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Gerhard Dieter Ruf
Störungsspezifischer Ansatz aus systemischer Sicht
BEB
Psychiatrie Jahrestagung
6. Mai 2009
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Thema der Tagung sind die Gegenpole von störungsspezifischen und sozialraumorientierten Ansätzen in der Sozialpsychiatrie. Ich möchte Ihnen in meinem Vortrag
zeigen, dass die Dialektik dieser Begriffe in einem störungsspezifischen systemischen
Ansatz eine theoretisch fundierte und in der praktischen Umsetzung bewährte Synthese
finden kann.
Störungsspezifischer Ansatz aus systemischer Sicht. Geht das überhaupt? Kann
systemisch störungsspezifisch sein? Diese Frage begleitet mich seit meiner
systemischen Ausbildung.
Schon im Titel zeigt sich ein Konflikt: Störungsspezifisch geht aus von einer Störung
(oder Krankheit?). Das ist die übliche psychiatrische Sichtweise.
Systemisch geht dagegen aus von Systemen und von Problemen und berücksichtigt die
Kontexte, die Lebenswelt, den Sozialraum. Manche Systemiker lehnen den
Krankheitsbegriff strikt ab und distanzieren sich von der Sozialpsychiatrie, weil sie sich mit
psychischen Krankheiten befasst. Auf der anderen Seite machen immer mehr Mitarbeiter
von sozialpsychiatrischen Einrichtungen eine systemische Ausbildung, um für ihre Arbeit
und für ihre Klienten bessere Lösungen zu finden, als die defizitorientierte Psychiatrie
anbietet.
Für den Konflikt störungsspezifisch versus systemisch möchte ich nun einen
Lösungsansatz entwickeln und Ihnen vorstellen.
Ich habe eine psychiatrisch-psychotherapeutische Praxis in Asperg bei Ludwigsburg,
zusammen mit Kollegen. Nachdem ich jahrelang in der Klinik und dann in der eigenen
Praxis mit herkömmlichen psychiatrischen Methoden und tiefenpsychologischer
Psychotherapie gearbeitet hatte, hatte ich die Gelegenheit, eine systemische Ausbildung
zu machen und war fasziniert von der Leichtigkeit und Effektivität, wie neue systemische
Sichtweisen zu Problemlösungen führen können. Aus dieser Erfahrung heraus möchte ich
Ihnen einige störungsspezifische Muster beschreiben und zeigen, wie diese als Leitfaden
für systemische Interventionen dienen können.
Der Weg durch das Thema:
Vom Krankheitsmodell zum Lösungsmodell
Störungsspezifische Muster und systemische Interventionen
Bipolare affektive Störungen
Fallbeispiel: Depressionskreislauf
Schizophrenien
Fallbeispiel: Zusammenhalten der Familie
Fazit
1
Zu den Fallbeispielen werde ich Ihnen einige kurze Sequenzen aus Therapiesitzungen
zeigen. Ich habe von der Patientin eine Schweigepflichtsentbindung für
Fortbildungsveranstaltungen bekommen, bei denen sich auch die Teilnehmer an eine
Schweigepflicht gebunden fühlen, und möchte Sie bitten, entsprechend Stillschweigen
zu bewahren.
Ganz wichtig ist das systemische Menschenbild. Systemiker gehen nicht davon aus,
dass der Arzt oder Therapeut allwissend ist und die Behandlung bestimmt. Der Patient
weiß am besten, was für ihn gut ist. Der Patient bestimmt die Behandlungsziele. Die
„Krankheit“ ist Zeichen einer Krise. Systemiker gehen davon aus, dass Symptome eine
Funktion im sozialen Umfeld einnehmen und eine Art von Lösung für Probleme darstellen,
eine Art Kompromisslösung, aber in vielen Fällen nicht die bestmögliche Lösung. Deshalb
sucht die systemische Psychiatrie nach besseren Lösungen. Der Patient hat die
Fähigkeiten, aus seiner Krise herauszukommen. Er benötigt dazu (manchmal) die Hilfe
eines Arztes oder Therapeuten.
Man nennt die systemische Haltung des Therapeuten deshalb ressourcenorientiert,
weil er grundsätzlich von den Ressourcen, also den Fähigkeiten des Patienten, ausgeht
und die Behandlung darauf aufbaut.
Er ist neugierig darauf, was der Patient zu sagen hat, weil das in der Therapie zählt.
Der Therapeut ist auch neutral in verschiedenen Bereichen. Unterschiedliche Sichtweisen
der am Gespräch Beteiligten können nebeneinander stehen; es stellt sich die Frage,
welche Sichtweise für den Patienten nützlicher ist (Konstruktneutralität).
Der Patient entscheidet, ob für ihn Veränderung oder Nicht-Veränderung besser ist
(Veränderungsneutralität).
Unterschiedliche Positionen der am Gespräch Beteiligten können nebeneinander stehen;
der Therapeut ergreift keine Partei, sondern versucht zu vermitteln oder eine gemeinsame
Lösung zu finden (soziale Neutralität).
Der Patient bestimmt, welche Behandlungsmethode für ihn die richtige ist (sofern diese
angeboten wird und keine akute Gefährdung oder gesetzliche Regelung dem entgegen
steht) (Methodenneutralität).
Wer von psychischer Krankheit spricht, braucht ein Denkmodell, also eine Vorstellung
davon, was Krankheit ist. In der heutigen Psychiatrie wird üblicherweise mit dem
Vulnerabilitäts-Stress-Modell von Zubin und Spring gearbeitet. Ich habe es hier stark
vereinfacht. Ein gesundes Individuum, das eine besondere Vulnerabilität, d.h.
Verletzlichkeit, hat, wird unter dem Einfluss von Stressoren krank. Die Vulnerabilität kann
durch Gene, einen bestimmten Hirnstoffwechsel oder durch frühere Erfahrungen oder
Traumata bedingt sein. Andererseits schützen protektive Faktoren, z.B. ein gutes
Elternhaus, und reduzieren die Vulnerabilität oder Verletzlichkeit.
Vulnerabilität und Stressor sind die Ursache der Krankheit. Man spricht hier von einer
linearen Kausalität, von einem einfachen Ursache-Wirkungs-Geschehen. Die
Betrachtung ist auf das Individuum zentriert und beschreibt den Patienten als Opfer. Es
handelt sich um ein aus systemischer Sicht zu einfaches Modell: Ich stelle die Frage: Was
ist notwendig, um daraus ein systemisches Modell zu entwickeln?
Zuerst sollten die verschiedenen Systeme: Körper, Psyche und Verhalten unterschieden
werden. Wenn man das einzeichnet, kommt man zu folgender Darstellung.
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Biologisches
System
Psychisches
System
Soziales
System
Das biologische System ist der Körper, das Nervensystem, die Gene. Auch die
bekannten Veränderungen des Nervensystems infolge psychischer Traumata fallen
darunter. Bestimmte Veränderungen des biologischen Systems können zu einer
Vulnerabilität beitragen.
Das psychische System ist das Bewusstsein, die Gedanken und Gefühle. Bestimmte
Denkmuster können eine psychische Störung begünstigen. Bateson hat dafür den
Begriff erkenntnistheoretische Irrtümer geprägt. Wenn z.B. jemand im Alles-oderNichts-Muster denkt, nur schwarz und weiß sieht und Grautöne fehlen, wird er mit der
Umwelt Schwierigkeiten bekommen. Borderline-Patienten denken häufig so. Andere sind
Freund oder Feind, dazwischen gibt es nichts. Und weil niemand immer nur gut
erscheinen kann, bleiben schließlich nur noch Feinde übrig. In einer solchen Welt kann
man nicht gut leben.
Dann gibt es das soziale System, das Lebensumfeld. So kann man auch bei psychischen
Störungen sehen, dass das soziale Umfeld eine wesentliche Rolle spielt. Äußere
Belastungen können die Vulnerabilität z.B. für eine Depression erhöhen.
Die Systeme beeinflussen sich gegenseitig. Ich habe das mit den Pfeilen angedeutet.
Zum Beispiel kann Angst (psychisches System) zu einer Adrenalinausschüttung
(biologisches System) und zu einem Flucht- oder Angriffsverhalten (soziales System
führen).
Betrachten wir nun das kranke Individuum, hier rechts im Schema. Nach der Erfahrung
aus systemischen Therapie kann man hier zirkuläre Prozesse beschreiben, die die
psychische Störung aufrechterhalten.
Ich habe diese hier weiß eingezeichnet.
Bekannt ist zum Beispiel im biologischen System der Schmerzkreislauf: chronische
Schmerzen führen zu Umbauprozessen im Nervensystem mit der Folge einer erhöhten
Schmerzempfindlichkeit, diese führt wiederum zu verstärkten Schmerzen.
3
Im psychischen System ist der Angstkreislauf bekannt. Manche Menschen mit einer
Panikstörung befürchten, dass Herzklopfen der Beginn eines Panikanfalls ist. Was
denken Sie: Was kann Herzklopfen bedeuten? Denken Sie mal nach, was Ihnen dazu
einfällt. Herzklopfen kann durch alles Mögliche ausgelöst werden: Treppesteigen,
Verliebtsein, Anspannung. Wenn man aber einen beginnenden Panikanfall annimmt,
bekommt man Angst, und diese Angst verstärkt das Herzklopfen, was wiederum die Angst
verstärkt, bis ein Panikanfall wirklich da ist. Ein zirkulärer Prozess, der wirklich zur Panik
führt.
Im sozialen System hat Jürg Willi den Begriff Kollusion geprägt: Wenn z.B. ein
Ehepartner sich besonders passiv verhält, gleicht das der andere durch besonders aktives
Verhalten aus, aber dann wird der passive noch passiver, der aktive noch aktiver usw.
Ebenfalls ein zirkulärer Prozess, der das Problem aufrechterhält.
Das Verhalten des psychisch Kranken ist eingebettet in ein soziales Spiel des Umfelds mit
bestimmten Spielregeln: den bei uns üblichen Verhaltensnormen.
Es stellt sich die Frage: Wie beurteilt man symptomatisches Verhalten: als Fähigkeit oder
als Defizit?
Herr Maier bekommt immer im Winter immer ein Stimmungstief. Ein biologischer
Psychiater würde sagen, das ist eine biologisch bedingte Winterdepression, eine saisonal
abhängige Depression, also die Beschreibung eines Defizits. Systemisch betrachtet man
das Umfeld. Das Stimmungstief begünstigt seine Angewohnheit, sich nicht zu wehren,
sondern Ärger bei der Arbeit runterzuschlucken, bis er richtig depressiv wird - soziales
Defizit oder Fähigkeit, Harmonie zu bewahren? Wenn man noch weiß, dass der Chef
keine Kritik verträgt und der Arbeitsplatz gefährdet wird, wenn Herr Maier seinen Ärger
äußert, kann man das sicherlich auch als Fähigkeit sehen.
Er wird krank geschrieben, bekommt dadurch Abstand vom Chef und hat so den Stressor
vorübergehend ausgeschaltet, ohne den Arbeitsplatz zu gefährden. Das ist für ihn eine
gute Lösung. Das ist die systemische Sichtweise.
Weil Herr Maier die positive Erfahrung macht, dass Kranksein und Krankschreibung ihn
entlasten, lässt er sich immer öfter krankschreiben und muss deshalb nicht lernen, sich
beim Chef zu wehren. Die Ausschaltung des Stressors durch sein Verhalten verstärkt sein
Verhalten, Ärger zu schlucken. Der Kreis schließt sich: ein zirkulärer Prozess, der die
Depression aufrechterhält. Nach 2 Jahren erhält er Rente wegen einer chronischen
Depression. An dieser Stelle würde ein Systemiker fragen, ob Herr Maier mit dieser
Lösung zufrieden ist oder mithilfe einer Therapie eine bessere Lösung suchen möchte.
Und damit sind wir beim systemischen Störungsmodell angekommen. Es ist komplexer
als das Vulnerabilitäts-Stress-Modell und berücksichtigt
1. biologische Dispositionen und biologische zirkuläre Prozesse
2. psychische Traumata, Lernerfahrungen, problematische Denkweisen, zirkuläre
Prozesse im psychischen System,
3. soziale zirkuläre Prozesse.
Daraus können wir ein systemisches Lösungsmodell entwickeln. Auf der Folie ist jetzt
das kranke Individuum links, das gesunde, geheilte Individuum rechts eingezeichnet. Dazu
müssen wir zuerst verstehen, wer zum System gehört, welche Spielregeln gelten und
welche Kreisläufe die Störung aufrechterhalten. Dann verstehen wir, wie wir
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problematische Muster unterbrechen und neue Spielregeln einführen können. Diese
Spielregeln und Muster sind bei verschiedenen psychischen Störungen unterschiedlich.
Entsprechend unterschiedlich sind auch die therapeutischen Interventionen.
Wie wirkt nun systemische Therapie? Unbewusst ablaufende problematische zirkuläre
Prozesse werden unterbrochen, indem diese Muster bewusst gemacht werden. Erst
dann kann der Patient über die Frage entscheiden, ob er daran etwas ändern will.
Neue und für den Patienten bisher unbekannte Sichtweisen werden eingeführt; wenn
diese für ihn hilfreich sind, kann er sie übernehmen.
Oft sind Patienten (wie alle Menschen immer wieder) ambivalent, das heißt zwiespältig,
hinsichtlich irgendeiner anstehenden Entscheidung; man kann in der Therapie die Vorund Nachteile der einen und der anderen Seite durchsprechen und gegeneinander
abwägen.
Voraussetzung für alles, was der Therapeut tut, für alle seine Interventionen, ist natürlich
eine gute und vertrauensvolle therapeutische Beziehung.
Voraussetzung ist auch, dass der Patient solche Interventionen selbst wünscht.
Die zu erreichenden Ziele werden von dem Patienten definiert.
Und natürlich ist auch Voraussetzung, dass der Patient über die Möglichkeiten und
Risiken der Therapie aufgeklärt wurde. So könnte in einer Einzeltherapie zum
Beispiel ein Risiko sein, dass sich der Patient vom Partner weg entwickelt und
dadurch die Beziehung schlechter wird; diesem Risiko könnte man durch Paargespräche
begegnen.
Ich möchte Ihnen jetzt beispielhaft ein störungsspezifisches Muster und bei einer
manisch-depressiven Patientin mit Videosequenzen zeigen und Sie noch mal an Ihre
Schweigepflicht erinnern.
Die kurzen Sequenzen, die Sie sehen werden, sind aus dem Therapiekontext
herausgenommen. Das birgt die Gefahr, dass man als Zuschauer die systemische
Therapie als mechanistisch und unempathisch einstuft, als eine rein strategische Methode.
Das ist aber keinesfalls so. Im Gegenteil: Nur bei einer empathischen und
vertrauensvollen therapeutischen Beziehung funktionieren diese Interventionen. Sie
müssen sich an die Denkweise des Patienten anschließen, und das geht nur, wenn er vom
Therapeuten als Person verstanden wird und sich verstanden fühlt.
Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, sind diese Interventionen aber sehr effektiv,
wie Sie gleich sehen werden.
Zuerst möchte ich Ihnen einen Kreislauf vorstellen, der sich bei depressiven Patienten
häufig findet. Ich nenne ihn: Depressionskreislauf.
Die Patientin ist 29 Jahre alt und hat seit 3 Jahren alle paar Wochen kurze Tiefphasen, in
denen sie viel schläft, kaum isst und sich zu nichts aufraffen kann. In den Phasen
dazwischen erledigt sie alles und ist extrem leistungsfähig. Diagnose: bipolare affektive
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Störung, Rapid-cycling-Form. Auf dem Video sehen Sie rechts noch eine Hospitantin als
Cotherapeutin.
Video Sitzung 7: 40.13 verschwendet Kraft in Hochs, dann kraftlos, dann Tief, dann geht
es nicht voran, es ist nicht so, wie sie es will. -40.36.
Man kann den Kreislauf im psychischen System so darstellen: Die Patientin kommt ins
Tief, nachdem sie sich im Hoch verausgabt hat und kraftlos ist. Im Tief ist es dann nicht
so, wie sie es will. Das heißt, sie versucht, Tiefs zu vermeiden. Für sich allein gesehen, ist
das nicht unbedingt schlimm, sondern nachvollziehbar. Aber die Patientin kommt deshalb
in ihren Teufelskreis, weil sie keine Grautöne kennt, sondern zwischen den Extremen
schwankt und eben im anderen Extrem der Hypomanie sich völlig verausgabt, bis
zwangsläufig wieder ein Tief resultiert. Ein weiterer Punkt ist, der bei ihr auch eine Rolle
spielt, aber in dem gezeigten Video nicht deutlich wird, ist folgender: Wenn sich bei ihr ein
leichtes Tief anbahnt, findet sie das ganz schrecklich, weil sie glaubt, Tiefphasen nicht
ertragen zu können; deshalb führt die bei einem leichten Tief aufkommende Befürchtung,
jetzt in ein katastrophales Tief abzurutschen, zu einer psychischen Belastung, diese
verschlechtert die leichte depressive Verstimmung, was ja die anfängliche Befürchtung
bestätigt. Der zirkuläre Prozess führt dann wirklich in die Depression.
Wie kann man diesen Teufelskreis durchbrechen? Sehen Sie meine Intervention:
Video Sitzung 2: 18.16 >falls in depressive Phase wollte? – keine Ziele haben für die
nächsten Tage -18.33.
Wie interveniere ich? Ich frage die Patientin, wie sie das Befürchtete, nämlich die
Depression, aktiv herbeiführen könnte. Mit der Frage unterstelle ich implizit, dass man
auch aktiv in eine depressive Phase kommen kann, dass diese also beeinflussbar ist. Die
Beeinflussbarkeit der Depression war der Patientin vorher nicht bewusst. Sie geht darauf
ein und nimmt die Intervention an. Wenn sie nun ein Tief selbst herbeiführt und nicht mehr
aktiv vermeidet, fällt die Befürchtung weg, in ein katastrophales Tief zu kommen, das Tief
wird zu einem eher erträglichen Tief. Der Teufelskreis ist durchbrochen.
Video Sitzung 2: 23.31 Es rattert zu viel in der Hochphase, damit sie nicht in die
Tiefphase kommt. >es rattert zu viel, sie übernimmt sich, die Langeweile will sagen, dass
Rückzug braucht, wartet zu lange, bis völlig erschöpft. 24.28 >soll sich ab und zu eine
Tiefphase gönnen; ab und zu wenn gut: Ts absagen -24.54
Hier ist der nächste Schritt der Intervention: Die Patientin soll sich eine Tiefphase gönnen,
das heißt ich bewerte Tiefphasen positiv als etwas, das man ab und zu braucht, wenn man
erschöpft ist, und das man aktiv herstellen kann. Das ist eine Symptomverschreibung, eine
paradoxe Intervention: Depression herbeiführen, um sie zu vermeiden. Oder anders
gesagt: ein aktiv herbeigeführtes leichtes Tief verhindert ein Überdrehen in der Hochphase
mit nachfolgender Erschöpfung und Depression. So wird der Depressionskreislauf
durchbrochen.
Bei der nächsten Sequenz geht es um die irakischen Schwiegereltern, die am nächsten
Samstag für ihren Sohn um ihre Hand anhalten wollen. Die Patientin liebt ihren Verlobten,
mag aber seine Eltern nicht und hat Angst vor deren Besuch.
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Video Sitzung 5: 35.17 >falls sie sich am nächsten Samstag ihre Depression nehmen
würde? – schlimm -35.33, an dem Tag, als sie gekommen sind, hatte ich fast einen
Nervenzusammenbruch -35.41
Video Sitzung 5: 36.40 >Würden sie trotzdem um Ihre Hand anhalten oder gar nicht
kommen? – ich könnte es nicht übers Herz bringen zu sagen: Kommt nicht. >einfach ein
Nervenzusammenbruch? – die würden dann wegbleiben (lacht), ihre Eltern würden sagen:
jetzt reichtʼs -37.21.
Ich mache noch mal eine Symptomverschreibung. Bei der ersten Sequenz geht sie nicht
drauf ein und meint, eine Depression wäre schlimm, weil der letzte Besuch der
Schwiegereltern schlimm war. Bei der zweiten Sequenz verwende ich statt Depression die
Bezeichnung Nervenzusammenbruch, aus dem Ernst wird Humor, sie lacht und erkennt
jetzt auch einen zweiten Kreislauf, den ich auf dem Schema nicht eingezeichnet habe: Ein
Nervenzusammenbruch führt dazu, dass man geschont wird und dass Abgrenzung nicht
übel genommen wird. Nachdem auch dieser zirkuläre Prozess nun angesprochen ist, kann
er nicht mehr unbewusst zu einer depressiven Phase führen.
Nun eine Zwischenbilanz mit Rückblick auf die fast abgeschlossene Therapie in der
achten Sitzung.
Video Sitzung 8: 31.40 Beste Frage war: wie sie wieder in Depression rein kommen
könnte -31.50, Ursachen finden, warum Depression und Schlafphasen. Die Schlafphasen
und Tiefs sind komplett weg, 32.26 Sie lernte, Notbremse zu ziehen, wenn es nicht mehr
geht, und sich für sich Zeit zu nehmen -32.38.
Aus Sicht der Patientin war die Symptomverschreibung die beste Intervention. Sie hat
gelernt, die Notbremse zu ziehen und sich für sich Zeit zu nehmen. Die depressiven
Phasen sind weg. Natürlich gab es in der Therapie noch mehr Interventionen, sie ging
auch noch ein paar Sitzungen weiter, aber die effektivsten Sequenzen habe ich Ihnen
gezeigt.
Ich möchte Ihnen nun zusammengefasst weitere Muster bei bipolaren Störungen und
entsprechende systemische Interventionen im Schema zeigen.
Aus wahrscheinlich biografisch erklärbaren Gründen besteht bei bipolaren Störungen vor
allem eine Grundangst vor Verlust oder Trennung von der Familie. Der Patient wie auch
die anderen Familienmitglieder befürchten, man sei ohne Familie nicht lebensfähig. Man
vermeidet deshalb Konflikte, damit es in der Familie keinen Streit gibt, weil Streit das
Risiko des Auseinanderbrechens der Familie erhöhen könnte. Dadurch lernt man natürlich
auch nicht, konstruktiv zu streiten oder sich abzulösen, was wiederum die Idee, man sei
ohne Familie nicht lebensfähig, verstärkt. Dieser zirkuläre Prozess trägt zur
Aufrechterhaltung der psychischen Störung bei.
Für die Familie entsteht eine besonders problematische Schwelle, wenn aus
irgendwelchen Gründen der Familienzusammenhalt gefährdet wird. Das können
Enttäuschungen sein oder auch das Erwachsenwerden und die Ablösung der Kinder.
Wenn diese Schwelle nicht überwunden werden kann, kann eine psychische Störung
ausgelöst werden.
Schwierig ist die Regelung von Nähe und Distanz, weil immer befürchtet wird, dass
Distanz zu Trennung führen könnte. Andererseits ist es für jeden Menschen normal, dass
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eine Ambivalenz zwischen Wünschen nach Nähe und Wünschen nach Distanz
vorhanden ist. Man regelt das im Normalfall, indem zum Beispiel Paare manche Dinge
allein und manche Dinge zusammen unternehmen.
Manisch-depressive Menschen regeln diese Ambivalenz durch maximale
Ungleichzeitigkeit dieser unterschiedlichen Wünsche. Das ist ihre Zeitorganisation. Im
Fachbegriff heißt das diachrone Dissoziation. Sie sind einige Wochen depressiv, dann
herrscht nur die Näheseite vor, der Partner reagiert mit Fürsorge und erfüllt damit die
Nähewünsche. Dann sind sie einige Wochen manisch und leben die Distanzseite. Das
manische Verhalten löst außerdem bei Angehörigen und auch bei Ärzten oder in Kliniken
ein Kontrollverhalten aus, weil man schlimme Auswirkungen der Manie verhindern möchte.
Manische Patienten verschulden sich z.B. durch den Kauf eines Rolls-Royce oder machen
ziellos und ungeplant eine Weltreise, fahren wild Auto und gefährden damit sich und
andere.
Die Beziehungsrealität ist hart, die Beziehungen der Familienangehörigen zueinander sind klar definiert
und es gibt klare Regeln in der Familie über Normen und Verhalten.
In der Kommunikation herrschen eindeutige Aussagen vor. Konflikte werden manchmal durch
Pseudokonsens vermieden, indem man abweichenden Meinungen der anderen zustimmt, obwohl man nicht
dahinter steht.
Das Muster des phasenweise depressiven und phasenweise manischen Verhaltens
würde von den Familienangehörigen nicht toleriert, wenn sie davon ausgehen würden,
dass es absichtlich geschieht. Man geht davon aus, dass eine vom Patienten nicht
beeinflussbare Krankheit vorliegt und der Patient eigentlich ganz anders wäre, wenn er
nicht krank wäre. Diese Krankheitsdiagnose, dieses Krankheitsetikett, hilft, den
Familienzusammenhalt zu sichern.
Wie kann man therapeutisch solchen Patienten oder Familien weiterhelfen?
Weil depressive Patienten meist unter Enttäuschungen leiden, nachdem sie viele
Anstrengungen für den Familienzusammenhalt erbracht hatten, sollte dieser Punkt
aufgegriffen und besonders gewürdigt werden.
Man sollte die Patienten ermutigen, die Ungleichzeitigkeit des Nähe- und
Distanzverhaltens aufzugeben und Gleichzeitigkeit auszuprobieren. Das kann spielerisch
geschehen: in der manischen Phase depressives Verhalten üben, in der depressiven
Phase manisches Verhalten. Man kann Angehörige einbeziehen und spielerisch raten
lassen, wann das gezeigte Verhalten gespielt und wann es echt ist.
Das Krankheitskonzept kann hinterfragt werden. Man kann durchsprechen, welche
Bedeutung und welche Konsequenzen es hätte, wenn man von bewusstem Verhalten statt
von krankhaftem Verhalten des Patienten ausgehen würde. Dann kann man die Vor- und
Nachteile der beiden Sichtweisen gegeneinander abwägen und überlegen, welche
Sichtweise für den Patienten und seine Familie besser wäre.
Durch diese Interventionen macht man unbewusste Muster bewusst und erweitert die
Einfluss- und Entscheidungsmöglichkeiten der Patienten und der Familien.
Soweit zu den affektiven Störungen.
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Ich möchte Ihnen nun das Fallbeispiel eines schizophrenen Patienten mit einem völlig
anderen Muster vorstellen. Er hatte die Idee: „Ich muss die Familie zusammenhalten.“
Herr F. war 21 Jahre alt. Er hatte seit Jahren Cannabis konsumiert und war dann mit einer
psychotischen Symptomatik stationär behandelt worden. In gebessertem Zustand kam er
danach in meine Behandlung.
Er kam in Begleitung seiner Mutter zu mir. Hier sehen Sie das Genogramm: rot
eingezeichnet der Patient, daneben seine ehemalige Freundin, die Trennung erfolgte kurz
vor seiner psychotischen Episode. Dann gibt es noch den 19-jährigen Bruder.
Der Patient lebte bei den Eltern, der Abschluss seiner Berufsausbildung stand bevor. Die
Symptomatik war zwischenzeitlich gut gebessert.
Herr F. selbst erwartete von der Behandlung, von seinen Gedanken an Suchtmittel
loszukommen und ohne Psychose wieder arbeiten zu können. Ich empfahl: 1. die
Weiterführung der neuroleptischen Therapie bei meinem Praxiskollegen, 2. eine EinzelPsychotherapie bei mir, 3. eine Familientherapie bei meiner Frau. Meine ersten beiden
Vorschläge wurden angenommen, während Familientherapie nicht für notwendig erachtet
wurde.
In den ersten, etwa vierwöchentlich stattfindenden Therapiesitzungen wurden seine
früheren Wünsche, durch Cannabis zu entspannen, deutlich. Er nahm meine Umdeutung
an, dass er in seiner Psychose eine Traumwelt aufbaute, eine Art „Heimkino“, in das er
aus der schlimmen Realität fliehen konnte. Dieses Muster herrschte in seiner Psyche vor.
Wir besprachen, wie er es schaffen könnte, wieder in eine Psychose zu kommen: durch
erneutes Kiffen oder auch, wenn er zu selbstbewusst seinen Willen gegenüber anderen
durchsetzen wollte.
Vor der vierten Therapiesitzung setzte er die Medikamente eigenmächtig ab, schlief nicht
mehr und wirkte im Therapiegespräch angespannt und durcheinander. Er äußerte seine
Sorge, dass im Fall seiner Ablösung von der Familie und seines Auszugs die Mutter mit
dem Alleinsein nicht klar komme und eine Scheidung der Eltern drohe. Seine
Klinikbehandlung habe alle wieder zusammen gebracht. Die Sitzung war emotional sehr
ergreifend, er weinte, und ich äußerte meine Anerkennung für sein enormes Opfer, als
Sorgenlieferant die Familie zusammenzuhalten mit dem Preis der Psychose. Gegen Ende
der Sitzung wirkte er wieder klar, der präpsychotische Zustand war abgeklungen und er
äußerte seine Bereitschaft, wieder Medikamente einzunehmen.
Wir haben hier also das unbewusste Muster, dass die psychotischen Symptome und die
Klinikbehandlung des Patienten nicht nur Leiden mit sich brachten, sondern auch etwas
Gutes hatten: Die Eltern wurden von ihrem Streit abgelenkt und wieder
zusammengebracht. Und das für Herrn F. unbewusste Opfer war eben auch das Bleiben in
der Familie, der Verzicht auf seinen Auszug. Dieses Verbleiben in der Familie hatte bei ihm
zu einer starken inneren Anspannung geführt, die schließlich in eine Psychose überging.
Nach dieser Sitzung wurde auf Wunsch der Familie ein Familiengespräch bei meiner
Frau anberaumt. Es erschienen Vater, Mutter, Patient und Bruder. Bei diesem
Familiengespräch bestätigten sich die vom Patienten genannten familiären Probleme: Der
Vater war durch Probleme bei der Arbeit schlecht gelaunt, die Mutter fühlte sich
überfordert und hatte schon an Trennung gedacht. Für Eltern und Bruder war es aber neu,
von der Sorge des Patienten um die Familie zu hören, und sie konnten einige seiner
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Befürchtungen entkräften: So schlecht stehe es nun doch nicht um ihre Ehe. In ihrer
Abschlussintervention betonte die Therapeutin die Normalität der familiären Probleme bei
der Ablösung der erwachsen werdenden Kinder. Sie lobte die Familie für ihr Besorgtsein
umeinander und sie lobte das Opfer des Patienten als Sorgenlieferant. Sie gab die
Hausaufgabe, in einem gemeinsamen Brief an sie die von allen offensichtlich vergessenen
Stärken der Familie aufzulisten.
Es kam zu keiner zweiten Familiensitzung, weil sich danach die Kommunikation in der
Familie deutlich verbesserte. Die Söhne unterstützten die überlastete Mutter bei der
Hausarbeit.
Was war geschehen? In dem Familiengespräch waren die vorher unausgesprochenen
Sorgen des Patienten um die Familie entkräftet worden und der problematische Kreislauf
war durchbrochen.
Die Einzeltherapie ging über 1 ½ Jahre und umfasste 14 Sitzungen. Herr F. war bei
Behandlungsende von den Drogen weggekommen, nahm keine Medikamente mehr,
wirkte stabil und plante ein Studium in Berlin, wo er sich verliebt hatte.
Soweit zu diesem Fallbeispiel.
Nach diesem Fallbeispiel möchte ich Ihnen noch ein paar allgemeine Informationen zu
den für Psychosen typischen Mustern geben.
Bei Menschen mit einer Psychose und auch bei ihren Familienangehörigen steht eine
besondere Angst vor Schuld und Verantwortung im Vordergrund. Sie können oft nicht mit
der Schuld leben, ihre Angehörigen zu enttäuschen oder zu verletzen. Das führt zu einem
Kreislauf zwischen dem psychischen und dem sozialen System: Aus Angst vor Schuld
werden Verhaltensweisen vermieden, die schuldig machen könnten, z.B. Abgrenzung oder
Nein-Sagen; weil man dann nicht lernt, mit den Reaktionen der anderen auf Abgrenzung
umzugehen, wird die Angst immer größer, dann wieder das Vermeidungsverhalten usw.
Die normale Ambivalenz (Zwiespältigkeit) zwischen Verhalten, das schuldig machen kann
bzw. Schuld vermeidet, wird zugunsten der Schuldvermeidung entschieden.
Eine problematische Schwelle stellt dann meist die Ablösung vom Elternhaus dar. Wenn
man den eigenen Bedürfnissen folgt, sich ablöst, Kontakte zum anderen Geschlecht
aufnimmt, muss das zwangsläufig immer wieder zur Zurückweisung und Enttäuschung der
Erwartungen der Eltern führen.
Wer das nicht erträgt und es gleichzeitig den Eltern, sich selbst und vielleicht der Freundin
recht machen will, kann nur scheitern. Für psychotische Patienten stellt es dann die
Lösung dar, alles gleichzeitig zu machen. Diese Zeitorganisation einer maximalen
Gleichzeitigkeit kann z.B. zur katatonen Starre führen, wenn jemand gleichzeitig vor und
zurück gehen möchte und in diesem Dilemma stundenlang unbeweglich verharrt.
Ein weiterer interessanter Aspekt ist die Beziehungsrealität. Sie ist in der Familie weich,
das heißt unklar.
Um niemanden zu verletzten, legt man sich in der Kommunikation nicht fest, man
vermeidet einen Konsens über Regeln und Positionen in der Familie. Um sich nicht
festlegen zu müssen, entwertet man die Positionen der anderen oder steigt durch
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psychotische Symptome völlig aus der Kommunikation aus, zieht sich zurück, bis man
nicht mehr zwischen Realität und Wahn unterscheiden kann und die eigenen Gedanken
als innere Stimmen hört.
Wenn man in der Familie nun von der Idee einer psychischen Krankheit ausgeht, wird
diese zum zentralen Thema der familiären Kommunikation und die anderen Probleme
treten zurück. Die damit verbundene Erleichterung kann die Chronifizierung des
Symptoms fördern und zu einem Kreislauf im sozialen System führen.
Die systemische Therapie setzt an den problematischen zirkulären Prozessen in der
Kommunikation und im Denken an.
Es wird besprochen, was es bedeuten würde, wenn die Störung keine „Krankheit“ wäre.
Damit wird das in der Psychiatrie bisher übliche defizitäre Krankheitskonzept aufgelöst.
Was würde es für die Familie bedeuten, wenn der Patient sein Verhalten bewusst steuern
und ändern könnte? Für wen wäre das gut, für wen nicht? Letztendlich können wir
natürlich nicht wissen, was der Patient selbst aktiv steuern kann und was nicht. Aber wenn
wir dies im Gespräch thematisieren, finden wir in vielen Fällen Bereiche, die vom
Patienten steuerbar werden.
In manchen Fällen dient das psychotische Verhalten dazu, Konflikte in der Familie
unsichtbar zu machen, weil sich dann alle nur noch um den Patienten kümmern; dann
kann man zur Überprüfung der Hypothese die spielerische und paradoxe Aufgabe geben,
der Patient solle immer dann, wenn Konflikte in der Familie drohen, sagen, er höre innere
Stimmen. Das nennt sich Symptomverschreibung. Wenn das vermutete Muster in der
Familie vorgelegen hat, kann es nach dieser Symptomverschreibung nicht mehr
unbewusst ablaufen, es ist offengelegt, und man kann sich in der Therapie nun auf die
Lösung der Konflikte konzentrieren.
Vor solchen Interventionen sollte aber der Preis und das Risiko sowohl von
Veränderung als auch von Nicht-Veränderung besprochen werden.
Damit lernt der Patient und die Familie schrittweise, Verantwortung zu übernehmen und
die Risiken veränderter Verhaltensweisen auf sich zu nehmen.
Soweit zu den störungsspezifischen Mustern.
Das Fazit:
Ich möchte zum Beginn meines Vortrags zurückkommen. Das Tagungsthema sind die
Gegenpole von störungsspezifischen und sozialraumorientierten Ansätzen.
Wir gingen von einem störungsspezifischen Ansatz aus: das ist der Patient mit seinem
symptomatischen Verhalten.
Ich hatte Ihnen gezeigt, dass wir bei der Therapie den Sozialraum in unsere Konzepte
einbeziehen können: die Familie, das Wohnumfeld, die Arbeit, sozialpsychiatrische
Einrichtungen oder etwas abstrakter das Leben in Rente.
Und ich hatte Ihnen weiter gezeigt, dass die Beschreibung der psychosozialen Muster
im Sozialraum zu einem systemischen Konzept führen kann. Auch als Systemiker kann
man störungsspezifisch denken. Krankheitsbegriffe sind dann mit systemischem Denken
zu vereinbaren, wenn man sie nicht als absolute Wahrheit sieht, sondern als nützliche
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Hilfen zur Hypothesenbildung. Bestimmte zirkuläre Prozesse und psychosoziale Muster
sind spezifisch für bestimmte Diagnosen. Solche Muster wurden schon von anderen
Systemikern beschrieben: Selvini-Palazzoli, Stierlin, Simon, Retzer, um nur einige zu
nennen. Und entsprechend können spezifische systemische Interventionen oft schon nach
ein paar Sitzungen zu erstaunlichen Erfolgen führen bei psychischen Störungen, die als
schwer therapierbar gelten.
Aus systemischer Sicht stellen störungsspezifische und sozialraumorientierte Ansätze
keinen Widerspruch dar. Im Gegenteil: Das systemische Konzept kann diese beiden
Ansätze vereinigen, indem es das Individuum in seinem Umfeld betrachtet und auf die
zirkulären Prozesse fokussiert, die zur Aufrechterhaltung der Störung betragen.
Systemiker befassen sich bei der Therapie vor allem mit den zirkulären Prozessen im
psychischen und im sozialen System. Die medikamentöse psychiatrische Behandlung
greift im biologischen System an. Diese unterschiedlichen Methoden stellen ebenfalls
keinen Widerspruch dar, sondern können sich ergänzen.
Das Zusammenwirken von Individuum und Sozialraum stellt den Hintergrund für
psychische Störungen dar. Man kann noch einen Schritt weiter gehen: Eine psychische
Störung ist nur im Sozialraum denkbar und nur im Sozialraum als solche
definierbar.
Insofern ist das systemische Konzept prinzipiell sozialraumorientiert. Die Dialektik
zwischen störungsspezifisch und sozialraumorientiert kann in der Synthese eines
systemischen Ansatzes aufgelöst werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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