DSM-5: Bedeutung für die Begutachtung

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Originalbeiträge
A. Stevens, M. Fabra
DSM-5: Bedeutung für die
­Begutachtung
Einleitung
Im Mai 2013 wurde von der Amerikanischen Psychiatrischen Assoziation (APA)
die 5. Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual [1] veröffentlicht. Die deutsche Übersetzung ist im Dezember 2014,
herausgegeben von Falkai und Wittchen
im Auftrag der Deutschen Gesellschaft
für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), erschienen. Das
DSM-5 gibt den aktuellen Konsensus
einer internationalen, von der APA ausgewählten Gruppe von Experten wieder,
wie psychische Störungen definiert werden können. Da das DSM-5 den aktuellen medizinischen Kenntnisstand im Sinne eines Konsenses abbildet, ist es auch
für die wissenschaftliche Begutachtung in
Deutschland von wesentlicher Bedeutung.
Mit dem Satz „ ... Voraussetzung
für die Anerkennung von psychischen
Gesundheitsstörungen als U
­nfallfolge
[...] ist zunächst die Feststellung der
konkreten Gesundheitsstörungen, die
bei dem Verletzten vorliegen und seine
Erwerbsfähigkeit mindern [... und zwar]
aufgrund eines der üblichen Diagnosesysteme und unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen [...],
damit die Feststellung nachvollziehbar
ist“ hat das Bundessozialgericht (BSG)
in seinen wegweisenden Urteilen vom
09.05.2006 (B 2 U 40/05 R, B 2 U 1/05
R, B 2 U 26/04 R) sowohl die Gerichte,
als auch die Verwaltungen nebst den von
diesen gehörten Sachverständigen auf die
Anwendung der Internationalen Diagnosesysteme ICD-10 [3] und DSM-IV-TR
[2] festgelegt. Ganz ähnlich entschied
das LSG BB (23.9.2008, L 2 U 1101/05):
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Andreas Stevens
Medizinisches Begutachtungsinstitut
Tübingen
Doblerstr. 17
72074 Tübingen
„Die Diagnose … hat sich nach einem der
international anerkannten Diagnosesysteme zu richten … Einem Gutachten, das
die Voraussetzungen der ICD-10 beziehungsweise des DSM-IV negiert, weil
eine andere wissenschaftliche Lehrmeinung zugrunde zu legen sei, ist schon aus
diesem Grunde nicht zu folgen … Denn
das Erfordernis, psychische U
­ nfallfolgen
immer nach international anerkannten
Diagnosemanualen zu bewerten, dient
dem erklärten Ziel, derartige Diskrepanzen in der gutachtlichen Bewertung auszuschließen und eine Gleichbehandlung
der Versicherten herbeizuführen.“ Es ist
zu erwarten, dass in ähnlicher Weise (und
nicht nur seitens der Sozialgerichtsbarkeit) das DSM-5 und die ICD-11, deren
Erscheinen mittlerweile für 2016 avisiert
wird, zur Grundlage ärztlicher Begutachtung erklärt werden.
Unabhängig davon, dass nunmehr
ein „den aktuellen wissenschaftlichen
Stand“ beschreibendes Diagnosemanual
zur Verfügung steht – die ICD-10 wurde von der WHO 1990 verabschiedet, das
DSM-IV erschien 1994, seine textrevidierte Form DSM-IV-TR 2000, in deutscher Übersetzung 2003 [10] –, bringt
das DSM-5 Konkretisierungen und Eingrenzungen, aber auch Erweiterungen
in den diagnostischen Kriterien diverser
Störungsbilder mit sich. Die seit Jahren
gehende Diskussion, ob man im medikolegalen Kontext Diagnosen nach den
Vorgaben der ICD-10 / DSM-III oder des
DSM-IV-TR zu stellen hat, wird durch
das DSM-5 hoffentlich ihr Ende finden.
Einige wesentliche, weil allgemeine
Änderungen seien vorab besprochen: In
Abänderung und Ergänzung zum DSMIV(-TR) werden im DSM-5 in der Definition einer psychischen Störung die beiden grundlegenden Voraussetzungen für
die Vergabe einer Diagnose deutlich hervorgehoben, nämlich das Dysfunktionale
und das Abnorme (DSM-5, S. 20):
„Eine psychische Störung ist ein Syndrom, charakterisiert durch eine klinisch
signifikante Beeinträchtigung der Kog-
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Zusammenfassung
Im Dezember 2014 ist die deutsche
Ausgabe der 5. Auflage des Diagnostischen und statistischen Manuals
psychischer Störungen (DSM-5) erschienen. Das DSM-5 und die darin
enthaltenen Definitionen psychischer
Störungen stellen somit den aktuellen
medizinischen Kenntnisstand, die maßgebliche Grundlage wissenschaftlicher
psychiatrischer Begutachtung dar. In
dem folgenden Aufsatz wird erörtert,
inwiefern das DSM-5, welches heftig
kritisiert worden ist, dazu taugt und was
der psychiatrische Sachverständige,
aber auch der Jurist bei der Anwendung
bedenken sollte. Die Möglichkeiten und
Grenzen des psychiatrischen Sachverständigenbeweises werden betrachtet.
Schlüsselwörter DSM-5 – psychiatrische Begutachtung – Methodik –
Sachverständigenbeweis
nition, der Affektregulation oder des Verhaltens eines Individuums, welche eine
Störung der den geistigen Funktionen zu
Grunde liegenden psychologischen, biologischen oder Entwicklungsprozesse widerspiegelt. Eine erwartungsentsprechende
oder kulturell gebilligte Reaktion auf einen
Stressor oder Verlust, wie der Tod eines
geliebten Menschen, ist keine psychische
Störung. Gesellschaftlich unerwünschtes Verhalten (z.B. politisch, religiös oder
sexuell) und Konflikte, die sich vor allem
zwischen Individuum und Gesellschaft
abspielen, sind keine psychische Störung,
solange die Verhaltensabweichung oder
Konflikte nicht das Ergebnis einer Funktionsstörung des Individuums sind, wie oben
beschrieben.“ (Diese und folgende Übersetzungen durch die Autoren.)
Das Kriterium der klinischen Signifikanz wird in einem eigenen Abschnitt
erörtert („Criterium for Clinical Significance“, S. 21):
„Mangels eindeutiger biologischer
Marker oder klinisch verwertbarer Maße
der Schwere für viele psychische Störungen war es nicht möglich, vollständig
zwischen normalen und krankhaften Symptomäußerungen in den diagnostischen
Kriterien zu unterscheiden. Diese Informationslücke ist besonders problematisch
in klinischen Situationen, bei denen die
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Symptompräsentation selbst (besonders
bei den milden Formen) nicht von vornherein krankhaft ist sondern auch bei Individuen angetroffen werden kann, für die
die Diagnose einer psychischen Störung
unangemessen wäre. Aus diesem Grund
wurde ein allgemeines diagnostisches
Kriterium verwendet, welches Leiden und
Beeinträchtigung fordert...“.
Wozu Diagnosen?
Die Entscheidung des BSG, medizinische
Sachverständige auf die internationalen
Diagnosesysteme festzulegen, hat Konsequenzen von erheblicher Tragweite: Um
diese ermessen zu können, hat man sich
zunächst den Sinn von medizinischen Diagnosen im Allgemeinen und psychiatrischen Diagnosen im Besonderen zu vergegenwärtigen: Es handelt sich dabei nämlich um Definitionen, die es Fachleuten
und ebenso Laien ermöglichen sollen, sich
gewissermaßen „mit einem Wort“ über
1. die Symptomenkonstellation,
2. das Ausmaß in etwa zu erwartenden
Leidens und Funktionsminderung,
3. die Therapiemöglichkeiten und
4. die Prognose
eines Störungsbildes zu verständigen.
Das DSM-5 stellt insoweit den aktuellen Versuch dar, eine Klassifikation
psychiatrischer Störungsbilder vorzunehmen und Diagnosen zu operationalisieren, wobei das erzielte Ergebnis gegenüber den Vorversionen nach Auffassung
der Autoren nur zum Teil einfacher und
einleuchtender geworden ist. Dem wissenschaftlich arbeitenden Sachverständigen bleibt jedoch – nicht zuletzt aufgrund
der Vorgaben des BSG (s.o.), die nach
Auffassung der Autoren dem Grunde
nach auch in den anderen Rechtsgebieten Geltung haben müssen – keine andere
Wahl, als sich mit diesen, den aktuellsten
Kriterien, auseinanderzusetzen.
Anwendung des DSM-5
im medikolegalen Kontext
Aufgabe eines medizinischen Sachverständigen vor oder im Gerichtsprozess ist
es, seine Auftraggeber (Gerichte, Sozialversicherungen, Versorgungsämter, Privat- und Sachversicherungen u.a.m.)
durch ärztliche Beweiserhebung darüber
zu beraten, ob vom Antragsteller – der in
der Regel dann auch gutachtlich untersucht wurde – geltend gemachte Umstände zutreffen oder nicht.
In der Auffassung der Antragsteller impliziert die Behauptung, an einer
bestimmten Gesundheitsstörung zu leiden, häufig, dass damit auch gewisse
Beeinträchtigungen nachgewiesen sind.
Aus Sicht des Sachverständigen impliziert die Diagnose aber nur einen gewissen Kontext der Ätiologie, der Therapie und der Prognose. Das Leistungsvermögen folgt nicht aus der Diagnose und
muss gesondert erfasst werden. Mitunter
ist ja auch nur über das Leistungsvermögen Beweis zu erheben, z.B. wenn Aussagen zu bestimmten Fähigkeiten (beispielsweise über die Flugtauglichkeit
oder die Fähigkeit, ein Kraftfahrzeug zu
führen) gefragt sind. Mitunter gelten Aussagen künftigem Verhalten, wie bei der
kriminalprognostischen Begutachtung.
Für die Begutachtung ist ferner maßgeblich, dass das Stellen einer Diagnose die Anwendung einer Namenskonvention ist, nicht mehr und nicht weniger.
Eine Diagnose beinhaltet weder unmittelbar eine Aussage zur Kausalität (eine gesicherte Diagnose ist aber Voraussetzung für
die Darlegung des medizinischen Kenntnisstandes über die Ätiologie der Störung)
noch eine Aussage über die mit der Diagnose verbundene Invalidität, Funktionsminderung, Verantwortlichkeit etc..
Wie im DSM-IV-TR [2] darf auch im
DSM-5 eine Diagnose nur dann vergeben werden, wenn dargelegt ist, dass die
damit bezeichnete Störung im konkreten
Fall, nicht etwa im Allgemeinen, zu einer
wesentlichen Funktionsbeeinträchtigung
führt. Eine nachgewiesene Funktionsbeeinträchtigung ist also Voraussetzung,
nicht Konsequenz der Diagnose. Dieser
Umstand wird deswegen hervorgehoben, als gerne folgende zirkelschlüssige Unlogik angewendet wird: Bei einer
Person wird ohne Beachtung des Kriteriums der Funktionsbeeinträchtigung eine
Diagnose gestellt, sodann aus der Diagnose geschlussfolgert, dass auch eine
bestimmte Funktionsminderung vorliegen müsste, und schließlich erklärt, dass
also auch das für die Diagnose geforderte Kriterium der wesentlichen Funktionsminderung erfüllt sei. So wird das zu
Beweisende in die Prämissen eingesetzt.
In diesem Punkt gehen die allein an die
Diagnose gebundenen MdE-Vorschläge Foersters et al. [7] nicht konform mit
den Vorgaben des DSM. Einer bereits mit
der Diagnose begründeten pauschalen
Festsetzung herabgesenkten psychosozialen Funktionsniveaus wird im DSMIV-TR wie auch im DSM-5 ausdrücklich
widersprochen. Es findet sich ein eigener Abschnitt („Cautionary Statement
for Forensic Use of DSM-5“), in dem der
Sachverhalt, weshalb aus einer Diagnose keine Beeinträchtigung etc. abzuleiten
ist, ausführlich erläutert wird.
Der Sachverständige fungiert in diesen Tätigkeiten ausschließlich als Berater, der medizinische Sachkenntnis neutral und wissenschaftlich begründet zu
vermitteln hat. Hier ergibt sich eine
grundsätzliche Verschiedenheit zwischen
Sachverständigen- und Behandlerrolle:
Der Sachverständige entscheidet nämlich
nicht selbst über den streitigen Sachverhalt, sondern er klärt den Auftraggeber
allein darüber auf, welche Schlussfolgerungen sich aus den zur Verfügung stehenden Informationen (Anknüpfungstatsachen, Akteninhalten, Angaben des
untersuchten Menschen, Tatsachenfeststellungen des Sachverständigen, wissenschaftlichem Kenntnisstand) ziehen
lassen. Im Gegensatz zum Behandler,
der mit dem (schriftlich dokumentierten)
Einverständnis seines Patienten für einen
definierten Zeitraum „Herr des Verfahrens“ wird, verbleibt die Verfahrenshoheit für den Sachverständigen stets beim
Auftraggeber, dies mit allen sich daraus
ergebenen rechtlichen Konsequenzen.
Die Sachverständigentätigkeit ist
somit eine epistemische. Dem Sachverständigen obliegt es, die am Ende der
gutachtlichen Erhebungen zur Verfügung stehenden Informationen zu ordnen
und die in den Beweisfragen vorgelegten
Behauptungen jeweils einer der Kategorien zuzuweisen:
(1)Vom Sachverständigen nicht durch
Tatsachenfeststellung überprüfbare
Behauptung, diese kann
a) glaubhaft sein, d.h. sie ist mit
den übrigen Informationen vereinbar
und es ergeben sich keine negativen
Antwortverzerrungen,
b) nicht glaubhaft sein, d.h. sie ist mit
den übrigen Informationen nicht
vereinbar oder es ergeben sich
negative Antwortverzerrungen.
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(2)
vom Sachverständigen durch Tat­
sachenfeststellung überprüfbare Be­hauptung; diese kann
a) durch Beweis (als zutreffend) zur
nachgewiesenen Tatsache werden,
b) als nicht zutreffend, nicht festgestellt oder sogar widerlegt zurückgewiesen werden.
Als „glaubhafte aber unbewiesene
Sachverhalte“ (Typ 1a) werden Angaben gewertet, die in ein allgemeines,
vom Sachverständigen wissenschaftlich
begründet vertretenes System von Überzeugungen widerspruchsfrei eingeordnet werden können. Voraussetzung ist,
dass sich keine Anhaltspunkte für negative Antwortverzerrung bei der Untersuchung ergeben, dies schließt die ärztliche
und die psychologische Beschwerdenvalidierung ein. Diese Zuordnung führt weder
zu der Annahme, dass Behauptungen vom
Typ 1a „wahr“ und damit bewiesenen Tatsachen (Typ 2a) gleichwertig sind, noch
zu der, dass Behauptungen vom Typ 1b
widerlegt, also bewiesenermaßen „falsch“
sind: Ein Übergang zwischen den epistemischen Kategorien 1 und 2 ist nicht möglich. Die „nachweisbaren Tatsachen“ (Typ
2) sind diejenigen Sachverhalte, die der
Sachverständige im Grunde selbst feststellen kann (wenn sie denn vorliegen). Er
kann ihr Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein bezeugen.
Genügen für den Sachverständigenbeweis Behauptungen des Typs 1a? Wir meinen: Nein. Denn z.B. in der gesetzlichen
Unfallversicherung (GUV) ist die Gesundheitsstörung im Vollbeweis zu sichern,
auch in der Haftpflichtversicherung, mit
Ausnahme des Folgeschadens. Der Vollbeweis verlangt ein derart hohes Maß
an Sicherheit, dass „ … bei vernünftiger
Abwägung den Zweifeln Schweigen geboten wird“ (BGH NJW 70, 946). Zwar ist es
nicht Aufgabe des Sachverständigen, darüber zu urteilen, unter welchen Gegebenheiten der Vollbeweis erfüllt ist und unter
welchen nicht, dies zu entscheiden obliegt
allein dem Auftraggeber, im Letzten ist es
eine richterliche Entscheidung. Gleichwohl wird man davon ausgehen können,
dass eine ausschließliche Behauptung
einer der Parteien (Kategorie (1), s.o.) dem
Anspruch des Voll- oder Strengbeweises in
den meisten Fällen nicht genügen dürfte.
Hier tritt wieder der Unterschied zwischen dem Sachverständigen und dem
Entscheidungsträger hervor: Letzterer
mag die Behauptung Typ 1a zur Grundlage seiner Entscheidung machen (er ist
frei in der Beweiswürdigung), wenn Typ
2 nicht zur Verfügung steht – der Sachverständige darf aber nicht aus dem Typ
1 (unbewiesen) gewissermaßen „heimlich“ den Typ 2a (bewiesen) machen und
Beweise erfinden, wo keine sind (etwa
über Alpträume, Panikattacken oder
Bewegungsstörungen, die er selbst an
dem zu begutachtenden Menschen nicht
wahrgenommen hat).
Es ergibt sich nun das Problem, dass
für die meisten Diagnosen im DSM-5
nur einige der oft zahlreichen Symptome
im Sinn des Typs 2 nachgewiesen werden können, die anderen aber sich auf
subjektive Erlebensweisen oder episodische Zustände beziehen, die der Sachverständige nur nach Typen 1a und 1b ordnen kann. Da in der Psychiatrie dieselben
Beweisanforderungen gelten wie in anderen Fächern, kann der Sachverständige den
Beweis einer Diagnose nur auf Beobachtungen oder Feststellungen gründen, die
er selbst getroffen hat. Weiter unten wird
ausführlich besprochen, wie der Sachverständige vorgehen kann, wenn die beweisbaren Symptome nicht hinreichen, um die
Diagnose zu stellen. Die Tauglichkeit des
DSM-5 und der darin beschriebenen Symptome, das Vorliegen einer psychischen
Störung zu beweisen, ist beschränkt durch
die große Anzahl von Symptomen, deren
Vorliegen der Sachverständige weder
nachweisen noch widerlegen kann.
Sind behauptete Symptome, die dem
Typ 2 entsprechen, also grundsätzlich
nachweisbar sind, trotz geeigneter Untersuchungsbedingungen nicht beobachtbar
resp. feststellbar, so sind sie nicht bewiesen, der Sachverständige kann die entsprechende Behauptung also nicht bestätigen.
Eine zusätzliche Kategorie „evtl. vorhanden, aber gerade jetzt nicht beobachtbar“
ist entbehrlich, denn dies entspricht Aussagen vom Typ 2b, ebenso Spekulationen darüber, ob die fehlenden Symptome vielleicht unter anderen Bedingungen, bei einer Begutachtung durch eine
andere Person, zu einer anderen Zeit, an
einem anderen Ort, unter anderer Medikation, nach einem anderen Verlauf des
Vortages, etc. aufgetreten wären. Gewiss
treten psychische Symptome nicht mit
deterministischer Zuverlässigkeit stets
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auf, sodass aus dem beobachteten Ausbleiben in der Begutachtung (etwa, wenn
es beim Besprechen des traumatisierenden Ereignisses im gutachtlichen Interview bei behaupteter PTBS nicht zu belastenden Erinnerungsbildern (Subkriterium
B1 nach DSM-5), dissoziativer Reaktion
(B3), intensiver … Belastung (B4) oder
deutlicher sympathikotoner Reaktion (B5)
kommt) nicht auf allzeitige Abwesenheit
geschlossen werden darf. Andererseits fordert das DSM-5, s. z.B. die Definition der
Angststörungen, dass die Symptome mit
hoher Zuverlässigkeit und nicht nur unter
besonderen Umständen auftreten. Lassen
sich also im Grunde beobachtbare Phänomene in der Begutachtung, unter Anwendung suffizienter Methodik und hinlänglicher Dauer der Untersuchung nicht erkennen, so sind sie zum einen nicht als Tatsache festgestellt (Typ 2b) und zum anderen
bzgl. des Leidens und der Absenkung des
psychosozialen Funktionsniveaus schwerlich relevant.
Fehler sind sowohl hinsichtlich
der Zuordnung der Behauptung zu den
Kategorien 1 = nicht beweisbar und 2 =
beweisbar als auch hinsichtlich der Untersuchungstechnik möglich und erfahrungsgemäß häufig. Ein Sachverständiger, der
bei einer geltend gemachten PTBS den
zu Begutachtenden nicht mit Details des
Traumas konfrontiert sondern mitteilt, der
Hergang sei ja schon bekannt (als gelte
es, den Geschehenshergang zu ermitteln),
wird wesentliche Symptome einer PTBS
nicht beobachten können. Aufgrund unzulänglicher Methodik würden die Behauptungen des Antragstellers der Kategorie
1 zugewiesen werden, jedoch fehlerhaft,
denn es handelt sich um Sachverhalte, die
grundsätzlich einer Überprüfung zugänglich sind (Typ 2).
Bei der Diagnose z.B. einer Major
Depression soll die „nahezu täglich herabgesenkte Stimmung“ und der „bedeutsame Verlust an Interessen und Lebensfreude“ entweder durch Dritte beobachtet, oder aber von dem betroffenen
Menschen selbst behauptet worden sein.
Der Sachverständige muss sie selbstredend selbst beobachten, schon weil dies
grundsätzlich auch möglich ist (Typ 2),
die bloße Behauptung eines grundsätzlich beobachtbaren Phänomens reicht bei
der Begutachtung eben nicht zum Sachverständigenbeweis. Das DSM-5 eröffnet
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zwar die Möglichkeit, die Diagnose einer
Major Depression auch dann zu vergeben, wenn der Untersucher die entsprechenden Symptome nicht beobachtet, um
eine Behandlung einzuleiten. Im Einvernehmen mit dem Patienten (dem der Therapeut sagen mag: „Im Moment kann ich
bei Ihnen nichts Krankhaftes feststellen,
aber nach dem, was Sie mir sagen, kann
es sein, dass Sie an einer Depression leiden“), mag dies genügen. In der Begutachtung ist aber, wie schon oben angemerkt, der „Vertragspartner“ nicht der
Antragsteller, sondern der Auftraggeber.
Begnügt sich dieser im Sinn geringerer
Beweisanforderungen mit Informationen
vom Typ 1a (glaubhafte, untereinander
konsistente und nicht widerlegte Behauptungen), so kann der Sachverständige entsprechend verfahren. Gilt die Anfrage an
den Sachverständigen dagegen (erwiesenen) Tatsachen und handelt es sich um
Symptome, die im Grunde der Beobachtung zugänglich sind, genügt Typ 1a
(glaubhafte Behauptung) nicht.
Dasselbe gilt hinsichtlich der bei
Gutachten relevanten negativen Antwortverzerrung. Auch deren Vorliegen ist
grundsätzlich beweisbar oder mit hoher
Treffsicherheit auszuschließen (z.B. liegt
die positive und negative prädiktive Power der psychologischen Validierungsverfahren bei 0.9), sofern und nur sofern
geeignete Verfahren ärztlicher und psychologischer Beschwerdenvalidierung
eingesetzt werden.
Tatsachen des Typs 2 werden im gutachtlichen Interview und der körperlichen, ggfs. apparativen und psychologischen Untersuchung auf der Befundebene
erhoben. Sie werden vom Sachverständigen im Kontakt mit dem zu begutachtenden Menschen wahrgenommen.
Was die Erhebung von Befundtatsachen (Typ 2) in der Psychiatrie angeht,
so gelten für deren objektive Feststellung
dieselben Einschränkungen wie in anderen Fächern, man denke an die Interpretation von Röntgenbildern, an die Bestimmung des Bewegungsumfangs nach der
Neutral-Null-Methode, an die Wahrnehmung und Bewertung eines Herzgeräusches, an Mess- und Urteilsfehler überhaupt. Überall dort, wo Menschen beobachten und messen, dokumentieren, treten Fehler auf – und zwar sowohl mit
zufälliger Varianz als auch infolge syste-
matischer Verzerrungen, sog. Biases. In
manchen Ländern wird derartigen Einflüssen dadurch begegnet, dass bei der
Untersuchung ein zweiter Arzt anwesend
ist, der von der Gegenseite benannt wurde
(in Frankreich: „Expertise a deux experts,
expertise amiable et contradictoire“).
Kritik zum DSM-5 im
medikolegalen Kontext
Wie ist nach diesen methodischen Vorbemerkungen die Eignung des DSM-5
für die Begutachtung zu bewerten? Das
DSM-5 fasst den aktuellen Kenntnisund Meinungsstand der psychiatrischen
Fachgesellschaften zusammen. Der
Benutzer hat insoweit stets im Auge zu
behalten, dass es im Konsens einer vorwiegend aus Psychotherapeuten und therapeutisch arbeitenden Psychiatern bestehenden Interessengemeinschaft entstanden ist, was dazu führte, dass von Seiten
der nicht-therapeutisch arbeitenden Wissenschaftler einschließlich forensischer
Psychiater in erheblichem Umfang Kritik
dran geübt wurde.
Der erste und aus der Sicht der Autoren für den in Deutschland tätigen Sachverständigen führende Kritikpunkt ergibt
sich daraus, dass die diagnostischen Kriterien des DSM-5 aufgrund eines Konsensus unter ausgewählten Fachleuten
über Symptom-Cluster formuliert wurden,
ohne dass in ausreichendem Umfang wissenschaftliche Daten zugrunde lagen [8].
Dies erlaube, durch Auswahl und Nutzen
persönlicher Beziehungen und „Antibeziehungen“ der Mitglieder der einzelnen
Work-Groups und zum Editorial Board
im Wege von Konsensusentscheidungen die Anzahl von Diagnosen und dazugehöriger Kriterien beliebig zu vergrößern. Der daraus abgeleitete Vorwurf lautet, dass die psychiatrischen Behandler
durch die Vermehrung von Symptomen
und Diagnosen nicht nur eigene Interessen bedienten, sondern Hand in Hand mit
der Pharmaindustrie arbeiteten, um möglichst viele Menschen, die nicht psychisch
krank sind, sondern lediglich durch alltagsübliche Probleme belastet und maximal der Beratung bedürfen, zu psychisch
Kranken zu erklären und auf diese Weise
einer Behandlung zuzuführen. Die Skepsis wird gemehrt, da etliche der Mitglieder der Arbeitsgruppe, nämlich 69 %,
aktuelle finanzielle Beziehungen zur
Pharmaindustrie angegeben haben, künftige oder vergangene Beziehungen jedoch
nicht erfasst wurden. Die meisten psychiatrischen Diagnosen, so Frances [8], würden sogar von nicht psychiatrisch ausgebildeten Hausärzten gestellt; von dieser Arztgruppe werden auch die meisten
Psychopharmaka verordnet, sodass auf
diesem Wege der Verkauf der Psychopharmaka die Fachärzte für Psychiatrie
umgeht. Dazu muss man wissen, dass in
den USA Pharmaka direkt bei den Konsumenten beworben werden dürfen.
Ein weiterer Kritikpunkt bezieht
sich auf die im DSM-5 verankerten diagnostischen Schwellen, sowohl was die
Anzahl der erforderlichen Symptome wie
auch die Mindestdauer der Symptomatik betrifft. Die Anzahl der für die Diagnose geforderten Kriterien und auch die
Zeitkriterien fungieren als „Cut-off-Werte“, wobei Daten, die die Cut-offs rechtfertigen würden, nicht vorliegen. Wiederum Frances hat darauf hingewiesen, dass
nach den epidemiologischen Studien über
30 % der Bevölkerung innerhalb eines
Jahres die Kriterien für eine psychiatrische Diagnose erfüllen, wohingegen überall sonst in der epidemiologischen Statistik der Normbereich so definiert sei, dass
nur die äußersten 2,5 % am linken oder
rechten Ende der Verteilung als krankheitswert (abnorm) definiert würden. In
diesem Zusammenhang seien die epidemiologischen Studien genannt [11, 12],
die nach Metaanalyse von Studiendaten
aus diversen europäischen Ländern eine
Jahresprävalenz psychischer Erkrankungen von 27,4 % (2005) und 38,2 % (2011)
schätzten. Die weit höhere Zahl (nach
ICD-10) als psychisch krank klassifizierter Menschen 2011 im Vergleich zu 2005
komme nicht durch einen echten Anstieg
der Häufigkeit der Störungsbilder, sondern durch Überdiagnose (Missachtung
der diagnostischen Kriterien) und ungeeignete Methodik (Fragebögen statt psychiatrische Befunderhebung) zustande.
Young et al. [13] haben darauf hingewiesen, dass die Symptom-Cluster sich
von Ausgabe zu Ausgabe des DSM vermehrt haben, sodass immer mehr Möglichkeiten existieren, durch eine Kombination von Symptomen zu einer psychiatrischen Diagnose zu gelangen. Damit
habe man immer mehr Möglichkei-
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ten geschaffen, Menschen als psychisch
krank zu klassifizieren. So eröffne das
DSM-5 636120 verschiedene Möglichkeiten, Symptome für eine PTBS zu kombinieren, 425 für eine depressive Störung,
945 für kognitive Störungen nach einem
Schädelhirntrauma, 2036 für eine Alkoholabhängigkeit und 382 für eine Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ.
Angesichts einer solchen Vielfalt von
­diagnostischen Subtypen seien die Diagnosen „völlig amorph“. Nicht ohne Zynismus bemerken Young et al. dass, berücksichtige man auch noch Komorbiditäten,
beispielsweise der PTBS mit der depressiven Störung, Angst und Substanzmissbrauch durch die möglichen Symptomkombinationen über eine Quintillion
unterschiedlicher Störungsbilder allein als
„Traumafolgestörungen“ nahe der PTBS
entstehen, dies sei „beruhigender Weise
etwas weniger als die geschätzte Anzahl
der Sterne im Universum“ (S. 70).
Seitens der forensisch tätigen Psychiater ist das DSM-5 dahingehend kritisiert
worden, dass auch die aktuellen diagnostischen Kriterien kaum für eine forensische Beurteilung taugten (s. oben). Man
hätte sich gewünscht, dass die Autoren des DSM-5 darauf geachtet hätten,
inwiefern eine Diagnose beziehungsweise die dafür erforderlichen Kriterien
durch den Sachverständigen empirisch
begründet erhoben werden könnten.
Der der Weisung des Bundessozialgerichtes (BSG 2006, a.a.O. siehe oben)
folgende Sachverständige in Deutschland hat sich in Anwendung der internationalen Diagnosesysteme, hier im Speziellen des DSM-5, das Folgende zu vergegenwärtigen und ggfs. seinem Auftraggeber darzulegen: In Deutschland
existiert kein Standard, der die Qualität
dessen bestimmt, was als „sachverständige Aussage“ zu akzeptieren ist. Etabliert sind jedoch beispielsweise in den
USA die Daubert Standards (US Supreme Court 509 US 579, 1993). Demnach zählt als sachverständige Aussage
(„expert testimony“) nur, was den folgenden Kriterien genügt:
A) Die der Aussage zugrunde liegende Methode ist empirisch überprüfbar, das heißt, die in ihrer Anwendung
getätigte Aussage ist falsifizierbar. Dies
bedeutet, dass Aussagen zu solchen
Behauptungen, die der Sachverständi-
ge nicht überprüfen kann, weil sie nicht
zu falsifizieren sind (da keine empirische Methode zur Verfügung steht) nicht
als „sachverständige Aussage“ gewertet werden könnten (s. oben, Behauptungen vom Typ1). Behauptungen z.B., dass
der Untersuchte an Alpträumen gelitten
habe (s.o.), oder dass dieser bestimmte
Handlungen „unbewusst“ – nämlich dissoziativ – unternommen habe, sind einer
empirischen Überprüfung nicht zugänglich. Der Sachverständige müsste dazu
also streng genommen schweigen und
kann ein im Diagnosemanual gelistetes
Symptom, welches im Rahmen der sich
ihm eröffnenden Möglichkeiten nicht
falsifizierbar ist, seinem Auftraggeber
nicht als wissenschaftlich nachgewiesen
im Sinn des Typs 2 (s. oben) darstellen.
B) Die Methode ist in einer Fachzeitschrift veröffentlicht und einem Peerreview-Verfahren unterzogen worden. Dies
bedeutet, dass sich Experten mit der
Methode befasst haben und Meinungen
anderer Experten über das Verfahren vorliegen. Daraus geht nicht hervor, dass die
Methode bestimmte Leistungen erbringt,
allerdings erlaubt eine solche Veröffentlichung, zu sehen, was die Meinung von
Experten über das Verfahren ist, diese Meinung mag positiv oder negativ sein. Ein
der Expertenwelt bislang nicht zugänglich gemachtes Verfahren, über das also
keine anderen Beurteilungen vorliegen,
soll demnach nicht zu einer sachverständigen Aussage befähigen. Hier findet sich
also eine Maßgabe, die auf das DSM-5
in hohem Maße zutrifft, denn das DSM-5
wurde unter internationalen Experten diskutiert, und zahlreiche davon haben sich
sehr kritisch über das DSM-5 geäußert.
C) Die Gütekriterien – also Sensitivität, Spezifität, Reliabilität und Validität des Verfahrens – sollen bekannt sein.
Nur so ist etwa eine Aussage dazu möglich, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein
bestimmtes Testergebnis das Vorliegen
einer bestimmten Gesundheitsstörung
vorhersagt. Kriterien mit unzureichender
Sensitivität werden in vielen Fällen die
gesuchte Störung nicht anzeigen, obwohl
sie vorliegt, umgekehrt zeigen solche mit
geringer Spezifität das Vorliegen einer
Störung an, obwohl sie gar nicht besteht.
Gütekriterien für die meisten DSM-5-Diagnosen sind nicht bekannt. Schon aufgrund der Vielzahl der ein und demsel-
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ben Störungsbild zugeordneten Kriterien ist zu erwarten, dass die Gütekriterien
zu schlecht sind, um wissenschaftlichen
Ansprüchen zu genügen (s. unten!).
D) Der Sachverständige hat die
Methode richtig angewendet. Im Grunde könnten sich die Parteien unter Berufung auf den Grundsatz der Parteiöffentlichkeit durch Anwesenheit während der
Untersuchung davon überzeugen, dass
der Sachverständige die Methoden richtig angewendet hat. Da dies in der Regel
jedoch nicht in Anwesenheit der Parteien geschieht, muss der Sachverständige
die fehlende Parteiöffentlichkeit dadurch
ersetzen, dass er den Untersuchungsablauf
nebst Auswertungen, die er vorgenommen hat, detailliert darstellt. Nur so sind
sie nachvollziehbar und nur so kann später, auch durch andere geprüft werden, ob
die Methoden richtig eingesetzt wurden.
Würde man also die Daubert-Standards auf die gemeinhin vorgenommene psychiatrische Diagnosestellung und
insbesondere das DSM-5 als Grundlage
einer wissenschaftlichen Expertenaussage anwenden, so ergäben sich beträchtliche Zweifel: So erwiesen sich die in den
Feldstudien ermittelten diagnostischen
Übereinstimmungen für etliche Diagnosen als weit hinter den Erwartungen
zurück bleibend [9]. Für die meisten Diagnosen beziehungsweise ihre Kriterien
sind gar keine Feldstudien durchgeführt
worden, weil die diagnostischen Kriterien nach den Feldstudien von Regier et al.
nochmals geändert wurden [13]. Z.B. liegen für die nach DSM-5 definierte PTBS
gar keine Feldstudien vor, die diagnostische Übereinstimmung/Sensitivität/Spezifität der Kriterien für diese in der Begutachtung so bedeutsame Störung sind
daher bis dato unbekannt. Für die generalisierte Angststörung wurde immerhin die Rater-Übereinstimmung angegeben, mit Kappa = 0,2 bei weitem unzureichend, für die major depressive Episode
mit Kappa = 0,25 ebenfalls unzureichend,
für die leichte kognitive Störung mit Kappa = 0,5 als mäßig geschätzt.
Frances [8], der die Arbeitsgruppe
für die Erstellung des DSM-IV leitete,
wies darauf hin, dass Kappawerte unterhalb 0,6 im Allgemeinen als unzureichend
betrachtet werden. Entsprechend lautete die Einschätzung Frances‘, das DSM5 habe „die Feldversuche nicht bestan-
MED SACH 111 4/2015
Originalbeiträge
den“. Diese Aussage gilt, obwohl die
Feldversuche unter optimalen Bedingungen durchgeführt wurden, nämlich in großen medizinischen Einrichtungen, vor
allem Universitätskliniken. Mutmaßlich
wäre das Ergebnis noch schlechter ausgefallen, hätte man niedergelassene Psychiater oder Allgemeinärzte, die in Amerika
wie in Deutschland eine große Zahl psychiatrischer Diagnosen stellen, beteiligt.
Die ICD-10 schneidet in dieser Hinsicht
nicht besser ab: nach diversen Feldstudien in 39 Ländern waren die InterraterReliabilitäten enttäuschend, mit Kappa
= 0.12 für die histrionische Persönlichkeitsstörung, Kappa = 0.21 für die impulsive Persönlichkeitsstörung und Kappa =
0,23 für Angst- und depressive Störungen
gemischt. Der Versuch, bessere Ergebnisse mit der wissenschaftlichen Version
der ICD-10 [12] zu erzielen, führte nicht
weiter, denn bspw. für die rezidivierende depressive Störung ergab sich nur eine
Interrater-Reliabilität mit Kappa = 0.3, für
die Anpassungsstörung und die Störung
Angst und Depression gemischt sogar nur
Kappa = 0.09 und für die histrionische
Persönlichkeitsstörung Kappa = 0.25.
Nach wie vor fehlen jegliche Angaben zur Sensitivität und Spezifität, um
die diagnostischen Kriterien der Psychiatrie in den Rang einer wissenschaftlichen Methode zu erheben. So erklärte
der Direktor des amerikanischen National Institute of Mental Health, dass man
keine Forschung nach den DSM-5 Kriterien durchführen werde, da diese Kriterien nicht als valide betrachtet werden
können (http://www.nimh.nih.gov/about/
director/2013/transforming-diagnosis.shtml): „it is, at best, a dictionary, creating
a set of labels and defining each. …The
weakness is its lack of validity. Unlike our
definitions of ischemic heart disease, lymphoma, or AIDS, the DSM diagnoses are
based on a consensus about clusters of clinical symptoms, not any objective measure. In the rest of medicine, this would be
equivalent to creating diagnostic systems
based on the nature of chest pain or the
quality of fever. Indeed, symptom-based
diagnosis, once common in other areas
of medicine, has been largely replaced in
the past half century as we have understood that symptoms alone rarely indicate
the best choice of treatment. Patients with
mental disorders deserve better“.
Die Kritik bzgl. Anwendbarkeit des
DSM-5 im medikolegalen Kontext ließe sich fortsetzen [13], worauf an dieser
Stelle aber verzichtet wird.
Konsequenzen für die praktische
Arbeit des medizinischen
Sachverständigen
Der um Objektivität bemühte Sachverständige wird, um die eingangs angestellten Betrachtungen wieder aufzugreifen,
seine Beurteilung nach Möglichkeit und in
erster Linie auf diejenigen Kriterien gründen, die er im Rahmen seiner Untersuchung selbst feststellen kann (Typ 2). Dies
allerdings führt dazu, dass manche Diagnosen nicht gestellt werden können, weil
die Anzahl objektiv überprüfbarer (falsifizierbarer) Kriterien zu gering ist, um die
Mindestanzahl der geforderten Symptome
zu erreichen. Der Sachverständige wird
also nicht umhin können, sich auch zu solchen Diagnosekriterien (Typ 1) zu äußern.
Er muss allerdings in seinem Gutachten
klar zu erkennen geben, dass mit wissenschaftlichen, empirischen Methoden das
Vorliegen mancher Gesundheitsstörungen nach den Kriterien des DSM-5 nicht
beweisbar ist. Vielfach ist dieser Nachweis auch gar nicht nötig, denn es mag
genügen, eine relevante Leistungsminderung/Funktionsstörung im Vollbeweis zu
sichern und die Diagnose als sehr wahrscheinliche Vermutung zu formulieren.
Der Rückgriff auf ICD-10, ICD-9, DSMIII oder andere überholte Nomenklaturen,
wie es in Deutschland gerne praktiziert
wird, ist aus den oben genannten Gründen
keine gangbare Alternative, sie leisten auf
keinen Fall besseres.
Niemals aber sollte der Sachverständige nicht prüfbare Behauptungen des
Untersuchten (Typ 1) als Tatsachenfeststellung ausgeben mit dem Argument,
der Beweis sei mit der Behauptung schon
erbracht, da ein Befund grundsätzlich darüber nicht zu erheben sei. Dies würde eine
Umkehr der Beweislast bedeuten: Von
wenigen Ausnahmefällen abgesehen ist
der Antragsteller beweispflichtig und der
Beweis wird nicht dadurch erbracht, dass
jener eine Gesundheitsstörung behauptet,
die einem wissenschaftlichen Nachweis
nicht zugänglich ist. Konkret betrifft dies
z.B. einige Konstellationen der somatic
symptom disorders und manche episodi-
schen Störungen, wie einige Angststörungen, Zwangsstörungen u.a.m..
Die hier vorgeschlagene Lösung lautet, dass der Sachverständige zunächst klar
feststellt, vom Vorliegen welcher Symptome er sich objektiv überzeugen konnte.
Reichen diese bereits aus, um eine Diagnose zu stellen, bedarf es keiner weiteren
Schritte. Reichen sie nicht aus, so sollte
der Sachverständige für jedes der Symptome diskutieren, ob das Symptom konsistent („glaubhaft“, s.o. Typ 1a) ist oder
nicht. Er vergleicht dazu den behaupteten Umstand mit den von ihm erhobenen Befunden und prüft, ob die Behauptung damit vereinbar ist. So würde etwa
die Behauptung, jemand sei aufgrund
von ausgeprägten Angstzuständen außerstande, die Wohnung zu verlassen, durch
geringe Fußsohlenbeschwielung, geringe
Ablaufspuren an Straßenschuhen, geringe
Bemuskelung an Händen und Füßen, und
fehlende Handflächenbeschwielung sowie
fehlende Arbeitsspuren an den Händen und
Füßen gestützt. Finden sich jedoch bei der
Untersuchung ausgeprägte Arbeitsspuren,
kräftige Bemuskelung und ebenso kräftige Beschwielung an den Füßen, vielleicht
noch Kratzspuren von Strauchwerk an den
Unterschenkeln, wäre bzgl. der behaupteten Angststörung nicht von konsistenten
Informationen auszugehen. Ebenso wäre
die Behauptung, an erheblicher Müdigkeit
zu leiden und spätestens alle zwei Stunden
sich hinlegen zu müssen, nicht vereinbar
mit der Beobachtung, dass der Untersuchte
eine sechsstündige, durchaus anstrengende
Begutachtung ohne Müdigkeitsanzeichen
und ohne Pause durchgestanden hat.
Zusätzlich zu einer solchen Plausibilitätsprüfung sollte der Sachverständige die
anamnestischen Angaben und insbesondere die Beschwerdenschilderung einer
allgemeinen Validitätsprüfung unterziehen durch die Verwendung von Beschwerdenvalidierungstests oder Beschwerdeninventaren mit geeigneten Validitätsskalen.
Wohlgemerkt leisten solche Testverfahren
nicht den Nachweis, dass ein bestimmtes
Symptom oder eine Gesundheitsstörung
vorhanden oder nicht vorhanden ist, sondern sie dienen im Rahmen der epistemischen Prüfung lediglich der Bewertung
der Glaubhaftigkeit. Dies muss insofern
hervorgehoben werden, als von den Deutschen Psychiatrischen Fachgesellschaften
(DGPPN) und ihren führenden Mitglie-
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167
Originalbeiträge
dern als Argument gegen die angestrebte Validierung psychiatrischer Diagnosen
behauptet wurde, keines der (Beschwerden- und Leistungs-)Validierungsverfahren sei geeignet, das Vorhandensein einer
psychischen Erkrankung nachzuweisen
oder zu widerlegen und deshalb seien
diese Verfahren nutzlos [4, 5, 6]. Dieser
Einwand ist nur insofern richtig, als die
Beschwerdenvalidierungsverfahren ebenso wenig dazu konstruiert wurden psychiatrische Diagnosen zu stellen oder zu
widerlegen, wie ein Reflexhammer, eine
MS zu diagnostizieren. Ohne ihn kommt
man gleichwohl bei der Untersuchung
nicht aus. Der kundige Sachverständige verwendet Validierungstests im Sinne
eines allgemeinen Instrumentes zur Überprüfung der Kooperation eines zu Untersuchenden und der Glaubhaftigkeit seiner
Aussagen, wobei es auf die zu stellende
Diagnose erst in zweiter Linie ankommt.
Der Sachverständige kann nach entsprechender epistemischer Prüfung seine Mitteilungen dahingehend erweitern,
dass er dem Auftraggeber sagt, er habe
einerseits Tatsachen feststellen können,
die für das Vorliegen einer bestimmten
Störung sprechen, darüber hinaus die
behaupteten, nicht beweisbaren Symptome untersucht und trotz Einsatz von Verfahren, die mit hoher Sensitivität negative Antwortverzerrung feststellen können, keine Zweifel an der Schlüssigkeit
der Symptomschilderung, ferner sei die
Symptomschilderung konsistent zu den
übrigen Feststellungen. Insofern sei mit
großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Störung bei dem untersuchten Menschen tatsächlich vorliege.
Vielleicht erscheint dies dem Leser
redundant; es ist jedoch ein Unterschied,
ob der Sachverständige diejenigen Symptome, die zu der Diagnose „noch fehlen“,
schlicht als vorhanden, weil nicht direkt
widerlegt, unterstellt und dem Auftraggeber gegenüber so tut, als habe er sie selbst
beobachtet, oder ob der Sachverständige
seine Aussage dahingehend einschränkt,
dass er aufgrund eigener Beobachtungen die Diagnose zwar nicht stellen kann,
sie aber unter Hinzuziehung weiterer
Informationen mit geringerem Beweiswert, für wahrscheinlich hält. Es obliegt
dann dem Auftraggeber, zu entscheiden,
ob seinen Beweisanforderungen damit
genüge getan ist. Ebenso muss der Sach-
verständige dem Auftraggeber zu erkennen geben, wenn er mit seinen Methoden
über den angefragten Sachverhalt (siehe
die dissoziative Störung oder bestimmte
Angststörungen) keine wissenschaftliche
Befunderhebung anstellen kann.
Es darf auch ein Blick auf die nosologische Validität der Kriterien nicht unterbleiben, denn im Gegensatz zur Situation des Behandlers steht der Sachverständige qua Auftrag dem Auftraggeber und
der sozialen Gemeinschaft gegenüber in
strenger(er) Verpflichtung, valide und reliable Aussagen zu treffen. Der Sachverständige soll nicht eine Gesundheitsstörung
deshalb feststellen, weil dies vom Untersuchten oder sozial erwünscht ist (wenn
z.B. aus politischen Gründen eine Entschädigung gewährt werden soll und eine
Diagnose dafür Voraussetzung ist) sondern nur dann, wenn sich genügend Tatsachen ergeben, die für das wirkliche Vorliegen einer psychischen Krankheit sprechen.
Die Entscheidung, mit der die sachverständige Aussage getroffen wurde, soll neutral sein und frei von persönlichen ­Biases,
etwa weil die untersuchte Person dem
Sachverständigen sympathisch ist, weil der
Sachverständige eine bestimmte sozialpolitische oder religiöse Auffassung vertritt,
weil der Sachverständige befürchtet, sonst
vom Auftraggeber keine weiteren Aufträge
mehr zu erhalten, weil er Auseinandersetzungen mit Behandlern vermeiden möchte, weil der Sachverständige bestimmten
politischen Strömungen oder der Folklore (siehe insbesondere die so genannten
Traumafolgestörungen) nicht entgegenstehen will usw.. Freilich erfordert dies Mut,
denn kritische Sachverständige sind gerade bei solchen Antragstellern, die in Wahrheit nicht berechtigte Ansprüche durchsetzen möchten, unbeliebt (s. die Internetforen zum Zweck der persönlichen Verunglimpfung kritischer Sachverständiger
durch anonyme Schreiber), auch den Sachbearbeitern/Schadensregulierern bereiten
sie Verdruss und Mehrarbeit, weil, anstatt
den Fall schnell abschließen und entschädigen zu können, Widersprüche bearbeitet und weitere Sachaufklärung betrieben
werden muss.
Transparenz bedeutet, dass die Abbildung der Sachverhalte und deren Bewertung nicht durch persönliche Eigenschaften, Auffassungen oder (wirtschaftliche)
Interessen des Sachverständigen verzerrt
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wird, dieser im Optimalfall selbst nicht
„sichtbar“ ist. Durch die verlässliche und
nachvollziehbare Anwendung eines allgemeinen diagnostischen Regelsatzes und
eine wissenschaftliche Methodik (d.h.
Beschränkung auf falsifizierbare Sachverhalte) wird eine Gleichbehandlung der
zu Begutachtenden gewährleistet.
Literatur
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and statistical manual of mental disorders
(5th ed.). Washington, D.C.: American Psychiatric Association, 2013
2 American Psychiatric Association: Diagnostic
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6 Dressing H, Frommberger U, Freyberger H:
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7 Foerster K, Bork S, Kaiser V, Grobe T, Tegenthoff M, Weise H, Badke A, S­ chreinicke G, Lübcke J: Vorschläge zur MdE-Einschätzung bei
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12 Wittchen U H, Jacobi F: Size and burden of
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13 Young G, Lareau C, Pierre B: One Quintillion
Ways to have PTSD-Comorbidity: Recommendations for the Disordered DSM-5. Psychol Inj
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