
Strukturen. Das macht sie gewissermaßen beliebig und zugleich universell: Sie können überall in der
Gesellschaft vorkommen und sie sind zugleich ephemer: Sie tauchen auf, verschwinden und reaktivieren sich überraschend wieder. Das macht es so schwierig, diese universell verwendbare Möglichkeit der Netzwerkentstehung
in der funktional differenzierten Gesellschaft zu fassen sowie auch zu
begreifen, dass das schnelle Auftauchen und Verschwinden (ähnlich wie im Falle von Konfliktsystemen) und ihre Flexibilität und Fluidität keine Argumente dagegen sind, dass es sich um soifa/e Systeme handelt (Bommes/Tacke
2006).
Nur wenn man, wie mancher Kritiker, den Systembegriff "reiflziert" und damit gründlich missversteht (vgl. Luhmann 1984, 244), kommt man auf die Idee, die Systemtheorie für die Analyse von
Netzwerken für ungeeignet zu halten. Sie weist vielmehr gerade in ihrer kommunikationstheoretischen Fundierung Vorzüge in der Analyse von Netzwerken auf, an denen es Netzwerkansätzen
fehlt. Zu diesen gehört auch die Frage nach der Legitimität - oder kommunikationstheoretisch
ge-
sprochen: der Akzeptanz - von Netzwerken.
6
Zur Legitimität vonNetzwerken
Anders als im Falle der Netzwerktheorie,
die in ihrer Perspektive von der Alltäglichkeit, weil sozial
grundlegenden Bedeutung von Netzwerken ausgeht, liegt im Rahmen der Systemtheorie, die den im
oben genannten Sinne sekundären Charakter der Netzwerkbildung
wo und unter welchen Voraussetzungen
unterstreicht,
die Frage nahe,
es sozial akzeptiert oder nicht akzeptiert wird, dass sich
Netzwerke partikular herstellen und parasitär entfalten können. Schon in Nachbarschaften,
wo so-
ziale Netzwerke mitunter an alltäglichen Engpässen in der privaten Lebensführung anlaufen und an
16
Beitrag: Systeme und Netzwerke
Journal der dgssa
harmlosen Formen von Gefälligkeiten kristallisieren, können Netzwerkansinnen
aufwerfen, ablesbar an der mitunter demonstrativen
Akzeptanzfragen
Vermeidung von Kommunikationen
Nachbarn. Vor allem aber in zentralen Funktions- und Organisationsbereichen
mit
der Gesellschaft
sind Legitimitätsfragen zu erwarten, eben weil Netzwerke die eigentlich vorgesehenen Rollen- und
Systemgrenzen sinnhaft übertreten und in der partikularen Verfügbarmachung von Leistungen auch
universalistische Inklusionspostulate unterlaufen.
Wenn wir hier abschließend mit gewissem Erstaunen fragen, wie es möglich ist, dass eine genuin
partikularistische Sozialform gesellschaftlich - und zunächst semantisch - an erheblicher Bedeutung
und Anerkennung gewonnen hat, ist bereits in der sozialwissenschaftlichen Netzwerkdiskussion eine erste Antwort zu finden. Denn nicht nur am grundbegrifflichen Ansatz der formalen Netzwerkanalyse, sondern auch mit Blick auf die umfangreichen Netzwerkdiskussionen,
vergangenen zwanzig Jahren im Einzugsbereich der Organisationsforschung
die sich in den
entwickelt haben, fällt
der bemerkenswerte Umstand auf, dass die Legitimität von Netzwerken ein in hohem Maße randständiges Thema geblieben ist.? Anders gesagt: Sehr viel mehr als zur Frage der Legitimität von
Netzwerken ist über deren Funktionalität geschrieben und gesagt worden. Und gerade im Zusammenhang der Thesen zur Netzwerkfunktionalität
ist der Netzwerkbegriff zu einem "netten Begriff'
(Luhmann) avanciert. So begründen Ökonomen wie Oliver Williamson (vgl. Williamson 1996) die
Effizienz netzwerkförmiger Transaktionen mit Bezug auf Bedingungen, unter denen Märkte und
Organisationen "versagen" (es lebe das Netzwerk als effiziente Alternative!). Und in durchaus vergleichbarer Weise haben auch Soziologen hervorgehoben, dass Netzwerke - anstatt auf hierarchischer Anweisung (Organisation) oder Preisvergleichen (Markt) - auf einer Besonderheit, nämlich
Vertrauen und Reziprozität, beruhen. In diesem "anstatt" steckt in beiden Fällen ein normativer
Bias. Einmal wird Effizienz betont und geschätzt, das andere Mal wird den netter erscheinenden
sozialen Vertrauensverhältnissen
im Vergleich zu den kühlen Geld- und Machtverhältnissen,
die
alternativ in Frage kommen, der Vorzug eingeräumt. Netzwerke erscheinen als "more social" als
andere soziale Beziehungen (powell 1990).
Die unter dem Stichwort ,governance' geführte Netzwerkdebatte - und damit Darstellungen (!) von
Netzwerken durch die Sozialwissenschaften - hat in der gesellschaftlichen Kommunikation mit dazu beigetragen, soziale Netzwerke von Legitimitätsanfragen, die im Blick auf ihren genuinen Partikularismus naheliegen, zu entlasten. Man muss zwar den Einfluss von Wissenschaft auf die übrige
Gesellschaft nicht überschätzen, aber im Falle der Netzwerkdiskussion ist leicht zu sehen, dass die
Argumente der Netzwerkfunktionalität
nicht ohne Reaktionen geblieben sind, etwa in der Wirt-
schafts-, der Wissenschafts- und der Wohlfahrts förderung. In zahllosen politischen Förderprogrammen
werden
heute
Netzwerke
präferiert,
und
mithin
kann
schon
nicht
mehr
mit
institutioneller Förderung gerechnet werden, wenn man nicht nachweisen kann, dass man ,gut vernetzt' ist.
7 Zu den seltenen gehaltvollen Ausnahmen gehärt ein empirischer Aufsatz von Human und Prowan (2000), der am USamerikanischen Fall zweier mittelständischer Unternehmensnetzwerke
deutlich macht, dass von Legitimität im Falle von
Netzwerken nicht ausgegangen werden kann, sie vielmehr erst - mit Bezug auf die Netzwerkform, die Netzwerkeinheit
und die Interaktionen - erzeugt werden muss, und zwar sowohl aufseiten der Teilnehmer wie auch aufseiten relevanter
Beobachter in der Umwelt. Vgl. auch Kraft 2011.
17
Beitrag: Systeme und Netzwerke
Journal der dgssa
Unter politischen Prämissen ist ,Vernetzung' unproblematisch, sofern und solange Netzwerkfunktionalität unterstellt und entsprechende Fördergelder nicht ihrerseits partikularistisch durch Personen an Personen (also durch soziale Netzwerke) vergeben werden, sondern in organisatorischen
Verfahren, an Organisationen bzw. an Personen in ihrer Eigenschaft als Mitglieder von Organisationen. Das kann dann übrigens durchaus auch unter dem Vorzeichen politisch-partikularer Programmkriterien geschehen - etwa in Form von "Regionalförderungen",
die als solche aber dann
wieder prinzipiell allen offenstehen.
Abgesehen von individuellen ,Zusatzperspektiven'
sind es offenbar Systeme - wie Wissenschaft,
Politik und (deren) Organisationen -, die Netzwerkbildung begrüßen und auch fördern. Für diese
Systeme gilt allerdings zugleich, dass ihnen personaler Partikularismus fremd ist. Denn sie kennen
aus strukturspezifischen
Gründen nur sachliche Kriterien für Teilnahmen und Entscheidungen.
Und in gewisser Weise kennen sie daher auch nur solche Netzwerke, die für sie im oben genannten
Sinne systemische Kontaktstrukturen
oder interorganisatorische Strukturbildungen darstellen. Ihrer
strukturellen Distanz zu parasitären sozialen Netzwerken entsprechen dann auch die Darstellungen
der Funktionalität von Netzwerken und die Entlastung derjenigen Netzwerke von Legitimitätsnachfragen, die sie fördern.
Nun kann man aber abschließend erneut nach der Differenz von Netzwerkdarstellung und Netzwerkherstellung fragen. Den politisch und organisatorisch proliferierten Netzwerksemantiken und darstellungen entsprechen zweifellos nicht auch schon Netzwerkherstellungen,
sei es, weil es tat-
sächlich organisationsförmige Arrangements sind, die faktisch erzeugt werden, oder sei es, weil man
sich in der Reaktion auf politische oder organisatorische Erwartungen der Netzwerkbildung damit
begnügt, Netzwerke darzustellen und zu demonstrieren, wo gar keine vorliegen. Es entbehrt dabei
nicht der Ironie, wenn im Kontext von Organisationen partikulare Netzwerke, die sich operativ
nicht herstellen lassen, organisatorisch trotzdem dargestellt und demonstriert werden, um Legitimität zu sichern. Am Beispiel universitärer Transfernetzwerke haben dies Meier und Krücken (2003)
gezeigt - aber ohne Sicht auf die ironischen ,Verkehrungen' im Verhältnis von Partikularismus, Rationalität und Legitimität.
Die gesellschaftliche Ausbreitung von Darstellungen der Funktionalität von Netzwerken und die
faktischen Beiträge von Sozialsystemen zur Funktionalisierung von Netzwerken haben vermutlich
aber auch ungesehene gesellschaftliche Wirkungen. Ungesehen sind sie schon deshalb, weil Funktionssysteme und Organisationen nur funktionale Netzwerke beobachten und weil die Netzwerke,
deren Herstellung sie tatsächlich ermöglichen, wie oben gesagt, immer auch ,arkane' Züge tragen.
Mit ungesehenen Wirkungen soll hier aber vor allem gemeint sein, dass die Proliferation von Darstellungen der Funktionalität und Legitimität von Netzwerken auch zu Entlastungen von Legitimitätsrückfragen beiträgt, auch dort, wo sie nicht explizit vorgesehen sind - im Bereich genuin
partikularistischer Formen der Netzwerkkommunikation.
Netzwerkdarstellungen können keine so-
zialen Netzwerke herstellen, aber soweit sie als Darstellungen nur Funktionalität kennen und Legitimität in diesem Sinne mitkommuniziert
wird, können sie zumindest bei der Erzeugung einer
wichtigen Voraussetzung mitwirken, die partikularistische soziale Netzwerke benötigen, um die
Hürden ihrer eigenen Herstellung zu überwinden.
18
Beitrag: Systeme und Netzwerke
Journal der dgssa
Damit soll hier keine einfache Diagnose gestellt werden nach dem Muster: Alle reden positiv und
"nett" von Netzwerken, daher bilden sich auch überall soziale Netzwerke. Die Verhältnisse sind
sehr viel verwickelter, wie man sich im Blick auf allerlei Kontexte, mit denen man es zu tun hat, klar
machen mag.
Bleiben wir bei Universitäten. Abgesehen von organisatorisch nur demonstrierten Netzwerken wie
den erwähnten universitären Transfernetzwerken,
etablieren sich in Universitäten heute (unter dem
Druck von außen und u. a. unter dem Fördernamen "Exzellenz") neuartige Forschungszusammenhänge, die von Universitäten getragen werden, also organisiert sind. Sie zielen darauf ab, die ,Vernetzung'
von Wissenschaftlern
,im Hause'
zu fördern
und
diese unter
Bedingungen
von
Wettbewerb stark zu machen - zum Nutzen der einzelnen Universitäten und zum Nutzen der Wissenschaft.
Geht
es
dabei
(Brunsson/Sahlin-Andersson
einerseits
um
die
,Organisationswerdung'
der
Universität
2000, Huber 2011), die eine Funktionalisierung und Formalisierung
von Netzwerken erwarten lässt, scheinen andererseits zugleich partikularistische Formen der Netzwerkbildung zuzunehmen. Zum einen ist Partikularismus dabei politisch gewollt und legitim, ganz
im Sinne der oben genannten "Regionalförderung",
Universitätsstandorte
die in diesem Falle die Förderung einzelner
auf der Grundlage von Wettbewerb betrifft. Zum anderen lässt sich erken-
nen, dass auch je vor Ort, in den Universitäten, neuartige soziale Netzwerke unter partikularistischen Vorzeichen der Teilnahme entstehen. Offenbar hängt das mit den als ,Hochschulautonomie'
bezeichneten neuen Organisationsbedingungen
zusammen, unter denen es eben nicht mehr allein
und vorrangig um genuin wissenschaftlich motivierte Kontaktstrukturen
und Kooperationen unter
Wissenschaftlern geht (zumal diese sich für lokale Organisationen und ihre Grenzen bisher nicht
vorrangig interessierten, vgl. Stichweh 1999), sondern zugleich um Ressourcen, um die im Wettbewerb zwischen, aber auch innerhalb von Universitätsorganisationen
den unter der Netzwerkerwartung
konkurriert wird. Weder wer-
nur neue organisatorische Formen gebildet (was allerdings auch
geschieht) noch wird nur symbolisch (wie im Falle der Transfernetzwerke)
auf Erwartungen der
Netzwerkbildung reagiert. Vielmehr entstehen unter dem Vorzeichen wissenschaftlich und organisatorisch funktionaler Netzwerke im Wettbewerb um knappgehaltene Ressourcen auch attraktive
"Einflugschneisen"
für genuine soziale Netzwerkbildungen
ihre Personenabhängigkeit
und ihre Kooptationsverfahren,
(vgl. Tacke 2011). Zum einen machen
aber auch ihre Unabhängigkeit von
etablierten universitären Gremien und Verfahren sie bereits als Netzwerke erkennbar.f Zumal sie
zum anderen den Rahmen für den Einbezug von Adressen in den Grenzen der Universitätsorganisation finden, wobei auch (sub-)disziplinäre Grenzen überschritten werden, überdies aber auch die
Universitätsleitungen im Zuge der Hochschulautonomie
kontrollierenden
Netzwerkadressen
zu attraktiven, Ressourcen und Zugänge
geworden sind, haben diese Netzwerke nur noch wenig mit
,klassischen' Wissenschaftlernetzwerken
gemeinsam.
Und gerade im Vergleich mit klassischen Wissenschaftlernetzwerken,
Netzwerken immer auch ein gewisser antiorganisatorischer
denen als professionellen
Zug eigen war (Huber 2011), wenn-
8 Das gilt auch dann, wenn mit sachthematischen Festlegungen in solchen Zusammenhängen
optationen einhergehen, zum al auch umgekehrt beobachtet werden kann, dass die Kooptation
die sachthematischen Einschränkungen liefert.
Einschränkungen
für Kovon bestimmten Adressen
19
Beitrag: Systeme und Netzwerke
Journal der dgssa
gleich sehr genau gewusst wurde, wie die bürokratischen Verfahren funktionieren, kann man im
Zeitalter der offiziell annoncierten und als funktional dargestellten Netzwerkstrukturen
feststellen,
dass nicht nur die Akzeptanz, sondern auch das Wissen um (die Bedeutung) formaler Kommunikationswege und universalistischer Verfahren in mitunter bemerkenswerter
dürfte beitragen, dass sich der offizielle "Netzwerkdiskurs",
Weise abnimmt. Dazu
aber auch faktisch operierende soziale
Netzwerke von Hause aus eher für ,Verbindungen' als für Differenzen interessieren, sie für Differenzen entsprechend auch in der Kommunikation nicht sensibilisieren: Das gilt für Differenzen wie
Rolle/Person,
unpersönlich/persönlich,
schen Beobachtungsformen
universalistisch/partikularistisch,
die keine netzwerktypi-
sind. 9
Man kann in diesem Zusammenhang von einer "Verwischung der Grenzen zwischen persönlichen
und unpersönlichen
Beziehungen"
(Stichweh 2001, 3) sprechen. Vorstellungen, dass damit eine
Auflösung von Systemen (durch Netzwerke) im Gange ist, wären aber eine maßlose Übertreibung.
Das gilt schon deshalb, weil Funktionssysteme und auch Organisationen aus sich heraus gar keinen
Anlass haben, Netzwerkkommunikation
per se für eine bessere Lösung zu halten als den Rückgriff
auf organisatorisch entscheidbare und formal kontrollierte Kommunikationswege. Wohl aber könnte man von einer zunehmenden Informalisierung sprechen, die, paradox formuliert, von Systemen
geduldet wird, solange und soweit sie geduldet wird. Vorausgesetzt,
sie werden zum expliziten
Thema in der Organisation und zum Problem für die Organisation, können Entscheidungen getroffen werden, die Netzwerke auflösen bzw. anderes an ihre Stelle setzen.
7
S,·hluss
Die Systemtheorie hat zweifellos längst noch nicht auf alle Fragen und Herausforderungen
eine
Antwort, die mit sozialen Netzwerkphänomenen
aufgeworfen sind. Und einige Fragen - wie die
quantitative Vermessung von Netzwerkstrukturen
in formalen Hinsichten - liegen ihr vermutlich
auch zukünftig eher fern. Wohl aber kann man einen der zentralen Vorteile einer systemtheoretischen Perspektive auf Netzwerke darin sehen, dass sie - zumal sie Theorie der Kommunikation ist
- Probleme an diesem Phänomen aufzuschließen vermag, die herkömmlichen Netzwerkansätzen
nicht zugänglich sind, weil ihnen in ihrem bereits grundbegrifflich auf Netzwerke abstellenden Zugang oder in ihrer auf Netzwerkfunktionalitäten
eingeschränkten Perspektive soziologisch relevante
und interessante Fragen entgehen müssen, die mit sozialen Netzwerken in der modernen Gesellschaft und ihren Organisationen verbunden sind.
9 Dies gilt aber auch für die Netzwerkforschung,
die sich im Rahmen ihrer Begrifflichkeiten - von Hause aus - für diese
Unterscheidungen
eher wenig interessiert, im Übrigen auch nicht für Unterscheidungen
wie Netzwerkdarstellung/Netzwerkherstellung
oder Netzwerkfunktionalität/Netzwerklegitimität,
die hier hervorgehoben wurden.
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Beitrag: Systeme und Netzwerke
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Steuerung in Wirtschaft und Politik. Frankfurt a.M.:
Campus, S. 167-212.
Autorenhinweis
Veronika Tacke, Dr. rer soc., ist Professorin
für Organisationssoziologie
logie der Universität Bielefeld. Ihre Hauptarbeitsgebiete
forschung, im Rahmen der soziologischen
http://www.uni-bielefeld.de/sotJ
an der Fakultät für Sozio-
sind die Organisations-
und die Netzwerk-
System- und Gesellschaftstheorie.
forschung/ orgsotJ Veronika_ T acke /
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