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DIE SEITE 3
Freitag, 23. August 2013
Nummer 194
Die friedlichen Imame von Tatarstan
Der Islam breitet sich
in Russland aus. Für
die russische
Orthodoxie und auch
für die Kommunen ist
das eine große
Herausforderung. Eine
Reise im Rahmen des
Petersburger Dialogs
erlaubt Einblicke in
ein komplexes
Miteinander.
Von Michael Rutz
I
n langen Reihen warten die
Gläubigen zu Tausenden vor
der Moskauer Christ-ErlöserKathedrale. Aus ganz Russland
sind sie hergekommen, Busladungen voll, um einen Blick zu werfen
auf einen der heiligsten Schätze
der russischen Orthodoxie: die
Reste des Kreuzes, an dem der
Apostel Andreas hingerichtet wurde. Nur selten tritt das Andreaskreuz eine Reise an aus dem fernen
Patras, wo es sich in der Obhut der
griechischen Orthodoxie befindet.
Nun aber wird seine Präsenz in
Moskau als Demonstration des
wiedererstarkten
orthodoxen
Glaubens und seiner Dominanz in
Russland zelebriert.
Der Eindruck religiöser Harmonie freilich täuscht. Mit großem
Argwohn betrachten die russischen Politiker der Gebietskörperschaften das weitgehend unkontrollierte Vordringen des Islam vor
allem in den Städten. Dort macht
sich durch die islamische Migration zunehmende Fremdenfeindlichkeit unter der einheimischen
Bevölkerung breit.
Auf dem Kreml von Kasan erstrahlt die prachtvolle orthodoxe Maria-Verkündigungs-Kathedrale. Doch nur wenige Meter entfernt ist die Kul-Scharif-Moschee (unten) das geistliche Zentrum
der Muslime. Der zum UNESCO-Weltkulturerbe zählende Kreml gilt als Symbol des friedlichen Zusammenlebens der Religionen.
− Fotos: Rutz
Einwanderer bringen
Fundamentalismus mit
Allein in den letzten zwölf Monaten sind mehr als fünf Millionen
Usbeken, Tadschiken, Aserbaidschaner und Kirgisen zur Arbeitssuche nach Russland aufgebrochen – Zündstoff mittlerweile in allen Kommunen. Aus der Region
Stawropol sind schon 20 Prozent
der russischen Bevölkerung weggezogen, weil sie sich von Islamisten bedroht fühlen. Ähnliches geschah in Dagestan. Immer sind solche Ereignisse eine Folge aggressiver islamistischer Bewegungen vor
allem der Wahhabiten und Salafisten, die sich – aus dem Golfstaat
Katar direkt gefördert – vor allem
in Tadschikistan breit machen.
Mit großer Anstrengung suchen
die Kommunalpolitiker deshalb
nach Möglichkeiten, in den altrussischen Gebieten ein spannungsfreies Zusammenleben mit muslimischen Einwanderern möglich
zu machen. Die Stadtverwaltung
Moskaus hat eigene Kommissionen eingesetzt, um weltweit nach
vorbildlichen Modellen zu suchen,
Großmufti Kamil Samigullin von Kasan ist das Oberhaupt der Muslime in
der Republik Tatarstan. Er hält ein friedliches Miteinander der Religionen
für möglich: „Wir glauben alle an einen Gott.“
Die Kul-Scharif-Moschee auf dem
Kasan-Kreml – herausragendes
Beispiel islamischer Architektur.
mentalistischen Strömungen nicht
in den Griff bekommt. Deren Übergriffe fürchtet man, dagegen müsse
man sich stärker wehren, sagt Metropolit Hilarion Alfejew (47), der
Leiter des Außenamts des Moskauer Patriarchats. Zugleich müsse man außenpolitisch dort tätig
werden, wo der fundamentalistische Islam seine Quellen hat. Entsetzt registriert Metropolit Hilarion deshalb die Gleichmütigkeit,
mit der der Westen der Christenverfolgung rund um den Erdball
teuersten Materialien errichtetes
Das geschieht vor allem über eiPrachtstück islamischer Architek- ne genau kontrollierte Imam-Austur, finanziell vom Staat, aber auch bildung. Zentrale Institution ist
aus der Welt des Islam gefördert hier die Russisch-Islamische Uniund vom Imam des Gotteshauses, versität in Kasan, die Ableger
Ilfar Chasanov, mit Stolz herge- („Medressen“) in Mittelasien und
auch in Istanbul unterhält. Drei Inzeigt.
Die Kul-Scharif-Moschee wurde stitutionen waren 1998 an ihrer
an der Stelle erbaut, an der Iwan Gründung beteiligt: der Rat der
IV. („der Schreckliche“) 1552 nach Muftis Russlands, die geistliche
der Eroberung Kasans die damali- Verwaltung der Muslime Tatarge Moschee schleifen ließ, um ein stans und das Institut für Gepaar Schritte weiter – auf der ande- schichte der Akademie der Wisren Seite des Präsidentenpalastes – senschaften. Seither kann man
die nicht minder prachtvolle or- dort Islamwissenschaften, den Kothodoxe Maria-Verkündigungs- ran, Arabisch oder auch weltliche
Kathedrale zu errichten, zum Zei- Wissenschaften studieren. Auch
chen der künftigen Dominanz der die Studenten, die von AuslandsOrthodoxie. Heute stehen Mo- studien aus schiitischen Ländern
schee und Kathedrale einträchtig zurückkehren, werden dort auf ihbeieinander, der Kasaner Kreml re Zuverlässigkeit überprüft.
gilt als Symbol eines friedlichen
Zusammenlebens der Religionen,
„Der Islam ist eine
das auf lange Traditionen und eingeübte Mechanismen gründet und
Liebesreligion“
um dessen Zerbrechlichkeit dennoch jeder weiß.
Konflikte zwischen den ReligioAuch im geistlichen Alltag wernen gebe es hier nicht, versichert den die Imame an der kurzen Leine
Samigullin, der als oberster Mufti geführt: Alle Imame erhalten von
der muslimischen Leitung der Re- der zentralen muslimischen Leipublik Tatarstan vorsitzt. Sein Pro- tung regelmäßig Zeitschriften in
blem ist es eher, die eigene Religion tatarischer Sprache. Darin sind
zusammenzuhalten und vor inne- auch die schon fertigen Freitagsren Konflikten zu bewahren in Zei- Predigten enthalten. Dass Imame
ten, in denen die weltweite Migra- ihre eigenen Predigten schreiben,
tion auch vor Tatarstan nicht halt ist dem obersten Mufti auch desmacht: Aus vielen Ländern Mittel- halb zu riskant, weil viele der älteasiens, aus dem Kaukasus, aus Ta- ren Geistlichen keine gute Ausbildschikistan, Usbekistan, Aserbai- dung hätten, wie er sagt. Die sei
dschan, aus Afrika und Arabien erst nach der Wende 1989 möglich
strömen Einwanderer nach Tatar- geworden. Demnächst soll auch
stan, sie bringen Spielarten des Is- ein eigener muslimischer Fernsehlam mit, die aggressiv sind, islamis- sender die islamische Einheit in
tisch. Vor Jahresfrist verletzten is- Tatarstan festigen.
lamistische Terroristen den damaZentrale Leitung, Auswahl nur
ligen Großmufti Ildus Faisow und einer einzigen islamischen Rechtstöteten seinen Stellvertreter. Auch schule mit einer klaren und friedlideshalb wird die innerislamische chen Dogmenlehre, exklusive An„Symphonie“ mit harter Hand er- erkennung dieser Zentralinstanz
zwungen, indem man den libera- und nur eines obersten Muftis
len Hanafi-Islam als Leitlinie auch durch den Staat – dieses „Friedensprinzip“ einer Religion empfiehlt
von Staats wegen durchsetzt.
Einer der wertvollsten und heiligsten Schätze der Orthodoxie, das
Kreuz des Apostels Andreas, zieht derzeit in Moskau Tausende Gläubige
an. Seine Heimat ist das griechische Patras.
die sich vor Ort übernehmen ließen.
Sie müssen sich beeilen. Denn
der Islam entwickelt sich stürmisch in Russland. Mehr als 20
Millionen Gläubige hängen dem
Islam in Russland an, am stärksten
ist er im Nordkaukasus, an der
mittleren Wolga und im Ural verbreitet. Auch die russische Orthodoxie begegnet dieser Religion
nicht ohne Argwohn, da der Islam
vor allem im südlichen Mittelasien
und im Nahen Osten seine funda-
zuschaut. Die europäischen Regierungen förderten bei den Regimewechseln im Nahen Osten oft die
Falschen, „und immer kommen
dann radikale Islamisten an die
Macht, die das Christentum vernichten“, beklagt er. In Ägypten
müssten das gerade die Kopten erleben. Banditen mordeten die
Christen, „und jedes Mal höre ich
als Antwort nur: Schweigen“.
Auch die Gremien der Europäischen Union „beschließen nur Resolutionen, tun aber nichts.“
Das soll in Russland nicht passieren. Ein toleranter, disziplinierter Islam ist hier das Ziel. Dieses
Modell lässt sich am eindrucksvollsten 800 Kilometer östlich von
Moskau studieren, in Kasan, der
architektonisch reizvollen und
modernen Hauptstadt der autonomen Republik Tatarstan an der
Das Kasaner Modell:
erzwungene Einheit
Wolga. Der sunnitische Islam, der
der Hanafi-Rechtsschule folgt, ist
dort seit mehr als tausend Jahren
zu Hause. In Kasan entstanden
viele
bedeutende
islamische
Schriften, und auch – vor 226 Jahren mit Unterstützung der Zarin
Katharina II. – der erste Koran in
Buchform. „Der Koran“, so sagt
der Kasaner Großmufti Kamil Samigullin (28) stolz, „wurde in der
arabischen Welt offenbart, in
Ägypten gelesen, in Istanbul abgeschrieben und in Kasan gedruckt.“
Mehr als 60 Prozent der 3,7 Millionen Tataren bekennen sich heute zu dieser Religion, die russische
Orthodoxie ist hier in der Minderheit. Daher rührt ein großes Selbstbewusstsein der Muslime, das sich
nicht nur in der raschen Expansion
islamischer Sichtbarkeit im Lande
niederschlägt: 20 Moscheen hatte
Tatarstan noch vor 25 Jahren, heute sind es 1500.
Besonders eindrucksvoll äußert
sich die selbstbewusste Präsenz
des Islam in der Skyline von Kasan,
in dem von der UNESCO zum
Weltkulturerbe erhobenen alten
Kreml von Kasan, dem Burgberg.
Dort ragt seit 2005 die Kul-ScharifMoschee hoch in den Himmel –
ein schlankes, weißes Gebäude
mit vier Minaretten und einem
leuchtend türkisfarbenen Dach,
das wie eine Krone über der Stadt
strahlt. Die Moschee ist ein aus
Imam Ilfar Chasanov zeigt Besucherinnen ein Modell „seiner“ Moschee,
an dem die kostbare Gestaltung des Baus besonders gut sichtbar ist. Wie
alle Imame in Tatarstan vertritt Chasanov den friedlichen Hanafi-Islam.
Samigullin auch dem Rest der Republik sowie dem Westen. Nur so
bekomme man den Islamismus in
den Griff, dann wüssten alle Muslime, woran sie sich halten müssten.
In solcher Form der Zusammenarbeit müssten weltliche Rechtssysteme auch keine Angst vor der
Scharia haben. Die verstehe sich,
wohlverstanden, „nur als moralische Kraft“, sie vermittle in Ehesachen oder Erbstreitigkeiten und sei
keine juristische Instanz. Aber moralisch und sozialpolitisch wollen
die Imame Tatarstan schon prägen.
Wenn sie politisch werden, dann
geschieht das nicht selten gemeinsam mit Geistlichen der Orthodoxie. Zuletzt wandten sie sich zusammen an die Politik, als die Gaspreise für einfache Bürger Tatarstans unerschwinglich wurden.
Und natürlich haben alle Religionen beispielsweise auch dann gemeinsame Interessen, wenn es um
jenes Kircheneigentum geht, das
unter kommunistischer Herrschaft
konfisziert worden war und dessen
Rückgabe erst 2010 durch ein Bundesgesetz geregelt wurde.
Streit zwischen den Religionen
findet der Großmufti entbehrlich.
„Eigentlich ist der Islam eine Liebesreligion. Allah hat Abraham zu
seinem Freund gemacht; Moses
war der Mensch, mit dem Gott
sprach; Jesus war der Mensch, dem
Gott die Seele gab. Und Mohammed war der geliebte Prophet von
Allah“, erläutert Samigullin. Und
zwischen den Religionen gelte:
„Wir glauben alle an Gott auf verschiedene Weise, aber wir glauben
alle an einen Gott.“
Prof. Michael Rutz war
lange Jahre Chefredakteur des „Rheinischen
Merkur“ und ist heute
unter anderem Mitglied im deutschen
Lenkungsausschuss des Petersburger Dialogs.
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