Die dunkle Seite der Religion

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Politik
Zehn Jahre nach 9/11
Die dunkle Seite der Religion
31.08.2011, 18:06
Von Matthias Drobinski
Die Anschläge vom 11. September haben den Islam in den Mittelpunkt
der westlichen Aufmerksamkeit gerückt: Plötzlich war er sichtbar, mit
seinen strengen Regeln und der Vermischung von Glauben und Politik.
Die Religion kehrte zurück in die Konflikte der Welt. Den Graben
zwischen Christen und Muslimen hat der Terror zwar vertieft. Doch der
Dialog ist seither ehrlicher.
Ausgerechnet die Reisetasche entging am 11. September 2001 dem Inferno.
Gefunden wurde sie im Bostoner Logan Airport, aufgegeben hatte sie
Mohammed Atta, jener Mann, der die Boeing 757 des American-AirlinesFluges 11 um 8:46 Uhr in den Nordturm des World Trade Centers in New
York steuerte. Durch Zufall war sie nicht in der Todesmaschine. In dieser
Tasche fand man ein schreibmaschinengeschriebenes Testament.
Eine junge Demonstrantin fordert bei Protesten in New York im April 2011 Toleranz für alle
Religionen. (© AFP)
"Ich glaube, dass Mohammed Gottes Gesandter ist, und habe nicht den
geringsten Zweifel, dass die Zeit kommen wird, da Gott alle Menschen aus
ihren Gräbern wiederauferstehen lässt", hat der junge Mann im Jahr 1996
geschrieben. Frauen sollten seiner Beerdigung fernbleiben; der Mann, der
seinen Leichnam wäscht, soll Handschuhe tragen, damit er die Genitalien des
Toten nicht berührt.
Mohammed Atta hielt sich für einen guten und frommen Muslim. Er dürfte in
der Überzeugung gestorben sein, dass es nichts Höheres für einen Gläubigen
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gibt, als im Namen Gottes sein Leben zu geben - und im Namen Gottes auch
Menschen zu töten, die durch ihre Lebensweise den Allmächtigen lästern. Der
Terror und der Suizid waren für ihn die wahre Form des Gottesdienstes. Nach
all den Kriegen und Hinrichtungen und Folterungen, die im Namen Gottes
geschehen waren, nahm das Abgründige des Religiösen an jenem Dienstag
im September seine jüngste, modernste Gestalt an.
Man kann mit gutem Grund sagen, dass Terror nie im Namen Gottes
geschieht und jeden Gott lästert, dem zu dienen er vorgibt. Egal, ob nun Atta
eine Boeing in ein Hochhaus lenkt oder der Norweger Anders Behring Breivik
auf einer Insel junge Menschen erschießt, weil er sich als Retter des
Christentums wähnt. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Die Wahrheit ist
auch, dass der eine Gott, an den Juden, Christen, Muslime glauben, zwar die
Menschen zu größter Menschlichkeit bringen kann, in seiner Eifersucht auf
die fremden Götter aber auch zu größter Grausamkeit.
Ein bekannter Abgrund
Am 11. September offenbarte sich die grausame, gewalttätige, unheimliche
Seite der Religion, zum Entsetzen der Europäer und Nordamerikaner. Doch in
den islamisch geprägten Teilen der Welt war dieser Abgrund der Religion nur
allzu bekannt. Bis heute sind mehr Muslime durch den Terror von Muslimen
gestorben als Christen, was in der Logik religiös motivierter Gewalt liegt: Der
Verräter des eigenen Glaubens ist noch schlimmer als der Feind von außen.
Die Anschläge vom 11. September haben die Religion in den Fokus der
Aufmerksamkeit im Westen gerückt, in einem scheinbar säkularisierten
Westen. Das Christentum war dort gezähmt durch die Aufklärung. Es war
Lebenshilfe für den Einzelnen und soziale Schmiere für die Gemeinschaft
geworden; wer anders oder gar nicht glaubte, brauchte nicht mehr den Zorn
irgendwelcher Kirchenoberen zu fürchten.
Und da war er auf einmal, der Islam. Bislang war er im Westen eine
Angelegenheit der Wissenschaftler und Orient-Reisenden gewesen, der
kirchlichen Dialog- und der kommunalen Integrationsbeauftragten. Er hatte
sich in den Hinterhöfen Europas versteckt und in den Städten Amerikas, war
von den dortigen Mehrheiten als Hintergrund der allgemeinen Rückständigkeit
und Gewaltbereitschaft der Araber, Nordafrikaner und des Nahen Ostens
wahrgenommen worden.
Plötzlich war er sichtbar, grell beleuchtet vom Feuerschein der
explodierenden Flugzeuge - mit seinen strengen Regeln und der Vermischung
von Religion und Politik. Mit den kriegerischen Passagen im Koran und dem
mittelalterlichen Rechtssystem der Scharia, der theologischen Starre, der
Ideologie der islamischen Weltgemeinschaft, vereint im Hass auf den Westen.
Zwölf Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts schien der Westen,
schienen Freiheit, Demokratie und Pluralismus erneut bedroht. Der
Nahostkonflikt, die Nord-Süd-Auseinandersetzungen wurden zu
Auseinandersetzungen mit dem Islam, aus der Integrations- die Islamdebatte.
Die Religion war zurückgekehrt in die Konflikte der Welt.
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Es begann lange vor 9/11
Dieser Prozess hatte bereits vor dem 11. September 2001 begonnen - wie so
vieles schon begonnen hatte, was nun als unmittelbare Folge des Terrors von
New York und Washington verstanden wird. Schon in den sechziger Jahren
hatte Ayatollah Chomeini das Schah-Regime und den mit dem Schah
verbundenen Westen als anti-islamisch gebrandmarkt, im Unterschied zur
linken und liberalen Opposition. 1979, als Sieger der iranischen Revolution,
erklärte er die USA zum großen und Israel zum kleinen Satan. 1988 nannte
die Charta der einstigen Wohltätigkeitsorganisation Hamas es als Ziel, "die
Fahne Allahs über jedem Zoll Palästinas aufzuziehen", im Gegensatz zur
säkular-nationalen Ideologie der PLO.
1998 unterzeichnete Osama bin Laden das Manifest für eine "Internationale
Front für einen Dschihad gegen die Juden und Kreuzfahrer". Jeder Muslim
müsse die Feinde des Islams an jeder Stelle mit jedem Mittel bekämpfen,
Selbstmordattentate eingeschlossen, forderte bin Ladens Mitstreiter, der
ägyptische Chirurg Aiman al-Zawahiri. Den ersten Anschlag auf das World
Trade Center verübte das Terrornetz al-Qaida im Jahr 1993. Nein, es war
nicht neu, was vor zehn Jahren geschah.
Die Kampfansage erwidert
Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten hatten auch schon zuvor auf
unterschiedliche Weise die Kampfansage erwidert. Sie lieferten dem Irak
Waffen für den Krieg gegen Iran. Sie stützten die autoritären Regime in
Nordafrika aus Furcht, die Muslimbrüder könnten aus freien Wahlen als
Sieger hervorgehen, wie 1991 in Algerien geschehen. Sie führten Krieg gegen
den Irak, als Saddam Hussein mit seinem Angriff auf Kuwait die Golfregion
destabilisierte.
1993 entwarf Samuel Huntingtons Buch vom "Zusammenprall der Kulturen"
ein Gemälde der neuen Lage nach dem Ende des Ost-West-Konflikts: An die
Stelle des Gegensatzes von kommunistischer und kapitalistischer Welt tritt
darin die Konkurrenz verschiedener Kulturkreise, die sich auch in Konflikten
entlädt - und eine der schärfsten Bruchlinien ist die zwischen islamischer und
westlich-christlicher Kultur. Das Buch ist umstritten, Huntington selber hat es
später differenziert - aber die These vom Kampf der Kulturen ist seither in der
Welt.
Apokalypse bedeutet: Das Verborgene wird offenbar. So gesehen war der
Sturz der Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers, ins Pentagon und
in die ehemalige Kohlegrube bei Shanksville apokalyptisch. Er hat den
Graben sichtbar werden lassen zwischen dem reichen, mächtigen, irgendwie
christlichen Westen und dem, was man die islamische Welt nennt. Auch das
Ausmaß der - mal ohnmächtigen und mal gewalttätigen - Wut vieler Muslime
auf den Westen oder auf das, was sie für den Westen halten, hat der 11.
September sichtbar gemacht, ebenso wie die verbreitete Selbstwahrnehmung
als Opfer imperialistischer und kolonisatorischer Mächte, auch dann, wenn
das nicht stimmt, wie im Fall des reichen Saudi-Arabiens.
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Er hat den Mangel an Kenntnis voneinander und Dialog miteinander gezeigt.
Der Anschlag der Männer, die sich im Auftrag Allahs unterwegs wähnten, hat
diesen Graben vertieft und in der islamischen Welt die Fähigkeit verringert,
das Abgründig-Gewalttätige in der Religion zu begreifen. Die wenigen
Muslime, die es thematisierten, blieben verfemte Außenseiter.
Im Westen wiederum wurde nun ebenfalls die religiöse Aufladung des
Konfliktes populär. George W. Bush, dem amerikanischen Präsidenten, ging
es nicht mehr nur um die notwendige Abwehr des Terrors, sondern um den
Kreuzzug gegen die "Achse des Bösen"; die Kriege in Afghanistan und gegen
den Irak fanden ihre ethische Begründung in der Verteidigung der eigenen
Werte gegen die neue, gefährliche Religion.
Neu und gefährlich scheint der Islam seit dem 11. September 2001 zu sein,
populistische islamfeindliche Parteien und Bewegungen machen sich das
zunutze. Seit 2001 erscheint der Islam als militant, rigoristisch und
beängstigend kinderreich. Der Orient, die Türken - das hat nichts mehr mit
dem weisen Sultan Saladin aus Lessings Nathan zu tun. Am 11. September
lagen die Türken wieder vor Wien, nur schossen sie diesmal nicht mit
Kanonen auf die Christen, sondern kämpften in ihrer asymmetrischen
Kriegsführung eigener Heimtücke mit den Mitteln des Hinterhalts und der
Demografie.
Fragen der Identität
Betrachtet man diese Freund- und Feind-, Innen- und Außen-Wahrnehmung
näher, dann hat sie oft überraschend wenig mit dem richtigen Leben zu tun.
Seit vierzig Jahren sind Muslime überwiegend treue Staatsbürger im Westen,
mag es mit einer Minderheit auch Probleme geben. Seit Jahrzehnten
wünschen sich die meisten Muslime sehr, in vergleichbarer Freiheit wie in
Europa oder Amerika zu leben, wenigstens annähernd friedlich und
wohlhabend, wie sehr manche in ihrer Rhetorik auch diesen Westen
verteufeln mögen.
Selbst das Gebäude der Muslimbrüder steht auf den Füßen der christlichreaktionären Kulturkritik: Niemanden zitiert Sayyid Qutb, der 1966 in Ägypten
hingerichtete Gründervater des modernen Islamismus, so häufig wie den
französischen katholischen Fundamentalisten Alexis Carrel, der in den
dreißiger Jahren die Moderne als Barbarei beschrieb und ein System entwarf,
in dem die Religion über Staat, Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur
herrscht und wacht.
Wie finden Menschen ihren Platz?
Es geht aber auch weniger um Wahrheitsfragen, es geht viel häufiger um
Identitätsfragen, die im Christentum wie im Islam als Folge des 11. September
an Bedeutung gewonnen haben. Wie finden Menschen in einer globalisierten
Welt religiös und geistig ihren Platz, wie bewahren sie das Eigene und
Unverwechselbare, wohin gehört die Religion? Der moderne Islam hat noch
keine Antwort auf diese Fragen gefunden. Die Aggression gegen den Westen
ist auch kein Zeichen beängstigender Stärke oder gar der Überlegenheit
gegenüber einem laschen Christentum, sie ist ein Zeichen der Schwäche. In
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der Wiederkehr des Religiösen offenbart sich aber auch die Schwäche des
Christentums, das nicht mehr die selbstverständliche Religion des Westens
ist.
Viele Christen - und das wiederum war ein Zeichen der Stärke - haben der
Kreuzzugsrhetorik des George W. Bush widersprochen. Der kranke Papst
Johannes Paul II. hat 2003 mit aller verbliebenen Kraft versucht, den IrakKrieg zu verhindern, die meisten Kirchen in den Vereinigten Staaten sprachen
sich gegen den Feldzug aus. Es waren auch überwiegend Christen, die eine
staatlich inszenierte Freude nach dem Tod Osama bin Ladens für
unangebracht hielten. Der Dialog zwischen Christen und Muslimen im Westen
ist um einige Illusionen ärmer, aber er ist auch ehrlicher und intensiver
geworden. Islamischer Religionsunterricht in Landessprache, Lehrstühle für
islamische Theologie, eine Islamkonferenz - auch das sind indirekte Folgen
jenes Spätsommertags, an dem das Abgründige des Religiösen sichtbar
wurde.
In Nordafrika und dem Nahen Osten fehlten solche Entwicklungen bislang
weitgehend - wobei auch hier die große Mehrheit der Theologen und
Religionsführer klar machte, dass es Terror im Namen Gottes aus ihrer Sicht
nicht geben kann. Doch wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass eine von
jungen Leuten angezettelte Revolte die Regime in Tunesien, Ägypten, gar
Libyen hinwegfegen könnte - ohne dass dadurch zwangsläufig die Islamisten
an die Macht kämen, wie über Jahrzehnte hinweg prophezeit? "Arabischer
Frühling" heißt nun, was dort geschah, nicht islamischer Frühling, auch, weil
der politische Islam nur eine marginale Rolle spielte. Diese Umwälzungen
könnten dem Kampf um die humane Seite der Religion mehr helfen als der
Tod Osama bin Ladens, heißt es - es ist eine Hoffnung, immerhin.
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